Die schwarzen Drachen |
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Seit langer Zeit wollte ich schon eine alphanische
Fantasy-Geschichte schreiben. Ein Versuch folgte, doch auch umfangreiche
Reparaturmaßnahmen stellten mich nicht zufrieden, und die Geschichte ist mittlerweile
den Weg alles Irdischen gegangen.
Die schwarzen Drachen ist
nun ein neuerlicher Versuch, dem Thema ein interessantes Gesicht zu geben,
und, angetrieben von meiner lieben "Quälquappe" Barbara, die, zwar mit rigorosem
Jammerverbot belegt, nicht jammernd jammern kann (und wie!), habe ich das
sogar in einem halbwegs akzeptablen Zeitrahmen bewältigt.
Diese alphanische Geschichte ist allen Mädels
gewidmet, die mir mails geschickt und nach "mehr" verlangt haben!
Lasst mich wissen, wie sie euch gefallen hat.
(Edit: 2/2013)
Ich lebe mein Leben in
wachsenden Ringen, Ich kreise um Gott, um
den uralten Turm, |
Rainer Maria Rilke |
1
Leïda eilte mit schnellen Schritten durch den Raum. Das behagliche
Kaminfeuer, eben erst entfacht, flackerte ärgerlich über den unwillkommenen
Besuch des Windes, der die Fensterläden aufgerissen hatte. Der eisige
Windstoß klimperte mit dem kristallenen Wandschmuck, und Leïda warf einen der
beiden hölzernen
Flügel zu, ehe etwas zu Bruch ging. Doch vor dem vollständigen Verschließen des
zweiten zögerte sie und spähte durch den schmalen Spalt hinaus in die Landschaft.
Sie wusste, dass die Zeit jetzt
gekommen war, denn ihre Kräfte waren am Versiegen.
Noch war sie nicht ganz machtlos, aber der Sommer war bereits
ausgeblieben, und das Land hatte sich übergangslos in einen ewigen Winter verwandelt.
Wo Schmetterlinge in Blumenwiesen hätten gaukeln sollen, staksten zwei
große schwarze Raben auf der ausdruckslosen, eisigen Decke des Schnees herum und hinterließen
ihre winterlichen Spuren. Die morgendliche Sonne war nur eine fahle, milchige Scheibe, so
fern, dass sie kaum zu erahnen war, und der helllichte Tag wirkte in der Kraftlosigkeit des
Sonnenlichtes wie der Vorabend des Weltuntergangs. Ein oder zwei
einsame Rauchfäden stiegen lustlos aus Schornsteinen in den grauen Morgenhimmel. Leïda
hatte vorgesorgt und die Menschen auf den langen Winter vorbereitet. Die Lager
waren gut gefüllt, und niemand musste Hunger leiden, aber es war klar, dass diese Güter nicht ewig halten konnten.
Schwarze Tage kamen ins Land, doch
das Schicksal nahm bereits seinen Lauf, und aus dem Ende musste ein neuer Anfang
hervorgehen.
Leïda fröstelte in ihrem dünnen weißen Nachtkleid und schloss den Fensterladen
vor der Kälte, die sich auch langsam in ihr Herz stahl. Nachdenklich ging sie
über die von der Zeit dunklen, knarzenden Dielenbretter zum Kamin und ließ sich davor nieder. Die erreichte
sie, aber
nur wenig Zuversicht drängte sich wieder an die Oberfläche
ihres Bewusstseins. Diesmal war
es besonders schlimm, als hätte der Namenlose viel mehr an Macht gewonnen als
in früheren Zeiten. Er schlug erbarmungslos zu. Hier wie dort war er präsent
mit seinen leeren, grausamen Dienern, entlud seine schwarzen Energien und vernichtete,
was in seinen Einflussbereich geriet.
Eine Eruption der Finsternis.
Grach, ihr Gefährte, kam herein, und brachte ihr eine Tasse
Gewürztee. Er war vom Alter gebeugt und bewegte sich mit dem unsicheren Schwanken
eines sehschwachen Greises, dessen Gelenke von der langen Last des Lebens
knirschten und eigentlich überhaupt nichts mehr tragen wollten. Doch sein
Geist war noch wach und rege, und seine lebhaften Augen blinzelten aus den tausend
Falten eines gelebten Daseins hervor, in Gesellschaft buschiger weißer
Augenbrauen, einer hervorspringenden Adlernase und den ehemals sinnlichen Lippen,
die jetzt aber vor Anstrengung zu einem dünnen Strich zusammengezogen waren.
Grach setzte sich mit einem Ächzen auf das Canapé, das hinter Leïda stand, und
sie lehnte sich an ihn. Seine alte knorrige Hand strich ihr übers weiße Haar.
Sie waren ein eigenartiges Paar, jetzt, wo sie beide schon so alt waren.
Leïda hatte Grach einst, vor vielen, vielen Jahren aus den Fängen eines wilden
Bären gerettet, da war er selbst fast noch ein Kind gewesen. Er war bei ihr
geblieben und hatte ihre Bürde mit ihr geteilt.
Sie selbst war seither
nicht wesentlich gealtert, zumindest äußerlich nicht. Ihr Gesicht war noch immer
faltenfrei, wirkte noch genauso jung, und ihr kristallener Blick durchdrang
nach wie vor alles Seiende und erkannte in ihm die Essenz des Lebens und die widersprüchlichen
hellen und dunklen Energien, die den Antrieb eines jeden denkenden Wesens
ausmachten. Nur ihr Haar, das damals schon von weißen Strähnen durchwirkt gewesen
war, hatte keinen schwarzen Hauch mehr an sich, sondern flutete ihr jetzt, da
sie es noch nicht aufgesteckt hatte, in fast farblosen, von weißlichem Schimmer
durchsetzten, Kaskaden über den Rücken herab.
