Die andre Seite der Luft

 

Viele Themen, die mich interessieren, haben Platz in dieser MBA-Geschichte gefunden. Wieder befinden wir uns früh in der ersten Staffel, diesmal nur auf dem Mond.

Herzlichen Dank an alle, die sie vorab gelesen haben und mir ein ausführliches Feedback gegeben haben!

Gute Unterhaltung!

 


  

- Prolog -

Das Raumschiff war so groß wie eine Welt, rund, dem Mond gleich, und wenn man durch die alphanischen Sichtluken blickte, sah man es greifbar nahe im pechschwarzen Himmel wie einen Kristall schweben. Die Oberfläche war aus einer Art irisierender Keramik, in sich gebrochen, aus Abermillionen milchigweißen Scherben, die glitzerten und funkelten, einer gewaltigen Christbaumkugel gleich, die  in einem schillernden Sprühen Regenbögen aus Licht spie.

Das Schiff war vor einiger Zeit aus dem Nichts materialisiert, als hätte das Weltengefüge plötzlich seinen Faden verloren und vergessen, dass es seine fest vorgegebene und verzurrte Struktur hatte, und durch die Lücke hatte sich der Körper wie beiläufig ins Diesseits geschoben. Er hatte sich in der Nähe des umherirrenden irdischen Mondes positioniert, wo er nun auf den verkraterten und schon arg mitgenommenen kleinen Himmelskörper herabblinkte. Ein unbeteiligter Zuschauer, der seines Weges käme, sähe hier zwei Schwestern, die eine hell, vornehm, herausgeputzt und wunderschön, die zweite dagegen finster, zerzaust und zerrupft, ein staubiges  hässliches Entlein, das nie die Chance haben würde, sich in einen Schwan zu verwandeln.

Auf beiden herrschte Leben. Auf dem hässlichen Entlein krallte sich eine kleine Gemeinschaft von Menschen fest, die allen Stürmen trotzten, durch die sie ihr kleiner Mond trug. Sie waren Seeleute auf einer Reise ins Nirgendwo, und ihre einzige Heuer war das Überleben.

Der schöne Schwan dagegen schwelgte im Überfluss. Er war nicht nur so groß wie eine ganze Welt - er war eine ganze Welt, sich selbst erhaltend und autark, ein sicherer Hafen für seine Bewohner, ein machtvoller Wanderer in Zeit und Raum.

Die Seeleute auf dem hässlichen Mond aber fürchteten das Meer, auf dem sie trieben, die Untiefen, Seebeben, heimtückischen Strömungen und Zyklone, aber auch Seeungeheuer und Meeresgötter, die mächtiger waren als sie und deren Gnade sie unterworfen waren. Sie waren Seefahrer wider Willen, die lieber auf dem Festland geblieben wären, verängstigt, unerfahren, und so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass keine Zeit gewesen war, das Wesen des Universums zu ergründen, es zu begreifen und entspannt auf seinen kristallenen Wellen zu reiten.

 

-i-

In der Kommandozentrale auf Mondbasis Alpha herrschte Unruhe. Seit der immense Glitzerball über dem Dach der Basis hing, war die Unsicherheit im Kommandostab greifbar. Nicht, dass die Disziplin darunter litt, es gab auch keine offene Diskussion, und doch war die beschauliche Ruhe, die zuletzt auf Alpha geherrscht hatte, in der Kommandozentrale wie weggeblasen. Dauernd aktivierte jemand den Hauptbildschirm und warf einen kritischen Blick auf das fremde Objekt, oder es wurde unruhig gerätselt, was hinter dem Phänomen stecken könnte.
Das Getuschel verstummte auffallend, als
John Koenig durch die große Verbindungstür, die sein Büro mit dem Hauptquartier verband, eintrat. Die Augen aller wandten sich ihm zu.

"Sandra, ich möchte eine Kommandokonferenz einberufen. Um 0-900. Geben Sie das bitte durch." Die Analytikerin nickte förmlich.

"Selbstverständlich, Commander." Sie blickte ihm nach, als er wieder verschwand und die Schiebetür sich hinter ihm automatisch schloss. Sie beneidete ihn nicht um seinen Job. Von Job konnte ja gar keine Rede sein, es war wohl mehr eine Bestrafung. Lebenslänglich, wie es aussah. Sie hätten es schlechter treffen können. Nicht auszudenken, hätte jemand wie Gorski die Alphaner durch die unruhigen Zeiten führen müssen! Er war ein weicher, nicht fassbarer Mensch gewesen, ein Wendehals ohne Profil, der immer den Weg des geringsten Widerstands gegangen war. Und das sogar in Zeiten, wo die Mondbasis noch sicheres Terrain gewesen war! Gorski wäre bei den Bedingungen, die nun auf Alpha herrschten, untergegangen. Sandra seufzte bei der Vorstellung. Koenig dagegen hatte von Anfang an bewiesen, dass er Mut hatte, Weitsicht, Durchsetzungsvermögen - und den Willen, die Menschen auf dem Mond  am Leben zu erhalten - koste es, was es wolle.

Mit ihm hatte man es nicht immer leicht, er konnte launisch sein und wurde schnell laut, wenn die Dinge nicht zu seiner Zufriedenheit liefen, manchmal war er herb und zynisch und ungeduldig. Sie hatte aber nicht erlebt, dass er persönlich wurde, seine Ausbrüche waren wie Sommergewitter, akut auftretend und schnell wieder vorbei. Wer das Pech hatte, anwesend zu sein, wurde eben nass. Aber mehr war nicht dran. So gesehen, war er berechenbar, und damit konnte man leben, zumindest, was Sandra betraf - und, soweit sie wusste, auch der Rest des Kommandoteams. Ansonsten erlebte man ihn als einen interessierten, empathischen Menschen, der der Mannschaft Stärke vermitteln konnte, dem man abnahm, dass er wusste, was er tat, und der die Ansiedlung auf dem Mond unbeschadet durch die ersten Katastrophen gelotst hatte. Sie glaubte, dass er die Herausforderung brauchte, und in einem unaufgeregten Leben zutiefst unglücklich geworden wäre. Sandra fand ihn interessant und stattlich, aber nicht attraktiv in dem Sinn, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Er war ein Vorgesetzter, ein Alpha-Tier, mit dem sie im Privatleben nur wenig hätte anfangen können. Sie wusste nicht, wie er mit den fast täglichen Karussellfahrten umging, die das Leben im All nun für ihn bereit hielt. Für Gespräche hatte er jedoch Prof. Bergman, mit dem ihn eine ewig lange Freundschaft verband. Aber darüber hinaus? Es war ihr - und wahrscheinlich auch dem Rest von Alpha - nicht entgangen, dass er eine Schwäche für Dr. Russell hatte, doch sie schien nichts davon zu bemerken - denn sie begegnete ihm mit Freundlichkeit, Zuvorkommenheit und Vertrauen - hielt ihn aber ansonsten deutlich auf Distanz. Sandra grinste. Vielleicht war das aber auch nur Helena Russells öffentliches Gesicht. Für die Allgemeinheit war sie eine verschlossene Auster, selbst ihr eigenes Team kannte sie nicht wirklich. Aber privat? Vielleicht verhielt sie sich da ganz anders?

"Sandra!" Kano wirkte genervt. Sie schrak aus ihren wenig dienstlichen Überlegungen auf. "Guten Morgen! Schlafen kannst du in deinem Quartier! Was ist mit den Daten, die Alan uns gestern geschickt hat?"

"Entschuldige, David, die habe ich noch am Abend an Prof. Bergman weitergegeben. Ich nehme an, dass er sie sich mittlerweile angesehen hat. Vielleicht ist auch das der Grund, warum der Commander die Sitzung einberufen hat. Womöglich leben ja Leute in der Kugel?" Der Computerspezialist sah auf.

"Naja, wahrscheinlich handelt es sich bei deinen Leuten nur um Moos- und Läusekolonien. Was erklären würde, warum sie keinen Kontakt zu uns aufnehmen."

"Es könnte ja eine feindliche Spezies sein", gab Tanya von ihrem Schreibtisch aus zu bedenken. Kano machte ein unwirsches Gesicht.

"Blödsinn, die hätten uns doch schon längst zerquetscht."

"Jetzt mal halblang", mischte sich Paul Morrow in das Gespräch ein. "Wir wissen gar nichts. Es hilft uns kein Stück, hier herumzuspekulieren und Gerüchte in die Welt zu setzen, die auf der Basis am Ende Panik verursachen." Sandra machte ein unbeeindrucktes Gesicht.

"Vielleicht sind es ja freundliche Außerirdische!"

"Warum sitzen sie dann tagelang in ihrem Schneeball und rühren sich nicht? Warum sagen sie nicht mal hallo? Immerhin senden wir auf allen Frequenzen, es ist ja nicht so, als hätten wir sie nicht eingeladen, sich zu melden!" Paul hatte gesprochen, ohne seine Unterlagen aus den Augen zu lassen. Kano nickte.

"Mich macht das nervös! Wenn das intelligente Lebewesen sind, dann sollen sie langsam Farbe bekennen und nicht da oben wie eine Spinne auf der Lauer liegen und uns im Dunkeln tappen lassen. Das ist widerlich. Und unmoralisch. Und überhaupt.." Ihm fehlten die Worte. Sandra hatte wieder einmal den Hauptbildschirm aktiviert und mit einer Kamera das fremde Schiff herangezoomt. "Aber ganz nett sieht es trotzdem aus, da oben", schloss David nach einem andächtigen Blick auf die schimmernde, helle Pracht. Sandra zog eine Augenbraue hoch.

"Pass auf, dass du nicht in Ekstase fällst." Kano drehte sich mit einem indignierten Schnauben weg und bearbeitete den Computer an der Wand, woraufhin dieser postwendend mit einer lauten Fehlermeldung reagierte.

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Um 9:00 versammelten sich die Mitglieder der Kommandokonferenz in John Koenigs Büro. Einige von ihnen waren bereits seit Stunden auf, andere, wie Alan Carter, machten eher den Eindruck, dass Sandra sie mit ihrem Aufruf aus den Federn geholt hatte. John stand am Fenster, den seltsamen Begleiter des Mondes musternd, und kam, als er sah, dass alle anwesend waren, ohne Umschweife zum Thema.

"Seit Tagen haben wir diese fragwürdige Gesellschaft da oben. Sie haben sich unserem Kurs angepasst und halten eine einheitliche Distanz zu uns ein. Seit gestern Nacht wissen wir, dass da Leben herrscht, dank Prof. Bergman, der unsere Scanner mit neuen Funktionen ausgestattet hat, und Alan und seinem Team an Bord, die mit dem Adler einen weiteren Ausflug unternommen und die Messungen vorgenommen haben. Wir können also mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass es dort intelligente Wesen gibt. Das ist aber auch schon alles. Wir wissen weder, wer sie sind, noch woher sie kamen und welche Ziele sie verfolgen, noch können wir auch nur erraten, warum sie uns jetzt begleiten, es aber nicht für nötig erachten, mit uns in Kontakt zu treten. Wir haben auf allen erdenklichen Wegen versucht, uns bemerkbar zu machen. Wie Sie wissen, ist ihr Schiff für uns tabu, ein Schutzschild verhindert, dass wir ihnen zu nahe kommen. Unsere Sensoren und Scanner geben generell nur sehr ungenaue Daten her, was darauf schließen lässt, dass die Abschirmung auch unsere Scanner beeinträchtigt. Vielleicht ist uns aber auch alles derartig fremd, dass wir nichts richtig zuordnen können." Victor nickte bedächtig.

"Ein mittelalterlicher Alchemist hätte mit modernen Werkstoffen wie Plastik auch nichts anfangen können." Die Anwesenden hatten Johns Worte mit Spannung verfolgt. Die neuen Erkenntnisse waren faszinierend. Auch wenn die meisten bereits vermutet hatten, dass dort Leben herrschte, so war es doch etwas anderes, es nun aus dem Mund des Commanders zu hören. Dementsprechend kam ein aufgeregtes Gespräch in Gang, das sich grundsätzlich um die Tatsache drehte, dass nunmehr vielleicht die erste Gelegenheit war, tatsächlich Außerirdische von Angesicht zu Angesicht zu treffen. Bislang hatte man gewusst, dass sie existierten, jedoch lediglich aufgrund von Artefakten verschiedener Natur, die auf der Erde gefunden worden waren. Leibhaftig hatte es aber noch keinen Kontakt gegeben - zumindest wusste niemand davon. John ließ die Diskussion zu, war er ja selbst aufgeregt gewesen, als er Victors Resümee gehört hatte, und ergriff nun die Gelegenheit, die Gruppe in aller Ruhe zu beobachten. Victor saß zurückgelehnt und mit ausgestreckten, überschlagenen Beinen am Tisch und wirkte ganz fröhlich und zufrieden, neben sich Sandra, die im Augenblick schwieg, jedoch gespannt zuhörte. Ihr gegenüber befand sich Paul, der leidenschaftlich daran erinnerte, dass man nicht wusste, ob die Wesen Freund oder Feind waren. Alan wollte den Schutz um Alpha verstärken. David Kano fürchtete ebenfalls um die Sicherheit der Basis und redete gleichzeitig mit Carter. Andere schwiegen, ohne erkennen zu lassen, was sie von der Situation hielten. John begann damit, auf und ab zu gehen. Bei der Frage, was die fremde Intelligenz von den Menschen wollte, stagnierte die Diskussion.

"Ist es denn überhaupt sinnvoll, darüber nachzudenken, welche Absichten sie haben?", erkundigte sich Helena Russell. Sie war als Letzte gekommen, wie immer in Eile, schien aber jetzt doch fokussiert und konzentriert. Der Commander hatte gehofft, dass diese Frage in der Runde irgendwann fiel.

"Nur insofern, als dass wir uns dann vielleicht für alle Eventualitäten besser rüsten können", meinte er.

"Nun gut", sagte sie, "dann lasst uns spekulieren. Sie könnten einfach gekommen sein, um uns zu beobachten. Vielleicht sind sie Feldforscher, die sich mit weltraumfahrenden Völkern beschäftigen." Alan hob den Blick gegen die Decke. Typisch Wissenschaftler.

"Vielleicht haben sie ja auch vor, uns auszuradieren. Wie gesagt. Aus irgendeinem Grund müssen sie eben noch warten. Auf die Genehmigung, womöglich, oder irgendwelche anderen Dinge."

"Eventuell wollen sie etwas von uns", schlug Victor vor. "Und sie müssen herausfinden, ob wir es besitzen."

"Aber wäre es da nicht einfacher, mal guten Tag zu sagen und zu fragen, liebe Leute, habt ihr denn einen.. einen hydroquartischen Subjektierminimator, und wenn ja, können wir ihn euch abkaufen oder ihn eventuell eintauschen gegen etwas, das wir haben?" Es war Alan anzumerken, dass ihm alles zu langsam ging, während sich in der Runde Heiterkeit bemerkbar machte wegen seiner neu erfundenen Maschine. John dagegen hörte weiterhin nur zu. Er wollte wissen, welche Gedanken sich seine Mannschaft machte.

"Kano, gibt es Hinweise darauf, dass auf unsere Datenbanken zugegriffen wurde?" Der straffte sich.

"Nein, Professor, bisher habe ich nichts dergleichen bemerkt. Ich würde außerdem vermuten, dass es einen Alarm gäbe, sollte es jemand von außen versuchen."

"Außer sie haben eine so fortgeschrittene Technik, dass sie unsere Sicherungen unbemerkt umgehen können."

"In Anbetracht dieses riesigen Wunderwerks da draußen muss fast davon ausgegangen werden, nicht wahr." Helenas Worte lösten Aufregung und alles andere als Begeisterung aus. Sie blickte von ihren Unterlagen auf. "Im Grunde gibt es nur eine Sache, auf die wir vorbereitet sein müssen: dass sie unumschränkte Macht über uns haben." Sie hatte es auf den Punkt gebracht. John hatte in der Tat erwartet, aus ihrem oder Victors Mund den Schluss zu hören, auf den er selbst sehr rasch gekommen war. Er beobachtete Victor, der tief durchatmete. Offensichtlich fand auch er seine Überlegungen bestätigt. Paul blickte verwirrt von einem zum anderen.

"Dann frage ich mich, wozu diese Kommandokonferenz gut sein soll." John fing Helenas Blick auf. In ihren Mundwinkeln kräuselte sich ein Hauch von Amüsement. Sie hatte ihn durchschaut. Er hatte die Sitzung einberufen, um zuzusehen, wie die Gruppe von sich aus auf die einzige mögliche Reaktion dessen kam, was zu tun war.

Die Antwort war: Nichts.

Kurz herrschte auf Pauls Frage Stille. Sie sickerte.

Bis Alan aufsprang.

"Commander, wir können nicht nur einfach zusehen und keinen Finger rühren!"

"Was schlagen Sie vor, Captain Carter?" Alan fiel wieder auf seinen Sitz. Er dachte nach.

"Wie wär's mit einer erhöhten Alarmbereitschaft, so dass die Mannschaft weiß, wenn Gefahr droht. Dass die Leute bei Bedarf rasch in die Schutzräume verschwinden und die Kampfadler schnell abheben können?" John nickte.

"Gut", sagte er, "arbeiten Sie ein Prozedere aus." Es blieb unausgesprochen, dass auch eine erhöhte Alarmbereitschaft gegen einen übermächtigen Gegner nicht hilfreich wäre. Immerhin herrschte aber das Gefühl, irgendetwas zu tun, was John nur recht war.

"Schön und gut", sagte Paul, "aber warum handeln sie nicht?" Victor setzte sich aus seiner legeren Haltung auf und beugte sich über den Tisch.

"Sie warten darauf, dass wir etwas tun."

"Seit sie da sind, bitten wir sie um Kontakt!"

"Dann wird es nicht das sein, worauf sie warten."

"Worauf sonst?", ereiferte sich Kano wieder. Er war offensichtlich nicht zufrieden mit dem Ausgang der Debatte. John hatte genug.

"Kano, wir drehen uns im Kreis. Die einzige Erfahrung, die wir bisher mit dem Objekt gemacht haben, ist folgende: Solange wir es in Ruhe lassen, lässt es uns in Ruhe."

"Wir sollen also keine schlafenden Hunde wecken", resümierte Paul. Damit schien er leben zu können, denn er lehnte sich mit verschränkten Armen auf seinem Sitz zurück.

"Das ist ja kein Zustand!"

"Denken Sie nicht, dass mir das gefällt, Kano. Aber fürs Erste werden wir keine Aktionen setzen, die als feindlich gewertet werden könnten. Wenn es notwendig ist, unsere Taktik zu ändern, werden wir das tun, jedoch nicht im Augenblick." Sein Blick schweifte durch die Runde. "Die Besprechung ist beendet. Dr. Russell, ich möchte noch kurz mit Ihnen sprechen." Sie nickte und blieb sitzen, während sich der Rest der Anwesenden anschickte, unter halblauten Gesprächen das Büro zu verlassen.

Als alle gegangen waren, begab John sich ans Fenster und sah wieder hinaus. Das Objekt war vom Kommandobüro aus vollständig sichtbar, nahm einen Großteil des alphanischen Himmels ein und leuchtete in einem matten Schimmern auf die Landschaft herab. Die Mondoberfläche war wie Silber, die kantigen Formationen der Krater und die schroffen Grate, weithin sichtbar im ungewohnten Licht, verloren sich in weichen Schatten. Eigentlich ein schöner Anblick, dachte John, aber unnatürlich.

"Es fällt Ihnen nicht leicht, tatenlos zuzusehen, nicht wahr." Er riss sich los und begab sich an den Tisch, konnte sich jedoch nicht dazu entschließen, Platz zu nehmen. Sie hatten einander kaum gesehen seit der Sache mit Simmonds' Portal. Immer noch war für alle so viel zu tun, dass Freizeit nicht existierte, und wenn sie einander begegneten, so geschah dies anlässlich offizieller Besprechungen und im Beisein anderer oder im Korridor, wo sie aneinander vorbeieilten und lediglich Zeit war für einen kurzen Morgengruß. Jetzt fühlte er ihren Blick auf sich ruhen. Die Situation war ihm unangenehm, weil wieder ein Anfang gemacht werden musste, und obendrein war ihm nicht ganz wohl bei dem Thema, über das er mit ihr sprechen wollte. Er hatte sich zunächst mit Victor ausgetauscht, doch dieser hatte ihm empfohlen, eine weitere Meinung einzuholen. Er entschloss sich, auf Helenas Worte einzugehen. Vielleicht ergab sich daraus der Rest, und so stimmte er ihrer Vermutung zu.

"Ich kann nicht gut abwarten und alles geschehen lassen. Das kommt mir vor, als wollte ich meine Verantwortung nicht wahrnehmen."

"Warum setzen Sie sich nicht? Wenn ich dauernd zu Ihnen aufschaue, brauche ich einen verfrühten Massagetermin für meine Nackenmuskeln." Sie hatte seine Verunsicherung bemerkt. Ihr Scherz funktionierte, und der erste Stress fiel von ihm ab. Er ließ sich nieder, nicht nah und nicht weit von ihr entfernt - jedoch sozusagen in Reichweite. Der Tisch war rund und darum ungeeignet, entsprechende Grenzen zu schaffen. Immerhin fand die Begegnung auf seinem Terrain statt, nicht in der medizinischen Atmosphäre ihres Büros. "Commander." Sie pausierte kurz. "John. Es gibt doch einen anderen Grund, warum Sie mit mir sprechen wollen." Sie fackelte nicht lange herum.

"Das ist richtig." Er suchte nach Worten. "Sie müssen mir verzeihen, aber das Thema ist mir ein wenig unangenehm. Normalerweise käme ich nicht auf die Idee, darüber zu reden, aber ich ziehe in Betracht, dass es um mehr geht als um mein Privatleben." Sie neigte den Kopf.

"Sie vermuten einen Zusammenhang mit dem außerirdischen Objekt." Sie lächelte. "Es handelt sich also um eine persönliche, vielleicht irrationale Sache. Betrachten Sie dies als eine medizinische Sprechstunde, wenn es Ihnen das leichter macht." Ihr Pragmatismus half ihr offensichtlich des Öfteren über diverse Hürden hinweg. Er fand das erstaunlich.

"Daran habe ich nicht gedacht. Das ist wohl Ihr tägliches Brot!" Ihr Lächeln war geblieben.

"Wenn Sie wüssten! Die meisten meiner Kunden haben aber deutlich weniger Hemmungen als Sie. Sie weihen mich in ihr gesamtes Leben ein, und ich habe bereits Bekanntschaft gemacht mit den absonderlichsten Ideen und Emotionen. - Machen Sie sich also keine Sorgen, Commander. Sie sind bei mir bestens aufgehoben."

Nur, dass er sie nicht als Ärztin sehen wollte, sondern als eine Vertraute, eine Gefährtin.. Die Situation machte ihn konfus. Er brauchte eine unvoreingenommene Meinung in einer Sache, die ihn mehr beunruhigte, als er zugeben wollte. Er sollte nicht zu weit denken. Er gab sich einen Ruck.

"Gut, dann nehme ich Sie beim Wort. Ich habe natürlich mit Victor gesprochen, doch er schien es für wichtig zu halten, noch jemanden beizuziehen." Ihre aufmunternde, geradezu heitere Miene war geblieben. Sie wirkte aufmerksam und interessiert. Möglicherweise verwechselte er dies aber auch mit Neugier. "Ich will es kurz machen. Seit das fremde Objekt hier aufgetaucht ist, habe ich einen sehr lebhaften, immer wiederkehrenden, Traum." Sie blickte ihn wortlos an. "Die Lebendigkeit des Traums und der zeitliche Zusammenhang mit dem Erscheinen des Objekts über Alpha lassen mich vermuten, dass das nicht zufällig geschieht."

"Sie glauben, dieser Traum könnte eine Antwort auf unsere Aufforderung an sie sein, mit uns Kontakt aufzunehmen?" Er nickte.

"Ja, das halte ich für möglich."

"Was ist das für Traum?" Die unumgängliche Frage. Er wand sich.

"Er ist sehr klar und bleibt mir, wenn ich aufwache, überaus deutlich in Erinnerung. Nicht wie andere Träume, die sofort hinter der Realität des Alltags verschwinden. Er ist überaus lebendig, farbig und eindringlich. Sehr realistisch."

"Ich habe die Erfahrung gemacht, dass mir im Schlaf alles sehr realistisch vorkommt", gab sie zu bedenken. John schüttelte den Kopf.

"Das ist etwas anderes. Es erscheint mir auch noch realistisch und bedeutungsvoll, wenn ich aufgewacht bin."

"Ist es denn ein Alptraum?"

"Nein, nein. Das würde ich nicht sagen. Eher belastend, weil ich ihn als so real empfinde und nicht weiß, was er bedeutet."

"John, Sie machen es mir schon schwer, Ihnen etwas Sinnvolles zu sagen." Er atmete tief durch und machte wieder Anstalten aufzustehen. Sie langte rasch über den Tisch und ergriff seine Hände, sodass es ihm unmöglich war, sich zu erheben. Die warme Berührung rieselte durch seinen ganzen Körper, und es war, als könnte er sich nicht mehr rühren.

"Es ist sehr eigenartig, ich träume von einer Frau", sagte er schließlich welk. "Sie spricht nicht, sieht mich nur an, als wollte sie mir etwas sagen." Der Griff ihrer Hand ließ nach, und er blickte in ihr Gesicht. Ihre Augen flackerten kaum merklich. Einen Moment lang war ihm, als gäbe es keine Luft im Raum. Er senkte den Blick.

"Wer ist die Frau?", erkundigte sie sich schließlich. Sie zog ihre Hand zurück.

"Ich weiß es nicht. Ich habe sie nie zuvor gesehen. In der Realität, meine ich. Sie steht auf einem Hügel im Freien, es ist hell und wirkt fast wie in einem.." Er suchte nach Worten. "..wie in einem Märchen." Er hätte nie zugegeben, dass diese Traumgestalt erotisch war, dass sie die schönste Frau der Welt war. Hatte Helena es trotzdem bemerkt? Er war sich nicht mehr allzu sicher, dass es eine gute Idee gewesen war, ausgerechnet sie um Rat zu fragen.

"Commander, ich bin nicht gerade ein Experte für Traumdeutung. Aber ich weiß, dass Träume nicht eins zu eins in die Realität umgesetzt werden können." Ihre Miene war neutral. "Wir müssen uns die Frage stellen, ob diese Traumbilder aus Ihrem eigenen Unterbewusstsein kommen oder ob sie eine Projektion von außen sind." Ja, das war ihm auch klar. "Gibt es denn irgendeinen Hinweis darauf, dass es sich um eine Botschaft aus dem Objekt da oben handeln könnte?" Er überlegte.

"Abgesehen davon, dass sie so fremd wirkt, nichts."

"Haben Sie sie denn gefragt, was sie von Ihnen will?" Er dachte nach. Eigentlich hatte er nie mit ihr gesprochen, sondern nur darauf gewartet, dass sie einen Anfang machte. Das kam ihm im Licht des Tages betrachtet seltsam vor, denn ein wortloses Zuwarten entsprach eigentlich nicht seiner Persönlichkeit.

"Irgendetwas scheint mich davon abgehalten zu haben, sie anzusprechen."  

"Nun, das hilft uns nicht weiter, doch die Tatsache, dass der Traum gemeinsam mit dem Objekt auftrat, macht es wahrscheinlicher, dass es da wirklich einen Zusammenhang gibt. Aber vielleicht ist es nur ein Zufall, vielleicht beeinflusst das ungewohnte Licht Ihren Schlaf und somit Ihre Träume?" Er musterte sie nachdenklich.

"Haben Sie auch solche Träume?" Sie blickte ihm ins Gesicht.

"Sie meinen Träume von einer Frau?"

"Naja, dieser Frau. Etwas Ähnliches eben." Das war peinlich.