2
Gaiden stand am Rande des felsigen Vorsprungs und blickte auf das Land, das ihm zu Füßen lag. Auch in der beginnenden Dämmerung war es nicht zu übersehen: Da unten herrschte Krieg. Das ehemals grüne Tal war nun verwüstet, die Dörfer zerstört und zu viele Menschen sinnlos getötet. Einzelne Scharmützel wurden noch ausgefochten, in denen wie überall sonst auch die menschlichen Kämpfer den Kürzeren ziehen würden. Rauchsäulen stiegen in die Luft, aufflammendes Feuer war zu sehen, und er war froh, dass er hier oben stand, in der frischen Luft, ausreichend weit weg von der Zerstörung. Das Herz tat ihm weh, wenn er daran dachte, was für ein Leiden sie auf ihrer Reise schon gesehen hatten, - mit welch gnadenloser Härte die schwarzen Krieger ihr Handwerk ausübten. Nicht Frau noch Kind oder Tier verschonten sie, metzelten alles nieder, was ihnen in den Weg geriet. Gaiden hatte immer versucht, den Kämpfen auszuweichen. Er war nicht nur für sich selbst verantwortlich.
Etwas weiter hinter ihm, im Schutz eines Felsvorsprunges,
saß seine schwangere Frau Jhess, eingehüllt in einen abgetragenen Pelzmantel,
und wärmte sich mit ausgestreckten Händen am Feuer. Als er sich ihr zuwandte,
schenkte sie ihm ein aufmunterndes Lächeln, doch er sah die Verzweiflung, die
dahinter lag. Sie waren auf dem Weg ins Nirgendwo, ohne Mittel und Schutz, in
einer feindlichen Welt, in der sie sich nicht zurechtfanden.
Gaiden seufzte und ging, die kalten Hände aneinander reibend, zu
Jhess. Sie war blass und schön und versteckte ihr helles Haar unter bunten
Stoffbahnen, die sie nach Art der Senu wickelte, vor den misstrauischen Blicken
der Einheimischen. Sein Haar war kurz geschnitten,
schwarz und unauffällig
wie das der anderen Menschen, und seine Haut war von der Sonne gebräunt, doch
auch er war aus der Nähe als ein Fernländer zu erkennen.
Jhess reichte ihm ihren zerbeulten Becher aus Blech mit dünnem Tee und einem Hauch von Kandis-Zucker. Er nahm ihn entgegen und trat wieder an den Abgrund. Was würde passieren, wenn er den einfachen Weg wählte und jetzt, sofort, hinuntersprang? - Es war ein lächerlicher, absurder Gedanke, das war ihm klar, denn niemals würde er seine Frau allein zurücklassen. Sie war die Einzige, die verstand, wie verloren er war, und das Einzige auf dieser ganzen weiten Welt, das in ihm ein Gefühl von Heimat auslöste. Ein sehr starkes Gefühl von Heimat.
Fern am Himmel kreisten schwarze Drachen im bleiernen Himmel, als wären sie auf der Suche nach einem besonderen Opfer. Er konnte ihre unheimlichen schattenhaften Reiter aus der großen Entfernung nicht sehen, und doch schauderte er. Einmal waren sie in ihre unmittelbare Nähe geraten, hatten die Eiseskälte gespürt, die sie verströmt hatten, und den schwarzen Atem des Todes. Es waren Wesen ohne Seelen, die Tiere wie die Reiter, und sie setzten dem Land ärger als die Pest zu, ärger, als die schlimmste Plage, die je über die Menschen gekommen war. Und niemand wusste, was sie wollten.
Gaiden nahm einen Schluck, und seine Gedanken schweiften
ab in die
Vergangenheit.
Man hatte ihn und Jhess nach einem Gewitter in einem Wald nahe
der Ortschaft Stal gefunden. Sie waren ohne Bewusstsein gewesen, entdeckt
von einem Schwarm von Kindern, die auf dem Weg zum benachbarten Bach gewesen
waren. In Yemenes Hütte waren sie zu sich gekommen, und die Dorfheilerin hatte
den ganzen Pulk neugieriger Leute hinausgeworfen, denn beide waren völlig verwirrt
gewesen, und die vielen unbekannten Menschen hatten ihnen Angst gemacht. Nur
an einander schienen sie eine ferne Erinnerung gehabt zu haben, denn vom ersten
Augenblick an hatte große Vertrautheit zwischen ihnen geherrscht.
Yemene hatte gegen den Widerstand von zwei oder drei der Dorfältesten die beiden Fremden bei sich aufgenommen und sie in den Alltag eingegliedert. Beide waren willkommene Arbeitskräfte, gerade, wo der Winter zu Ende gegangen war und die Felder bestellt werden mussten. Die meisten der jungen Männer waren in den Krieg gezogen und würden, wenn überhaupt, erst viel später wieder nach Hause kommen.
Gaiden und Jhess hatten sich gefügt, auch wenn ihnen ihre schmerzenden Rücken, ihre wunden Hände und eine Todesmüdigkeit, die sich mit dem ersten Tag am Feld einstellte und nicht mehr gewichen war, bis sie Stal verlassen hatten, deutlich gesagt hatte, dass sie ein Leben als Bauern niemals geführt hatten. Sie waren anfangs namenlos gewesen, waren wegen ihrer Ungeschicklichkeit verlacht und verspottet worden. Man hatte ihnen absichtlich und zur Erheiterung der Zuschauer Bosheiten angetan, und Gaiden hatte oftmals in der Nacht wahrgenommen, wie Jhess neben ihm in der Dunkelheit stille Tränen weinte. Sie hatte es geleugnet, doch er hatte gesehen, wie ihr Herz immer schwerer geworden war.
Man hatte sie erst widerwillig akzeptiert, als sie zwei Kinder,
die beim Spielen in einem nahe gelegenen Steinbruch verschüttet worden waren, unter
Gefahr für das eigene Leben gerettet hatten. Und erst da hatte man ihnen Namen
gegeben.
Jhess' Namenspatronin war eine Wolkenfrau, die Göttin der luftigen und leichten
Schönwetterwolken, Gaiden dagegen der finstere Gott der Regen- und Schneewolken.
Die Sage erzählte, dass sich beide bei einem Fest der Götter in einander verliebt hatten. Thorgan, der oberste Wettergott und Gott des Sturmes und Blitzes, wollte
sie nicht zusammenkommen lassen, weil Schönwetter- und Regenwolken gemeinsam
nicht sein durften, und so waren sie zusammen aus dem Wetterhimmel geflüchtet und wurden
nie wieder gesehen.
Nun waren sie Gaiden und Jhess. Ihm war es gleichgültig, welchen Namen er trug, er hätte nur gern gewusst, welcher Mensch hinter diesem Namen steckte!
Im Dorf Stal war das Leben ein wenig leichter geworden, doch
als der Herbst mitten im Hochsommer angebrochen war, noch ehe die Ernte reif
und in die sicheren Scheunen gebracht war, hatte sich der Unmut der Dorfeinwohner
wieder gegen die Fremden gewandt. Cyro, der blinde Seher der Siedlung,
hatte, von zuviel Fusel-Met berauscht, erklärt, Thorgan habe nun die beiden
abtrünnigen Götter gefunden und bestrafe die Bevölkerung dafür, ihnen Unterschlupf gewährt zu
haben.
Yemene hatte sie in Schutz genommen,
aber es war spürbar gewesen, dass nur wenig gefehlt hatte, um das Fass zum Überlaufen
zu bringen.
Am ersten Morgen, an dem Jhess mit grünlichem Gesicht am Frühstückstisch vorbei und nach draußen gelaufen war, um ihren nicht vorhandenen Mageninhalt von sich zu geben, hatte die Heilerin mit besorgter Miene gesagt:
"Gaiden, ihr seid bei mir nicht mehr sicher. Ihr solltet möglichst bald von hier fortgehen." Sein Blick war verblüfft am Eingang hängen geblieben, durch den Jhess hinausgeeilt war, und nach einer unendlichen Weile hatte er, ohne die Situation so ganz zu verstehen, wie ein Schafskopf gefragt:
"Was meinst du damit, Yemene?" In dem Moment war Jhess wieder hereingekommen, müde und blass, und hatte mit einem Blick die Situation erfasst.
"Wohin sollen wir denn gehen?", hatte sie gefragt, und die Heilerin hatte geschwiegen.
"Du weißt wohl auch nicht, wo das Fernland ist, nicht wahr." Yemene hatte den Kopf geschüttelt.
"Wenn ich das wüsste, hätte ich euch längst hingeschickt, nicht erst jetzt, da du schwanger bist und der Winter naht. Mitten im Krieg." Gaiden hatte dem Wortwechsel sprachlos beigewohnt.
Sie hatten ihre armseligen Bündel geschnürt und waren, weil dort noch keine Kämpfe stattfanden, im nächsten Morgengrauen abschiedslos nach Westen aufgebrochen.
Mittlerweile hatten die Krieger, die Schlachtfelder und die
schwarzen Drachen sie eingeholt.
Gaiden fand sich wieder in der Gegenwart,
und der trübe Tag war mittlerweile einer ebenso grau-schlierigen Nacht
gewichen. Er vermeinte, den Gestank der verbrannten Häuser zu riechen. Der Wind
trug ihm zu, was er nicht vergessen sollte.
"Gaiden", sagte Jhess, "du siehst so traurig aus. Setz dich ein wenig zu mir." Ein Lächeln eilte in sein Gesicht, und er kam ihrer Aufforderung nach. Ihre Nähe belebte ihn wieder. "Immerhin sind wir noch hier."
"Ja," erwiderte er mit Bitterkeit in der Stimme, "wenn wir nur wüssten, wohin wir uns wenden müssen. Wir haben nur wenig Geld, und es wird nicht lange dauern, bis der Winter mit aller Strenge zuschlägt. .... Glaubst du denn, dass das Fernland überhaupt unsere Heimat ist?" Sie überlegte, und das Feuer malte zauberische Schatten in ihr Gesicht.
"Ja, das glaube
ich", gab sie schließlich zur Antwort. "Ich weiß nicht, wieso. Vielleicht
auch nur, weil es unsere einzige Hoffnung ist." Gaiden verweilte ein wenig
an ihrer Seite, genoss die Vertrautheit, die zwischen ihnen herrschte, und roch
den schwachen Bergamottduft, der von ihrer Kleidung ausging. Schließlich,
als er sah, wie einige wenige schwach flackernde Sterne im nächtlichen Himmel
auftauchten, erhob er sich und richtete das Lager in unmittelbarer Nähe des
herabbrennenden Feuers. Sie würden ein Quartier für den Winter finden müssen,
zumindest für die schlimmste und kälteste Zeit, denn bald wäre es unmöglich,
draußen zu übernachten.
Er dachte daran, wie tapfer Jhess alles ertrug. Über
ihre Lippen war noch keine Klage gekommen, weder über die weiten, unwegsamen
Pfade, die sie manchmal nehmen mussten, um den Soldaten auszuweichen, noch über
die körperliche Belastung, die für sie schlimmer wurde und die er ihr, so gerne
er es auch wollte, nicht ersparen konnte, und schon gar nicht über die
große Ziellosigkeit, mit der sie sich auf der Suche nach dem Fernland durchschlugen.
In Ermangelung besseren Wissens waren sie nach wie vor weiter nach Westen gegangen,
mit Abweichungen in den Süden, denn ein großes, unüberwindbares Bergmassiv
hatte ihnen ein Weiterkommen nicht möglich gemacht. Es gab eine Mautstraße,
die darüberführte, doch waren die Kosten dafür zu teuer. So waren sie nach
Südwesten abgebogen, und Gaiden, der einen alten Lederflicken mit der ungefähren
Darstellung des Landes in Vogelperspektive studiert hatte, hoffte, noch am nächsten Tag die Stadt Piraan
zu erreichen. Vielleicht gab es dort eine Möglichkeit, über den Winter zu kommen.
Er hatte ein handwerkliches Talent und besaß überdies die Gabe, sofort zu sehen,
welche Art von Veränderungen an Gerätschaften vorzunehmen waren, damit sie noch
besser funktionierten. Es hatte ihm schon in Stal wenigstens einen bescheidenen
Respekt gesichert, als er eine einfache Wassertransportanlage herstellte, die
das Wasser vom Bach direkt zum Dorfbrunnen leitete.