"Nein", sagte sie amüsiert. "Es würde mich auch wundern, ehrlich gesagt." Der Anflug von Humor hatte seine Wirkung auf ihn. Sie hatte ihn auf den Boden der Realität zurückgeholt.

"Das wäre jedenfalls ein Hinweis darauf, dass meine Träume tatsächlich außerirdischen Ursprungs sind." Sie schmunzelte.

"Richtig! Ich lasse Sie es wissen, wenn sie auch bei mir vorstellig wird!" Sie erhob sich. Diese spezielle Sitzung war nun beendet.

"Danke für Ihre Zeit."

"Keine Ursache." Es klang ehrlich. Er versuchte, seine Beklemmung zu überspielen.

"Schicken Sie mir die Rechnung." Sie lächelte wieder.

"Gut, zahlen Sie per Banküberweisung. Fallen Sie aber nicht in Ohnmacht, wenn Sie mein Honorar sehen." Er gab ihr Lächeln zurück, und sie machte sich auf den Weg. Als sie fast an der Tür war, drehte sie sich um.

"Halten Sie mich auf dem Laufenden?"

"Das werde ich."

"Ich auch." Sie wandte sich von ihm ab, und er sah ihr zu, als sie sein Büro verließ. Es war ihm nun nicht wirklich wohler. Im Gegenteil.

 

Als sich die Tür hinter ihr schloss, blieb sie im Gang stehen und atmete tief durch. Ein widerliches Ziehen machte sich in ihrer Brust breit, und sie fragte sich, was davon zu halten war. Das Gespräch mit John war angenehm verlaufen. Er hatte ihr sein Vertrauen bewiesen, indem er sie in Dingen zurate zog, die sie selbst nicht ohne weiteres besprochen hätte. Dinge, die nichts mit einer fachlichen Konsultation zu tun hatten. Sie war professionell geblieben, rationell, und doch.. irgendetwas war da eindeutig schiefgelaufen!

Sie wusste nicht, was es war. Es war nichts geschehen. Im Gegenteil, John hatte sie mit seinen Hemmungen, seiner Zurückhaltung, berührt, seiner Zauderei. Eigenschaften, die er der Öffentlichkeit nicht zeigte. Es bewies, dass er ihr vertraute, dass er sie als eine Vertraute wollte.

Warum nur, warum, fühlte sie sich dann wie ausgelaugt und weggeworfen?

Es war richtig gewesen, mit ihr zu sprechen. Nicht nur wegen des Vertrauens. Seine Träume konnten durchwegs etwas mit dem außerirdischen Objekt zu tun haben. Sie nahm sich vor, auf ihre eigenen Träume zu achten. Vielleicht gab es Hinweise. Sie sammelte sich und eilte ins medizinische Zentrum. Es gab ausreichend zu tun.

:::::

Der Tag nahm seinen bereits routinierten Lauf durch die letzten hartnäckigen Reparaturarbeiten der Katastrophe, die ihnen die Reise durchs All beschert hatte. Man konnte nicht klagen. Es gab einen Plan, der durchführbar war, einen Plan, der sie für ihr neues Leben wappnete - zumindest, soweit sie es sich vorstellen konnten.

Das Objekt über Alpha schwieg weiterhin, war wie zu Eis erstarrt. Versteinert. Und wirkte in seiner Starre ungefährlich.

Alan Carters Plan für Alarmsituationen war am späten Vormittag ausgearbeitet. Er hatte zwei Gefahrenstufen definiert, eine war mit der Farbe Gelb kodiert, die zweite dagegen mit Rot. Bei Gelbalarm herrschte erhöhte Aufmerksamkeit in einer möglichen Gefahrensituation. Die Kampfadler mussten startbereit sein, die Piloten innerhalb von zehn Minuten in den Fluggeräten. Die Stromzufuhr musste rasch für Schutzschirme und basiseigene Abwehrmechanismen freigeschaltet werden können und die Mannschaft hatte sich bereit zu halten, um ohne Umwege die Schutzräume aufsuchen zu können.

Wenn Rotalarm herrschte, mussten die Kampfadler besetzt sein und startbereit auf den Landeplätzen warten, die Schutzschirme auf Alpha hochgefahren, die Abwehr scharf, und die Mannschaft musste, mit wenigen definierten Ausnahmen, Zuflucht in den Bunkerräumen suchen. Schlüsselpositionen der Basis hatten besetzt zu sein, ebenso wie alle Arbeitsplätze im Hauptquartier.

Alan war zufrieden mit seiner Planung, auch wenn ihm klar war, dass nur die Zukunft zeigen konnte, wie hilfreich seine Vorkehrungen waren.

 

- ii -

Wieder träumte er, doch diesmal war irgendetwas anders. Es wollte ihm nicht einfallen.
Wieder stand sie auf einem kristallenen Hügel in der Helligkeit ihrer Welt, während der Wind mit ihrem schwarzen Haar spielte, das ihr über die Schultern bis an die Hüften fiel. Sie war groß und dennoch filigran, mit einem schmalen, blassen Gesicht, dunklen Mandelaugen und leuchtend roten Lippen. Er konnte kaum den Blick von ihr wenden, während sie ihn anstarrte, als wartete sie auf etwas, das unabwendbar war. Er zwang sich wegzusehen.

Und da fiel ihm ein, was nun anders war. Erstmals war ihm an der Stelle klar, dass es sich um einen Traum handelte, und erstmals erinnerte er sich auch daran, dass dies eine wiederkehrende Begegnung war, der er sich nicht entziehen konnte, solange er es verabsäumte, seine Rolle zu spielen. Also war es ein Kontakt der dritten Art, also war sie ein Wesen aus einer anderen Welt, das durch eine Tür in die Realität der Menschen kam, die jene nicht als solche verstanden. Waren Träume denn Realität? Er war verwirrt.

Der Horizont bog sich in allen Richtungen nach oben, bläulich-weiß und kristallisch glänzend, während mitten im Himmel ein gleißendes Licht hing, das zu nah war, um eine Sonne zu sein. Es war eine sehr kleine Welt. Kühl und verwirrend.

Überall waren Gebäude zu sehen, ebenso bläulich, kubische Strukturen, die in sich verschachtelt waren und sich übereinander türmten, aber keinen Anschein von Wolkenkratzern machten, wie sie in vielen irdischen Städten zu finden waren. Er war zu weit entfernt, um andere Lebewesen in der Nähe der Häuser erkennen zu können. Es gab keine Pflanzen, zumindest nicht, soweit er sehen konnte, nur glitzerndes Kristall.

Er wandte sich der Frau wieder zu. Halb erwartete er, dass sie nun verschwunden war, aber sie stand noch immer da, so reglos wie ihre gesamte Welt, und betrachtete ihn.

Jetzt bemerkte er, dass er sie in jedem Traum aufs Neue zum ersten Mal wahrgenommen und niemals den Blick von ihr gewandt hatte, um nichts als sie zu sehen, weil eine hypnotische Kraft in ihren Augen lag, die ihn an sich fesselte. Es war ihm auch unmöglich gewesen, das Wort an sie zu richten. Er hatte an ihr eine Autorität gespürt, die ihm zu verbieten schien, sie anzusprechen. Mit dem Wissen aber, über das er nun verfügte, war der Bann gebrochen. Die Faszination nicht, die sehr seltsame Form der Hingezogenheit, die er nicht zuordnen konnte, auch nicht, sie waren da, intensiv und unausweichlich. Machte sie das mit ihm? War sie nichtsdestoweniger ein Traumbild? War es logisch und einleuchtend, dass eine außerirdische Lebensform auf diese Weise mit unbedarften Intelligenzen Kontakt aufnahm? War dies eine vorsichtige und zuvorkommende Weise zu sagen: Ihr seid hier nicht allein? Er räusperte sich.

"Sie erscheinen mir im Traum. Das ist sehr ungewöhnlich. Wir nehmen Träume nicht als das reale Leben wahr, weswegen es länger gedauert hat, bis ich erkannt habe, wer Sie sind." Sie fuhr fort, ihn zu mustern.

"Dies ist eine Art der Kontaktaufnahme wie jede andere." Ihre Stimme war wie aus einer anderen Welt, sehr intensiv und einvernehmend. Sie fuhr ihm durchs Gebein, und er fühlte, wie seine Knie zu beben begannen. "Wiewohl sie Vorteile bietet."

"Dann wissen Sie, wer ich bin." Sie neigte den Kopf, ohne jedoch eine Regung zu zeigen.

"Sie sind der Anführer jener Gemeinschaft."

"Richtig. Und in dieser Eigenschaft muss ich Sie fragen, was Ihr Anliegen ist."

"Wir suchen das Wahrhaftige und Einzigartige." John war überrascht, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. Diese Wesen waren auf der Suche nach etwas sehr Subjektivem. Wer konnte wissen, nach welchen Kriterien sie urteilten?

"Das ist wahrlich keine einfache Aufgabe. Und Sie glauben, es bei uns zu finden?"

"Wir suchen überall danach. Auch an Orten, wo es wohl kaum zu finden sein wird." Es war klar, dass damit die Alphaner gemeint waren.

"Unvoreingenommenheit ist eine Tugend, die es einem erst erlaubt, verborgene Schätze zu entdecken", formulierte er seine Antwort, wie er hoffte, subtiler, als sie gemeint war. Ihre Augen verengten sich kurz, während ihr Blick ihn weiter an sie fesselte.

"Wir finden die Schätze, die es zu finden lohnt."

"Mittels Reisen in Träumen?"  Ihre Augen fixierten ihn weiterhin.

"Mittels unserer Kenntnisse der Biochemie." Er war sich nicht sicher, sich nicht verhört zu haben.

"Biochemie?" Sie nickte. "Dann suchen Sie nach einem perfekten Wesen? Perfekter Anatomie? Perfektem Körper?" Er entdeckte einen Funken Heiterkeit in ihrer Miene.

"Auch physisch unvollkommene Wesen können das Einzigartige beherbergen."

"Aber was fangen Sie mit Biochemie an?"

"Commander Koenig, wir haben Sie, Ihren Körper, detailliert gescannt. Die Summe aller Ihrer biochemischen Prozesse und Verbindungen, aller Molekülketten und molekularen Strukturen, sagen uns, ob wir das, was wir suchen, bei den Menschen auf dem Mond finden werden. Wir erkennen die Muster. Ein Blick in Ihre Biochemie zeigt mir mehr von Ihnen, als ich je aus Ihren Datenbanken erfahren könnte." Er war perplex.

"Aber ist der Mensch nicht mehr als nur ein Sammelsurium an chemischen Verbindungen? Was ist mit dem Geist?"

"Der Geist ist nichts als ein Extrakt aus der Biochemie, wenn man so will. Geht das Wesen zugrunde, stirbt auch der Geist."

"Die meisten Menschen gehen von anderen Voraussetzungen aus." Ihr Blick ließ ihn wissen, dass diese Behauptung für sie nichts Neues war.

"Ja, Commander Koenig. Glauben Sie mir, diese Diskussion haben wir mehr als einmal geführt. Aber Tatsachen lassen sich nicht wegdiskutieren. Selbst Ihre Träume sind die Folge von chemischen Prozessen, die sich in Ihrem Gehirn abspielen."

"Was für einen Wert hat dieses Zusammentreffen in meinem Traum dann für Sie?"

"Der Traum ist ein besonderer Status Ihrer Existenz. Sie würden es die Essenz Ihres Wesens nennen, die geprägt ist von Ihrem Geist und Ihrer Persönlichkeit. Für mich ist es die Reinheit Ihrer biochemischen Prozesse, die sich mir im Augenblick ungestört von zeitgleichen äußeren Einflüssen wie Ihrer Umwelt oder diversen körperlichen Störungen präsentieren und mir die Kommunikation erleichtern."

"Nun, in diesem Fall müssten Sie, wie ich Sie jetzt wahrnehme, auch lediglich ein biochemischer Prozess meines Gehirns sein, sozusagen eine Kreation der Chemie, aus der ich bestehe." Ihre Behauptungen verärgerten ihn.

"In gewisser Weise ist das korrekt. Jedoch nicht vollständig, sonst wäre diese Kommunikation kein Austausch sondern lediglich ein innerer Monolog ohne Gewinn."

"Dann lassen Sie mich wissen, wie wir beide gewinnen können." Ihre Miene war indifferent.

"Unsere Suche hier ist im Grunde abgeschlossen. Ich weiß bereits, dass wir weder das Besondere noch das Wahrhaftige auf Ihrem Mond finden werden."

"Allein aus den Daten, die Sie aus meiner Person gezogen haben und den wenigen Worten, die wir miteinander gesprochen haben?"

"Das ist korrekt!" John starrte sie an. Die Prämisse war nicht akzeptabel. Klischee, dachte er, auch Außerirdische schienen vor der Gefahr, das Teil für das Ganze zu halten, nicht gefeit zu sein. Vielleicht entsprang diese Ansicht ja ihrer eigenen Gesellschaftsform.

"Ich bin ja bereit zu akzeptieren, dass an mir persönlich nichts Wahrhaftes und Einzigartiges ist, aber nur das Wesen eines Einzelnen als Quelle für eine so grundlegende Aussage zu verwenden, halte ich für - unterrepräsentativ." Interesse flammte in ihrem Blick auf.

"Extrapolation", erwiderte sie nach einer kurzen Pause. "Die Erfahrung hat gezeigt, dass es ausreicht, eine einzelne Einheit zu überprüfen. Wir sehen genug, um beurteilen zu können, ob wir in der Gesellschaft finden werden, was wir suchen."

"Wir sind zwar Einheiten eines Ganzen, aber mehr noch als das sind wir Individuen. Haben Sie das berücksichtigt?"

"Das Konzept ist uns nicht fremd. Unsere eigene Lebensform entspringt dem Individualismus, auch wenn wir ihn mittlerweile weitgehend verlassen haben."

"Sie behaupten also, allein aus einer biologischen Einheit eines Volkes ermitteln zu können, ob dieses das gewisse, nicht näher definierte, Etwas besitzt?" John schüttelte den Kopf. War das ein Wahn, oder waren sie wirklich dazu in der Lage, mittels der biochemischen Prozesse in einem einzigen Gehirn eine gesamte Gesellschaft zu entschlüsseln?

"Zweifellos." Die Antwort kam ohne Umschweife. Entweder litten diese Wesen an vollkommenem Realitätsverlust, oder die Menschen mussten sich langsam von den lieb gewordenen Vorstellungen, was ihre eigene Existenz anging, verabschieden.

Vielleicht war es Eitelkeit, vielleicht auch eine grundlegende Angst davor, als Individuum am Ende nur Schall und Rauch zu sein, das ihn veranlasste, weiterzusprechen, obwohl überdeutlich war, dass die Fremde das Thema für beendet hielt.

"Wozu müssen Sie dann im Traum mit mir in Kontakt treten, wenn doch meine chemischen Verbindungen ein offenes Buch für Sie sind?"

"Der Kontakt im Traum dient der Beseitigung von letzten Unschärfen in den biochemischen Mustern, die wir gewonnen haben."

"Und die Ursachen dieser 'Unschärfen'? Kann es nicht sein, dass mehr dahinter steckt?"

"Nein. Sie entstehen durch Differenzen  in der Anthropologie, Sozialisierung,  durch Umwelteinflüsse und alle anderen Faktoren, die uns trennen. Der Kontakt im Traum ist wie ein Übersetzungsprogramm, das es mir ermöglicht, mich mit Ihnen in Ihrer Sprache und in Ihren Begriffen zu unterhalten." John gab auf. Es war auch nicht realistisch anzunehmen, dass er an dieser Stelle Punkte machen konnte. Er wusste, er konnte nun das Urteil der Außerirdischen, dass bei den Menschen nichts zu holen war, akzeptieren, doch es war eine Sache, die Behauptung hinnehmen zu müssen, dass der Mensch nur ein diesseitiges Wesen war, das mit dem Ende seiner biologischen Existenz verlosch, jedoch eine völlig andere zu akzeptieren, dass bloß mit einem flüchtigen Blick auf ein einzelnes Individuum eine gesamte Art deklassifiziert wurde.

"Kann man denn sagen, dass Sie Gesellschaften schützen, an denen Sie eine Besonderheit finden?"

"Eine Wahrhaftigkeit."

"Wäre es aus unserer Sicht erstrebenswert?"

"Ja."

"Dann möchte ich Sie bitten, sich mehr anzusehen als nur mich allein." Sie schwieg eine Weile, während er das Gefühl hatte, dass ihr Blick durch ihn hindurchging. Aus irgendeinem Grund schien es ihm von vitaler Bedeutung, dass diese Wesen ihre schützende Hand über die Alphaner hielten. Gleichzeitig drängte sich ihm der Verdacht auf, dass er persönliche Motive hatte und die fremde Frau genauer kennen lernen wollte. Sie war anders als jede andere Frau, die er je getroffen hatte, und der Wunsch in ihm wurde immer stärker, sich intensiver mit ihr zu befassen. Immerhin handelte es sich hier um den ersten tatsächlichen Kontakt mit außerirdischen Lebewesen. Er hatte eigentlich nicht damit gerechnet, dass dies so rasch eintrat. Auf der Erde war die vorherrschende Meinung gewesen, dass das Leben außerhalb des irdischen Sonnensystems extrem rar war.
Eine kühle Brise spielte mit ihrem Haar, während er atemlos wartete, und dann fokussierten sich ihre Augen wieder auf ihn.

"Ihr Appell ist ohne Wert. Ein anderes Faktum jedoch führt zur Erfüllung Ihres Wunsches." Johns Augen verengten sich.

"Was für ein Faktum?"

"Eine geringfügige Abweichung vom Muster. Nicht, dass dies etwas an den Tatsachen ändert, aber es rechtfertigt einen zweiten Blick."

"Was für eine Abweichung?" Er mochte es nicht, hingehalten zu werden, und seine Stimme hatte einen insistierenden Klang angenommen. Ein mildes Lächeln kam in ihr Gesicht.

"Das Lesen Ihrer Gedanken bleibt uns verwehrt. Wir kennen die Ursache. Sie liegt in der beständigen Überlagerung durch starke Emotionen. Es existieren solche Zivilisationen im Universum, wenn auch weit weniger häufig, als Sie es sich, für die dies ein normaler Zustand ist, vorstellen können."

"Na, Gottseidank", entfuhr es John. Es gab ein wenig Hoffnung, für die Außerirdischen nicht ein vollständig offenes Buch zu sein. "Aber was bedeutet das nun?" Ihr Lächeln erstarb.

"Das Reglement sieht in einem solchen besonderen Fall vor, dass wir die Traumebene verlassen und Ihnen einen persönlichen Besuch abstatten."

"Dann werden Sie uns willkommen sein." Sie neigte den Kopf.

 

- iii -

John erwachte, in Schweiß gebadet, aus seinem Traum. Sein Mund war trocken, und der Kopf dröhnte. Sein Herz ging wie ein Schlagbohrer, und er sprang aus dem Bett.

Aus einem unerfindlichen Grund erwartete er, die fremde Frau in seinem Quartier vorzufinden, doch dem war nicht so. Die gewohnten Konturen der Einrichtung schimmerten bläulich im sparsamen Nachtlicht.

Er versuchte, die Fassung wiederzugewinnen. Der Traum hatte tiefen Eindruck auf ihn gemacht. Er eilte ins Bad, drehte den Wasserhahn am Waschbecken auf und ließ eiskaltes Wasser über sein Gesicht rinnen, bis sich die Haut taub anfühlte. Dann starrte er sein nasses rotes Konterfei mit den erschrockenen Augen im Spiegel an.

Die Frau war so real gewesen, so eindringlich, so präsent. Er zweifelte keinen Augenblick daran, dass sie Wirklichkeit war und dass sie nun auf den Mond kommen werde. Und irgendwie hatte er das Gefühl, damit ziemlich Glück gehabt zu haben.

Als er sich wieder halbwegs im Hier und Jetzt fühlte, ging er zurück in seinen Wohnraum, nahm den Commlock vom Couchtisch und aktivierte eine Verbindung ins Hauptquartier.

Kano meldete sich mit vollem Mund.

"Entschuldigen Sie, Commander, Imbisszeit. Was kann ich für Sie tun?"

"Gibt es Neuigkeiten von unserem Begleiter?"

"Ich hatte die Daten die ganze Zeit über im Auge. Bisher ist mir nichts aufgefallen."

"Sollte sich etwas tun, benachrichtigen Sie mich sofort."

"Selbstverständlich, Commander. Ich habe die Sensoren auf die Kugel gerichtet. Bei der kleinsten Veränderung schlägt der Alarm an."

"Von wann sind die letzten Messungen?"

"Die Aktualisierung wurde gerade abgeschlossen. Nichts. Dort scheint auch alles zu schlafen."

"Gut so. Dann wünsche ich noch einen ruhigen Dienst. Und guten Appetit." Kano grinste in die Kamera, und John unterbrach die Verbindung, um sich wieder zu Bett zu begeben. Die Uhr zeigte 2:25. An Schlaf war natürlich nicht mehr zu denken.

Wer war dieses Wesen, das ihm da im Traum erschienen war? Sie war zu perfekt gewesen, um echt zu sein. Wahrscheinlich hatte sie sich ein menschliches Aussehen zugelegt, damit er in ihr keine Gefahr sah. Der Anblick einer anziehenden Frau verdrängte Bedenken und Furcht. Vielleicht war sie in Wirklichkeit ein Ungeheuer auf acht Beinen oder sah wie ein mobiler Pilz mit Tentakeln aus? Er wunderte sich, dass er nicht daran gedacht hatte, als er ihr gegenüber gestanden war. Höchstwahrscheinlich hätte er sich dann von ihr nicht so angezogen gefühlt. Er fragte sich, wie ihre wahre Gestalt aussah und in welcher Form sie sich auf Alpha zeigte.

Ihr Aussehen war eine Sache, eine andere war die Frage, was man ihr von den Menschen erzählen konnte, das ihr einzigartig vorkäme? Was zeigen? Sie schien bereits etliche Begegnungen mit anderen Arten hinter sich zu haben. Gab es überhaupt noch etwas, das sie als wahrhaft und einzigartig würdigen könnte? Und welche Bedeutung hätte es? Würde man ihnen diese Besonderheit wegnehmen? Hatte sie vielleicht gelogen? War sie auf Raubzug und hatte zunächst nur die Lage sondiert, geprüft, wie gutgläubig die Erdlinge waren, um dann, während sie sie arglos willkommen hießen, über sie herzufallen? Aber andererseits, was könnte man ihnen wirklich abnehmen? Er konnte sich nicht vorstellen, dass dieser riesige Traum einer mobilen Welt auch nur ein Zettelchen von Alpha brauchen könnte. So gesehen, konnten die Basis und die Menschen darauf kaum etwas besitzen, das diesen fortgeschrittenen Wesen begehrenswert erscheinen mochte. Wahrhaftig und einzigartig hin oder her. Hatte er einen Fehler gemacht, sie zu einem Besuch aufzufordern? Zweifel nagten an ihm.

Er stand wieder auf und nahm auf der Couch im Halbdunkel seines Quartiers Platz. Es war kurz nach drei. Zu früh, um den Tag zu beginnen. Aber den Schlaf konnte er auch vergessen.

Er kleidete sich an, hellwach, und spürte trotzdem die Erschöpfung, wie sie ihm durch das Gebein kroch. Er verließ seine Unterkunft und steuerte das medizinische Zentrum an. Helena hatte Rufbereitschaft - vielleicht war sie ja noch auf.

Dort herrschte geschäftiges Treiben, das gesamte medizinische Personal schien auf den Beinen zu sein. Verwundert begab er sich zum Büro der Chefärztin. In der Tat saß sie vor ihrem Computer und blickte verärgert auf, als sie merkte, wie jemand ohne Anmeldung eintrat.

"Commander!" Ihre Verärgerung machte der Überraschung Platz.

"Dr. Russell, was geht hier vor?" Sie erhob sich und kam hinter dem Schreibtisch hervor.

"Eine ganze Runde verdorbener Mägen. Acht Mann an der Zahl."

"Und warum weiß ich nichts davon?" Ihre Irritation kehrte zurück.

"Ich berichte es Ihnen doch gerade."

"Dr. Russell, wenn die halbe Mannschaft ausfällt, weil sie etwas Verdorbenes zu sich genommen hat, dann muss ich das das als Kommandant sofort wissen!" Sie hob beide Augenbrauen, und ihre Miene sprach Bände. Davon ließ er sich nicht beeindrucken. "Es kann zu schwer wiegenden Problemen führen, wenn Dienstposten krankheitshalber nicht mehr besetzt werden können, und im Übrigen, können Sie sich denn sicher sein, dass nicht auch der Rest der Mannschaft gefährdet ist?!"

"Kann ich", erwiderte sie prompt, "das Debakel geschah auf einer Geburtstagsfeier, denn zu diesem Anlass hatte einer der Festgäste eine Jumbo-Packung Corned Beef aus seinen alten Beständen ausgegraben. Das Problem war, dass das Ablaufdatum längst überschritten war, die Runde der Verlockung aber dennoch nicht widerstehen konnte." Sie musterte ihn mit scharfem Blick. "Commander, wenn eine Entscheidung außerhalb meiner Kompetenz angestanden wäre, hätte ich Sie umgehend benachrichtigt. Glauben Sie mir, das Rudel an speienden Eseln hat schon ausreichend Aufmerksamkeit erhalten, ohne dass auch der Commander um seinen Schlaf gebracht werden musste. Morgen sind sie alle wieder auf den Beinen, keine Sorge." Er spürte ihren Zorn und wusste auch, woher er kam. In der Vergangenheit hatte man aus Eitelkeit und Überheblichkeit ihre Fähigkeiten angezweifelt, sie nicht ernst genommen, ja, angefeindet und diffamiert. Kein Wunder, dass sie auch jetzt das Wiederkehren dieses Musters witterte - und vielleicht sogar Recht damit hatte. Er musste lernen, ihr zu vertrauen.

Sie schien zu merken, dass ihre Worte bei ihm angekommen waren, und Stress und Abweisung in ihrem Gesicht wichen der Erschöpfung. Sie lehnte sich an ihren Schreibtisch und fuhr sich mit der Hand über die Augen.

"Aber was machen Sie hier überhaupt? Sagen Sie nicht, dass sie ein Ärgernis-Radar eingebaut haben, das Sie aus dem Bett schleudert, sobald irgendwo auf Alpha etwas nicht ganz rund läuft." Er musste grinsen.

"Manchmal habe ich durchaus das Gefühl, über so ein Radar zu verfügen. Aber in diesem Fall war es mehr eine Begegnung der dritten Art, würde ich sagen." Sie blickte auf.

"Sie meinen die Frau aus dem Traum!"

"So ist es. Diesmal war alles anders. Ich wusste, dass es ein Traum war, und das erlaubte mir, mich aus dem Bann, der auf mir lag, zu befreien. Ich sprach sie an, und sie antwortete mir."

"Und?" Der Atem war ihr weggeblieben.

"Ich habe nicht alles verstanden. Sie sind auf der Suche nach etwas, etwas Einzigartigem, und glauben, anhand der biochemischen Prozesse im Gehirn eines einzelnen Individuums entscheiden zu können, ob sie es in dieser Gesellschaft finden werden." Sie interpretierte seine Miene richtig.

"Und wir sind uninteressanter Durchschnitt." Er nickte.

"Korrekt. Aufgrund der Tatsache aber, dass es ihr nicht möglich ist, unsere Gedanken zu lesen, muss ein weiterer Schritt in ihrem Prozedere durchgeführt werden." Helena sah ihn an. "Sie wird auf den Mond kommen." Sie seufzte.

"Ist das jetzt gut oder schlecht?"

"Wenn ich das wüsste! Ich hatte ein sehr überwältigendes Gefühl, dass es für uns wichtig sein könnte, dass sie zu einem anderen Schluss käme." Sie dachte mit vor der Brust verschränkten Armen nach. Dann nahm sie ihn mit kritischem Blick ins Visier.

"Sie waren das Individuum, das den Wesen als Kriterium diente, und Sie wollten nicht die Schuld daran tragen, sollte Ihre - also unsere - Durchschnittlichkeit unangenehme Folgen für uns haben."

"Sie haben gerne Recht, nicht wahr."

"Wer nicht?" Er lächelte über ihre trockene Ehrlichkeit. Sie jedoch blieb ernst. "Aber jetzt haben wir ein neues Problem: Wir wissen nichts über ihre wahren Beweggründe. - Und deswegen konnten Sie nicht mehr schlafen und kamen ins Lazarett."

"Womit Ihre Frage beantwortet ist", sagte er. "Sie haben es erfasst." Sie trat einen Schritt auf ihn zu und war nun so nah, dass er ihre Ausstrahlung förmlich spürte. Müdigkeit, Intelligenz, Pragmatismus und Empathie - und ein wunderbarer Duft nach Mimosen und Lindenblüten. Sie benebelte ihn, doch er konnte nicht weichen.

"John, sie hätten uns längst vernichten können. Dass sie es nicht getan haben, könnte man als gutes Zeichen werten."

"Ohne dabei die Wachsamkeit zu verlieren!" Sie lächelte.

"Ohne dabei die Wachsamkeit zu verlieren." Er spürte ihre Hand auf seinem Unterarm und jäh war das starke Verlangen da, sie an sich zu ziehen und zu küssen.

Er tat es natürlich nicht. Stattdessen drängte sich das Bild einer wunderschönen weißen Frau mit roten Lippen in seinen Verstand. Was war das nur? Mit einem Mal fühlte er sich krank. Rückzug war angesagt. "Ich werde versuchen, etwas zu schlafen."

"Da tun Sie gut daran", erwiderte sie und sah ihm nach, als er mit gebeugtem Rücken, als trüge er eine Last, so schwer wie der Mond, ihr Büro verließ.

Etwas stimmte da nicht. Als sie ihn berührt hatte, hatte sie einen Moment lang gespürt, dass er brannte. Ihretwegen? Wohl kaum, schalt sie sich, sie sollte die Realität nicht aus den Augen verlieren! Aber was es auch war, es war unmittelbar einer Kälte gewichen, einer Abweisung, die sie nicht fröhlich stimmte. Sie nahm wahr, dass sie immer noch auf die bereits geschlossene Bürotür starrte. Sie war einfach nur müde, beschloss sie, dies war die zweite lange Nacht in Folge, und die dazu gehörigen Tage waren auch nicht gerade stressfrei gewesen. Sie fand sich vor ihrem Schreibtisch wieder. Der Cursor am Bildschirm blinkte. Sie sollte den Bericht abschließen und sich eine Mütze Schlaf holen.

 

- iv -

Die folgenden Tage waren lähmend. Nichts geschah, abgesehen von der Tatsache, dass der Traum nicht mehr wiederkehrte. Für John war dies das - einzige - Zeichen, dass er keinem Hirngespinst aufgesessen war, sondern tatsächlich eine Konversation mit dem außerirdischen Wesen geführt hatte. Das Wesen. Er versuchte, es nicht als Frau zu sehen, die es sicher nicht war. Es verstörte ihn, weil diese völlige Fremdheit seinen Emotionen egal zu sein schien, sie betrachteten es als begehrenswerte Frau.

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Währenddessen wurde die Mannschaft wieder unruhig. John hatte sich dazu entschieden, sein Traumerlebnis nicht publik zu machen. Zu abwegig und unglaubwürdig kam es ihm im künstlichen Licht des Tages vor, als dass es hilfreich gewesen wäre, darüber öffentlich zu sprechen.

Die Unruhe der Mannschaft ließ sich leicht aus der Unsicherheit der Situation erklären. Man war keinen Schritt weiter, während die glitzernde Kugel nach wie vor über dem Mond schwebte und keinerlei Absichten zu erkennen gab.

Vorschläge machten die Runde, unter anderem auch, die Fremden zu provozieren, indem man ihnen, wie es hieß, "eine vor den Latz knallte", dann kämen sie schon hinter dem Ofen hervor. John ließ eine Intensivierung der Aufklärungsflüge zu, jedoch verbot er Waffengewalt ausdrücklich. Ansonsten hatten die Piloten freie Hand und machten sich einen Spaß daraus, möglichst nah an die Kugel heranzufliegen, um sodann wie von gegenpoligen magnetischen Kräften getriggert, abzuprallen. John hatte nicht viel Verständnis für die Kindereien, sah aber, dass die dafür erforderlichen komplizierten Manöver ein Training für die Männer an den Steuerknüppeln darstellten. Nachdem die Fremden dem auch kein Ende setzten, ließ er die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten kopfschüttelnd gewähren.

 

Auf Alpha dagegen nahm der Unmut zu. Die Leute fanden die stille Gesellschaft ihres schönen Begleiters inakzeptabel. Victor vermutete, dass sie durch den Anblick ständig mit ihrer Ohnmacht konfrontiert wurden, dass das technische Unvermögen und dadurch die Schwäche der Menschen nur allzu evident war. Von einer Gefahr gar nicht zu wissen, war eine Sache, ein Objekt unbestimmter Gesinnung vor Augen zu haben, das machtvoll genug war, Vernichtung zu bringen, war dagegen unerträglich.

Aggression und Konzentrationsschwäche waren die Folge. Beileibe nicht bei allen, jedoch reichte eine Handvoll Störenfriede, dem Sicherheitsdienst das Leben schwer zu machen. Der Commander statuierte ein Exempel. Wer nicht dringend gebraucht wurde, fasste Stubenarrest aus, die übrigen Übeltäter mussten nach ihrer Schicht für einige Tage in den eigenen vier Wänden bleiben und durften keinen Besuch erhalten.

John hoffte, dass auf die eine oder andere Art bald wieder Normalität einkehren werde. Lange würde er die Mannschaft nicht mehr hinhalten können.

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Er suchte Victor zu später Stunde in seinem Quartier auf, hatte sich jedoch zuvor angemeldet. Sein Freund legte den Bogen und seine Violine zur Seite, als er eintrat, und nahm auf der Couch Platz, nicht ohne zuvor noch einige Gerätschaften und diverse Teile von Werkstücken zur Seite zu schieben.

"Ich bin mit einem interessanten Problem beschäftigt", sagte er zu seiner Entschuldigung. "Es geht um die Verbesserung der Wasserqualität in der Aufbereitungsanlage. Nicht, dass ich das ohne Chemiker bewältigen könnte, aber man hat unter anderen auch mich um Rat gefragt. Ich hab da so einige Ideen!" John lächelte. Es war klar, dass Victor "einige Ideen" hatte. Er hatte ja immer Ideen! "Aber deswegen bist du sicher nicht gekommen!"

"Oh, ich kann es nicht leugnen, an der Verbesserung der Wasserqualität habe ich großes Interesse", meinte er wahrheitsgemäß, denn das Trinkwasser hatte einen reichlich seltsamen und chemischen Geschmack. Manche merkten das nicht mehr, aber er war der Überzeugung, es werde mehr als ein paar Monate brauchen, seine Geschmacksknospen derart zu umzupolen, dass sie dieses Wasser als natürlich und geschmacksneutral beurteilten. "Aber du hast Recht, meine Sorgen sind zurzeit nicht auf die Wasseraufbereitung konzentriert." Victor nickte.

"Unsere Besucher lassen sich nicht blicken."

"Nun, es ist jetzt fünf Tage her, da die Frau in meinen Träumen mir ihren Besuch zusicherte - und wo ist sie nun?" Victor lächelte, während er fast abwesend eines der Bauteile in seiner Hand betrachtete.

"Oh, jetzt fällt mir ein, wofür ich dich brauchen kann!" Er blickte ertappt auf. "Entschuldige, John. Hast du dir überlegt, dass sie vielleicht einfach einen anderen Begriff von Zeit haben? Womöglich mussten sie sich mit uns über die, wie soll ich das nennen, Traumebene in Verbindung setzen, weil ihr Ablauf der Zeit nicht mit unserer Wahrnehmung übereinstimmt!"

"Aber wie sollte dann ein Besuch vonstattengehen?" Er gestikulierte aufgebracht. "Wird sie dann etwa eine halbe Stunde in der Gegend herumstehen, während bei uns das Leben weitergeht?"

"Und wenn es so wäre, hätten wir dann damit nicht eine Schwäche der Außerirdischen gefunden?" John wand sich.

"Du hast Recht, mein Freund. Und doch dürfte das eine Kommunikation reichlich schwer machen!"

"Dann, würde ich sagen, erwarten wir mit Spannung, was geschieht." Er drehte das unfertige Modul in seinen Händen herum. "Und bis es soweit ist, John, beschäftigt uns die Routine des täglichen Lebens. Jetzt zum Beispiel kann ich dir nur empfehlen, dich mal aufs Ohr zu legen. Ausgeruht bis du uns nützlicher." Sein Freund konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

"Danke, mein Lieber, für die Reduktion meiner Person auf bloße Nützlichkeit." Er erhob sich.

"Stets zu Diensten", antwortete der, wieder mit dem Bauteil beschäftigt, und nur, wer ihn gut kannte, sah in seiner konzentrierten Miene die Heiterkeit.

 

- v -

Dann fiel ein Splitter aus dem Kristall. Er schwebte einfach aus dem Verband des riesigen Objektes, so unspektakulär, dass es zunächst nicht einmal auffiel. Seine Ausmaße waren auch gering, ein unbeholfenes Gletscherstück, spitz zulaufend, in sich gebrochen und mit vielen Kanten ausgestattet, kaum ein Schüppchen aus dem Leib des Himmelskörpers.

John schickte Alan Carter mit einem Adler zu dem Findling, der ziellos, wie es schien, in die Schwärze des Alls abdriftete. Carter hatte den Geologen Sanderson dabei, der ein paar seiner Spezialapparaturen eingepackt hatte und hoffte, dem Material damit auf die Spur zu kommen.

Was John heimlich befürchtet hatte, traf ein: Der Splitter war ebenso unerforschbar für menschliches Gerät wie das gesamte fremde Objekt.

"Commander, wir bekommen hier dieselben unergiebigen Aussagen wie bei den früheren Messungen", brachte Alan ihn auf den aktuellen Stand. "Es sieht so aus, als wäre die Undurchdringbarkeit der Oberfläche nicht auf einen Schutzschild zurückzuführen sondern auf die Eigenschaften des Materials an sich. Greg ist noch dabei, mit seinem Scanner ein paar Tests zu machen, aber er ist nicht sehr zuversichtlich. Vielleicht können wir den Brocken mitnehmen und ihn direkt untersuchen?"

"Habt ihr den Greifer dabei?" Alan nickte.

"Ist montiert. Wir brauchen also den Adler nicht zu verlassen, sondern können das Teil über die Fernsteuerung schnappen und huckepack nehmen. Ich habe schon nachgerechnet, es ist zwar, relativ gesehen, groß, aber nur in der Länge, der Greifer lässt sich so weit öffnen, dass wir es fixieren können."

"Gut, sofern Sanderson nicht noch Erkenntnisse gewinnt, die dagegen sprechen, bringt es her, am besten ins Außenlabor 2. Das ist, soweit ich weiß, funktionstüchtig und auch mittels Rampenschlitten erreichbar. - Und, Alan -" Der Pilot schaute auf. "geht vorsichtig damit um! Ich möchte, dass es unbeschädigt hier ankommt."

"Klar, Commander." Er unterbrach die Verbindung und rief nach Sanderson, der im Passagierraum des Adlers mit seinen Messungen beschäftigt war und halblaut vor sich hin schimpfte. "Wie sieht es aus, Greg? Der Commander will, dass wir es mitnehmen."

"Wär auch mein Vorschlag. Ich komme hier auf keinen grünen Zweig. Packen wir es ein."

Der Plan war einfach, nur machte das Objekt es ihnen ausnehmend schwer, ihn auch auszuführen. Es zeigte sich nämlich, dass der Greifer, den man vom Adler aus dirigierte, seiner ureigensten Tätigkeit nicht nachkommen konnte, nämlich zu greifen. Der Splitter entglitt ihm ein ums andere Mal, ließ sich nicht packen, und jeder Versuch endete damit, das er ihm elegant entwich, so, als versuchte man, zwei Magneten an ihren gleich gepolten Enden mit einander zu vereinen. Es war unmöglich.

Schließlich musste ein zweiter Adler mit zahllosen Leinen an Bord ausrücken, und, gemeinsam mit Alan und Greg, verschnürte das Team den Splitter - soweit man eben davon sprechen konnte, denn die Seile "hielten" erst etwa einen Meter vom Objekt entfernt. So schlenkerte am Ende ein sowohl seltsam geformter als auch seltsam gefesselter Ballon hinter dem Adler her, auf dem Weg zum irdischen Mond.

Eine weitere Herausforderung konnte, wie es sich herausstellte, nicht gemeistert werden. Was auch immer sie anstellten, es gelang nicht, das Objekt durch das Tor in den Beobachtungsraum des Außenlabors zu verfrachten. Sobald es die schwitzenden Männer in ihren Raumanzügen mittels Zug und Gegenzug an den Seilenden in die Nähe des Eingangs bugsiert hatten, prallte es zurück nach draußen in die Landschaft und nahm alle mit, die nicht rechtzeitig die Leinen losließen. Dort hing es dann einen Meter über dem staubigen Boden, als wartete es schadenfroh ab, was den Alphanern als Nächstes einfiel.

John beobachtete die Szene via Monitor vom Hauptquartier aus. Neben ihm stand Victor, eine Hand nachdenklich an der Stirn, und musterte das störrische Objekt.

"Victor, könnte es genug Raum im Inneren für einen Menschen bieten?" Der ließ sich die Daten von Kano geben und studierte die Zahlen. Als er seinen Schluss gezogen hatte, kam er mit dem Datenstreifen zu John und hielt ihn ihm unter die Nase.

"Nur ein sehr kleiner Mensch könnte sich darin aufhalten. Allerdings ohne Sauerstoff, ohne zusätzlichen Raum, ohne Kleidung, Ausrüstung und was man sonst halt brauchen könnte. Vorausgesetzt natürlich, dass das Objekt hohl ist. Das wissen wir nämlich auch nicht."

"Verdammt. Ich hatte den Verdacht, dass es sich um eine Kapsel mit unserer Besucherin darin handeln könnte." Der Wissenschaftler warf einen weiteren Blick auf die Zahlen.

"Der Rauminhalt des gesamten Körpers entspricht in etwa dem, was ein erwachsener Mensch für sich beansprucht." Johns Kopf hob sich mit einem Ruck.

"Victor! Dann ist sie es!" Der Professor begegnete ihm mit einem skeptischen Blick.

"Das ist die Außerirdische, die du in deinen Träumen gesehen hast?", fragte er mit gesenkter Stimme, sich augenscheinlich daran erinnernd, dass die Mannschaft nicht darüber Bescheid wusste.

"Victor! Ist es nicht offensichtlich? Sie hat gesagt, dass sie kommen wird, und dann löst sich seltsamerweise ein kleiner Teil aus dem Schiff! Das kann kein Zufall sein!" Auch John hatte leise gesprochen. Die Aufmerksamkeit der übrigen Anwesenden im Hauptquartier fiel dennoch auf die beiden Männer. Er und Victor sorgten mit ihrer Flüsterei für Beunruhigung, die in dieser Situation alles andere als hilfreich wäre. "Ins Büro!" Er drehte sich um und eilte die wenigen Stufen hinauf zur Verbindungstür, die auf sein Commlock-Signal hin so weit aufglitt, dass eine Person ohne Schwierigkeiten passieren konnte. Victor lief verdutzt hinter ihm her. Mit einem energischen Druck auf den Schließknopf am Commlock ließ John die Tür zuschnellen, während er selbst zum Fenster rannte und sich von Victor abwandte, um aufgebracht hinauszustarren. Natürlich waren die Männer, die sich da draußen mit dem Objekt abmühten, nicht zu sehen, aber das gleißende Objekt leuchtete ungerührt auf die Mondlandschaft herab, und es war, als versuchte John mit seinem Blick Kontakt zu den Fremden aufzunehmen. Victor war es unangenehm, insistieren zu müssen.

"John, tut mir leid, aber mir ist die Offensichtlichkeit, die du siehst, vollkommen entgangen." John wandte sich widerwillig von dem Anblick draußen ab.

"Da passiert garantiert nichts aus Zufall. Wir können nicht einmal in die Nähe dieses Schiffes gelangen, aber dann soll es wie von ungefähr einen Teil verlieren? Das glaubt doch kein Mensch! Da steckt Absicht dahinter, und wenn du mir sagst, dass man den Splitter auch nur in irgendeiner noch so fernen Weise mit einem menschlichen Körper vergleichen kann, dann liegt für mich nur ein Schluss nahe: Die Außerirdische macht ihr Versprechen wahr!" Victor, der sich überrumpelt fühlte von der Heftigkeit, mit der John seine ungläubige Frage nach dem fremden Wesen entgegnet hatte, kam langsam in die Spur zurück. Er war kein Konventionalist, im Gegenteil, sein Verstand fand Freude an neuen Wegen - an Abwegen, wenn es sein musste, wie John sie anscheinend jetzt auch zu gehen bereit war. Er neigte den Kopf.

"Dann meinst du also, dass unser Gast mit seinem Quartier da draußen nicht zufrieden ist sondern uns gerne direkt auf der Basis besuchen möchte." John, der die rasche Anpassungsfähigkeit, die flexible Denkweise, seines Freundes kannte und auch sehr schätzte, atmete erleichtert auf.

"Ich hätte es nicht besser ausdrücken können." Victor nickte.

"Dann soll das Taxi sie im richtigen Hotel absetzen. Ich bin sehr gespannt, wie wir uns mit dem Splitter unterhalten werden." John war wieder auf dem Weg ins Hauptquartier und ließ kein Zeichen dessen erkennen, ob er Victors letzten Satz gehört hatte.

"John?" Er blieb in der Tür stehen und drehte sich um.

"Was ist?" Offensichtlich hatte er ihn gehört.

"Soll es ein Staatsempfang werden?"

"Nicht lustig", erwiderte der, ehe er seinen Weg fortsetzte. Victors Mundwinkel hoben sich, wenn auch die Sorge in seinem Gesicht nicht zu übersehen war.

"Ich finde doch", sagte er, mehr zu sich, ehe er dem Commander folgte.

 

- vi -

Staatsempfang wurde es keiner. Auch wenn John von der Tatsache überzeugt war, dass nun endlich der angekündigte Besuch stattfand, so dachte er nicht daran, alle Vorsicht fahren zu lassen.

Er suchte einen Forschungsraum aus, der weit von der Zentrale und allen wichtigen Einheiten sowie den Quartieren entfernt war und der obendrein über eine eigene Schleuse direkt von der Mondoberfläche aus erreichbar war. Die Abschottung vom Rest der Basis war ohne Weiteres möglich, und obendrein wurde das Areal so weit als möglich von Personal geräumt.

Die Mannschaften in den Adlern und im Hauptquartier hatten verwundert aber ohne zu zögern seine Anordnungen befolgt, und siehe da!, seine Vermutung schien sich zu bestätigen: Ohne Schwierigkeiten ließ sich das kleine Objekt durch die - im Vergleich deutlich engere - Schleuse in die Basis führen, wo es dann auf einem Tisch positioniert wurde. Die Höhe des Tisches war adaptierbar und auf etwa 40cm reduziert worden, während der Splitter nun, zum Großteil von Seilen befreit, etwa einen Meter über der Tischfläche schwebte.

Die Anwesenden zogen sich in den Kontrollraum zurück, der sie mittels einer bruchsicheren Glasscheibe von dem Objekt trennte.  

Im Licht der Scheinwerfer betrachtet, hatte es nun allen Glamour eingebüßt. Vom strahlenden Weiß, in dem es im All geleuchtet hatte, war nichts mehr zu sehen, es imponierte in stumpfem Grau, fast metallisch wie unreines Platinerz. Jetzt war es nur noch ein unscheinbares, kantiges Etwas, das zwar schwebte, aber ansonsten wenig an Faszination barg. Bei seinem Anblick drängte sich das Gefühl von Müdigkeit auf. Als hätte der Widerstand gegen Alan und seine Mannen ihm alle Kräfte abverlangt.

Es war in der Tat, zumindest den Messungen nach, die durchgeführt werden konnten, inert. Die Wärmebildkamera zeigte jedoch, dass es sich an die Raumtemperatur anpasste. Gleichzeitig war zu beobachten, wie es sich sehr langsam senkte. Es folgte den Gesetzen der Thermodynamik und, wenn auch verlangsamt, jenen der Gravitation, beides passive Prozesse.

Es sollte Stunden dauern, bis die Temperaturen ausgeglichen waren, während deren es nicht aus den Augen gelassen wurde und sich bis zu fünf interessierte Wissenschaftler in der kleinen Kammer drängten. In dem Moment, als der Körper Raumtemperatur erreicht hatte, setzte er auch auf der Unterlage auf.

Es war mittlerweile später Abend, fast Mitternacht, und die Beobachter hatten sich abgewechselt, die einen waren zum Essen gegangen, andere waren gekommen und kürzer oder länger geblieben, nur John saß wie angewachsen auf seinem Sitz vor der Glasscheibe. Sein Blick klebte auf der Anzeige des Computers, und er verspürte die Gewissheit, dass nun bald etwas passieren werde. Müdigkeit fühlte er nicht, obgleich sein Tag schon lange dauerte.

Das Objekt dagegen hatte es offensichtlich nicht eilig. Seit es sich auf dem Tisch bequem gemacht hatte, war nichts weiter geschehen. Victor, der von einem Snack zurückgekehrt war, Paul und Sandra im Schlepptau, die ihren Dienst im Hauptquartier soeben beendet hatten, erfasste die Situation mit einem Blick.

"Status quo?" Er ließ sich von David Kano die aktuellen Daten geben. "Sieht nicht so aus, als ob hier in absehbarer Zeit noch etwas passieren wird. Wir können es auch von der Kommandozentrale aus beobachten und uns etwas Ruhe gönnen." Erwartungsgemäß war der Commander wenig einverstanden.

"Wir können es nicht sich selbst überlassen!"

"Warum nicht? Wir verriegeln den Raum, damit niemand unbefugt eintreten und auch nichts entweichen kann und hängen einen Alarm an die Instrumente. Sobald sich etwas ändert, springt er an, und innerhalb von wenigen Minuten ist jemand vor Ort. Zudem wird hier alles von Paul in der Zentrale mittels Video überwacht."

John folgte seinem Vorschlag unwillig und entließ alle Beobachter, blieb aber selbst noch hinter den Kontrollen sitzen. Er wollte nicht glauben, dass das schon alles gewesen sein sollte. Waren die Veränderungen, die am Objekt stattgefunden hatten, Teil eines natürlichen Prozesses oder handelte es sich dabei, wie er glaubte, um die Vorbereitung zur Kontaktaufnahme mit ihnen? Wo wäre der Sinn, wenn nur Ersteres zuträfe? Sie konnten hier auf Alpha mit dem Objekt nichts anfangen, es nicht einmal richtig vermessen. War es wirklich nur ein Splitter der Raumschiffhülle, der sich, aus welchen Gründen auch immer, gelöst hatte? Es war nicht logisch, dass die Wesen ihrem Schiff erlaubten, einfach seine Teile nach Belieben abzusetzen.

Er dachte an die Frau aus seinem Traum. So sicher er gewesen war, dass sie ihm nun in irgendeiner, ihm nicht vorstellbaren Art, erscheinen werde, so sicher konnte man sagen, dass der unscheinbare Klumpen auf dem Tisch nichts mit der wunderschönen Erscheinung zu tun hatte, an die er sich erinnerte. Hatte er sich getäuscht, war alles wirklich nur ein Traumbild gewesen, die schmale, hohe Gestalt, das ebenmäßige Gesicht, die wachen Augen? Ein Traum?
Er konnte nicht so ganz verstehen, was ihn so an ihr gefesselt hatte, warum er es sich wünschte, wirklich wünschte, sie von Angesicht zu Angesicht zu sehen - ungeachtet der Tatsache, dass sie am Ende wohl wirklich nur ein Traum bliebe, ein Traum, den ihm die Außerirdischen vorträumten, ja, den sie ihm vorgaben. Er war manipulierbar, viel zu sehr, es war zu offensichtlich, und doch war er machtlos gegen ihre Faszination auf ihn, die allein durch seine Erinnung an seine Träume genährt wurde. Er schüttelte den Kopf.
Welche Rolle spielte sie für ihn? Da war irgendetwas an ihr, das ihn festhielt und mit sich zog.
Jäh fiel ihm Helena Russell ein. Es war, als bliebe sein Herz stehen. Die Ärztin war mehr als ein Kontrast zu dem Bild, das er im Kopf hatte. Sie war bodenständig. Reell. Widerspenstig. Hart. Und trotzdem sanft. Aber fern. Ferner als sein Traumbild?
Verwirrung war eine milde Umschreibung dessen, was sich gerade in seinem Inneren abspielte. Seine Augen lagen auf dem fremden Gebilde, das keine Anstalten machte, sich in die Schöne zu verwandeln, die er erwartete, und langsam beschlich ihn der Verdacht, dass er sich getäuscht hatte. Seine Rechnung ging nicht auf. Die Rätsel waren nicht gelöst, und noch gab es keine neuen Hinweise.

Er erhob sich, um sein Quartier aufzusuchen, überlegte es sich am Weg jedoch wieder und bog ab ins Erholungszentrum, in der Hoffnung, irgendwo noch einen Bissen zu essen aufzutreiben. Ein Blick auf die Uhr bestätigte ihm, dass die Kantine schon geschlossen war, doch hatte es seinerzeit schon ein Lokal gegeben, eine Mischung aus Café und Bar, wo man zu später Stunde auch noch ein Clubsandwich bekam oder einen Toast Hawaii. Er hatte den Namen vergessen, und es hatte bei der Katastrophe, als der Mond die Erdumlaufbahn verlassen hatte, nicht nur schweren Schaden genommen, sondern auch seinen Betreiber verloren, der gerade auf der Erde gewesen war, weil er sich nach neuen Bier- und Whiskyspezialitäten umgesehen hatte. Das Lokal war zunächst geschlossen worden, aber John hatte gehört, dass es nun als Club wieder eröffnet worden war, und zwar von einem gestrandeten Besucher auf dem Mond, einem Gewinner eines Preisausschreibens, namens Arthur oder so ähnlich. Er hatte die Leute aus dem Hauptquartier darüber reden gehört, und insbesondere war ihm erinnerlich, dass der Club sehr lange Öffnungszeiten hatte.

Bereits als er aus dem Lift in den Korridor trat, fiel ihm schräg gegenüber am Ende des Ganges ein kaum zum restlichen Ambiente der klinischen Sauberkeit passendes schwärzliches Blechschild über der Tür zum Lokal auf, in das der neue Name hineingeschweißt worden war: Club '99.
Der Mann musste Humor haben. Das Schild sah genauso provisorisch aus wie John die ganze Basis, ja, ihre gesamte Gemeinschaft darin, wahrnahm.
Die Tür öffnete sich automatisch, als er davor stand, und er trat in das Halbdunkel des Raumes. Sofort wusste er, was es mit dem Schild auf sich hatte. Nichts galt hier mehr, die Technik, die Regeln, die Autorität, der uniforme Anblick, das alles musste draußen bleiben. Es war eine kleine Parallelwelt, ein Tor in die Vergangenheit, dunkle Böden, alte, teilweise noch renovierungsbedürftige, Couchmöbel, hölzerne Tische und Stühle, an den getäfelten Wänden zahllose Bilder mit Musikern und ihren Instrumenten, eine kleine verlassene Tanzfläche im Zwielicht, eine Aura von Freizeit.
Falsch.
Eine Aura von Freiheit.