Jhess hatte mittlerweile ihre Habseligkeiten zusammengepackt und das Bündel am Kopfende ihres Lagers verstaut. Sie legten sich zum Schlafen, eng aneinander gedrängt, und während die letzten Kohlen des Feuers in ihrer Glut vor sich hin kokelten, schliefen beide ein, um in die schaurige Welt ihrer bösen Träume zu gleiten.
3
John Koenig stand mit steinerner Miene und vor der Brust
verschränkten Armen in der Kommandozentrale und musterte die Vorgänge, die von
den Telesonden aufgefangen und von Sandra Benes auf den Hauptbildschirm gelegt
worden waren.
Seit einigen Wochen schon bewegte sich der Mond durch einen
Raumquadranten, in dem lebhaftes Treiben herrschte. Diese Aktivität war zum
Glück sehr weit vom Mond und seinem Einflussbereich entfernt, denn was zu sehen
war, schien den Menschen alles andere als ermunternd. Es war ein Krieg, und was
man erblickte, war eine große Raumschlacht, in die anscheinend mehrere Sonnensysteme
verwickelt waren.
Aus dem Nichts tauchten ganze Flotten von trapezförmigen,
in der Schwärze des Alls kaum auszumachenden, schattenhaften Raumschiffen
auf, die sich zu Einheiten formierten, um die bunt zusammengewürfelten
Kampfgeschwader ihrer Gegner zu vernichten. Es war ein ungleicher Krieg, denn
für einen der schwarzen Drachen mussten zehn der gegnerischen Kampfschiffe
dran glauben, und immer wieder drangen die unheimlichen schwarzen Feinde durch
die Linien der Verteidiger, wo sie nur mit Mühe davon abgehalten werden konnten,
in das nahe gelegene Sonnensystem zu gelangen.
Johns Besorgnis war nicht von ungefähr, denn der Mond hatte
Kurs auf dieses umkämpfte Planetensystem - wenn er auch argwöhnte, dass
Alpha es erst erreichen würde, wenn der Krieg bereits vorbei war, und sie
dort nur noch auf Schutt und Asche treffen würden. Er zweifelte aber nicht daran,
dass die schwarzen Ungeheuer auch ohne weiteres einen Abstecher zum Mond unternehmen
konnten, wenn ihnen der Sinn danach stand. Er wollte nicht daran denken, wie
seine abgehalfterte Flotte von vorsintflutlichen Adlern gegen diese fortschrittlichen
Wunderwerke der Technik antreten mussten. Einen Sieg konnte man allerhöchstens
erringen, indem die feindlichen Piloten sich angesichts der primitiven Mittel
ihrer Gegner kollektiv totlachten.
John zog aber nicht in Erwägung, wenn
er die unerbittlichen Manöver der Drachenflieger richtig beurteilte und die Härte, mit
der sie vorgingen, dass da einer von ihnen jemals gelacht hatte. Nicht mal aus
Schadenfreude.
"Maya", sagte er, "ist dir so was schon mal untergekommen?" Die Außerirdische wandte sich ihm von ihrem Arbeitsplatz aus zu. Sie seufzte vernehmlich und schüttelte den Kopf.
"Tut mir leid, Commander", ließ sie ihn wissen, "weder finde ich auch nur den geringsten Hinweis auf Ähnliches in unseren Aufzeichnungen und Datenbanken, noch ist diese Rasse mir selbst bekannt. Ich habe hier aber fünfhundertundzwölf verschiedene Raumschifftypen ausgemacht, die alle gegen die Drachen kämpfen. Sie sind vermutlich etwa siebzehn bis zwanzig verschiedenen Völkern zuzuordnen. Commander, das ist ein großer Krieg, den wir hier sehen, und bestimmt ist das nicht das erste Sonnensystem, das von den Schwarzen angegriffen wurde." John krochen tausend kalte Schauer über den Rücken, und wenn er Mayas Miene richtig beurteilte, erging es ihr im Augenblick auch nicht anders.
Tony Verdeschi hatte die Arme vor der Brust verschränkt.
"Die
blasen uns doch ohne viel Federlesens vom Himmel", murmelte er mit finsterem
Blick. Als Chef des Sicherheitsdienstes zerbrach er sich nun schon seit
Wochen den Kopf, wie sich die Alphaner im Fall des Falles vor den schwarzen
Drachen schützen konnten. Auf die Hilfe der anderen am Krieg beteiligten Völker
konnte man nicht hoffen, auch wenn das eine der wenigen Alternativen war, die
zur Sprache gebracht worden waren. Wenn ein Kampf bevorstand, würde man sich
an die anderen wenden, denn es war lachhaft, auch nur daran zu denken, allein
gegen diese Feinde anzutreten.
"Unsere einzige, reelle Hoffnung besteht wohl darin, dass sie uns unbeachtet lassen", sagte John und sprach damit allen aus dem Herzen, "dass wir ihnen einfach zu gering sind und sie sich erst gar nicht mit uns abgeben wollen."
"Ja, was hätten sie auch davon, Alpha zu erobern?", stimmte ihm Tony zu. "Und wir wissen nicht, welche politischen Verwicklungen überhaupt zu dem Krieg geführt haben. Wir haben damit nichts zu tun."
"Ich hoffe nur, dass die das auch wissen", war
Sandras trockener Kommentar, während sie die Einstellung des Bildes verbesserte,
einen Ausschnitt heranzoomte, und die Alphaner dabei zusehen konnten, wie ein
eleganter, silberfarbener Kreuzer, getroffen von dem einen vernichtenden
Schlag, in einer massiven Explosion verglühte. John verzog schmerzlich das Gesicht
und verließ die Kommandozentrale.
Alle Sicherheitsmaßnahmen, die ihnen zur
Verfügung standen, waren getroffen worden - ein Tropfen auf dem heißen Stein,
denn die Schutzschirme der Basis konnten von den Drachen quasi im Vorbeigehen
lahmgelegt werden, die Kanonen und Bordgeschütze, über die Alpha verfügte, waren
sicher nicht dazu in der Lage, auch nur an den Rümpfen der Schiffe zu kratzen,
und die Schutzbunker unten in den Katakomben waren wohl nichts anderes als ein
Alibi für ein besseres Gewissen. John hätte alles darum gegeben, den Mond
unsichtbar machen zu können.