Für die Uhrzeit war noch relativ viel los. Einige Gruppen saßen an den Tischen und unterhielten sich bei Getränken und Crackern, ein paar Pärchen waren zu sehen, die in mit dunklen Stoffen bezogenen Sitzgruppen versanken, und drei oder vier Einzelgänger hockten am Tresen und starrten bei leisem Jazz in ihre Gläser. Nina Simone, Feeling Good.

"It's a new dawn
It's a new day
It's a new life
For me
And I'm feeling good"

Mehrere Barhocker waren frei, und er suchte sich einen davon aus. Der Barkeeper war ein ziemlich großer Farbiger, der so dunkel war, dass seine runden Augen vor Schalk und seine ebenmäßigen Zähne vor Helligkeit herausblitzten und die muffige Miene, die er zur Schau stellte, Lügen straften. Ein Schelm. Er trug ein aufgekrempeltes Holzfällerhemd in Blau, das sich bedenklich über seinen kugeligen Bauch spannte. Mit Riesenpratzen schichtete er frisch polierte Gläser ins Regal. Erst, als er damit fertig war, schob er sich gemächlich zu John.

"Commander", sagte er, "willkommen. Ich bin Artie. Was kann ich Ihnen bringen?" John erkundigte sich nach etwas Essbarem und einem Glas Wasser.

"Mal sehen, was sich machen lässt." Artie verschwand nach hinten und kam etwas später mit einem riesigen Tofuburger heraus, bei dem Salatblätter, Tomaten und verschmolzener Käse neben Gurkenstreifen und den gegrillten Tofulaibchen rundherum appetitlich heraushingen. Er schenkte ein Glas Bier ein und schob es über den Tresen. John kam nicht dazu, das Getränk zu reklamieren. Artie baute sich vor ihm auf, als er sein Gesicht sah, und beugte sich drohend über die Theke.

"Das ist ein Club, Commander, keine Kinderparty. - Außerdem sind das unsere letzten Bierreserven. Wenn es nicht zufällig einen verdammt guten Braumeister hierher verschlagen hat, können wir es bald für alle Zeiten abschreiben."

So lernte John Artie kennen und dass man bei ihm zwar Wünsche äußern durfte, aber immer das bekam, was man gerade brauchte. Und das eine war nicht zwangsläufig mit dem anderen ident.

 

- vii -

Helena hatte sich einen Tag Auszeit genommen. Im Lazarett war wenig los, keine eiligen Patienten, keine Ambulanztermine, nur Routine, mit der ihre Kollegen auch ohne sie zurechtkamen. Ihr Team bestand aus hervorragenden Spezialisten, es wäre lächerlich anzunehmen, dass man ohne die Chefin nicht auskäme. Sie dachte das auch nicht, und doch hatte sich über die Jahre eine schlechte Gewohnheit bei ihr eingeschlichen, eine Art Kontrollzwang, den sie selbst ganz widerlich fand und gegen den sie sich beständig zur Wehr setzte. Es war natürlich klar, woher der Drang kam, der Wunsch, alles beherrschen zu wollen, und der irrige Glaube, dass dann nichts Übles mehr geschehen könne.
Es konnte immer etwas Übles passieren, alle Zügel aus den Händen entgleiten. Immer erwies sich das Schicksal als stärker, und der Mensch hatte in Wahrheit nichts in der Hand.

Sie schüttelte den Kopf. Sie sollte den Tag genießen und sich nicht unnötig den Kopf zerbrechen. Es war ungewohnt, die Stunden nicht verplant zu wissen. Sie konnte sich kaum erinnern, wann dies das letzte Mal vorgekommen war. Immer gab es Termine, immer eine Struktur, und Löcher wurden gefüllt mit den Dingen des Alltags, die einem sonst niemand abnahm. Und wenn die Zeit mal gar nicht anzubringen war, fand sich garantiert eine leere Bahn im Schwimmbad, oder jemand, der um Beratung bat, oder zumindest ein Buch, das gelesen werden wollte. Letzteres war aber schon lange nicht mehr passiert, denn einen Buchdeckel zu öffnen, wirkte auf sie wie eine superstarke Schlafdroge, und sie versank umgehend in den traumlosen Schlaf der vollkommenen Erschöpfung. Sie schaute sich unschlüssig im Raum um. Alles war, wohin es gehörte. Die nichtssagenden Bilder mit geometrischen Formen, die bereits bei ihrem Einzug da gewesen waren, hingen wie Soldaten stramm an den Wänden, die Kleidung stapelte sich ansehnlich im Schrank, die Bücher reihten sich nach Autoren im Regal, der Notizblock am Schreibtisch lag an der richtigen Stelle, die Bleistifte waren gespitzt und der Staub gewischt.
Sollte sie wirklich verlernt haben, das Leben auch mal zu genießen? Ganz früher war ihr die Freizeit wichtig gewesen. Sie hatte sich mit Freunden zum Essen verabredet oder war mit ihnen ins Kino gegangen. - Freunde, die jetzt nicht mehr da waren.
Sie war gerne in der Stadt unterwegs gewesen, hatte sich treiben lassen vom Lärm und dem bunten Wirbel, den vielen unterschiedlichen Menschen, hatte Museen und Ausstellungen besucht und war es nicht müde geworden, die Schönheit von Architektur und Natur zu bewundern. - Nichts davon gab es jetzt noch.
Sie wunderte sich aber nicht darüber, wie wenig sie diese Gedanken bislang beschäftigt hatten. Sie hatte in der Tat vieles vergessen und verdrängt; weggelegt wie ein Buch, das man nicht mehr lesen wollte. Zuerst war es ihr Arbeitsalltag gewesen, die Herausforderungen, die sie vollkommen beansprucht hatten, und dann war ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt worden, und nichts war mehr wie zuvor. Da war es noch viel leichter gewesen, das Alte auszublenden. Es war ja genug Neues da, das sie verscheuchen musste. Eine ganze Erde war es, die es zu vergessen galt. Und die Vergangenheit war nur ein Nebel, so fern, dass sie die Geister nicht mehr einholen konnten. Sie gehörten einer anderen Epoche an und konnten ihr nichts mehr anhaben. Sie seufzte. Es half nichts, in die Vergangenheit zu blicken, sie lebte in der Gegenwart und hatte ihren persönlichen Weg gefunden, alles auszuhalten. Sie zwang sich, an etwas anderes zu denken.

Irgendwo musste noch ihr Werkzeug sein. Sie hatte früher gerne mit Ton gearbeitet, modelliert, Figuren, Masken, auch abstrakte Arbeiten hergestellt, und Schalen und Vasen aller Art. An der Töpferscheibe zu sitzen oder mit dem Modellierholz dem Ton eine Form zu geben, war für sie eine Art von Meditation gewesen, die Möglichkeit, einen freien Kopf zu bekommen, sich erfüllen zu lassen von dem Gefühl, etwas zu erschaffen, der Inspiration, Konzentration, wo alle anderen Gedanken von ihr abgefallen waren, alle Sorgen und Probleme. Warum sie aufgehört hatte, wusste sie nicht, vielleicht hatte sie Angst vor der Leichtigkeit gehabt.
Aber womöglich war dies die Chance für einen neuen Anfang? Es gab auf dem Mond Ton, einige ambitionierte Mannschaftsmitglieder hatten begonnen, schon vor dem Wegbrechen des Mondes, ihn auf künstlerische Weise zu verarbeiten und allenthalben fand man
moon art, handgemachte Stücke aus Material, das zur Gänze vom Mond stammte.
Sie suchte nach der Schachtel in der Lade einer Kommode, die sie nicht ein einziges Mal geöffnet hatte, seit sie auf dem Mond stationiert war. Als sie die kleine Kiste herausnahm, glitt gleichzeitig ein Foto heraus und schlitterte über den Boden. Sie hob es auf. Darauf war einer der Geister, vielleicht sogar der größte und übermächtigste. Das Bild war einmal gerahmt gewesen und auf der Anrichte im Wohnzimmer ihres Elternhauses gestanden, ein Konterfei ihrer Mutter, die so mit sich selbst beschäftigt gewesen war, damit, eine makellose und vollkommene Illusion ihrer Selbst zu kreieren, dass sie darüber ihr Kind vergaß. Helena hatte lange geglaubt, dass ihre Mutter sie hasste, aber die Realität war noch viel ernüchternder: Ihre Tochter war ihr zu gleichgültig, als dass sie sie hätte hassen können.
Sie erinnerte sich an Schweiß und Tränen der Verzweiflung, als sie ein Mädchen gewesen war, an die übermächtigen Anstrengungen, die sie unternommen hatte für ein liebes Wort und ein wenig Anerkennung. Nichts davon hatte es gegeben. Sie spürte ein wohlbekanntes Gefühl in ihrer Brust, das
Böse Brennen, wie sie es als Kind genannt hatte. Heute sah sie, woraus es gemacht war: Aus Zurückweisungen, Erniedrigungen, nie enden wollenden Bestrafungen und den Qualen, die daraus hervor gingen, und aus Einsamkeit. Aber jetzt war da noch mehr. Über allem lag ein Mitleid - mit dieser kalten Frau, die ein Herz aus Stein hatte und das Glück nicht spüren konnte.

Helena konnte sich zunächst nicht erinnern, warum sie das Foto aufbewahrt hatte. Erst, als sie es umdrehte, sah sie ihre eigene, damals noch jugendliche Handschrift:
Schau in den Spiegel, stand da zu lesen, wenn du aussiehst wie sie, dann bist du wie sie.
Zeit, den Check zu machen. Sie trat zum Wandspiegel neben dem Eingang und betrachtete abwechselnd sich und die Frau auf dem Bild.
Ihrem jüngeren Selbst war natürlich klar gewesen, dass sie ihr optisch ähnelte, aber damals hatte sie den Ausdruck in den Augen ihrer Mutter gemeint, den unversöhnlichen Blick voller Herablassung und Kälte, die Leere hinter der überschminkten und aufgetakelten Fassade. Auch die Augenfarbe war dieselbe, ja, aber ansonsten erkannte sie sich in dem Foto ihrer Mutter nicht wieder. In ihrem Spiegelbild war nur Traurigkeit. Sie war nicht wie sie. Tränen rannen über ihre Wangen. Sie ließ es geschehen.

Nach einer langen Weile legte sie das Foto weg. Es hatte ihr gezeigt, dass sie selbst noch etwas spürte, dass sie im Inneren nicht tot war, wie sie manchmal glaubte, sondern Schmerz und Mitgefühl noch kannte und auch immer noch wusste, was Sehnsucht war. Sie war ihrem jüngeren Selbst zu Dank verpflichtet.

Die Uhr zeigte späten Vormittag. Wo war die Zeit geblieben? Auf dem Weg ins Badezimmer fiel ihr ein, dass sie vorgehabt hatte, dem Artefakt im Verlauf des Tages einen Besuch abzustatten. Das war jetzt genau das Richtige, sie musste unter die Leute kommen. Nachdem sie sich restauriert hatte, verließ sie die Ruhe ihrer Unterkunft.

 

- viii -

Sie fragte sich, ob der Commander immer noch wie angewurzelt in der Beobachtungskammer saß. Ob er die ganze Nacht dort verbracht hatte? Sie war kurz dort gewesen, am frühen Abend, er hatte ihr Eintreten nicht einmal bemerkt. Sie war auch nicht lang geblieben, hatte nur wortlos auf die steinartige Struktur des Artefakts gestarrt und war dann, von einer jähen klaustrophobischen Attacke überfallen, geflüchtet. Draußen war sie stehen geblieben, hatte sich an die Wand gelehnt und tief durchgeatmet. Vielleicht war es ja in der stickigen Kammer, wo sich zu viele Leute auf einmal aufgehalten hatten, wirklich zu eng für sie, aber sie war sich nicht so sicher. Der Splitter hatte ihr Angst eingejagt. War er eine Bedrohung? Freund oder Feind? Sie wusste es nicht. Was machte er mit dem Commander? Dieser schien wie absorbiert von diesem formlosen Etwas zu sein, in dem er ein fremdes Wesen vermutete. Sie hatte das Gefühl, als wäre er dabei, seine Vorsicht über Bord zu werfen. Das war nicht gut, um der Basis willen. Um seinetwillen.
Sie fragte sich, ob sie mit ihm sprechen sollte.
Aber jetzt musste sie wieder in den Kontrollraum gehen, und sehen, ob sich ihre Angst verifizieren ließ. Ob es nur die äußeren Umstände gewesen waren, oder doch der Splitter?

Es war niemand da, als sie eintrat. Die Instrumente blinkten, und das Artefakt lag weiterhin unverändert auf dem Tisch, als wäre es etwas ohne jegliche Bedeutung. Vielleicht stimmte das auch. Helena atmete auf. Das panikartige Gefühl kehrte nicht zurück, und sie ließ sich vor den Kontrollen nieder. Sie rief am Computer ALF auf, "Any Life Form", ein Programm, das man nach ihren Spezifikationen entwickelt hatte, und das sie jetzt erneut über die vorhandenen Daten des Objektes laufen ließ. "0%", war wieder das Ergebnis. Möglicherweise hatte der Commander die Flöhe husten gehört.
Sie seufzte. Sie war ja schon wieder am Arbeiten. Ein weiterer Punkt, den sie der der langen Liste ihrer schlechten Gewohnheiten hinzufügen musste.
Hinter sich hörte sie den Öffnungsmechanismus der Tür, die aufglitt. Sie drehte sich um.

"Commander!" Er sah unausgeschlafen aus - aber sie war froh, dass er nicht seit der Ankunft des Splitters hier geblieben war. Am Vortag hätte sie keine Wetten dagegen abgeschlossen.

"Dr. Russell. Schön, Sie zu sehen. Ich habe Sie gestern hier vermisst." Sie wollte sich keine Blöße geben und log ihn an.

"Ich war beschäftigt." Sie wandte sich wieder dem Programm zu und versuchte ein paar andere Einstellungen, blendete diverse Datensätze aus und andere ein. Veränderte die Parametrierung. Das Ergebnis war dasselbe. Der Splitter war und blieb ein unbelebtes Objekt.
John setzte sich neben sie auf den zweiten Stuhl. Er sah das Ergebnis, das
ALF ausgespuckt hatte, und fühlte sich offensichtlich bemüßigt, sich dazu zu äußern.

"Wissen wir, ob unsere Auffassung von Leben überhaupt korrekt ist?" Sie lächelte.

"Das können wir nicht wissen. Aber ein kühler Blick bewahrt uns vor der Spekulation. Wir müssen versuchen, die Daten, die wir verstehen können, zu nutzen. Und das ist es, was dieses Programm tut."

"Ich glaube, es ist auf dem Holzweg."

"Das mag schon sein. Aber viel mehr haben wir nicht, um uns zu orientieren."

"Es könnte uns auf die falsche Spur führen." Sie hatte genug.

"Sie auch. Commander", sagte sie, und er blickte überrascht auf. "Mensch gegen Computer. Wie wir wissen, können sich beide irren. Wie wäre es, wenn wir allen eine Chance gäben?"  Die Angriffslust wich aus seinen Augen.

"Sie haben Recht, Dr. Russell. Entschuldigen Sie. Es ist nur so, dass ich mir so sicher war! Es gab sonst keine Erklärung für die Existenz dieses Splitters."

"Keine Erklärung, die uns einfällt. Die uns vernünftig erscheint. Man darf nicht vergessen, dass wir uns völlig fremden Lebensformen entgegen sehen, deren Handeln wahrscheinlich einer anderen Logik zugrunde liegt, als die, die wir kennen."

"Sie schien mir nicht so fremd in meinem Traum."

"John! Ich bitte Sie! Im Traum gibt es keine Unlogik!" Er seufzte. Der Punkt ging an sie. In Wahrheit genoss er es, mit der Ärztin ein wenig im Clinch zu liegen. Man konnte schon fast sagen, es hatte Tradition. Sie war ein recht insistierender Verfechter der Analytik und Rationalität, genau das, was er brauchte als Gegenpol seiner intuitiven Urteilsfindung. Victor, wiewohl ein wichtiger Gesprächspartner mit vielfältigen Ideen, lenkte für seinen Geschmack häufig zu schnell ein, aus welchem Grund auch immer. War es, dass er rasch aus seiner wissenschaftlichen Warte, mit Hintergrundwissen ausgestattet, Johns Ideen nachvollziehen konnte, war es aus dem Grund, dass er kein Interesse an langen Diskussionen hatte, oder lag die Ursache einfach darin, dass er John als Autorität akzeptierte  und darum nicht immer diskutierte? Helena war aus einem anderen Holz geschnitzt. Sie war der unbestechlichste Mensch, den er kannte, und darum das wertvollste Barometer, das existierte, um seine eigenen Entscheidungen zu prüfen, denn in ihrer Waagschale lag jeder einzelne Mensch auf Alpha. Immer.

In diesem Moment ging der Alarm los. Sein Blick richtete sich sofort auf das Artefakt, während Helena unmittelbar auf den Mute-Knopf drückte. Sie mochte offensichtlich den Lärm von Alarmen nicht.

"John, die Daten!", sagte sie aufgeregt, und er riss sich vom unveränderten Äußeren des Splitters los. In der Tat purzelten die Zahlen auf der Anzeige am Bildschirm durcheinander, als hätte eine elektronische Windböe sie erfasst. Helena schaltete zwischen verschiedenen Ansichten hin und her, um dann atemlos zu konstatieren:

"Mir scheint, Sie hatten Recht, Commander!"

"Inwiefern?"

"Es ist unglaublich! Diese undefinierbare, aber tote Materie wandelt sich in organisches Gewebe um! Sehen Sie nur, Kohlenwasserstoffe! Aminosäuren, Fette.. Polysaccharide! Aminosaccharide! Nukleinsäuren. John!" Er war aufgesprungen, um besser sehen zu können, und am liebsten hätte er gleich das Labor gestürmt, aber an diesem Punkt holte ihn die Vernunft wieder ein. Nun wurde es auch in der Realität sichtbar. Das Artefakt schmolz in rasender Geschwindigkeit, bis es aussah wie ein überdimensionaler Quecksilbertropfen, der unschlüssig vor sich hin bebte, ohne sich dabei von der Stelle zu rühren. Metallische Wellen wogten über die Oberfläche, mal hierhin, mal dahin, als suchten sie ihre einzig perfekte Konstellation. Dann erstarrte das Gebilde und verlor seine Farbe,  bis es wie flüssiges Glas zäh auf dem Tisch lag, eine riesig große Qualle, die das Meer soeben an Land gespült hatte. Sehr langsam verlor es sich in einer blassen Pfirsichfarbe, und gleichzeitig, wie in Zeitlupe, formte es sich um.

In der Zwischenzeit hatte John eine Nachricht aus der Kommandozentrale von Sandra erhalten, dass das Objekt Aktivität zeigte, und er hatte bei der Gelegenheit die Analytikerin gebeten, Prof. Bergman sowie eine Truppe von der Sicherheit zu schicken.

Das Artefakt hatte begonnen, eine neue Struktur anzunehmen, deren Gestalt sich langsam herauskristallisierte. Lange, gebeugte Glieder, der Torso einer Frau, die auf der Seite lag, und ein gesenktes Haupt bildeten sich aus der amorphen Masse, bis am Ende ein vollkommenes, unbekleidetes Wesen auf dem Tisch im Untersuchungsraum lag, in gekrümmter Stellung, die Arme vor der Brust und die Hände mit den Daumen nach außen vor dem Gesicht verschränkt. Langes, schwarzes Haar verdeckte das Antlitz und breitete sich auch über die Schultern nach hinten wie ein Fächer über die Unterlage.

Die Spannung im Kontrollraum war zum Zerreißen, und beide Anwesenden erschraken, als unversehens die Tür aufglitt, um Victor und die Männer vom Sicherheitsdienst hereinzulassen.
John schickte die Wachen vor die Tür des Nebenraums, während der Professor auf dem dritten Sitz Platz nahm und sofort die Daten zu durchsuchen begann.

"Faszinierend!", sagte er mehrmals. Helena veränderte die Parametrierung ihres Programms, und sowohl sie als auch Victor holten hörbar Luft, als die Anzeige erschien:
"Weiblich. 97,2% menschlich." Die Ärztin stutzte und veränderte, sichtlich beunruhigt, weitere Parameter.
"Herz-Kreislauf-System: Insuffizient", hieß es. "Herzfrequenz: 200/min, steigend, O2-Partialdruck: 89%, fallend." Sie sprang auf.

"Sie atmet nicht! John, ich muss da rein!" Er hatte keine Chance, auch nur einen Kommentar dazu abzugeben, als sie bereits den Raum verlassen hatte und sich, an den protestierenden Wachen vorbei, Zutritt zum Forschungslabor verschaffte. Von irgendwoher zauberte sie einen Notfallkoffer hervor, den sie im Nu aufriss und sich mit schnellen Griffen an dem Wesen zu schaffen machte. Nebenbei ließ sie den medizinischen Scanner über die Bewusstlose laufen, die nun schon sichtbar bläulich wirkte. John sah, wie sie sie auf den Rücken drehte, den Mund öffnete und mit den Fingern tastend hineinfasste, um anschließend mittels externem Oral-Oxigenator eine Beatmung vorzunehmen. Mit der freien Hand suchte sie aus dem Koffer eine Fertigspritze und injizierte sie in den ausgestreckten Arm der wie tot Daliegenden. Augenblicke später japste diese nach Luft und begann gleichzeitig zu husten und zu spucken, ohne dabei jedoch das Bewusstsein zu erlangen. Helena blickte auf und nickte John durch die Scheibe zu.
Victor hatte geistesgegenwärtig Verstärkung aus dem Medizinischen Zentrum angefordert. Als Bob Mathias und zwei Helfer eintrafen, war sie wieder ruhig, bereits monitorisiert und kreislaufstabil. Der Oxigenator war gegen eine einfache Sauerstoffmaske ausgetauscht. Helenas Instruktionen erschienen John und Victor im Nebenraum lautlos, aber offensichtlich wollte sie noch etwas zuwarten und sehen, ob ihre Maßnahmen ausreichend waren.
Sie kam schließlich zurück in den Beobachtungsraum, während sie ihre Hände an einem Tuch mit Alkohol desinfizierte.

"Sie hatte Probleme mit der Luft, der Atmungsantrieb fehlte. Es sieht so aus, als hätte sie ihre Lunge nie zuvor benützt. Ich glaube aber, dass sie jetzt stabil ist." Sie kontrollierte die laufenden Daten am Monitor und atmete auf. "Es geht ihr gut. Ich möchte sie aber zur Beobachtung im Lazarett haben."

"Danke", sagte John.

"Wofür", erwiderte sie. Victor hatte, voller Spannung, diese erste, außerirdische Intelligenz in Augenschein zu nehmen, bereits die Kammer verlassen, um sich im Gang auf die Lauer zu legen. Der Commander erhob sich ebenfalls. Helenas Hand legte sich auf seinen Arm. Bereits im Gehen, blieb er stehen und wandte sich fragend um. "John", sagte sie. "Sie ist die schönste Frau, die ich je gesehen habe. Seien Sie auf der Hut!" Dass ihre Worte als Anmaßung verstanden werden konnten, war ihr klar und doch erschien es ihr notwendig, sie auszusprechen. John war drauf und dran, mit Aggressivität zu antworten, ihre Blicke trafen sich jedoch, und das Wort erstarb ihm im Mund. Sie sah aus, als litte sie.
Der kurze Moment verflog, wurde vergessen, und sie eilten hinaus.

"Commander, sie atmet jetzt völlig selbständig", ließ Mathias wissen, offensichtlich beeindruckt von der Erscheinung, die er auf der Trage liegen hatte. "Die Sauerstoffzufuhr ist nur noch eine Sicherheitsmaßnahme." John nickte.

"Bringt sie ins Lazarett."

"Natürlich, Commander." John und Helena folgten dem Rettungsteam, hatten aber keinen Platz im Lift und mussten kurz warten, was sie wortlos taten. Zwischen ihnen gab es ein beständiges Hin und Her. Nie waren sie sich sicher, dass der andere auf ihrer Seite war, und diese außerirdische Frau war eine besondere neue Herausforderung. Helena hatte von Anfang an gespürt, dass sie irgendeine Form von Gefahr darstellte, wenn sie auch nicht bestimmen konnte, in welche Richtung diese zu interpretieren war. Es war etwas Unterschwelliges, das ihr das Herz schwer werden ließ. Nichts Greifbares. Es berührte aber ihre berufliche Tätigkeit nicht, war nichts, das Fragen in Hinsicht auf ihre Professionalität aufwarf.

Sie erreichten das Lazarett und folgten Mathias und den Helfern in den Beobachtungsraum.

Victor hatte die Bewusstlose auf der Fahrt zur medizinischen Versorgung begutachtet, voller restloser Faszination, und war dann, als er sah, dass er nun stören würde, verschwunden, um die Messungen, die während der Verwandlung gemacht worden waren, weiter auszuwerten.

Die Patientin aber war noch nicht bei Bewusstsein. Gemeinsam mit dem Commander trat Helena ans Fußende des Krankenbettes. Sie betrachtete die Frau. Sie war wirklich außergewöhnlich schön. Kein Wunder, dachte sie, kein Wunder, und wollte den Gedanken nicht zu Ende denken.

Inzwischen war das gesamte medizinische Personal, das Dienst hatte, zusammengelaufen. Zu aufregend war die Nachricht, die die alphanische Buschtrommel hereingetragen hatte. Alle inspizierten die Bewusstlose interessiert und kommentierten den "Fund", ehe Helena gegenteilige Anweisungen hätte geben können. Die Nachricht hatte sich aber auch wie ein Lauffeuer im Rest der Basis verbreitet, und sie konnte gerade noch den Ansturm der Alphaner abblocken, die ins Medizinische Zentrum drängten, hungrig nach Informationen. Zu lange hatten sie im Ungewissen warten müssen, und zu überwältigend war die Nachricht von dem außerirdischen Wesen, das sich auf der Basis manifestiert hatte.  

"Commander", erinnerte Helena John, "für den Augenblick reicht meine Autorität. Aber Sie müssen bald ein paar Worte an die Mannschaft richten, sonst können wir hier nicht mehr in Ruhe arbeiten." Er gab ihr Recht, den Wirbel, der im Raum herrschte, betrachtend.

Die Patientin begann plötzlich, sich zu regen. Sie stöhnte, während ihre Hände sich in unkoordinierten Abwehrbewegungen hoben. Einer Eingebung folgend, sorgte die Chefärztin für Ruhe, indem sie bis auf John, Mathias und eine Schwester alle Anwesenden des Raumes verwies. Schlagartig wurde es leise, und gleichzeitig beruhigte sich die Frau wieder.
Der Commander sah sie fragend an. Sie wirkte selbst irritiert.

"Ich habe den Eindruck, dass sie den Lärm nicht mag", sagte sie und legte die Stirn in Falten. "Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich mich nicht nur selbst davon gestört fühlte." Sie sprach halblaut, doch trotzdem kam die Unruhe bei der Außerirdischen zurück. Diesmal war es deutlicher. Sie wand und drehte sich, bis sie auf der linken Seite lag, und ihr freier Arm schlug sich über ihren Kopf, so dass er ihr rechtes Ohr verdeckte.  John nickte.

"Da haben wir die Antwort", meinte er leise und nahm zur Kenntnis, dass seine Worte keine weitere Unruhe bei der Patientin provozierten. Mathias war hinzugetreten.

"Sie scheint in einer sehr leisen Welt zu leben. Wahrscheinlich müssen wir sie erst an den Lärm auf Alpha gewöhnen." Helena gab ihm Recht.

"Sorgen Sie für einen Lärmschutz, Bob. Ich möchte, dass er sukzessive reduziert wird. Mal sehen, ob ihr Hörvermögen adaptierbar ist." Sie wandte sich an John, immer noch im Flüsterton. "Das sollte er nämlich. Sie ist zu 97% menschlich, wie auch immer diese Wesen das hinbekommen haben. Ich möchte die Scannerdaten genauer untersuchen und sehen, inwieweit sie von unserer Physiologie abweicht." Sie deutete zur Tür, er nickte und folgte ihr.
Draußen waren lautstarke Stimmen zu vernehmen, die vom Eingang zum Lazarett hereindrangen. Sie warfen einander einen viel sagenden Blick zu. John zückte seinen Commlock und kontaktierte Paul Morrow im Hauptquartier.

"Paul, ich möchte, dass die Leute sich beruhigen und wieder an ihre Arbeit gehen. Verstärken Sie die Wachen vor dem Lazarett, und ich brauche auch zwei Männer, die direkt vor dem Krankenzimmer unseres Gastes Aufstellung nehmen. Sandra soll mich an alle durchschalten." Am anderen Ende bestätigte ein sichtlich erleichterter Controller seine Anweisungen. Sandra war aus dem Off zu hören.

"Sie sind frei geschaltet, Commander. Sie können jetzt sprechen."

"Danke, Sandra." Er pausierte kurz, um sodann, an die gesamte Mannschaft gerichtet, fortzufahren. "Hier spricht Commander John Koenig! Wie sich bereits herumgesprochen hat, haben wir nun auf der Basis einen persönlichen Kontakt mit einem der Einwohner aus dem Raumschiff, unser erster persönlicher Kontakt mit einem außerirdischen Wesen. Es handelt sich augenscheinlich um eine weibliche Person, die im Moment jedoch noch nicht ansprechbar ist. Ich erwarte von der Mannschaft Disziplin, Geduld und Zurückhaltung. Sobald wir mehr Informationen haben, werde ich Sie davon in Kenntnis setzen. Ich ersuche Sie, den Zugang zum Lazarett zu räumen, der Sicherheitsdienst wird angewiesen, ansonsten hart durchzugreifen." Er unterbrach die Verbindung und steckte den Commlock zurück an seinen Gürtel. Zunächst war noch von draußen ein lautstarker Protest zu hören, doch bald darauf verebbten die Stimmen. Offensichtlich rückte die Verstärkung des Sicherheitsdienstes an und sorgte für Ruhe.

Helena wies den Commander in ihr Büro. Er ging voraus, während sie nachdenklich folgte. Die automatische Tür öffnete sich und ließ beide eintreten, ehe sie sich wieder mit einem leisen Seufzen schloss. Im Büro standen eine Ultraschalleinheit auf Rädern, zwei Wägelchen mit Waagen und anderen Messmitteln sowie mehrere experimentelle Gerätschaften wie der Cortexstimulierer von Ellendorf. Auf dem Schreibtisch stapelte sich Arbeit in Form von E-Dossiers. Sie ließ ihren Blick über das Chaos schweifen.

"Kaum fehlt man mal einen Tag, glaubt gleich jeder, dass das eine Rumpelkammer ist! Ich habe zwar gesagt, dass sie Ordnung in der Diagnostik schaffen sollen, aber nicht, dass die Unordnung von dort in mein Büro herüberdiffundieren soll." Die gespielte Empörung machte deutlich, dass ihre Worte nicht ganz ernst gemeint waren. Sie schob die Geräte zur Seite, sodass ein Weg zu ihrem Schreibtisch frei wurde und deutete John, Platz zu nehmen. Der jedoch blieb stehen. Sie tat es ihm zögernd gleich, jedoch auf der anderen Seite des Tisches. Die Heiterkeit wich aus ihrem Gesicht, als sie zum Thema kam.  

"Commander, ich habe unsere Besucherin notfallmedizinisch versorgt, und zwar nach menschlichen Erfordernissen. Unsere Daten besagen, dass sie uns weitgehend gleicht, aber ich kann natürlich nicht ausschließen, dass ich ihr keinen Schaden zugefügt habe. Zumindest nicht, solange ich nicht weiß, was es mit den restlichen 3% unbekannter Materie in ihrem Gehirn auf sich hat."

"Worauf wollen Sie hinaus?" Sie blickte ihn direkt an. Seine Miene war indifferent. An seinem Blick in der Forschungskammer hatte sie erkannt, dass es tatsächlich die Frau war, die er schon in seinen Träumen gesehen hatte. Es war nicht zu übersehen, dass sie ihn faszinierte.
Sie fragte sich, welche Gefahr wirklich von der Frau ausging. Es gab natürlich genug zu spekulieren, denn nach wie vor war nicht klar, was die Außerirdischen von den Alphanern wollten und ob dies am Ende spürbare Auswirkungen auf die Mondgemeinschaft hätte, aber es tat sich eine weitere Frage auf: Wie viel Einfluss würde die Frau auf den Commander ausüben können?
Ihre Schönheit war zu auffällig, um nicht zweckgebunden zu sein. Aber im Augenblick war dies nicht das Thema.

"Was ich sagen möchte, Commander, ist, dass ich Nebenwirkungen nicht ausschließen kann. Im Augenblick scheint sie meine Behandlung gut zu tolerieren, aber, wie gesagt.." Sie brach ab.

"Sie meinen, dass es möglicherweise noch zu Reaktionen kommen könnte, die nicht absehbar sind."

"So ist es. Ich möchte Sie darauf vorbereiten. John, ich hatte es noch nie mit Außerirdischen zu tun. Mein erster Impuls war, die Frau am Leben zu erhalten, und ich habe dies nach meinen Möglichkeiten getan. Wahrscheinlich wird auch gar nichts geschehen - vielleicht aber habe ich.." Sie suchte nach Worten. ".. entsprechend der Tradition der Außerirdischen ein Sakrileg begangen, oder ihr quasi Strychnin verabreicht, das ihr einen qualvollen Tod beschert. Ich weiß es nicht." Seine Augen verengten sich.

"Ich denke, Dr. Russell, Sie haben getan, was notwendig war. Sollte es Probleme geben, werden wir uns zu gegebener Zeit damit befassen." Sie nickte, als hätte sie diese Antwort erwartet. Im Stehen schaltete sie ihren Computer ein. John, der annahm, dass sie ihm etwas zeigen wollte, kam um den Tisch herum zu ihr. Sie schien nicht zu bemerken, dass er von ihr noch faszinierter war als von dem außerirdischen Wesen. Vielleicht litt sie unter selektiver Blindheit und sah nur, was sie sehen wollte. Er kannte ihre Geschichte und konnte sich vorstellen, was der Grund für ihre Ignoranz war. Rückzug war das einfachste Mittel, um den Schmerz für immer auszusperren. Man riskierte nichts.
Auf der anderen Seite gewann man auch nichts.

Der Rechner begann zu summen, und der Bildschirm wurde hell. Nun nahm sie doch Platz, während er neben ihr stehen blieb. Sie rief die Daten auf, um die es ihr ging. Er sah ihr dabei zu, wie ihre Finger rasch über die Tastatur flitzten, lang und schlank, und er musste sich anstrengen, mit den Augen am Monitor und den Gedanken bei den Daten zu bleiben.
Die unübersichtlichen Zahlenkolonnen verwandelten sich, zunächst in statistische Auswertungen, dann plötzlich wechselte die Ansicht und sie flossen in eine schematisierte, jedoch dreidimensional dargestellte menschliche Figur ein, aus glänzendem Blau gemacht.

Helena zoomte in die computergenerierte Gestalt hinein, indem sie den Fokus auf den Kopf legte. Dort erschien ein Fleck, wie Feuer von orange-gelber Farbe. Sie schaltete auf dreidimensionale Darstellung, und der Fleck entpuppte sich als perfekte winzige Kugel von kaum einem Zentimeter, der mitten im Gehirn saß. Sie hob den Blick, John zu, und in ihren hellen, wachen Augen sah er Aufregung und Erstaunen.

"Es ist in der Nähe des rechten Mandelkerns, und sehen Sie, wenn man noch weiter vergrößert, ist zu erkennen, dass es Ausläufer hat, wie Neuronen, die in Verbindung mit den anderen Arealen des Gehirns stehen." Sie demonstrierte, was sie meinte. Vielfältige feine rötliche Stränge zogen sich überall durch das Gehirn, wie mikroskopisch kleine Autobahnen in der Nacht, die, erhellt von den Fahrzeugen, durch die Landschaft führten. Manche waren zart und kaum ausgebildet, andere, wie diejenigen ins Frontalhirn, glichen mehr stark befahrenen Fernstraßen in der Hauptverkehrszeit.

"Ich schätze mal, dass das nicht normal ist", sagte er mit gerunzelter Stirn und fragte sich, was diese Struktur denn nun bedeutete. Sie lächelte ihn überrascht an.

"In der Tat, tut mir leid, Commander, ich habe mich von den außergewöhnlichen Daten hinreißen lassen. Diese rötlichen Strukturen existieren im menschlichen Gehirn normalerweise nicht. Und sie sind in Wirklichkeit auch nicht rot, das war die Farbe, die das Programm zur besseren Darstellung gewählt hat. Wenn ich raten sollte, so würde ich auf eine Art irisierende, keramikartige Struktur tippen." Jetzt fixierte sein Blick sie, Begreifen widerspiegelnd.

"Sie meinen?!" Gleichzeitig wies seine Hand hinaus zum Fenster in ihrem Büro Richtung All. Sie nickte.

"So ist es. Ich habe auch keinerlei Messungen oder anderweitige Angaben zu diesem Material. Es ist wie mit dem ganzen, riesigen Raumschiff. Es verhindert unsere Versuche, es zu scannen, obwohl das restliche Gewebe zu 100% menschlich ist. Die Analyse ergibt jetzt eine weitgehend gesunde Frau von 30-35 Jahren, die allerdings etwas geschwächt ist. Die Elektrolyte sind grenzwertig, jedoch noch normal, Blutdruck, Zuckerwerte, die Ausschüttung von Hormonen und Enzymen und die Tätigkeit des Immunsystems, Zellaktivitäten, alles liegt im Bereich des Normalen, jedoch nur eben gerade." Sie rief eine weitere Anzeige ab. "Aber man kann sehen, dass sich die Werte geringfügig verbessert haben gegenüber den Messungen zu Anfang. Es sieht so aus, als ob sich der Körper gerade ziemlich dabei anstrengen müsste, menschlich zu werden."

"Sie gewöhnt sich daran, einen menschlichen Körper zu haben?"

"Ja, so würde ich es auch beschreiben."

"Dann handelt es sich um eine Hülle, die sie sich für uns zugelegt hat." Sie musterte ihn, nicht ohne einen Hauch von Belustigung in den Augen.

"Showprogramm", sagte sie. "Extra für uns."

"Ich hoffe nicht, dass sich unser erster persönlicher Kontakt mit Außerirdischen als eine Horror-Show herausstellt." Das Amüsement in ihrer Miene verlor sich.

"Ja, das hoffe ich auch sehr."

  

 - ix -  

Die Alphaner waren aus dem Häuschen. Sie waren im Bilde über die Außerirdische, wenn ihnen auch die medizinische Autorität kein Besuchsrecht einräumte.

Allerdings gab es fürs Erste gar nicht so viel, worüber man sie informieren konnte. Der Zustand der Patientin hatte sich nicht wesentlich geändert. Sie lag im Beobachtungsraum in einer Art Dämmerzustand, der eine Kontaktaufnahme unmöglich machte. Das hinderte die Mannschaft aber nicht daran, ihrer Phantasie freien Lauf zu lassen und sich alle möglichen - und auch unmöglichen Geschichten auszudenken. Die Gerüchteküche brodelte, und insbesondere die sprichwörtliche Schönheit der Frau hatte sich herumgesprochen. Man nannte sie Schneewittchen - weiß wie Schnee, rot wie Blut und schwarz wie der Rahmen aus Ebenholz - und was lag dann näher, als sich in Märchengeschichten über die Anwesenheit ihrer Besucherin zu ergehen? In allen Graduierungen malte man sich aus, was geschehen würde, wenn sie einmal erwachte. Durch die Gänge der Basis wehte der Wind der Geschichtenerzähler - und es gab mit einem Male erstaunlich viele davon auf dem Mond. Die Märchen, die erfunden wurden, waren so bunt und vielfältig wie die Artikel aus Boulevardzeitschriften, und zum Großteil mindestens so unglaubwürdig. Die Tatsache, dass sie schlief und nicht erwachen wollte, verwirrte die Geister, und irrtümlich begann man, Schneewittchen mit Dornröschen zu verwechseln und aus ihr in Personalunion ein Schneeröschen zu machen. In den abendlichen Unterhaltungen und der virtuellen Gemeinde kursierten Songs und Gedichte mit archetypischem Charakter und Heilsgeschichten ebenso wie Prophezeiungen, die mehr im Genre des Grusel- und Vampirromans beheimatet waren.

John rief zu einer improvisierten Besprechung im kleinen Rahmen auf, um sich über das weitere Vorgehen klar zu werden. Sie fand in einem der zahlreichen Konferenzräume statt, die zu Zeiten vor dem Abgang des Mondes aus dem heimatlichen Solarsystem gut ausgebucht gewesen waren, jetzt aber mangels Lunarkonferenzen bedenklich der Verwilderung anheimfielen, was bedeutete, dass sie gehäuft als Depot von Dingen benutzt wurden, die derzeit keine Verwendung fanden. Wegwerfen konnte und wollte man auf dem Mond ja nichts mehr, und die Basis war unversehens und nicht ganz freiwillig zum Musterbeispiel einer Institution mit 100%igem Recycling geworden.

Im etwas abseits gelegenen Konferenzraum, der gewählt worden war, weil die Besprechung unauffällig stattfinden konnte und die Bänkelsänger nicht auf der Stelle zu neuen Spekulationen ermutigt werden sollten, hatte man zunächst zehn riesige Rollen Noppenfolie in eine Ecke geschichtet, drei Boxen, vollgestopft mit Videobeamern, Laserpointern und Wassergläsern,  zurechtgerückt, um fehlende Ablagen zu ersetzen, und ein wenig Staub gewischt. Die ursprüngliche Ausstattung fehlte nämlich zum Großteil. Der Konferenztisch war entfernt worden, ebenso die meisten Sitzgelegenheiten. Die restlichen Stühle hatten gestapelt neben der Tür gewartet, bis sie nun wieder aufgestellt wurden.
Anwesend waren außer dem Commander auch Victor Bergman, Helena Russell, Alan Carter, Paul Morrow und Sandra Benes. John, der auf einen Sitz verzichtet hatte, erteilte Helena das Wort.

"Dr. Russell, wie sieht die Situation im Lazarett aus?"

"Mein Team hält sich an die Regeln", sagte sie. Sie hatte mehrere Berichte dabei, die sie auf einer der Kisten abgelegt hatte. "Aus dieser Richtung erwarte ich mir keine Schwierigkeiten. Was die Patientin angeht, so scheint sie eine Phase der Adaptierung durchzumachen. Ihre Organfunktionen sind in Ordnung, alle Werte hatten sich etwa fünf Stunden nach der Transformation normalisiert, und glücklicherweise gab es bislang keine Nachwirkungen meiner Notfallstherapie. Unsere Überwachung zeigt, dass sie schläft. Tiefschlaf- und REM-Phasen wechseln einander ab, wobei es eine Art Austausch mit der außerirdischen Materie in ihrem Gehirn zu geben scheint. Neurotransmitter- und Synapsenaktivität sind, insbesondere in den REM-Phasen überaus hoch." John hob die Augenbrauen.

"Was soll man davon halten?"

"Schwer zu sagen", erwiderte sie und sah in die Runde. "Es wirkt ein wenig wie ein Datenträger, der befüllt wird." Ihre Antwort sorgte für Aufregung unter den Anwesenden.

"Dann ist sie ein unbeschriebenes Blatt, das nun mit Informationen gespeist wird." Victor lehnte nachdenklich mitten im Berg von Noppenfolienrollen, was aussah, als hätte er es sich auf einem ziemlich futuristischen Sofa bequem gemacht. "Das legt die Vermutung nahe, dass man uns eine Art Rohling geschickt hat, den man in ein menschliches Wesen transformieren konnte. Der Geist und der Verstand werden nachgeliefert, vielleicht gehören diese einem der Außerirdischen da oben." Er verzichtete absichtlich darauf, die Frau aus Johns Träumen zu erwähnen, weil er wusste, dass dieser nur ihn und Helena eingeweiht hatte.

"Dann können sie also den Verstand eines Individuums von einer Hülle in eine andere verpflanzen?", fragte Paul verblüfft. John hob beide Hände in einer fragenden Geste.

"Den Anschein hat es." Alan rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her.

"Aber wir wissen natürlich nach wie vor nicht, was sie mit uns vorhaben."

"Da brauchst du nur die Alphaner zu fragen, Alan", schlug Sandra vor. "Sie haben diesbezüglich jedenfalls eine Fülle von Vorschlägen!" John schickte seinen Blick gegen die Decke, er hatte nicht allzu viel Zeit an das Geschwätz der Basis verschwendet, hatte die Analytikerin jedoch damit beauftragt, ihre Fühler auszustrecken und nach kritischen Aussagen zu suchen, die auf ein Gefahrenpotenzial innerhalb der Mannschaft schließen ließen. Sandra faltete einen Bogen auseinander. "Irgendwelche Witzbolde haben zu einem virtuellen Ranking aufgerufen. Platz drei: Sie muss wachgeküsst werden. Platz zwei: Die Ärzte sollten mal nach dem Apfel suchen, den sie verschluckt hat." Heiterkeit machte sich breit. "Auf Platz eins steht die Empfehlung, nach der bösen Stiefmutter zu suchen. - Aber Scherz beiseite." Sie legte den Zettel weg. "Obwohl herumgeblödelt wird und die Leute sich gegenseitig übertrumpfen mit abstrusen Ideen über die Hintergründe - angefangen von Engelserscheinungen über die Manifestation des Beelzebubs bis hin zu Geistern und Dämonen - meint man dies zum Glück nicht wirklich ernst. Wichtiger sind eher die Beiträge aus den Diskussionsforen, die sich ausführlich mit realistischeren Szenarien beschäftigen. Da gibt es vier Gruppen, die wenig überraschend, weil naheliegend, sind: Erstens: Man kommt, um uns zu helfen. Zweitens: Man kommt, um uns zu töten. Drittens: Man kommt, um uns zu studieren. Viertens: Man kommt, um uns irgendwas wegzunehmen. Je nach Tendenz sind dann auch die Empfehlungen, wie weiter vorzugehen ist. Insgesamt aber habe ich den Eindruck, dass bislang keine Eskalation droht. Die  Leute sind zwar neugierig und gespannt und sogar schon sehr ungeduldig, aber bis auf ein paar Eiferer, die vom Rest nicht allzu ernst genommen werden, ist man dafür, zu warten und zu sehen, wie sich die Situation entwickelt."

"Danke, Sandra. Gibt es aus Ihrer Sicht eine Empfehlung?" Sie grinste.

"Nur an die Außerirdische. Dass es langsam an der Zeit ist aufzuwachen." Erheiterung griff um sich.

"Dem ist nichts hinzuzufügen", sagte Helena. "Es ist die Ungewissheit, die unsere Geduld strapaziert. Es kann aber nicht schaden, ein Auge auf die Eiferer zu haben, falls es noch länger mit dem Dornröschenschlaf dauert."

"Kano kümmert sich bereits darum", ließ Paul wissen. John nickte zustimmend und warf dann Alan einen Blick zu. Der fühlte sich zu einem Bericht aufgefordert.

"Die Situation im Weltraum ist ebenfalls verhältnismäßig entspannt. Die Piloten fliegen nach wie vor ihre vorgeschriebenen Patrouillen, allerdings haben die Albernheiten aufgehört. Weitere Artefakte wurden bislang nicht beobachtet, und das Raumschiff verhält sich ebenfalls friedlich."

"Gut. Dann bleibt uns im Augenblick nicht viel mehr übrig, als auf den nächsten Schritt unseres Gastes zu warten. Apropos Schritt: Dr. Russell, wenn wir davon ausgehen, dass dieses Wesen als Mensch neu geschaffen wurde, wird es nicht zu schwach sein, sich aus eigener Kraft fortzubewegen?" Sie neigte den Kopf, und suchte dann in ihren Unterlagen nach einem bestimmten Ausdruck.

"Diese Frage haben wir uns auch schon gestellt. Die Untersuchungen ergaben, dass ihre Muskeln in einem trainierten Zustand sind, so, als wäre sie jeden Tag für zwei Stunden im Fitnessstudio. Sie ist jedenfalls besser auf Zack als ich - was aber möglicherweise kein besonderes Kunststück ist, so gerne, wie ich ins Fitnessstudio gehe." Sandras und Victors Erheiterung war unschwer als Unterstützung der Fitnessstudio-Aversion zu deuten. "Sie scheint sich auch mittlerweile langsam an die Geräuschkulisse, wie sie auf Alpha herrscht, zu gewöhnen. Wir konnten den Lärmschutz entfernen, sie erträgt Geräusche von bis zu 30 dB ohne jegliche Schmerzreaktionen." Victor horchte auf.

"Vielleicht kommt sie wirklich aus einer sehr leisen Welt." John beendete die Besprechung. Die Rechnung der Außerirdischen ging offensichtlich auf. Man konfrontierte die Menschen mit einem wehrlosen Wesen, das auf ihre Hilfe angewiesen war und ihnen so sehr glich, dass es leicht war, es als Seinesgleichen zu akzeptieren. Man stattete es mit exorbitanter Schönheit aus und schickte es gleich mal vorausschauend in einem Traum zum Entscheidungsträger der Basis, der nun voreingenommen war und nichts gegen das Wesen unternehmen würde, wenn er nicht förmlich dazu gezwungen wurde. Es musste etwas dran sein an den Behauptungen über die Biochemie des menschlichen Geistes und die Vorhersehbarkeit seiner Entscheidungen.

 

- x -

Als sie wach wurde, geschah es ganz unspektakulär und in einem Augenblick, der dem Ereignis das geringstmögliche Aufheben ermöglichte.

 

Das medizinische Team hatte seine Interessen gerade einer anderen Sache gewidmet und war wie absorbiert von einer neuen Software, mit deren Hilfe man den 3D-Scanner live durch den Körper eines Menschen dirigieren konnte und dabei via Computer phantastische Bilder präsentiert bekam. Helena, die zwar glücklich über die bildgetreuen und wirklichkeitsnahen Ergebnisse war, die das Programm anhand der erfassten Daten hochrechnen konnte, beileibe aber kein Technikfan war, ließ ihren Männern den Vortritt und befasste sich lieber mit den Basics des medizinischen Berufes. Sie visitierte ihre Patienten und schrieb das weitere Vorgehen im elektronischen Krankenblatt vor.

Als sie den Raum mit der Außerirdischen betrat, war die Situation unverändert. Die laufende Aufzeichnung der EEG-Muster ließ einen relativ leichten Schlaf vermuten, eine Phase, die sich immer wieder mit den anderen, tieferen Zyklen des Schlafes abgewechselt hatte und darum nicht weiter bemerkenswert war.
Sie begab sich ans Bett und ging durch die elektronische Kladde, checkte das Blutbild, die Nieren- und Leberwerte, den Blutdruck und die Herzfrequenz, um dann mit ihrer Hand leicht über die Wange der schlafenden Frau zu streichen.

"Wie schwer muss es sein, in einen menschlichen Körper zu finden", sagte sie leise. "Und das ohne Zuversicht, dass wir es überhaupt wert sind. Mögen diese Mühen dazu führen, dass uns allen geholfen wird." Sie verharrte in der Betrachtung der Patientin, und die Ambivalenz, die von Anfang an durch ihr Herz gekrochen war, drängte sich mit aller Macht in ihr Bewusstsein. Das feine blasse Gesicht, wie Porzellan, war makellos, alterslos, die sinnlichen Lippen, kirschrot, waren leicht geöffnet, die schwarzen Wimpern geschwungen, die Augen geschlossen, und das Haar, lang und von einem glänzenden Schwarz, umkränzte das Oval ihres Gesichtes und drapierte sich über ihre Schultern auf den Oberkörper und über die Arme, als hätte es ein Friseur mit Auge für Stil und Stimmigkeit penibel positioniert. Nicht einmal die Tatsache, dass die Schwestern sie in einen blauen Basis-Pyjama gesteckt hatten, konnte ihrer feenhaften Schönheit etwas anhaben, und einmal mehr wunderte Helena sich nicht, dass John von dieser Erscheinung so beeindruckt war. Sie war es ja auch.

Sie seufzte und wollte sich, da sie zufrieden mit den Daten war, abwenden, um den Raum wieder zu verlassen, als die Außerirdische übergangslos die Augen aufschlug. Der Atem beschleunigte sich ein wenig, und eine feine Röte legte sich auf ihre Wangen. Ihr Blick irrte kurz, wie nach einem Anhaltspunkt suchend, durch den Raum, bis er an Helena haften blieb. Die Ärztin zeigte, obgleich erschrocken, ein aufmunterndes Lächeln.

"Willkommen", sagte sie leise, "mein Name ist Helena Russell." Es gab keine Reaktion, das Gesicht war ausdruckslos, und nur der Blick hing ihr auf den Lippen. Helena berührte sachte die Hand der Frau, nur kurz, um zu sehen, ob dies etwas bewirkte, aber nichts geschah, außer dass sie  sich immer noch fixiert fühlte von nachtschwarzen Augen. Sie unterdrückte ein Schaudern, hinter der menschlichen Fassade war die Fremdheit dieses Wesens nur allzu klar erkennbar. "Der Weg hierher war weit und die Anstrengungen groß. Ich bin froh, dass Sie nun aufgewacht sind." Sie hatte zuvor nicht darüber nachgedacht, wie ihre erste Begegnung mit der Außerirdischen ablaufen würde, lediglich gehofft, dass diese bei klarem Verstand und guter körperlicher Verfassung wäre, wenn sie zu sich kam. Aus irgendeinem Grund hatte sie vermutet, dass die Außerirdische sich erhöbe und sofort zur Sache käme. Sie nun vor sich zu haben, so wortlos und ohne Mimik, brachte sie aus dem Konzept. Wie sie sie anstarrte aus schwarzen Löchern, aus denen eine andere Welt sickerte. Sie versuchte, sich ihre Beklemmung nicht anmerken zu lassen. Zu erwarten, dass sich diese erste Begegnung an die Erwartungen der Menschen hielt, war dumm und kurzsichtig, schalt sie sich. Wer sagte überhaupt, dass sie von der Frau verstanden wurde? Sie wollte sich fürs Erste zurückziehen, den Commander benachrichtigen, doch als sie sich anschickte zu gehen, fühlte sie sich jäh an der Hand gepackt und festgehalten. Der Griff war erstaunlich fest, und der Schreck fuhr ihr einmal mehr durch die Knochen.

"Bleiben Sie bei mir." Die Worte waren ein Wispern, rau, wie das leise Raspeln eines Reibeisens, das über weiches Holz glitt, eine Stimme, die sich nie zuvor erhoben hatte. "Die Furcht ist ganz auf meiner Seite." Überrascht suchte Helena wieder Blickkontakt. Die ferne Schwärze war aus den Augen der Fremden verschwunden. Jetzt wirkte sie bekümmert.

"Ich bleibe hier", sagte sie, "keine Angst. Es wird Ihnen nichts geschehen." Die Hand ließ sie los und sank kraftlos aufs Laken neben ihren Körper. In dem Augenblick hörte Helena, wie die Türe zum Raum aufglitt und jemand eintrat.

"Helena, alles in Ordnung?" Seine Lautstärke war gemäßigt, wenn auch die Aufregung deutlich aus seinen Worten quoll.

"John! Sie ist gerade aufgewacht." Er war zum Bett getreten, und sie fühlte seine Hand auf ihrer Schulter. Mit ihm kam die Erleichterung.

"Ihre Kollegen haben mir Bescheid gegeben, als der stille Alarm ausgelöst wurde. Ich bat sie, den Raum nicht zu stürmen, solange alles ruhig war. Ich wollte hier keinen Lärm und keine Aufregung." Sie nickte wissend.

"Die Kamera. Wir standen unter Beobachtung. Es ist alles in Ordnung." Sie wandte sich an die Außerirdische. "Das ist Commander Koenig. Aber ich denke, Sie kennen ihn bereits." Sie musterte ihn.