Im Gang stieß er mit Helena Russell zusammen, die gedankenverloren, den Blick auf eine Statistik in ihren Händen, um die Ecke gebogen kam. Er fing sie reaktionsschnell auf, als sie ins Stolpern geriet, und sie verweilte einen Augenblick länger in seinen Armen, als es sich für einen öffentlichen Korridor auf Alpha geziemte. Aber es spielte ohnedies keine Rolle, denn ein einvernehmliches Miteinander der beiden war für die alphanische Klatschtantenaktivität mittlerweile nicht mehr von Interesse. Die Gerüchte- und Gemunkelmühlen, die in fröhlicher Erinnerung an die irdische Boulevard-Presse auch auf dem Mond ihr stetes Mahlwerk und Unwesen trieben, würden sich allenfalls zu einem lustigen Gerüchtestreuen aufraffen, wenn Helena John in der Öffentlichkeit einen Fehdehandschuh vor die Füße schmiss. Oder umgekehrt.
"Was für eine angenehme Überraschung", ließ er grinsend verlauten, nachdem er sie wieder freigegeben hatte. Sie musterte ihn einige Sekunden mit einem zweideutigen Blick.
"Das könntest du fast jeden Abend haben", wies sie ihn schließlich zurecht und raffte ihre Unterlagen an sich, die er aufgehoben hatte. "Aber du ziehst es ja meistens vor, noch zu später Stunde in der Kommandozentrale abzuhängen." Ihr Blick war maliziös und machte ihm klar, dass es keine ernstgemeinte Rüge war. Sie wusste, was ihn dort festhielt.
"Ja, wie wär's denn, wenn du ab und zu mal ein bisschen mit mir in der Kommandozentrale abhängst?", fragte er deswegen und erntete ein amüsiertes Schmunzeln ihrerseits.
"Sehr gern, Commander", sagte sie ihm zu, "wenn du mir versprichst, dass außer uns beiden niemand eingeladen ist!" Er hob resignierend beide Hände, weil ihm ein Abhängen zusammen mit allen Mitgliedern des Kommandoteams tatsächlich nur bedingt erstrebenswert schien.
"Was hast du da?", wollte er wissen und deutete auf ihre Folie mit statistischen Auswertungen.
"Eine Analyse der Erkrankungshäufigkeit der letzten Monate", erwiderte sie und hielt ihm das oberste Blatt entgegen. Er warf einen Blick darauf und erfasste sofort, dass in den letzten vier Wochen mehr Alphaner das Lazarett aufgesucht hatten als in den vier Monaten davor zusammengenommen.
"Kleinigkeiten und Kinkerlitzchen", sagte sie auf seinen fragenden Blick. "Es gibt sogar weniger schwerwiegende Erkrankungsfälle als in den Vergleichsmonaten, aber die Leute kommen mit allen banalen Wehwehchen, auf die man normalerweise nicht einmal einen zweiten Blick verschwendet." John war ihr ins Medizinische Zentrum gefolgt und trat nun hinter Helena in ihr Büro. Er nahm unaufgefordert auf der blauen Besuchercouch Platz, noch immer die Statistik in Händen.
"Was steckt dahinter?"
"Sie haben Angst", erwiderte sie, "diese ungewisse Situation da draußen mit den gefährlichen schwarzen Raumschiffen verunsichert sie sehr."
"Aber Helena, seit wann sind die Leute denn Angsthasen? Wir haben schon die schlimmsten Erlebnisse überstanden!" Sie setzte sich zu ihm, und er vermeinte, an ihr einen Hauch von Earl Grey zu riechen. Er sog den Duft in die Nase, doch da war er schon wieder verschwunden.
"John", sagte sie, "du vergisst, dass das meistens plötzlich auftretende Situationen waren, wo wir keine Zeit hatten, über unsere Angst nachzudenken. Die Alphaner sind keine Feiglinge, sie sind immer noch fähige, ambitionierte Mitmenschen, aber die zermürbende Unsicherheit, die nun schon mehrere Wochen anhält, ohne dass wir wissen, wie wir entkommen können - so was schlägt aufs Gemüt. Sie sind nicht gerne untätig, sie wollen Lösungen haben, und die Tatsache, dass sie selbst auch nichts beitragen können zur Entschärfung der Lage, setzt ihnen eben zu." Sie pausierte ein wenig. "Ich muss zugeben, dass ich mich selbst durch diesen Krieg da draußen etwas belastet fühle." Er dachte nach.
"Ich mich auch", gab er nach einer Weile zu, und begriff mit einem Mal, was die Alphaner ins Lazarett trieb. In sich hineinhorchend, merkte er, dass er sich selbst krank fühlte, müde und abgeschlagen, als sei eine große Grippe im Anmarsch. Helena nickte.
"Wir sollten trotz dieser ungewissen Situation nicht ganz darauf vergessen, auch zu leben", sagte sie. Er seufzte.
"Wenn das nur so leicht wäre."
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Es dauerte genau drei weitere Stunden, ehe der Rotalarm durch die Basis erschallte. Ein Sensor hatte ihn ausgelöst, weil der Mond offensichtlich die Aufmerksamkeit der schwarzen Drachen erregt und sich das gesamte Geschwader dazu entschlossen hatte, den Menschen einen Besuch abzustatten. Der Plan war auch ohne ein Wort der Kommunikation deutlich: Kein Stein sollte auf dem anderen bleiben.