"John Koenig. Er ist mir bekannt", sagte sie. "Sein Verstand, sein System und seine Leidenschaft, seine Emotionen."

"Aber nicht meine Gedanken." Sie setzte sich langsam unter Helenas wachsamen Blicken auf, ehe sie ihm auf seine Feststellung antwortete.

"Das ist der Grund, warum ich hier bin. Sie erinnern sich richtig. Erwarten Sie nichts, denn die Erfahrung hat gezeigt, dass für die Beurteilung Gedankenbilder nicht relevant sind." Ihre Worte spielten für ihn keine Rolle. Natürlich erwartete er sich etwas, es war nicht zu vermeiden, sich einen positiven Ausgang dieser Begegnung zu wünschen, vielleicht auch etwas, das ihnen weiterhalf. Er entschied sich, nicht näher darauf einzugehen.

"Sie wissen, wer wir sind. Wie dürfen wir Sie nennen?" Sie wirkte nun sicherer, und die Furcht, die sie Helena gegenüber zum Ausdruck gebracht hatte, war nicht mehr sichtbar. Ein flexibles Wesen.

"Ich habe keinen Namen, den Sie aussprechen könnten. Die Gestalt, die ich hier angenommen habe, ist nicht die meine. Wir haben hörbare Sprache, doch diese besteht aus überaus effizient und sparsam eingesetzten Klicklauten in einer sehr umschränkten Frequenzbreite. Die Welt, in der Sie leben, besteht für mich aus einem kaum durchdringbaren und sehr gewöhnungsbedürftigen Chaos aus verschiedenen Lärmquellen. Selbst Ihre Sprache zu hören, ist für mich eine Herausforderung, was Frequenzen, Lautbildung und Lautstärke angeht, und es kostet mich Überwindung, nun mittels meiner Worte selbst solchen Lärm zu produzieren." Auch ihre Stimme hatte an Festigkeit gewonnen, war nicht mehr wie aus dem Wind gefangen. Helena nickte wissend.

"Wir werden dafür sorgen, dass die Lärmkulisse für Sie in einem erträglichen Rahmen bleibt."

"Danke."

"Hat Ihr Name in Ihrer Sprache eine Bedeutung?" Sie sah John an.

"Namen sind Symbole, Sie haben richtig vermutet. Doch anders als bei Ihnen ändert er sich im Lauf der Zeit. Jetzt gerade bedeutet er: Die andere Seite der Luft." Er wechselte einen Blick mit Helena. Auch sie konnte sich keinen Reim darauf machen.

"Was bedeutet das?" Ein mageres Lächeln kam ins Gesicht der Fremden.

"Die Essenz der Luft ist die Stille. Ihre andere Seite ist der Lärm."

"Ich verstehe", sagte Helena. "Situationen, in denen Sie sich befinden, haben eine Auswirkung auf Ihren Namen."

"Ja. Namen werden nicht gegeben. Sie kommen von selbst."

"Nun, dann werden wir darauf warten, bis Ihr Name zu Ihnen findet." Sie sagte darauf nichts. John war sich nicht sicher, wie er weiter vorgehen sollte, doch es war ihm viel daran gelegen, die ungewisse Situation für den Mond rasch zu beseitigen. Die Fremde sollte möglichst bald mit ihrer Suche nach dem Einzigartigen auf Alpha beginnen. Er hatte jedoch nicht die geringste Ahnung dessen, wonach sie wirklich suchte und was man ihr zeigen sollte. Helena kam ihm aber zuvor.

"Ich möchte gerne noch eine abschließende Untersuchung an Ihnen durchführen, nur, um sicherzugehen, dass physisch alles in Ordnung ist. Sie haben eine sehr große organische Veränderung durchgemacht." John gab sein Einverständnis.

"Sie können sich denken, dass wir viele Fragen an Sie haben." Ihr Kopf hob sich, und er fühlte sich von ihrem Blick wie aufgesaugt.

"Ich bin nicht hier, um Antworten zu geben." Das ärgerte ihn.

"Ich erwarte mir aber welche!" Seine Worte waren lauter als beabsichtigt. Die Fremde zuckte sichtbar zusammen.

"John!" Ein Wort nur, aber eine scharf geflüsterte Zurechtweisung.

"Ich bitte um Entschuldigung, Dr. Russell! Meine Emotionen kommen mir leider immer wieder in die Quere."

"Sarkasmus hilft nicht."

"Nein. Aber ich fühle mich besser." Die Außerirdische hatte dem Wortwechsel ohne Regung beigewohnt. In der Pause, die entstand, weil die Chefärztin sich dazu entschloss, nicht weiter auf des Commanders Kampfgelüste einzugehen, erhob sie sich aus dem Bett, was die beiden von ihrem Disput ablenkte.
Sie war grazil, trotz ihrer Größe, fast so groß wie John, schmaler, als sie liegend ausgesehen hatte. Ihr schwarzes Haar fiel, obwohl es ungekämmt war, fließend und weich wie ein glänzender Schleier über ihre Schultern. Zunächst schwankte sie, fand aber bald Balance, erstaunlich gut für jemanden, der noch nie aufrecht gestanden war. Sie hatte ihren Körper zweifellos unter Kontrolle. Helena bat sie, ihr zu folgen, und sie ließen den Commander zusammen mit seiner Verärgerung zurück.

 

- xi -

Den Alphanern war Besonnenheit und Ruhe auferlegt worden. Es war klar: Wo auch immer die Außerirdische während ihres Aufenthaltes erscheinen würde, hatte es still zu sein. Daher sollte es Vorankündigungen geben, damit Maschinen angehalten und andere Lärmquellen ausgeschaltet werden konnten, und damit sich die Alphaner entsprechend auf den Besuch vorbereiteten.

Man stellte sie der Mannschaft vor, via Monitor waren die Leute dabei, als sie ins Hauptquartier trat. Sie traf auf Prof. Bergman, Alan Carter, David Kano, Tanya Aleksandria, auf Paul Morrow und Sandra Benes, die sie mit einem respektvollen Nicken grüßten. Auch das leise Summen des Hauptcomputers schien ehrerbietig gedämpft, und er gab keinen ungehörigen Ton von sich, kein lautes Piepsen, keinen Alarm, erhob auch seine Stimme nicht.

John hatte sich mit der Außerirdischen abgesprochen. Er wollte sie der Mannschaft vorstellen, damit es keinen Aufruhr gab, wenn sie in den Korridoren oder Abteilungen der Basis auftauchte. Man sollte sich ein Bild von ihr machen, die erste Neugier befriedigen und verstehen, warum sie zum Mond gekommen war. Sie hatte seinem Plan zugestimmt, ungeachtet ihrer Bemerkung, dass sie nicht da war, um Antworten zu geben - wohl deswegen, weil sie verstand, dass die Mondbewohner ein Minimum an Aufklärung brauchten, sollte ihr Besuch geordnet vonstattengehen.

"Wir sind Reisende", sagte sie auf Johns Bitte, ihre Anwesenheit zu erklären. "Unser Schiff ist eine autarke Welt, ein umgestalteter Mond aus unserem heimatlichen Sonnensystem, mit dem wir seit Jahrtausenden reisen und nach den Wundern des Universums, um es mit Ihren Worten auszudrücken, Ausschau halten. Wir sind Hüter und Bewahrer aller Einzigartigkeiten, die wir gefunden haben. Wir suchen überall, auf scheinbar unbewohnten Planeten, in überquellenden Zivilisationen, auf Asteroiden, im Staub der Sterne. Wir sind eine alte Kultur, und unverwundbar. Die Kostbarkeiten sind bei uns in den richtigen Händen." Ihre Stimme war fest, wenn auch bemerkenswert leise, sehr bestimmt, jedoch vom freundlichen und unverbindlichen Klang eines mäßig interessierten Gönners. Ihre Ausstrahlung war dennoch positiv, beeindruckend. Mehr noch, John konnte aus den Gesichtern der Besetzung im Hauptquartier ein andächtiges Staunen herauslesen, Ehrfurcht vor der Fremden, und Hoffnung. Er glaubte aber, dass es weniger an ihren Worten lag als an dem Gefühl, das ihre bloße Anwesenheit verursachte. Ihre Schönheit überstrahlte alles. Jeder musste ihr erliegen. Er fühlte es selbst, die unerbittliche Anziehungskraft, obgleich er versuchte, sich zu wehren. Die Absicht dahinter war so klar. Und doch war er wehrlos. Es gab nichts, was ihr entgegen gesetzt werden konnte.

Aber war sie denn eine Gefahr? Sorgte sie mit ihrem Auftritt, ihrem spröden Charme, ihrem exquisiten Äußeren, dafür, dass man ihr wohlwollende Absichten unterstellte, ohne dass sie sie auch hegte? Er sah sich um. Ein freundliches Lächeln lag auf Helenas Lippen, während sie die namenlose Außerirdische gleichzeitig aufmerksam im Auge behielt. Ihr medizinischer Sinn sah in ihr wohl immer noch eine Patientin, die sich in ihrer Obhut befand. Victors Miene dagegen spiegelte all das deutlich wider, was er auch in sich selbst spürte, Verzauberung, Neugier, und die Frage, ob sie auch das war, was sie vorgab.

"Nach welchen Kostbarkeiten suchen Sie?", erkundigte sich Paul Morrow. Er war ein alter Zweifler, und es erstaunte John nicht, dass er nun als Erster das Wort ergriff.

"Es gibt Regeln, aber im Grunde keine Einschränkung." Sie sah ihn an, und er schlug die Augen nieder.

"Wie können Sie wissen, ob das, was Sie finden, den entsprechenden Wert hat?", erkundigte sich Sandra. John fand diese Frage klug, analytisch. Sie passte zu ihr. Eine Erklärung würde die Alphaner vielleicht auf die richtige Spur dessen bringen, wonach sie suchte. Möglicherweise wandten die Menschen ja selbst ähnliche Kriterien an, um Wunder zu definieren. - Nicht, dass er allzu viele auf Alpha gesehen hatte, was die Wahrscheinlichkeit erhöhte, dass die Außerirdische am Ende unverrichteter Dinge wieder abziehen musste. Als sie auf Sandras Frage antwortete, fand sich in ihrem Gesicht etwas, das am ehesten einer Verklärung gleichkam. Sie wirkte entrückt, als versuchte sie, ein Gefühl heraufzubeschwören, um es zu beschreiben.

"Wenn ich es finde, weiß ich es. Es verändert mich, es brennt wie ein Feuer im Inneren, es erhebt sich ins Unendliche des Universums, ist eins mit ihm, denn es ist das Universum, ein Ausdruck seiner Perfektion, seiner Allmacht, und es lodert in mir, weil auch ich die Unendlichkeit in mir trage. Es ist" - Sie suchte nach Worten. - "als verglühe man im leisen Wahn einer unbezwingbaren Ewigkeit."

"Kenn ich", sagte Alan mitten in die fassungslose Stille hinein. "Sex. Nächste Frage bitte." Der folgende Augenblick war ein Vakuum. John starrte den Adlerpiloten entgeistert an, und dann ertönte ein unterdrücktes Schnauben aus der Richtung der Computerkonsole, wo David Kano sich am Paneel festhielt und krampfhaft versuchte, ein schallendes Gelächter hinunterzuschlucken. Gleichzeitig bebten Sandra und Tanya auf ihren Sitzen, während ihnen die Tränen in die Augen traten, und Pauls Nasenflügel arbeiteten, als wollten sie mitsamt dem Controller abheben. Victors Hand hob sich an seine Lippen, seine Stirn warf sich in Falten, und er blinzelte angestrengt und außerstande, ein Wort zu sagen.

"Humor", erwiderte die Außerirdische, und ein Lächeln umspielte ihren Mund. "Eine universelle Eigenschaft intelligenter Lebewesen. Er gehört in die Liste unserer Bedingungen, eine Zivilisation überhaupt aufsuchen zu dürfen." Sie wandte sich an Alan. "Abgesehen davon aber ist Ihr Vorschlag unzulässig, Captain Carter, da es sich nicht um ein kultiviertes Gut handelt, um nichts Erschaffenes, sondern um eine körperliche Funktion mit ihren Folgen, und es kann daher nicht gewertet werden." Alan hob eine Hand.

"Schade", sagte er, "aber irgendwie dachte ich mir das schon. Wonach suchen Sie dann?"

"Wir sammeln bereits sehr lange, und die Wahrscheinlichkeit, etwas Neues von derartigem Wert, von einzigartiger Güte, zu finden, ist sehr gering. Meine Suche wird erfolglos sein."

"Aber geben Sie uns doch eine Chance! Wir sind eine wertvolle Gemeinschaft, so, wie wir sind. Wir mussten sehr um unser Überleben kämpfen, und wir kämpfen immer noch, sagen Sie nicht, dass das nichts ist." John freute sich über Alans leidenschaftliche Worte. Sie zeigten, dass die Menschen auf dem Mond damit begonnen hatten, sich als Teil einer lebenswerten Gesellschaft zu sehen, ihren Wert und ihr Potenzial zu erkennen, und auch bereit waren, sich dafür einzusetzen. Sie wirkte traurig.

"Im Antlitz des Universums ist es in der Tat nichts, Captain Carter. Das ist es nicht, wonach wir Ausschau halten."

"Wonach dann?", wollte Victor wissen. "Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen?" Nun spiegelte ihr Gesicht eher etwas wie Mitleid wider.

"Nicht hier, Prof. Bergman. Hier nicht."

"Kunst", schlug Helena vor.

"Wir kennen die Kunst bereits. Ihre Spielarten sind uns vertraut, und wir schätzen sie. Mehr als vieles andere. Ihre Kunst kann nicht überflügeln, was wir bereits gefunden haben." John wusste, worauf sie hinauswollte.

"Ich glaube, wir können Ihnen keinen Vorschlag machen, den Sie nicht abweisen werden." Sie neigte im Einverständnis den Kopf.

"Ich bin hier. Nicht mehr und nicht weniger. Der Grund ist eine kleine Unschärfe in unseren Daten, lediglich eine Frage der Kosmetik. Erwarten Sie nichts."

"Aber nehmen wir einmal an, dass Sie doch etwas finden, was tun Sie dann damit?" Paul musterte sie herausfordernd. "Nehmen Sie es uns weg?" Sie lächelte.

"Nein, Mr. Morrow. Das Außergewöhnliche, das wir suchen, mehrt sich, indem man es teilt. Das Wissen allein ist schon Vermehrung. Wir schützen das Einzigartige, wir entwenden es nicht."

"Dann lassen Sie uns wissen, wie wir vorgehen sollen." John rechnete nicht damit, jetzt auf einen grünen Zweig zu kommen.

"Tun Sie nichts", erwiderte sie. "Was ich suche, hätte mich bereits gefunden, wenn es hier wäre."

"Also ist ihre Suche bereits abgeschlossen?"

"Sie war es, ehe ich herkam. Meine Anwesenheit ist ein Formalakt." Helena trat vor, erstaunt und aufgeregt.

"Sie wollen sagen, dass der ganze Aufwand umsonst war?" Ihr Gegenüber lächelte wieder.

"Er war notwendig. Wie gesagt. Dies ist nicht mein erster formaler Besuch."

"Und wie sollen wir uns Ihren Aufenthalt hier vorstellen?"

"Commander, er wird wenige Ihrer Tage dauern. Dann werde ich Sie wieder verlassen. Was immer Sie mit mir vorhaben, es hat keine Bedeutung."

 

- xii -

Später saß John mit Victor und Helena in seinem Büro. Die Außerirdische war zunächst wieder ins Lazarett gebracht worden. Die Chefärztin traute ihrer gesundheitlichen Verfassung nicht recht und wollte sie noch weiter unter ihren Fittichen behalten. Das erleichterte auch die Beobachtung der Frau. Sie sollte ohnedies nicht allein in der Basis unterwegs sein, um ihr empfindliches Gehör zu schonen und sie vor allzu interessierten Aktivitäten von Mannschaftsmitgliedern zu schützen. Und der Antwort auf die Frage, ob sie vertrauenswürdig war, war man auch noch keinen Schritt näher gekommen. Sie machte einen ehrlichen Eindruck, aber welche Möglichkeit gab es, dies zu überprüfen?

"Ich bin, gelinde gesagt, ratlos", sagte John zu den beiden. Wieder mal stand er am Fenster und starrte auf die weiße Kristallwelt im Himmel des Mondes. "Sie sagte von Anfang an, dass es hier nichts gäbe, aber dennoch machte sie dieses ganze, sicher nicht unaufwändige, Prozedere durch - nur, um hier nichts zu tun! Ist es vielleicht doch eine Falle?" Victor schüttelte den Kopf.

"Nein, nein, das glaube ich nicht. Sie stützen sich auf ein Regelwerk, das es zu befolgen gilt, und mit der Entsendung eines der Ihren wird dem genüge getan. Sie haben mehrfach die Erfahrung gemacht, dass diese Unsicherheit, die anfangs mit der Datenerhebung entstand, keinerlei Auswirkung auf die endgültige Beurteilung haben wird, aber sie haben Vorgaben, die wohl einst nicht ohne Grund erstellt wurden. Indem sie die Frau zu uns schicken, werden die Regeln eingehalten." Helena sah Victor zweifelnd an.

"Aber ist das nicht eine bemerkenswert starre Art, fremden Lebensformen zu begegnen? Wäre da nicht ein individuelles Vorgehen zielführender?"

"Vielleicht tun sie es schon zu lange und sind sich ihrer Methoden zu sicher?" Sie seufzte.

"Das befriedigt mich nicht. Wir wissen immer noch nicht, woran wir sind." Sie wandte sich an John. "John, was ist Ihr Gefühl? Führt sie etwas im Schilde?"

"Ich weiß es nicht", sagte er, den Blick wieder durch das Fenster ins All gerichtet. "Das macht mich ja so ratlos. Ich habe normalerweise ein sehr sicheres Gefühl dafür, ob man jemandem trauen kann. Aber hier? Ihre Erscheinung ist faszinierend, mehr noch, ich habe nicht das Gefühl, auf der Hut sein zu müssen, obwohl Vorsicht deutlich angebracht wäre. Wo, wenn nicht in einem Fall wie diesem? Sie ist ansprechend, und ich bin, aus emotionaler Warte betrachtet, arglos, ja, von ihr sehr angetan und auf eine irritierende Weise interessiert. Aber genau das ist es auch, worüber ich nicht hinwegsehen kann. Es ist alles Kalkül. Sie ist zu schön, zu perfekt, zu höflich, zu deutlich in ihren Worten. Sie sagt die Wahrheit, aber sie enthält uns etwas vor. Vielleicht haben sie noch andere, eigennützige Ziele." Victor zog die Augenbrauen hoch. Er saß zurückgelehnt in einem der Plastiksessel, das linke Bein im rechten Winkel auf dem anderen Oberschenkel platziert, während er die Hände im Nacken verschränkte.

"Was für Ziele?" John hob die Augenbrauen.

"Wenn ich das wüsste, wäre mir klar, was zu tun ist." Er trat vom Fenster weg, die beiden Anwesenden musternd. "Victor, hast du die restlichen Daten ausgewertet, die wir von ihr haben?" Sein Freund richtete sich im Sessel auf.

"Ja, Helena und ich haben sie uns angesehen. Die fremde Materie in ihrem Kopf.. sie interagiert mit dem Rest des Gehirngewebes. Sie wirkt einerseits wie eine Relaisstation, gibt laufend Daten an die Gehirnregionen ab, die das Erinnerungsvermögen beinhalten, ruft aber auch Informationen ab, doch damit scheint die Funktion der außerirdischen Materie nicht erschöpft zu sein." John machte ein fragendes Gesicht.

"Inwieweit?"

"Es gibt da eine weiter reichende Wechselwirkung, die über den bloßen Transfer von Daten hinausgeht."

"Was kann ich mir darunter vorstellen?" Helena war während des Austausches zwischen den beiden Männern auffallend zurückhaltend gewesen. John warf ihr, während er sprach, einen Blick zu. Sie wirkte beunruhigt. Als sie merkte, dass er sie ansah, griff sie ertappt zu ihren Unterlagen, die auf dem Tisch vor ihr lagen. Irgendetwas hatte sie verunsichert, etwas Persönliches, von dem sie nicht wollte, dass er es wusste. Sie flüchtete in Professionalität.

"Wir sind uns nicht sicher, es richtig interpretieren zu können, Commander. Es sieht zumindest so aus, als hätte die Substanz Einfluss auf die biologischen Funktionen des Körpers. Sozusagen." John dachte darüber nach.

"Dann steht sie also einerseits durch diese Substanz mit ihrer Welt in Verbindung, und andererseits wirkt sich diese auch auf ihren menschlichen Körper aus?" Beide nickten.

"Davon ist auszugehen."

"Haben wir damit irgendetwas gegen sie in der Hand?"

"Wohl kaum. Wir haben keinen Einfluss auf die fremdartige Materie. Schon gar nicht, wenn wir nicht wissen, welchen Zweck sie genau erfüllt. Vielleicht schützt es sie." Helena hatte sich wieder im Griff.

"Es könnte sie unverwundbar machen?"

"Nicht ausschließbar", bestätigte Victor.

"Wir haben ihre Lärmempfindlichkeit", sagte sie. "Wir könnten sie mit unerträglichem Lärm zumindest kurzfristig aus dem Konzept bringen."

"Das ist wenig", erwiderte er, "sehr wenig, um gegen eine ganze Welt zu bestehen." Helena blickte ihn nachdenklich an.

"Ja, sie haben wirksame Vorkehrungen getroffen. Sie spricht uns mit ihrem Äußeren und mit ihrem zurückhaltenden Auftreten an; es weckt ein Bedürfnis in uns, ihr zu vertrauen und sie zu schützen." Sie pausierte kurz, um dann mit etwas Schärfe in der Stimme fortzufahren.  "Ich glaube aber, dass noch mehr an Potenzial in ihrem ansprechenden Äußeren liegt. Warum sonst hat sie die Gestalt einer Frau gewählt?" Johns Herz machte einen Satz. Das war es also, was ihr so im Magen lag!

"Glauben Sie, dass ich ihrem Charme erliegen werde?"

"Ouhh!" Victor sprang auf. "Ich fürchte, ich habe mein laufendes Experiment vergessen! Gerade noch rechtzeitig! Bitte entschuldigt mich!" Er rannte auf und davon, und John konnte sich eines Grinsens nicht erwehren. Es war ihm aber recht, dass sein Freund das Weite gesucht hatte. Die Angelegenheit ließ sich vielleicht doch besser mit ihr allein klären. Dass er ins Schwarze getroffen hatte, zeigte ein Hauch von Rot auf ihren Wangen.

"Dr. Russell, denken Sie tatsächlich, ich ließe mich in der Angelegenheit von persönlichen Motiven leiten?" Sie fixierte ihn.

"Haben Sie welche?" Ihre Deutlichkeit haute ihn vom Hocker.

"Haben Sie denn welche?" Diese Antwort hatte sie offensichtlich nicht erwartet. Sie starrte ihn sprachlos an. Er verschränkte die Arme kampfbereit vor der Brust und sah ihr zu, wie sie nach Fassung rang. Er musste zugeben, dass sie hinreißend dabei aussah. Schließlich raffte sie sich zu einer Antwort auf.

"Commander, verlassen wir die professionelle Ebene nicht. Meine Frage ist berechtigt und entstand aus Sorge um das Wohlergehen der Basis, denn wenn die Außerirdische Erfolg damit hat, Sie, der Sie der Leiter von Alpha sind, zu vereinnahmen, dann steht die Sicherheit unserer Gemeinschaft auf dem Spiel." Dass sie ihm damit einen Verrat an seinen Leuten zutraute, beschäftigte ihn gar nicht so sehr wie die Frage ihrer wahren Motive.

"Dr. Russell, warum sollten wir eigentlich die professionelle Ebene nicht verlassen? Vielleicht sind wir hier ja bei einer Frage, die nur uns beide etwas angeht!" Sie blickte ihn irritiert an.

"Wie soll ich das verstehen?" Er setzte sich vor sie auf den niedrigen Couchtisch und behielt damit zwar ausreichend Abstand zu ihr, war ihr aber dennoch nah genug, um jede ihrer Regungen sehen zu können. Sie fühlte sich offensichtlich unwohl in ihrer Rolle als Beobachtungsobjekt und erhob sich. Er tat es ihr gleich und stand ihr nun unmittelbar gegenüber. Statt auszuweichen blieb sie, wo sie war, und hielt mit einem Anflug von Trotz seinem Blick stand.
Doch dann geschah etwas, mit dem er nicht gerechnet hatte. Ihre verschlossene Miene öffnete sich, eine Flut von Empfindungen erreichte ihn und spülte ihn weg. Er spürte ihre Empörung, und wie sie davonflog, und wie Sorge und Mitgefühl hervortraten, und dann war da noch etwas versteckt: eine bockige Verweigerung des Offensichtlichen, das ihm bestätigte, was er längst wusste: Im Verborgenen ihres Herzens wusste auch sie..
Er forschte in ihren Augen, und da sah er eine stumme Bitte, nichts zu ändern, alles beizubehalten, wie es war. Sein Kampfgeist entschwand abrupt, und er senkte den Kopf.
Sie hatte ein so übles Spiel nicht verdient. Er schämte sich.

"Verzeih mir", sagte er leise und hob wieder den Blick. "Ich sollte ein wenig sorgfältiger umgehen mit meinen Schätzen." Sie sah weg, eine Weile, während er reglos stand und wartete.  Als er dachte, sie würde nun einfach wortlos davongehen, wandte sie sich ihm wieder zu. Sie war aufgewühlt.

"Ich habe auch Schätze, John", sagte sie, "Gesteh mir meine Sorge um sie zu. Du bist zu wichtig für Alpha", sie pausierte, zögerte, "und für mich, als dass ich eine Gefahr, die ich sehe, verschweigen könnte. Bitte mach es mir nicht so schwer, auf meine Weise auf dich aufzupassen." Ihre Worte waren zutiefst bewegend und beschämten ihn umso mehr, als ihm klar war, dass sie ihm seine Grobheit nicht übel nahm sondern sie schlicht als Teil seines Wesens akzeptierte. Ihr Blick hielt ihn fest, und darin war eine Magie, die ihn auflöste, die ihn berauschte. Er konnte nicht mehr denken, nur aus dem Herzen handeln. Ehe ihm bewusst war, was er tat, hatten seine Arme sie umfangen, und er hielt sie, atemlos, nicht wissend, was geschehen würde, und dann merkte er, wie sich auch ihre Arme zaghaft um ihn schlossen und sie ihn an sich zog. Er spürte das Leben; schon lange nicht mehr war es ihm so nah gewesen. Erst, als er sie losließ, wich sie von ihm. Er nahm ihre Hände.

"Helena, bitte glaube mir, wenn ich dir hier und jetzt sage, dass sie mein Herz nicht gewinnen kann." Er hätte gerne noch den Grund dafür hinzugefügt, dass sein Herz nämlich bereits vergeben war, doch er ließ es sein. Es war nicht der richtige Zeitpunkt. Jetzt senkte sie den Kopf.

"Gut", sagte sie. "Gut." Er ließ sie los. Sie raffte ihre Unterlagen an sich und eilte aus dem Kommandobüro. Er blickte ihr nach. Er glaubte zu wissen, welches Gefühl am Ende in ihr übrig geblieben war: Sehnsucht.
Irgendetwas war zwischen ihnen geschehen, etwas, das sie für immer aneinander band.

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Helena fühlte, wie ein inneres Chaos ihre wohl geordnete Welt wegspülte, alles umstülpte und kopfunter in die vielfältigen Winkel ihres ehemals disziplinierten Gefühlslebens warf. Sie hatte die Kontrolle verloren und verstand gar nichts mehr, spürte nur noch Johns Arme um sich und sein Atmen. Die Sicherheit, nicht auf sich allein gestellt zu sein. Es erinnerte sie daran, dass ihr etwas fehlte.