4
Jhess und Gaiden hatten nach längerer Wanderung auf kleinen Pfaden endlich einen etwas breiteren Weg nach Piraan gefunden. Es war nicht mehr weit, und beide hatten Hunger. Den letzten Kanten Brot hatten sie zusammen mit ein wenig Dörrfleisch zum Frühstück gegessen. Jetzt war es bereits später Nachmittag, und die Straße, die sich durch ein bewaldetes Gebiet schlängelte, war unnatürlich ruhig. Kein Zeichen von Krieg, keine Soldaten, kein Feuer war zu sehen. Jhess begann, wieder ein wenig Hoffnung zu schöpfen, als zwischen den Bäumen die Sonne hervorschaute, und erstmals seit langem spürte sie auch ein bisschen Wärme auf der Haut. Sie war müde und wünschte sich, eine ganze Woche lang nichts anderes zu tun als zu rasten, die geschwollenen Beine hochzulagern und endlich wieder was Anständiges zu essen. Sie war die trockenen, harten Brotkanten leid, die Kälte, die ständige Angst, verhungern und erfrieren zu müssen und die Furcht davor, ihr Kind zu verlieren. Doch eher hätte sie sich die Zunge abgebissen, als es Gaiden zu sagen, denn sie spürte die Last, die er ihretwegen trug, und seine ständige Sorge um sie. Sie hasste es, eine Last zu sein, wollte lieber ihren Weg ohne Hilfe gehen, aber sie sah ein, dass es in der gegebenen Situation nicht möglich war. Gaiden fand verhältnismäßig leicht Arbeit als Tagelöhner und wachte mit Argusaugen darüber, dass die Arbeiten, die sie annahm, sie körperlich nicht zu sehr belasteten. Auch wenn es nicht ihrer persönlichen Überzeugung entsprach, sich seinem Willen zu beugen, so war sie doch häufig froh über seine Unnachgiebigkeit.
"Jhess, es kann jetzt nicht mehr lange dauern", riss Gaiden sie aus ihren Gedanken und drückte ihre Hand. "Heute Nacht wirst du endlich wieder in einem Bett schlafen - nachdem du eine Schlachtplatte verspeist hast!" Sie lächelte.
"Versprich nicht, was du nicht halten kannst", sagte sie. Er seufzte gekünstelt.
"Man wird wohl noch träumen dürfen", meinte er, "vielleicht finde ich eine gute Arbeit, sie brauchen an allen Ecken und Enden Leute, bestimmt auch in der Stadt."
"Das wäre gut", gab sie zur Antwort. Sie wusste, dass er talentiert war, hervorragend organisieren und mit seinen Händen arbeiten konnte. Sie fragte sich, welche Begabungen sie denn hatte, die ihnen von Nutzen sein konnten. Sie konnte nicht kochen oder gut handarbeiten, und wenn sie ehrlich war, mochte sie alle Tätigkeiten nicht, für die Frauen üblicherweise herangezogen wurden. Sie war gerne bei Yemene gewesen und hatte ihr zugesehen, wie sie Kräuter zu Tinkturen und Heilsäften verarbeitete, doch vom Zusehen allein konnte man kein Meister werden. Sie fragte sich wirklich, wer sie in ihrem anderen Leben eigentlich war - das Leben, an das sie sich nicht erinnerte und das vor dem Gewitter in Stal lag. Wer steckte tatsächlich hinter der Fassade von Jhess? Und wenn sie eine Fernländerin war, wieso war sie hierher gebracht worden? Welchen Sinn hatte es, ziellos durch eine vom Krieg zerfressene Welt zu laufen, immer die Angst und den Tod im Nacken? Sie wusste, dass sich Gaiden dieselben Gedanken machte, und in Wirklichkeit waren beide zu pragmatisch, um mit ihrem Schicksal zu hadern, doch mitunter fühlte sie eine Enge in der Brust, und ein Flehen stieg in ihr auf, dass die Götter das grausame Spiel beenden mochten und sie beide - sie alle drei - aus diesem Wirrsal wieder in ihre eigenen Kreise entließen.
"Jhess, mir geht es genauso wie dir", hörte sie Gaiden sagen, der sie von der Seite musterte. "Mach dir nicht so viele Gedanken, wir werden schon erfahren, welchen Weg wir ins Fernland nehmen müssen. Vielleicht schon bald!" Sie lächelte gequält und deutete, um von ihm nicht weiter in das Thema hineingetrieben zu werden, mit dem Finger nach vorne auf den Weg.
"Siehst du, da vorne ist der Wald zu Ende. Bald sind wir in Piraan." Seine Schritte beschleunigten sich, und sie ließ seine Hand los, denn sie hatte keine Lust, sich wegen weniger Minuten die Seele aus dem Leib zu keuchen. Er blieb stehen und wartete auf sie, und sie setzten ihr gemäßigtes Tempo fort. Wenig später erreichten sie die letzten Bäume, die einen Blick auf eine große flache Ebene freigaben. Und auf die Stadt Piraan.
Beziehungsweise das, was von ihr übrig war. Fast zehntausend Menschen
hatten vor wenigen Tagen hier noch gelebt, und nun war die Stadt praktisch dem
Erdboden gleichgemacht. Selbst die Befestigungsmauern fehlten
teilweise, als hätte sich ein großes Ungeheuer seinen Weg in das Innere hineingefressen.
Überall hatte es gebrannt, wie schwarze, zerbrochene Finger ragten die Reste der
ehemaligen
Wehrtürme in den Himmel, und von den Einwohnern gab es keine Spur mehr. Nur
wenige Plünderer und solche, die auf der Suche nach Verwandten hergekommen waren,
irrten durch die einsturzgefährdeten Gemäuer. Die schwarzen Drachen waren
über Piraan hergefallen und hatten nichts übrig gelassen. Es stank durchdringend
nach Untergang.
Auf der großen ehemaligen Festwiese vor dem Nordtor trieben
sich fassungslose, wie gelähmte Ankömmlinge herum. Etliche größere Reisegruppen
hatten ihre Lager aufgeschlagen, mit Wagen und Pferdegespannen. Mehrere Lagerfeuer
brannten, und sogar eine Wäscheleine, an der weiße Hemden und Laken hingen,
war zwischen zwei Bäumen gespann wordent. Man hatte ein paar Zelte errichtet und Verkaufsbuden, denn
die Geschäftstüchtigen unter den Bauern aus der Umgebung wussten, was zu tun
war: Ahnungslose Reisende kamen immer noch in der Erwartung, Geschäfte zu tätigen
und den Proviant aufzustocken. Es war naheliegend, für ihre Verpflegung zu sorgen
- und sich auch dafür mehr als angemessen bezahlen zu lassen.