Einst hatte sie es aufgegeben, willentlich, wohl überlegt, und mit dem Wissen um die Konsequenzen. Und überdies: Was soeben geschehen war, war lediglich eine Geste der Freundschaft gewesen. Mehr erwartete sie nicht. Mehr brauchte sie auch nicht!

Ihre Beine hatten sich, unbehelligt von richtungsweisenden Direktiven aus der Zentrale, automatisch weiterbewegt und sie durch die Korridore der Basis getragen. Als sie ihre Umwelt wieder wahrnahm, sah sie, dass sie sich im Stockwerk geirrt hatte und nun im allgemeinen Arbeitsmitteldepot gelandet war. Alan Carter lehnte an der Theke der Ausgabe, wo die Allgemeinheit unkompliziert Werkzeug, diverse Gerätschaften, Instrumente, Material und Zubehör ausborgen oder deren Fertigung in Auftrag geben konnte.

"Hey, Doc!", sagte er amüsiert. "Ist Ihnen das Werkzeug im OP ausgegangen? Charlie hier hat garantiert ein paar hochwertige Schraubzwingen und Rohrzangen für Sie im Angebot!" Sie fasste sich wieder und verdrängte den Tumult in ihrem Inneren, schickte ihn weit weg auf eine ferne Insel. Sie wollte nicht, dass man ihr die Unordnung, die in ihr herrschte, ansah. Es dauerte etwas, bis sie antworten konnte.

"Alan! Entschuldigen Sie, ich war in Gedanken! Vielen Dank für den Tipp, aber eigentlich bin ich auf der Suche nach einem Arbeitstisch und etwas Zubehör, das ich fürs Modellieren von Ton brauche." Charlie Revel, ein dicker schnauzbärtiger Mann mit einem Wust von tiefschwarz gefärbten Haaren kam aus dem Lager, in den Händen eine Stichsäge, die der Adlerpilot offensichtlich bestellt hatte. Er überreichte sie ihm und wischte sich die staubigen Hände in ein Tuch.

"Hallo Dr. Russell, dann lassen Sie mich mal sehen, was ich für Sie tun kann!"

 

- xiii -

Die Außerirdische verhielt sich passiv. Sie lebte in der Stille ihres Krankenzimmers, aus dem alle lärmproduzierenden Geräte entfernt worden waren. Kein Intercom, kein alphanischer Nachrichtendienst, kein Unterhaltungsprogramm aus der Konserve. Sie gab sich bedürfnislos. Weder bemäkelte sie ihren Aufenthalt im Lazarett, noch diskutierte sie die Überwachungsmaßnahmen. Die alphanische Küche ertrug sie mit Geduld, die Herausforderungen, die ihr der menschliche Körper bescherte, ebenso. Die vielen Geschenke aus allen Sparten, die der Botendienst bei ihr ablieferte, stapelten sich unberührt in ihrem Raum, auch die Anfragen nach Kontakten mit Alphanern beschied sie abschlägig. Lediglich einen Rundgang durch die Basis, den ihr John vorschlug, nahm sie mit Gleichmut an.

Alle Anwesenden waren vorbereitet, jeglicher Lärm verboten, die Stationen waren auf ihren Besuch vorbereitet und das Personal erwartete die Außerirdische mit gebührender Aufregung und entsprechendem Respekt.

Uninteressiert inspizierte sie die Abteilungen, durch die man sie schleuste, stellte keinerlei Fragen, als wäre sie über alles informiert, das es auf der Basis gab.

Technik, Botanik, Forschungslaboratorien, Energiegewinnung, Logistik und Wartung, alles perlte an ihr ab wie ein Nieselregen auf einer Pelerine. Die Visitierung des Freizeitzentrums lehnte sie rundweg ab.

John konnte sich vorstellen, was ihre Beweggründe waren. Sie saß ihre Zeit auf Alpha ab, ehe man sie wieder zurückberief. Die Entscheidung war längst gefallen. Man hatte die irdische Gesellschaft als harmlose, uninspirierte Zivilisation abgestempelt. Ob zu Recht oder zu Unrecht, war nicht eruierbar, schon gar nicht für die Alphaner.

Dennoch hinterließ sie einen Eindruck auf die Mannschaftsmitglieder. Gerüchte um ihre elfenhafte Schönheit, ihre zarte Erscheinung, hatten längst die Runde gemacht, und zusammen mit ihrer blassen Zurückhaltung verwandelte sie dies in einen lebendigen Mythos. Jeder, der sie leibhaftig gesehen hatte, wollte etwas von ihrer Fremdheit gespürt haben, von der Besonderheit, die sie ausstrahlte, und nicht wenige dachten, dass sie den Menschen helfen werde. Einzig die klaren Regeln, die anlässlich ihres Rundgangs aufgestellt worden waren, und die Wachen, die diese exekutierten, verhinderten, dass am Ende ein ganzer Tross wie eine Prozession hinter der kleinen Gruppe herpilgerte.

John war bewusst gewesen, wie sie auf die Alphaner wirken würde, doch aus sehr konträren Gründen hatte er sich entschlossen, den Rundgang durchzuführen. Einerseits hoffte er, wenn auch mit durchaus realistischer Sicht auf seine Wünsche, dass ihr etwas auffallen würde, das ihren Kriterien des Besonderen entsprach, und andererseits war es notwendig, die Neugier seiner Leute, die Außerirdische leibhaftig zu sehen, zu befriedigen. Die kontrollierten Bedingungen waren ihm lieber, als wenn sich die Begegnung aus einer Spontanaktion einiger ungeduldiger Alphaner ergeben hätte.
Er hatte Alan und Paul als weitere Begleiter ausgesucht, und alle drei waren am Ende des Rundgangs angespannt und nervös, auch wenn sich die Mannschaft an die Regeln gehalten hatte und die Außerirdische alles mit Fassung über sich ergehen hatte lassen.

Den Abschluss der Tour bildete ein kurzer Besuch im Club '99. Dieser war weniger als Programmpunkt zu verstehen als mehr als ein Atemschöpfen der Tour Guides, die die Erfolglosigkeit ihrer Anstrengungen mit einem Schluck Entspannung hinunterspülen wollten. Die Außerirdische war hier nur ein Anhängsel.

Artie hatte den Club vorbildlich auf Trab gebracht, und abgesehen vom abgelebten Mobiliar, das er naturgemäß auf die Schnelle nicht ersetzen konnte, strahlte das Ambiente sauberes Vergnügen wider. Ganz gegen seine muffige Gewohnheit eilte er den Ankommenden mit ungewohntem Eifer entgegen und ergriff freudig die Hände der Außerirdischen.

"Leilani!", sagte er, "Willkommen in Arties Club! Darf ich Sie mit einem Spezialdrink erfreuen?"

"Leilani?", fragte sie befremdet.

"Blume des Himmels", erwiderte er, ungerührt von ihrer Distanz, und schob den Tross Richtung Tresen. "ein hawaiianischer Name. Zu niemandem passt er besser als zu Ihnen." Ein mageres Lächeln stahl sich von ihren Lippen.

"So sei es also. Leilani." Sie ließ sich von ihm auf einen Hocker bugsieren und wandte sich an John.

"Der Namensgeber hat gewisse Freiheiten. Ich werde den.. den Spezialdrink ausprobieren." John hatte auf Anraten der medizinischen Fraktion dafür gesorgt, dass kein Alkohol in dem Getränk war.

Sie fand Gefallen daran, wenn sie auch mit keinem Wort erkennen ließ, dass dies etwas Bewahrenswertes war.

Der Ausflug endete ohne Highlight. Man kannte jetzt aber immerhin den menschlichen Namen der Außerirdischen.

 

- xiv -

Dann kamen die Alpträume.

Johns Schlaf war seit jeher ein Kampf gegen die Gnadenlosigkeit seiner eigenen Unruhe gewesen. Mit den Pflichten, die er als Kommandant auf Alpha übernommen hatte, hatte sich seine Schlaflosigkeit in eine höhere, sozusagen professionelle, Ebene hinaufgearbeitet. Er war unruhige und durchwachte Nächte also gewohnt, wenn sich auch seine Grauen zumeist hinter den Anforderungen seiner Verpflichtungen verbargen.

Im Traum war er auf einem Planeten, dunkel, violett, der in diesen Farben sehr fremd wirkte. Es war Nacht, er stand am Ufer eines Sees, und er fühlte sich tot und leer. Hier war sie untergegangen, hier hatte das Meer sie ihm weggenommen, in einem grölenden Tosen, in einem grausamen Brüllen hatte es sie zu sich genommen und sie ihm nicht wiedergegeben.

Er starrte auf die leise wogende See, deren sanfte Wellen hilfreich vom irdischen Mond beleuchtet wurden, aber gleichzeitig war ihm klar, dass sie Helena nicht mehr hergeben würden. Er verstand es. Wer hätte sie schon hergeben wollen?

Aber vielleicht half ein Flehen, vielleicht verstand das Wasser, dass er sie brauchte, wenigstens ihren Körper, um überhaupt zu glauben, dass sie nicht mehr da war?
Doch das Wasser war ungnädig und unwillig, es begriff nicht, dass er ohne sie nicht sein konnte. - Aber was verlangte er?

Es handelte sich ja nur um Wasser.

Seine Beine rannten, seine Füße folgten dem imperativen Drang seines Herzens. Vielleicht waren die Wellen nicht überall so gnadenlos, vielleicht gab man sie ihm doch noch zurück.

Irgendwann versagten ihm die Beine den Dienst, er fiel auf die Felsen, keuchend und mit letzten Kräften, und er wusste, dass sie tot war. Und er war es mit ihr.

Mit einem Schrei erwachte er aus dem Schlaf und sprang aus dem Bett. Helenas Tod war unakzeptabel, indiskutabel. Niemals würde er das hinnehmen. Niemals, niemals würde er das erlauben! In der Stille seines Quartiers schrie er seinen Schmerz hinaus, bis es ihm bewusst wurde, dass es nur ein Traum gewesen war. Nichts als ein Traum.

Er ging ins Badezimmer und spülte die Angst mit einem Glas kalten Wassers hinunter. Als er wieder in den Schlafraum ging, hatte sich seine Panik gelegt. Die Erinnerung an den Traum schwand bereits, und als er sich erneut ins Bett legte, war da nur noch das Entsetzen abrufbar, das Wissen darum, dass es am Ende kein lebenswertes Leben für ihn geben würde.

Er dachte an Helena, und daran, wie sie ihn festgehalten hatte. Das war die Realität. Die Dämonen wichen, und er schlief ein.

:::::

Sie träumte davon, wie sie ihr totes Baby im Arm hielt. Der Atem zum Leben war ihr genommen, der Schmerz von der Art, der einem das Herz für alle Zeiten brach. Sie drückte das Kind an sich und sah auf das bleiche, stille Gesichtchen hinunter, während ihre Tränen auf seine Wangen perlten, mehr und immer mehr, als könnte sie ihm damit etwas von ihrem eigenen Leben abgeben. Sie blickte auf und sah den Commander, wie er im Raum auf- und abging, völlig aufgelöst, das Gesicht aschfahl, die Augen rot, und auch sein Gesicht war nass vor Tränen. Es fiel ihr ein, dass es ja sein Sohn war und dass er litt wie sie. Warum überließ sie ihn seinem einsamen Marsch durch die Verzweiflung? Sie streckte die Hand nach ihm aus. Als er es sah, war er in wenigen Schritten bei ihr. Er sank neben ihr auf die Couch im Krankenzimmer, umfing sie und sein totes Kind mit beiden Armen und weinte, den Kopf an ihrer Schulter verborgen.

Etwas entriss sie der Szene, und die Wirklichkeit drängte sich in ihr Bewusstsein. Jäh wusste sie wieder, wo sie war, und mit rasendem Puls setzte sie sich im Bett auf. Ihr Herz war schwer von der Last des Traumes, auch, nachdem sie bemerkt hatte, dass alles nicht wahr gewesen war. Sie atmete schwer, immer noch weinend, während sie versuchte, sich zu orientieren. Es hatte alles so echt, so real gewirkt, sie spürte noch Johns feste Umarmung, seinen Atem an ihrem Hals und den Schmerz wie tausend Dolche in der Brust. John war ihr so vertraut gewesen im Traum, so unglaublich nah, dass es wehtat, ihn nun so fern zu wissen.
Im blauen Halbdunkel der alphanischen Nacht griff sie nach einem Taschentuch auf ihrem Nachtkästchen und trocknete sich damit ihr Gesicht. Die Uhr zeigte vier. Sie fiel zurück ins Bett, davon überzeugt, nach dem Traum nie wieder ein Auge schließen zu können, doch das Klopfen ihres Herzens verebbte und gleichzeitig verblasste die Schrecklichkeit des Erlebten, die Erinnerung verlor sich, und sie sank wieder in einen tiefen Schlaf.

Der Wecker läutete ihren neuen Tag ein. Sie fühlte sich wie gerädert, als wäre sie die ganze Nacht über auf gewesen und hätte Entscheidungen auf Leben und Tod getroffen. Dann fiel ihr ein, dass ein Alptraum ihren Schlaf durcheinander gebracht hatte. Er hatte sich aus ihrem Gedächtnis davongestohlen, zur Gänze, nur ein entsetztes Gefühl von Schrecken und Leere in ihr hinterlassen, und das Bewusstsein, ihr Leben verloren zu haben.

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Tausend böse Träume.

Tausend böse Träume fielen über die Alphaner her wie die biblischen Heuschrecken und fraßen die Zuversicht, den vorsichtigen Optimismus, den Tatendrang. Alles, was ihnen dabei half, auf Alpha zu bestehen. Sie rissen sie panisch und verstört aus dem Schlaf, und wenn sie sie in Angst und Schrecken versetzt hatten, verkrochen sie sich in der künstlichen Dämmerung des alphanischen Morgens feige hinter den Felsen des Unterbewusstseins. Wie böse Nebel aber wogten sie durch die Stunden der Nacht, und niemand wurde verschont.

John wusste, dass Leilani die Ursache war. Er ließ sie in sein Büro bringen.

"Warum?", fragte er. "Warum?" Sie stand vor ihm in einem weißen bodenlangen, taillierten Kleid mit Dekolleté, groß und zartgliedrig, fragil und schön.
Er selbst dagegen war angreifbar, zerstört von Träumen, an die er sich nicht erinnerte, die ihn aber wissen ließen, dass sein Leben umsonst sein werde. Tatsächlich Schall und Rauch. "Was wollen Sie von mir?" Sie musterte ihn mitleidig.

"Die Dinge nehmen ihren Lauf", sagte sie. "Sie träumen von Ihrer Zukunft." John schüttelte den Kopf.

"Nein. Nein. Die Zukunft ist positiv. Wir werden sie meistern."

"Sie sind im Irrtum", sagte sie. "Es gibt keine Zukunft. Ihre Träume sind Ihre Zukunft. Wollen Sie wirklich so sehr leiden?"

"Ich will nicht leiden! Ich werde leiden, um das zu erreichen, was ich mir wünsche, aber es wird nicht das Leid sein, das über unser Leben bestimmt." Sie rührte sich nicht. "Ich akzeptiere das nicht!"

"Wir werden Ihr Leiden verkürzen." John schaute auf.

"Was werden Sie?" Sie nickte.

"Sie sind nichts. Sie haben nichts. Warum existieren Sie?" Johns Gesicht nahm eine steinerne Miene an.

"Ich glaube an uns Menschen, und ich glaube an ein höheres Ziel." Sie lächelte. Sie war wie ein Engel so schön.

"Das sagen alle. Aber es ist irrelevant."

"Sie haben deren Leiden verkürzt?" Er konnte sein Entsetzen kaum verbergen. Sie bestätigte seine Frage freundlich.

"Sie haben einzigartige Kulturen zerstört? Sie haben Gemeinschaften voller Individuen getötet? Ein niemals wiederbringbares Gut?"

"Sie waren nicht einzigartig. Sie waren dem Untergang geweiht. Wie Sie es sind." John atmete tief durch.

"Leilani, das kann nicht Ihr Ernst sein. Wenn wir Ihren Ansprüchen nicht genügen, nichts in Ihren Augen Einzigartiges haben, warum lassen Sie uns nicht einfach ziehen? Wir kümmern uns um unser eigenes Schicksal." Sie wirkte verständnislos.

"Es ist nicht vorgesehen. Sie sollen nicht leiden. Wir werden Sie Ihrem Schicksal nicht überantworten." John keuchte.

"Was gibt Ihnen das Recht, über andere zu entscheiden?"

"Es ist unsere Aufgabe", erwiderte sie mild.

"Leilani, ich flehe Sie an, uns zu verschonen." Sie wandte sich zum Gehen.

"Nein", sagte sie, "das ist nicht möglich." Sie verließ den Raum. Ihre Begleiter, die draußen im Korridor auf sie gewartet hatten, eilten hinter ihr her, als sie sich wieder auf den Weg ins medizinische Zentrum machte.

Tausend böse Träume.

 

- xv -

John war sich darüber im Klaren. Mit dem Erscheinen der Außerirdischen auf dem Mond hatten sie Zeit eingekauft. Was man mit der menschlichen Gemeinschaft vorhatte, war von Anfang an geplant und unabänderlich gewesen, und hätte man Leilani nicht zu ihnen geschickt, hätten die fremden Wesenheiten in der Zwischenzeit das Leben auf dem Mond ausgelöscht. Der kostbare Kristall im All war zum Todesstern geworden.
Er glaubte, dass sie sicher waren, solange sich die Frau auf Alpha befand.

Helena war jedoch mit einer weiteren Hiobsbotschaft gekommen. Ihre Scans zeigten an, dass der menschliche Körper Leilanis begann, instabil zu werden. Trieben sie ein perfides Spiel? Wollten sie die Menschen für ihren Zustand verantwortlich machen, um einen Grund haben, sie zu zerstören?

Die Mediziner fanden keine Möglichkeit, den Verfall von Leilanis Körper aufzuhalten. Helena vermutete, dass er gesteuert wurde von der fremden Materie in ihrem Gehirn.
Die Außerirdische selbst wohnte den Versuchen im Lazarett, ihr zu helfen, mit einer Art mitleidigem Desinteresse bei.

"Leilani!" Helena hatte sich im Tonfall fast vergriffen vor lauter Frust um ihre vergeblichen und augenscheinlich ungewünschten Bemühungen. Sie war müde vor Schlaflosigkeit und getränkt von einer Traurigkeit, die ihr ganzes Denken überschattete. Sie war es gewohnt, ihre Gefühle aus ihrem beruflichen Alltag auszusperren, aber das fiel ihr jetzt zunehmend schwerer. "Ich verstehe nicht, was in Ihrem Körper passiert. Alle Parameter verändern sich, Sie steuern einem Organversagen entgegen, wenn wir keine Möglichkeit finden, nachhaltig einzugreifen. Können Sie mir nicht helfen?" Die Außerirdische saß vor ihr auf der Untersuchungsliege. Ihr Gesicht war sehr bleich, ihre roten Lippen mit dem milden Lächeln dazu ein starker Kontrast.

"Dr. Russell, dies ist nicht mein Körper. Mein Weg ist bestimmt. Mit dem biologischen Tod der Frau, die ich jetzt bin, kehre ich in meine Welt zurück." Helenas Gesicht zeigte eine Mischung aus Zorn, Schmerz und Unverständnis.

"Und wir werden dann auch sterben." Leilanis Lächeln verstärkte sich.

"Sie haben ein trauriges Herz, Dr. Russell. Warum hängen Sie so daran? Warum wollen Sie sich nicht davon befreien? In Ihren Träumen haben Sie gesehen, dass es immer traurig bleiben wird." Helena schüttelte den Kopf.

"Ich erinnere mich nicht an die Träume, sie haben nur eine tiefe Hoffnungslosigkeit in mir hinterlassen, die ich jedoch zweifellos überwinden werde. Aber die Frage auf Ihre Antwort ist, dass ich über mein Schicksal selbst entscheiden möchte."

"Ja, Ihr Commander äußerte Ähnliches. Ihre Spezies schätzt die Selbstbestimmtheit. Auch wenn sie gar keinen Wert hat."

"Wir Menschen haben keinen Wert für Sie. Und darum müssen wir sterben." In Leilanis Miene kam Irritation.

"Nein", sagte sie, "Sie ziehen die falschen Schlüsse. Das Leben ist die grausamere Alternative, der Tod dagegen die Erlösung. Wer etwas Wahrhaftes geschaffen hat, trägt die Bürde und die Verantwortung, diese Kostbarkeit zu pflegen und zu behüten. Es ist eine Strafe, dem ewigen Lauf der Dinge folgen zu müssen, sich niemals davon befreien zu können." Sie pausierte kurz. "Aus Ihrer Sicht ist es das Gegenteil, weil Sie denken, es sei erstrebenswert zu existieren, aber wir wissen mehr, wir verstehen mehr, und aus diesem Verständnis heraus müssen wir unsere eigene Verantwortung wahrnehmen und zumindest diejenigen, die keine Verpflichtung haben, von ihrer Bürde befreien."

"Der Tod ist etwas Erstrebenswertes?" Ein sehnsüchtiges Funkeln strahlte aus Leilanis Augen. "Wie lange leben Sie schon, Leilani?" Sie wandte den Kopf ab. Es war das erste Zeichen der Schwäche, das Helena an ihr sah, abgesehen von den Augenblicken, nachdem sie auf Alpha das Bewusstsein erlangt hatte.

"Zu lange", sagte sie schließlich, "viel zu lange."

"Sie können nicht sterben?"

"Durchaus. Durchaus. Ich habe Glückliche gesehen, denen es gelungen ist." Helena musterte sie.

"Leilani, Sie sagten, ich hätte ein trauriges Herz. Sie haben ja auch eines."

"Ja? In meiner Welt gibt es keine Herzen." Helena lächelte bekümmert und antwortete nicht.

 

- xvi -

Das Wohlwollen der Alphaner verließ Leilani. Immer häufiger blickten zornige Menschen aus den Gucklöchern der Basis auf die schimmernde Kristallwelt der Fremden. Es war auch ihnen nicht schwer gefallen, die Fremden für ihre Alpträume und die Traurigkeit auf Alpha verantwortlich zu machen, und ihre Forderungen an den Kommandostab waren unmissverständlich. Er sollte dafür sorgen, dass sie in Frieden gelassen wurden. Auch wenn dies bedeutete, dass man Leilani töten musste.

John wusste, dass der gewaltsame Tod der Außerirdischen nichts ändern würde, im Gegenteil, eine derart feindliche Aktion würde sich nicht mildernd auf das Schicksal der Menschen auswirken. Er war, auch angesichts der ohnedies desolaten Stimmung, die mittlerweile überall auf Alpha herrschte, unruhig und unzufrieden. Es stand außer Diskussion die Menschen auf Alpha aufzugeben. Und doch sah er keinen Ausweg.

Die Untersuchungen und Berechnungen waren, soweit möglich, abgeschlossen; Victor Bergman hatte eindringlich davor gewarnt, den Kristall anzugreifen. Es bestand gute Aussicht darauf, dass ein jeder Schuss zurückprallte und nur die Alphaner selbst zu Schaden kamen. Ein Angriff wäre lächerlich und dumm.

Leilanis menschlicher Körper dagegen starb ohnedies seinen langsamen Tod, der mit dem Verderben der Alphaner enden würde. Ihr etwas anzutun, war ebenso wenig erfolgversprechend. Folter, wie so mancher unter vorgehaltener Hand forderte, kam für John nicht in Frage. Er wollte nicht als Exemplar einer unzivilisierten Gattung in die Memoiren des Universums graviert werden. Überdies sah er darin keinen Sinn.

Die Gespräche, die geführt worden waren, waren fruchtlos. Das Verständnis von der Welt war zu konträr, und was ihm wünschenswert vorkam, bedeutete für Leilani Qualen ohne Ende. Und dennoch, es blieb nur noch das Wort.

Er hoffte, auf irgendeine Weise mit den Verantwortlichen auf dem Kristall sprechen zu können und mit einem letzten Versuch das Leben der alphanischen Gemeinschaft erbetteln zu können. Die Möglichkeiten der herkömmlichen Kommunikation waren erschöpft. Sandra hatte nie aufgehört, den Kontakt mit dem Raumschiff zu suchen, stoisch sandte sie ihre Versuche zur Kontaktaufnahme aus, ebenso stoisch wurden sie ignoriert.

Leilanis Aufenthalt im medizinischen Zentrum war nun nicht mehr nur kosmetischer Natur oder aus Sicherheitsgründen notwendig. John erschrak, als er sie sah. Innerhalb von Stunden war sie verfallen. Sie saß auf einem Sessel, den rechten Ellenbogen auf den Tisch und das Kinn kraftlos in die Hand gestützt. Sie blickte auf, als er eintrat. Ein halbes Lächeln erschien in ihrem Gesicht.

"Commander. Wollen Sie der Zerstörung dieses Körpers beiwohnen?"

"Ich möchte gar keine Zerstörung sehen", erwiderte er, "weder die Ihre oder noch sonst irgendeine. Gibt es denn keine Möglichkeit, sie aufzuhalten?"

"Nein, es geschieht, was geschehen muss."

"Ich möchte mit den Verantwortlichen auf Ihrem Raumschiff Verbindung aufnehmen. Unsere herkömmlichen Kontaktversuche fruchten nichts. " Sie blinzelte verwirrt.

"Commander Koenig, Sie sprechen, indem Sie mit mir reden, mit allen, indem ich mit Ihnen kommuniziere, spreche ich für alle. Ich bin alle. Ich bin Leilani, aber ich bin auch die restlichen Bewohner meiner Welt."

"Dann haben wir uns von jeher immer auch mit all den Mitgliedern Ihrer Gemeinschaft unterhalten." Seine Hoffnung erfüllte sich nicht. Er hatte geglaubt, mit den Anführern der Aliens verhandeln zu können. Er war bereit gewesen, alles zu tun, um den Fortbestand der Basis zu ermöglichen, aber diese Erkenntnisse erstickten jeden Wunsch auf Verhandlung im Keim. Er nahm auf der anderen Seite des Tischchens Platz. "Wie lange noch, Leilani, wie lange existieren wir noch?"

"Nicht sehr lange. Ein paar Tage, wenn Dr. Russell weiter so verbissen an der Funktionstüchtigkeit dieses Körpers arbeitet."

"Ja, sie ist voller Leidenschaft für das Leben."

"Sie will, wie Sie, das Erbarmen nicht anerkennen, das Ihnen durch uns zuteilwird. Wir werden Sie vor dem Leid bewahren." Er schüttelte den Kopf.

"Leilani, ich will nicht behaupten, dass wir gerne leiden. Wirklich nicht. Aber diese Bürde ist ein Teil unseres Lebens, von der wir lernen und an der wir wachsen. Sie ist nicht von vornherein ein Grund, den Tod zu suchen."

"Aber Sie können sterben."

"Eben. Eben! Unser Leben ist so kurz, dass wir nichts davon freiwillig hergeben wollen. Sei es auch noch so karg und kummervoll." Sie senkte den Blick und betrachtete ihre Hände, die sie nunmehr ineinander verschränkt vor sich auf dem Tisch liegen hatte.

"Ihr Leben ist kurz, in der Tat. Aber Ihre Spezies ist langlebig. Sie muss erlöst werden." Johns Verzweiflung nahm allmählich zu. Es sah nicht so aus, als könnte man sie doch noch umstimmen, sie davon überzeugen, dass die Alphaner ein Recht auf das Leben hatten, so armselig und beschwerlich es den Außerirdischen es auch erscheinen mochte. Die Menschheit hatte sich über Jahrmillionen entwickelt, und der Weg in die Gegenwart war steinig und voller Sackgassen gewesen. Es war also nicht gerade so, als könnte man die Menschen mit Elend und Torturen völlig überraschen.
Er musste seine Strategie ändern, einen Schritt nach dem anderen gehen. Natürlich blieben nicht mehr allzu viele Schritte, aber einer, der im Augenblick drängendste, war es, die Mannschaft zu beruhigen.

Überall gärte und brodelte es, die Schlaflosigkeit und die damit einhergehende Müdigkeit verursachten Stress und Gewaltbereitschaft, und John wartete nur darauf, dass irgendwo auf Alpha jemand an die Decke ging und damit eine Kettenreaktion auslöste, die nicht mehr beherrschbar war. Tumulte würden ausbrechen, und dann bräuchten sich die Außerirdischen eigentlich nicht mehr wegen der Zerstörung von Alpha Gedanken machen, das würde man dann auf der Basis vorsichtshalber gleich mal selbst erledigen.

John hatte die Sicherheitsmaßnahmen deutlich intensiviert, und auch wenn er kein Befürworter von Überwachungsmaßnahmen war, so wurden zurzeit alle Kameramitschnitte laufend ausgewertet, automatisch zwar, aber die Software war so gut, dass sie verschiedene kritische Situationen erkennen, mit einander in Beziehung setzen und bei Bedarf an David Kano im Hauptquartier melden konnte. Zwei konspirative Begebenheiten waren mittlerweile dank dem Spionageprogramm, das noch aus der Zeit von Johns Vorgänger stammte, diskret entschärft worden. Wie auch immer, er hatte den Einsatz der Anwendung strengstens reglementiert, nicht nur wegen der großen Rechnerkapazitäten, die es für die Auswertungen brauchte, sondern auch, weil er prinzipiell gegen ein überwachungsstaatliches Modell war.

Um den Alphanern ein Zeichen dessen zu geben, dass etwas erreicht wurde, war es schlichtweg unabdingbar, ihnen zumindest ihre Nachtruhe zurückzugeben.

"Leilani, ist es denn notwendig, uns weiterhin mit Alpträumen zu plagen? Sie haben uns damit demonstriert, was Sie wollten, und wir haben uns entschlossen, unsere traurige Zukunft nicht als Grund für unsere Auslöschung zu akzeptieren. Ein Fortführen der schlechten Träume bringt also gar nichts sondern lässt uns nur leiden. Wenn ich richtig verstanden habe, ist es Ihnen wichtig, uns genau dies zu ersparen. Gewähren Sie uns also wenigstens den Frieden der Nachtruhe."

"Den Frieden der Nachtruhe? Ein trügerischer Frieden. Aber so sei es."

"Gut." Er machte eine Pause. "Leilani, wie.. wie werden wir sterben?" Sie sah ihn an.

"Blitzartig. Sie werden es nicht merken. Versuchen Sie nicht zu fliehen. Es wäre zwecklos."

"Als ob mir das nicht klar wäre", murmelte er.

:::::

John berief für den Folgetag eine Kommandokonferenz ein, eine offizielle diesmal, die, wie sonst auch üblich, in seinem Büro stattfand.

Er legte die Situation offen dar, was die Anwesenden zum Teil in Schrecken versetzte, denn, wie es sich herausgestellt hatte, hatte Leilani die Vereinbarung mit dem Commander eingehalten und dafür gesorgt, dass die Alpträume aufhörten. Das war natürlich wieder Anlass zur Hoffnung gewesen. Kano hatte bestätigt, dass es auf Alpha umgehend ruhiger geworden war.

"Aber Commander, was können wir dann tun?", erkundigte sich Paul aufgebracht. "Wir können sie nicht angreifen, weil wir dann nur selbst sterben. Wir können nicht fliehen, weil sie uns jagen und erwischen werden. Wir können sie nicht überreden, uns am Leben zu lassen. Wir wissen nichts über die Waffe, mit der sie uns töten werden. Zerbomben sie Alpha und legen sie den Mond in Schutt und Asche?" Victor wedelte verneinend mit dem erhobenen Zeigefinger.

"Nein, nein, das werden sie nicht tun." Paul hatte Alan aus der Seele gesprochen.

"Sondern, Professor?"

"Sie sind keine Zerstörer im eigentlichen Sinn. Sie sind nicht daran interessiert, Sachen kaputt zu machen, sichtbare Zeichen der Vernichtung zu setzen. Sie sind Bewahrer, sie haben ihre Regeln. Sie sammeln und archivieren, und sie befreien obendrein Kulturen von der Knechtschaft des Lebens, soweit es ihnen notwendig erscheint. Sie werden leise vorgehen, keine Spuren der Vernichtung hinterlassen. Sie werden zum Beispiel einen Vernichtungsstrahl auf uns herabschicken, der einmal über Alpha schwenkt und das organische Leben darin entfernt. Eine Geisterbasis wird übrig bleiben, völlig intakt, und jemand, der einst zufällig dem Mond begegnet, wird sich fragen, wohin denn die Einwohner verschwunden sind."

"Moment!" John stutzte.

"Victor, glaubst du, wir könnten eine Chance haben, dem Todesstrahl zu entkommen?"

"Inwiefern?"

"Indem wir uns tief unter der Mondoberfläche verstecken! Es gibt die Grabungstunnel der Rohstoffgewinnung und die natürlichen Gänge und Höhlen, die weit über die Grenzen der Basis hinausreichen und dabei so tief liegen, dass praktisch nichts durchdringen kann, wenn nicht gleichzeitig das Gestein darüber zerstört wird! Ich zweifle nicht, dass die Außerirdischen die Macht hätten, den gesamten Mond zu vernichten, aber wenn deine Vermutungen stimmen, Victor, und sie dies nicht vorhaben, gäbe es dort vielleicht die Möglichkeit, uns zu verstecken!" Sein Freund zog die Augenbrauen hoch.

"Die Katakomben! Aber ich würde unsere Chancen als verschwindend gering einschätzen. Sie werden die Auslöschung kontrollieren."

"Vielleicht aber auch nicht!" John war aufgeregt, denn zum ersten Mal gab es so etwas wie den Funken einer Hoffnung. "Du sagtest, dass sie Pragmatiker seien, die ihren Vorgaben blind folgen. Was sie mit uns tun, ist für sie Routine. Ein Schritt bedingt den nächsten, ohne dass es notwendig ist, den folgenden Handgriff zu überdenken. Versteht ihr, was ich meine?" Helena nickte.

"Routine macht unvorsichtig. Man denkt nicht darüber nach, weil der Ablauf klar strukturiert ist, und manche Schritte führt man nachlässig aus, weil sie nie Probleme machen." John hob beide Hände.

"Sie scannen ein Gehirn und glauben, dass sie die gesamte Spezies verstanden haben. Sie hielten es nicht einmal für nötig, unsere Datenbanken nach Wissenswertem über uns zu durchforsten. Sie sind von ihren Regelwerken überzeugt und verlassen sich vollständig darauf."

"Also hoffen wir, dass sie, im Vertrauen darauf, dass ihr Todesstrahl uns alle erwischt hat, gar nicht prüfen, ob das auch der Fall war." Alans Worten war deutlich seine Skepsis anzumerken.

"Ich weiß, es ist mehr ein Klammern an den Strohhalm als ein echter Plan, aber wir haben sonst gar nichts. Dr. Russell, wie geht es Leilani?"

"Nicht gut. Meine Maßnahmen greifen immer weniger. Ihr Körper vergiftet sich, und ich glaube nicht, dass sie den heutigen Tag überleben wird."

"Dann müssen wir uns beeilen."

Im Zuge der Grabungsarbeiten für die Rohstoffgewinnung war man schon vor Jahren auf Gänge und Höhlen tief unter der Mondoberfläche gestoßen. Man vermutete, dass sie natürlichen Ursprungs waren. Ihre Ausdehnung war enorm, sie erstreckten sich wahrscheinlich über viele tausend Kilometer, so dass unmöglich gewesen war, sie bis dato erschöpfend zu untersuchen. Die Bezeichnung "Katakomben" hatten sie eigenartigen Ausbuchtungen und kleinen Nischen in den größeren Gewölben zu verdanken. Man hatte die Zugänge aufgrund der Tatsache, dass nicht klar war, wo diese Korridore überall hinführten, sicherheitshalber abschnittsweise mit Drucktüren versehen, ein Umstand, der den Alphanern jetzt zugutekam, weil man sie auf diese Weise völlig vom Rest der Basis trennen konnte. Die Schutzräume, die man auf Alpha vorgesehen hatte, lagen zwar in der untersten Ebene und waren mit Toiletten und Notreserven von Wasser, Konserven, Schlafgelegenheiten und Sauerstoff versorgt, doch waren sie in der aktuellen Situation aus Johns Sicht viel zu unsicher. Man hatte sie geplant, um im Fall von Problemen der Atomreaktoren oder bei einem Sauerstoffleck eine sichere Rückzugsmöglichkeit für die Mannschaft zur Verfügung zu stellen, doch niemals hatte man vermutet, dass man sich einst vor außerirdischen Angriffen mit Waffengewalt schützen müsste. Alpha war ein friedliches Projekt aller Nationen auf der Erde gewesen.

Der Plan war nun rasch umzusetzen. Es war lediglich notwendig, die Ausstattung der herkömmlichen Schutzbunker umzuräumen und die biologischen Rohstoffe für die Nahrungsmittelherstellung sowie die bestehenden Nahrungsreserven in Sicherheit zu bringen. Man musste damit rechnen, dass die Außerirdischen alle organischen Strukturen zerstörten, und es würde nicht eben hilfreich sein, zunächst zu überleben, um dann aufgrund des Mangels an Rohmaterialien zu verhungern.

Der Vorteil war nun auch, einen Großteil der Mannschaft in die Vorbereitung einbinden zu können. Das Projekt wurde von der Besatzung des Hauptquartiers koordiniert, die ein Vorgehen ausgearbeitet hatte, wonach eine Adaptierung der Katakomben zu Schutzräumen innerhalb weniger Stunden umgesetzt werden konnte.
Für die Moral innerhalb der Mannschaft war dies von großem Wert, weil nun endlich das Gefühl aufkam, dass tatsächlich etwas für das Überleben der Alphaner getan wurde. Natürlich gab es auch Skeptiker, doch insgesamt war man bereit, dem Commander und dem Führungsstab der Basis zu vertrauen. Die Unruhen auf der Basis hatten schlagartig ihr Ende gefunden.

Die Arbeiten gingen flüssig von der Hand, und pünktlich zur Deadline waren die Alphaner, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in der von ihnen definierten "sicheren Zone". Sollte etwas daneben gehen, so wusste John, würde es niemanden geben, der sich darüber beschweren konnte. Das war ein zynischer Gedanke, das war ihm klar, und doch traf er den Kern der Sache.

In der Zwischenzeit gingen mit dem fremden Mond seltsame Veränderungen vor. Seine Ausstrahlung intensivierte sich, und bald schon war die Gegend um Alpha taghell erleuchtet. Das Licht war von einer schneidenden Kraft, messerscharf die Schatten, die es warf, und man konnte die Beleuchtung auf Alpha in allen Räumen, die mit Fenstern ausgestattet waren, dämpfen oder ganz ausschalten. Dennoch gab es einen Unterschied zur Güte des Sonnenlichtes, das man einst gewohnt gewesen war. Das bläuliche Weiß war beißend und von einer Kraft, die in den Augen wehtat.
Den Mond der Außerirdischen mit freiem Auge anzusehen, war nun nicht mehr möglich. Zu gleißend war er mittlerweile geworden, als konzentrierte er alle Energie an seiner Oberfläche, bündelte sie, um am Ende alle tödlichen Energien zur Verfügung zu haben.

John ließ die Sensoren natürlich trotzdem auf das Schiff richten, und mit einfachen Filtern konnte man sich via Monitor ein aktuelles Bild von der Oberfläche machen, wiewohl weitere Messungen und damit auch Erkenntnisse zu den Eigenschaften ihrer Waffe nach wie vor unmöglich waren. In den Computerdarstellungen sah man Energiebänder wie Mäander über die Front des fremden Mondes gleiten, hin zu einem zentralen Punkt, der die Helligkeit aufzunehmen schien, zu speichern, um sie dann vielleicht in einer wilden Eruption auf den Mond der Menschen zu schleudern.

John war sich dessen bewusst, dass sein gesamter Plan zur Rettung der Menschen auf reiner Spekulation fußte. Er hatte Löcher wie ein Schweizer Käse, und die Wahrscheinlichkeit, erfolgreich zu sein, lag nicht einmal im Promillebereich. Weder kannten sie die Außerirdischen genug, um tatsächlich Vorhersagen über ihr Vorgehen treffen zu können, noch hatten sie die geringste Ahnung über die technischen Mittel, die ihnen zur Verfügung standen.
Er schickte Victor zu Leilani, in der Hoffnung, mit dessen Hilfe mehr über den Todesstrahl herauszufinden.

 

- xvii -

Als der Professor ins Krankenzimmer trat, erschrak er. Sie war bereits ans Bett gefesselt und hing an mehreren Apparaten und Schläuchen. Sie selbst war aber noch bei klarem Verstand und verfolgte mit dem Blick jede seiner Bewegungen.
Helena hatte die Lebensfunktionen gerade überprüft und die Geräte justiert.

"Sie ist schon sehr schwach. Überanstrenge sie nicht." Victor versprach es, und während Helena den Raum verließ, setzte er sich an den Rand des Bettes.

"Professor Bergman."

"Wie geht es Ihnen?" Ihr Lächeln war matt.

"Dieser Körper ist stark, und Dr. Russell ist hartnäckig, aber nichtsdestoweniger spüre ich den Schmerz des Verfalls. Andere Zivilisationen in ihrem eigenen Erscheinungsbild aufzusuchen, ist immer mit großer Pein verbunden."

"Wegen der neuen Körper, in die Sie schlüpfen müssen?" Sie schüttelte schwach den Kopf.

"Wegen des Wissens, dass sie sterben dürfen. Am Ende den Tod zu spüren, ihm so nah zu sein, und dabei zu wissen, dass er mir nicht vergönnt sein wird."

"Aber sind Sie nicht neugierig auf die Kulturen und auf die Lebensformen, die Ihren Weg kreuzen? Wie jeder Mensch einzigartig ist, muss auch jede Zivilisation einzigartig sein!"

"Es gibt nichts Einzigartiges im Kosmos. Alles ist Wiederholung."

"Weil Sie nicht richtig hinsehen, Leilani."

"Wollen Sie versuchen, mich umzustimmen? Ihr Schicksal anders zu entscheiden?" Er schüttelte den Kopf.

"Das war eigentlich nicht meine Absicht. Ich will verstehen, begreifen, was Sie antreibt, erkennen, wer Sie sind und warum Sie sind, wie Sie sind."

"Warum feilschen Sie nicht mit mir um Ihr Leben? Brauchen Sie es vielleicht nicht? Die anderen Menschen hier auf dem Mond haben eine Traurigkeit an sich, die sie kaum abzuschütteln vermögen. Alle tragen sie Lasten, die mir zeigen, dass unser Vorhaben, den Alphanern den Frieden des Todes zu geben, richtig und gut ist. Nur bei Ihnen ist es anders. Bei Ihnen sehe ich den Frieden in Ihrem Dasein, trotz aller Hoffnungslosigkeit. Was ist Ihr Trost in diesem trostlosen Leben, Professor?" Victor lächelte heiter. Im Angesicht des nahenden Endes zeigte sich, dass sie nicht nur der offizielle Vertreter ihrer Gemeinschaft war, sondern dass es auch irgendwo ein einzelnes Individuum gab, das mehr war als nur das Sprachrohr der Fremden und das über eine eigene Persönlichkeit verfügte. Interessen hatte. Hoffnungen und Ängste. - Und bereit dazu war, sich auf sein Gegenüber einzulassen.

"Sie sind so alt und wissen so viel. Haben so viele Welten kennengelernt, und mich fragen Sie, worin ich Trost finde?" Sie nickte, schwach. Er neigte den Kopf. "In den Erkenntnissen, im Wissen um die Großartigkeit des Universums, um dessen Rätsel, um die Schönheit, die sich überall verbirgt. In allem Neuen, das ich erfahren darf. In meinen Freunden, in der Verbundenheit und dem Respekt, den wir einander entgegenbringen. Und nicht zuletzt in der Musik."

"Musik? Ich kenne die Musik. Sie ist ohne Bedeutung." Victor blickte ihr in die Augen. "Warum lächeln Sie, Professor?"

"Wer ein solches Urteil über die Musik fällt, kann sie nicht kennen." Er nahm ihre Hände, immer noch fasziniert davon, dass er hier ein leibhaftiges Wesen von einem anderen Planeten vor sich hatte, mit dem er sich unterhalten konnte. Sein bevorstehender Tod hatte im Vergleich dazu keine Bedeutung. Sie musterte ihn mit Konzentration, während er sich zu ihr nach vorne beugte und ganz leise zu summen anfing. Die Melodie war aus Bizets Perlenfischer, und die zarte Melodie, mit der der Held Nadir an die Frau seiner Träume denkt, zauberte sich sacht durch die Luft, fragil und ätherisch, wie der Hauch der Ewigkeit, und wer nicht wusste, dass es ein Liebeslied war, konnte es zumindest erahnen. O souvenir charmant!

Leilani war wie erstarrt. Victor hörte zu summen auf.

"Weiter", hauchte sie. "Weiter." Er setzte mit der Melodie fort. Sie lauschte atemlos. Als er endete, hatte sie keine Worte. Victor ließ ihr Zeit. "Was macht das mit mir? Was ist das?" Sie entzog ihm eine Hand, fuhr sich über die Augen und betrachtete die nassen Finger. Er lächelte.

"Es ist das Herz des Universums, Leilani. Sein Widerhall in der dunklen Nacht, und wir Menschen wissen, wie er einzufangen ist."

"Es ist nicht.. Musik.."  

"Nicht, was Sie kennen", stimmte er ihr zu, "es ist viel mehr." Er wusste auch warum, und war nun selbst einigermaßen erstaunt über seine Erkenntnis. Die Sprache der Außerirdischen und auch ihr Gehör waren auf einen geringen Frequenzumfang beschränkt. Sie waren stolz darauf, mit einer minimalen Beanspruchung der Frequenzbreite auszukommen, aber in ihrer Welt gab es keine Harmonien, keine Ober- und Untertöne, keine Tonarten, vielleicht nicht einmal Instrumente. In einem menschlichen Körper dagegen konnte sie hören, was die Alphaner hörten. Den Zugang zur Musik hatte man ihr auf der Basis aber unwissentlich genommen, aus Rücksicht auf ihr Handicap der Geräuschempfindlichkeit. "Es gibt Millionen von Melodien." Ihr hungriger Blick hing an seinen Lippen. "Mein Summen ist nur ein mageres Echo dessen, was es zu entdecken gibt."

Die Tür öffnete sich, und eilig traten Helena und Bob Mathias ein. Bob stürzte sich ungläubig auf die Geräte, an die die Außerirdische angeschlossen war.

"Was ist passiert, Professor? Das Monitoring zeigt an, dass sich Leilanis Werte drastisch gebessert haben!" Victor strahlte beide an.

"Wir haben ein Tor in ihre Herzen gefunden!" Helena verstand seine Freude nicht.

"Was für ein Tor?"

"Du Sprache wo Sprachen enden", rezitierte er. "Es gibt nichts Wahrhaftigeres als die Musik."

"Du hast.. du hast sie das Wahrhaftige finden lassen? Victor!" Sie trat zu ihm, er erhob sich und sie umarmte ihn voller Freude. "Die Musik! Ich dachte nicht, dass sich etwas so Fundamentales vor ihnen verstecken könnte." Leilani richtete sich auf. Zwei Kabel lösten sich, und die dazugehörigen Geräte fingen an, Warntöne von sich zu geben. Mathias schaltete sie aus.

"Dr. Russell, ich brauche die Bestätigung. Prof. Bergman sagte, es gäbe zahlreiche Melodien."

"Viele tausende, Leilani. Ich werde dafür sorgen, dass Sie Zugang zu unserer Musik-Datenbank erhalten."

:::::

Leilanis Gesundheit hielt sich nun im Gleichgewicht, während sie sich der Musik hingab. Die Datenbank enthielt Beispiele von praktisch allem, was bis zum Wegbrechen des Mondes aus der Erdumlaufbahn an Musik digitalisiert worden war. Stammesgesänge fanden sich dort ebenso wie mittelalterliche Choräle, Melodien der fernöstlichen Pentatonik, der europäischen Musik bis in die Moderne und der populären Musik, die von den Massenmedien weit verbreitet worden war. Die alphanische Musik, generisch auf dem Mond, steckte dagegen noch in den Kinderschuhen.

Leilani ließ nichts aus. Sie lauschte den irdischen Klängen. Ihre Konzentration auf die Melodien, die sie abrief, war wie eine Besessenheit, die keine Ablenkung gestattete, kaum das Atmen erlaubte. Die außerirdische Substanz in ihrem Kopf schien zu explodieren vor Aktivität. Offenbar wurde die Musik wie ein Schwamm aufgesogen, inhaliert, von den Fremden absorbiert. Kommentarlos. Wortlos.

Der andere Mond dagegen undulierte nach wie vor in blendenden Energiemäandern, die mittlerweile wie Peitschenschläge über die Oberfläche schlingerten, in den Weltraum hinein und zurück, ehe sie letztlich vom Zentrum der Kraft eingesaugt wurden. Alles schien zu ächzen vor Kraft und Ungeduld, tätig zu werden und den Menschen ihrer endgültigen Bestimmung zuzuführen: dem Tod. John musterte sorgenvoll das Spiel der furiosen Gewalt, nicht wissend, ob nun alles gut werde.

Stunden um Stunden vergingen, bis die Mediziner vermeldeten, dass es mit Leilanis Kraft nun augenscheinlich bald zu Ende gehe. Der letzte Ton verklang, und sie tauchte aus der überwältigenden Welt des Schalls wieder auf. Es war totenstill.

"Commander", sagte sie mit vor Entkräftigung schwindender Stimme, in der dennoch die Wunder lebten, an denen sie gerade teilgehabt hatte. "Wir haben unsere eigenen Regeln nicht befolgt, und wir waren nicht unvoreingenommen. Beinah hätten wir wieder versagt. Nun aber werden all unsere Wünsche erfüllt. Sie werden leben, und ich.. ich darf sterben, zusammen mit dieser Hülle." Sie verlor das Bewusstsein. John presste die Lippen aufeinander und blickte aus dem Fenster in die Richtung des Energieballs, der nach wie vor pulsierte vor Kraft und Tatendrang. Ob man ihnen trauen konnte?

Sie verfiel zusehends. Johns fragender Blick traf Helena, die ihn kummervoll musterte.

"Nicht mehr lange", sagte sie. "Ein, zwei Stunden, maximal." Sie pausierte, als sie seine Miene sah. "John, sie will sterben."

"Traust du ihr?" Seine Stimme verriet, dass zwei Seelen in seiner Brust wohnten, dass er glauben wollte und dabei die Last der Verantwortung auf seinen Schultern spürte, die es ihm nicht erlauben wollte, leichtfertig zu sein. Helena trat zu ihm und blickte, wie er, auf die grelle, nunmehr fast weiße, Landschaft des Mondes hinaus. Sie lächelte.

"Ich habe die Wunder in ihren Augen gesehen. Ich muss ihr trauen." Er wandte sich ihr zu.

"Ich möchte, dass du zusammen mit den restlichen Mitgliedern deines Teams, die hier noch Dienst tun, und Victor, Paul und Kano die Katakomben aufsuchst. Ich werde hier die Stellung halten."

"Mein Team schicke ich in die Katakomben. Ich aber bleibe hier", erwiderte sie leise. Ihr Entschluss war endgültig. Er sträubte sich dagegen, wollte sie in Sicherheit wissen. Doch wie zuverlässig waren am Ende die Schutzräume, die sie in den Höhlen unter der Mondoberfläche geschaffen hatten?

Wenn Leilani gelogen hatte, würden sie zusammen sterben. Waren seine Gedanken unrecht? Er holte tief Luft und sagte, dass er auf Alpha nach dem Rechten sehen werde.

Als er ging, sah sie ihm nach. Ein zartes Gefühl von Verlangen regte sich in ihr, nachdem sich die Türe hinter ihm mit einem wischenden Geräusch geschlossen hatte. Sie schüttelte den Kopf, scheuchte damit unwillkommene Regungen weg.

 

- xviii -

Er kehrte von seinem Rundgang zurück, der ihm Gewissheit darüber gebracht hatte, dass die Basis leer war und die die Alphaner sich in den Schutzräumen befanden. Victor hatte eine Extraeinladung gebraucht, ehe er mit einem sehr prüfenden Blick auf John kommentarlos von dannen gezogen war.

Das Krankenzimmer war nun erfüllt von leisen virtuellen Streichern, die im Quartett eine wunderbare Harmonie von Tönen erzeugten. John kannte das Stück, konnte sich im Augenblick aber nicht an den Komponisten erinnern.

Leilani hatte die Augen geschlossen, ihr Gesicht war grau und gealtert, aber darin war eine Glückseligkeit, als schwebte sie mit den Klängen davon. Helena lauschte mit ernstem Gesicht der Musik.

"Dvorák", sagte sie nahe an seinem Ohr, "Opus 96, ich habe das Stück für sie ausgesucht."

"Ist sie bei Bewusstsein?"

"Fallweise." Sie hatten leise gesprochen, und doch war ihr Flüstern offensichtlich ein Störgeräusch unter den Tönen der perfekten Komposition. Leilani öffnete die Augen. Sie versuchte zu sprechen, doch John verstand sie nicht. Er eilte ans Bett und beugte sich zu ihr hinunter.

"Commander." Jedes Wort fiel ihr schwer. Ihr Blick ging ins Leere. "Wir haben gelernt. Die Abweichung vom Muster war.. die Musik." John legte seine Hand auf ihre Schulter. Das vergeistigte Lächeln vertiefte sich auf ihrem vom Tode gezeichneten Gesicht. "Aber nun.. lassen Sie mich.. lauschen." Sie wurde vom Violoncello, das das langsame Hauptthema in seinem reichen, dunklen Klang aufnahm und begleitet wurde vom Pizzicato der anderen Instrumente, davongetragen.

Der Satz endete, und eine tiefe Ruhe erfüllte den Raum. Johns Blick richtete sich durch das Fenster nach draußen. Dort war es gellend hell. Er musste wegsehen, doch man erkannte dennoch, wie das Licht des fremden Mondes zu pulsieren anfing, zuerst langsam und dann immer schneller, bis die Helligkeit so grell wurde, dass sie durch die soliden Mauern der Basis hindurchzubrennen schien. John und Helena wandten sich jäh ab, taumelten, von der Unmittelbarkeit der Lichtfülle getroffen, und schützen die Augen mit den Unterarmen.  Ein Ruck ging durch den Mond, und sie fielen zu Boden.
Und dann war es vorbei. Als sie wieder sehen konnten, war das Schiff weg, von der Unendlichkeit des Universums verschluckt. Ein wie Flitter schillernder Schweif war alles, was übrigblieb, und alsbald verlosch auch er.

Leilanis Körper war verschwunden.

Sie standen am Fenster und blickten hinaus, die tiefe Schwärze des Alls war wieder da, und die Spiralarme einer nahen Galaxie schienen nach dem Mond zu greifen. John legte seinen Arm um Helenas Schulter.

"Die andere Seite der Luft", sagte sie nachdenklich. "Der Name passte zu ihr. Sie glaubte, es wäre der Lärm. In Wahrheit aber war es die Musik." John lächelte. Sein Herz war leicht, das Scheitern, das ihnen die Alpträume suggeriert hatten, würde nicht geschehen. Wenn er nur Helena an seiner Seite behielte.

 

- Epilog -

Der kleine zerzauste Mond hatte an den Festen der Existenz seiner herrlichen Schwester gerüttelt.

Vor Scham entfloh sie.

Doch sie nahm mit die Kostbarkeiten des Universums.

 

 

"Wie wurde mir,
als ich ins Innre nun der Kirchen trat,
und die Musik der Himmel herunterstieg!"
Schiller, Maria Stuart

 

-Ende-

 

Oktober 2012


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