Dieses berechnende Treiben
vor dem Hintergrund der Zerstörung war bei aller Morbidität doch ein Zeichen
dessen, dass das Leben weiterging.
Gaiden sah sich stumm die Verheerung an. Jhess spürte den Druck seiner Hand und wie er sich verstärkte. Eine Hoffnung war dahin. Hier gab es keine Arbeit, kein Lager für die Nacht und ganz sicher auch nichts Essbares, das erschwinglich war. Der Blick, den er ihr zuwarf, war von fast hilfloser Entmutigung, und sie sah ihm an, welche Erwartungen er an sich selbst gestellt hatte.
"Gehen wir", sagte sie und schritt voran und auf den Anger zu. Seine Unsicherheit hatte nur einen kurzen Moment gedauert, kaum merkbar, nur für sie, die alle Nuancen an ihm deuten konnte. Er schritt grimmigen Gesichts neben ihr her, vielleicht, weil er seine Schwäche nicht vor ihr hatte verbergen können. In ihrem Gesicht zeichnete sich ein Hauch von Heiterkeit ab, auch wenn sie nicht so genau wusste, was sie nun gelassen stimmte.
Der Weg führte sie geradewegs zu den Ständen, wo mehr Menschen
waren, als es von der Ferne den Anschein gehabt hatte. Der verführerische Duft
eines sich auf dem Spieß drehenden Spanferkels wehte um ihre Nasen, und von
der anderen Seite drängte sich der satte Geruch herzhafter Teigtaschen dazwischen,
die in Butter brutzelten und dringend danach verlangten, konsumiert zu werden.
Speckseiten und Wurstketten baumelten ihnen um die Ohren, Brotlaibe und Apfelberge
türmten sich rund um sie, und Jhess spürte, wie sie schwach wurde und am liebsten
ihre Zähne rücksichtslos in die nächste geräucherte Keule gehauen hätte. Von
überall eilten die köstlichsten Aromen wie eine Folter herbei und geißelten
die Mittellosen, weil sie nur gierig riechen, nicht aber ihren Hunger stillen
konnten.
Gaiden sah sie blass werden und setzte sie auf einen Holzstrunk.
"Bleib hier", sagte er, "ich werde sehen,
was ich kaufen kann." Sie fühlte sich zu hungrig und schwach, um sich zu
wehren und blieb sitzen. Sie packte den Wasserschlauch aus ihrem Bündel und
nahm einen großzügigen Schluck daraus. Ihr heulender Magen gluckerte empört
zwischen zwei angriffslustigen Knurrlauten und musste sich dann doch mit der
Menge Wasser beschäftigen, die er im Eiltempo auf die Weiterreise durch ihre
Gedärme zu schicken gedachte. Er hatte sich entschlossen zu jammern, was das Zeug
hielt, bis seinen Forderungen endlich nachgegeben wurde.
Erst als Jhess eine
Zeitlang still gesessen war und versucht hatte, sich von dem plötzlichen Wolfshunger
abzulenken, fiel ihr auf, dass die Leute, die an ihr vorbeigingen, sie anstarrten.
Sie war es gewohnt aufzufallen, und jetzt war es ähnlich wie anfangs in Stal,
wo man sie und Gaiden, besonders aber sie, ungeniert in Augenschein genommen hatte, als
wären sie an Land gegangene Wasserwesen. Sie starrte herausfordernd zurück und
wartete darauf, dass sie jemand ansprach. Das geschah aber nicht, stattdessen
kam Gaiden zurück, in der Hand einen kleinen Wecken Brot und, auf einem Stück
Rinde
platziert, eine aufgebrochene, heiße Kartoffel in Schale mit einem Klecks Rahm
darauf, der sich schon anschickte, außen auf der braunen, aufgeplatzten Haut
herunterzurinnen. Gaiden wischte sich, nachdem er ihr die Rinde gegeben hatte,
mit dem Handrücken genießerisch den Mund ab, wo auf der Oberlippe noch eine
Spur Rahm zu sehen war.
"Tut mir leid", ließ er mit reuigem Blick verlauten, "ich konnte nicht alles tragen und musste meine Kartoffel gleich beim Stand essen." Ihr zog es das Herz zusammen, denn sie wusste, so sicher wie die Nacht dunkel war, dass er keinen Bissen zu sich genommen hatte. Sie ließ den Anblick der Kartoffel auf sich wirken, doch nicht zu lang, denn sie hatte das Gefühl, dass ihr Magen gleich persönlich heraufsteigen würde, um sich die Köstlichkeit notfalls selbst zu greifen, wenn sie noch lange zögerte. Sie aß mehr als die Hälfte davon, langsam und bedächtig, unter Gaidens wachsamem Blick, ehe sie vorschützte, genug zu haben, und hielt ihm dann den Rest unter die Nase.
"Iss du", bat sie ihn, "ich habe genug." Sein Blick flackerte, doch er ließ sich ebenso wenig an der Nase herumführen wie sie.
"Aufessen", sagte er nur, und als sie nicht reagierte, "ich werde nicht mit dir diskutieren. Du isst die Kartoffel auf!" Seufzend und zugleich so froh darüber gehorchte sie. Gaiden steckte den kleinen Laib Brot sorgsam in einen Leinenbeutel, den er in seinem Reisebündel verschwinden ließ.
Da fiel ihnen erst eine Gruppe von Leuten auf, die ihren sparsamen Wortwechsel aus wenigen Metern Entfernung mit Interesse beobachtet hatten. Einer war ein ältlicher dunkelhäutiger Mann mit grauem kurzem Kraushaar, ein zweiter ein zappeliger spindeldürrer Zwerg mit zu großem Kopf und hervorstehenden Augen, ein dritter und ein vierter, Zwillinge offenbar, waren in bräunlichen Felljacken gekleidete, ansonsten unauffällige Männer, Arbeiter vielleicht, und der letzte in der Gruppe, den alle umringten, war ein stattlicher Mann, noch größer als der hagere Gaiden, aber dafür um Einiges wohlgenährter, der gut gekleidet war, mit schwarzem, säuberlich gestutztem Bart und einer dunklen Fellmütze, die zu seinem teuren Pelzmantel passte.
"Hunger! Kein Geld!
Nichts verlor'n auf der Welt!",
intonierte der hässliche Zappelzwerg mit schriller Stimme, als er sah, dass
sie entdeckt worden waren, und wollte sich über seinen Reim schier ausschütten
vor Lachen. Gaiden witterte sofort eine Chance.
"Dem könnt ihr ja abhelfen - wenn ihr eine Arbeit für mich habt!" Der gut Gekleidete trat aus seiner Gruppe hervor und begab sich zu den beiden. Er beugte sich zu Jhess hinunter und musterte sie eingehend. Gaiden kannte den Ausdruck, mit dem sie dem Fremden entgegnete: eine stolze, trotzige Ablehnung, die er an ihr liebte - sofern sie nicht zufällig ihn damit meinte.
"Schöne Augen hat sie, das muss man sagen! So hell wie ein Bergsee im Sonnenschein. Dich nehme ich mit", sagte er zu Jhess, und zu Gaiden: "dich aber kann ich nicht brauchen."
"Ohne Gaiden gehe ich nirgendwo hin", lautete ihre sofortige kalte Replik.
"Gut, dann nicht", erwiderte der Fremde geringschätzig und wandte sich zum Gehen.
"Aber Ihr wisst nicht, was Euch entgeht, wenn Ihr Gaiden nicht einstellt", versuchte Jhess, sein Interesse von ihr in die Richtung ihres Mannes zu lenken. Der andere blieb stehen.
"So, und was kann er, dass du hier so bedenkenlos Kierons Zeit stiehlst?"
"Fast alles", erwiderte sie kaltblütig, weil sie sich ärgerte über diese Präpotenz, diese Wichtigtuerei eines offensichtlich Reichen gegenüber anderen, die es nicht so gut getroffen hatten. Neben sich hörte sie, wie Gaiden, ihren kühnen Vorstoß missbilligend, Luft in seine Lungen sog. Die Gruppe brach kollektiv in schallendes Gelächter aus.
"Ein freches Weib hast du", sagte einer der beiden Arbeiter zu Gaiden und lachte, dass ihm der dicke Bauch wackelte, "an deiner Stelle würde ich ihr ein paar Maulschellen verpassen!"
"Du gefällst mir immer besser", grinste auch Kieron in Jhess' Richtung, "aber gut, ich werde deine Behauptung auf die Probe stellen, denn ich habe tatsächlich ein Problem, das gelöst werden muss. - Findest du eine Lösung, Gaiden, dann kommt ihr beide mit uns, kannst du es aber nicht, dann gehört sie mir!" Jhess dachte, sie hätte nicht recht gehört, doch Gaidens rabenschwarze Miene verriet ihr, dass sie ihren Ohren durchaus trauen konnte.
"Kommt nicht in Frage", sagte Gaiden mit bitterkaltem Frost in der Stimme, "Ich finde auch woanders eine Arbeit!"
"Zu spät! Die Herausforderung wirst du annehmen - und das
hast du ihrem losen Mundwerk zu verdanken!" Das Zwillingspärchen
traten drohend nach vorne und machte Anstalten, Gaiden in Schlepptau zu nehmen,
doch der sah ein, dass er bei der Übermacht den Kürzeren ziehen musste und folgte
ihnen, nicht ohne Jhess einen furchtbaren, zornigen Blick zuzuwerfen. Er sah
nur die unterschwellige Lüsternheit hinter der berechnenden Fassade Kierons, wie
er, von ihrem exotischen, fernländischen Gesicht und ihren ungewöhnlichen Augen
angezogen wurde auf Suche nach einer Trophäe.
Jhess eilte, beschämt über
das Unheil, das sie ohne Absicht angerichtet hatte, neben Gaiden her.
"Gaiden, sobald ich den Mantel ablege, wird er kein Interesse mehr haben", flüsterte sie ihm im Gehen zu.
"Verlass dich nicht darauf", zischte er wütend,
"das ist hier keine heile Welt, falls du das noch nicht bemerkt haben solltest!"
Sie schwieg, weil sie wusste, dass er Recht hatte. Zuviel Verderben hatten sie
schon gesehen.
Die kleine Gruppe hatte eine Baumgruppe erreicht - unter lautstarkem
Marktgeschrei des Zwerges, der damit eine Menge Leute anlockte, die wie ein
Rattenschwanz neugierig hinterherliefen und wissen wollten, welche Aufgabe Gaiden gestellt
werden sollte.
Unter einer alten, riesengroßen Eiche, die trostlos und
wie ein mahnendes Ebenbild der jämmerlichen Zeit ihre starken kleidlosen Äste
von sich streckte, parkte ein Last-Fuhrwerk mit Plane in einer nahezu
aussichtslosen Position - zumindest, wenn man erwartete, dass es seiner
Aufgabe nachkommen und weiterfahren sollte. Es war mit einem Vorderrad in
ein großes Loch geraten, was zu einem Achsenbruch geführt hatte, und so lehnte
das kränkelnde Gefährt als Bild des Jammers windschief am Stamm der Eiche.
Damit beschäftigt war ein Dutzend Männer, die soeben mit Hebeln aus Holzstangen
versuchten, das Fahrzeug hochzuhieven. Der Winkel jedoch war ungünstig, weil
die Eiche im Weg war, und es schien unmöglich, den Karren auch nur um einen
Zentimeter zu verrücken.
"Um den Wagen geht es mir nicht", sagte Kieron, und erstmals war an seiner Mimik und dem Wortklang ein wenig Sorge zu erkennen, "aber er trägt etwas Wertvolles, das ich in einem Stück und funktionstüchtig auszuliefern verpflichtet bin." Er gab seinen Männern einen Wink, und vier davon eilten herbei und hoben die schmutziggraue Plane vom Wagen. Darauf befand sich ein seitwärts gerutschtes eisernes Ungetüm, dessen Halterungen durch den Ruck bei dem Unfall ausgerissen waren und das bereits fast von der Ladefläche kippte. "Eine Machina! - Wer weiß, wozu sie gut ist, aber ich muss sie dem Magier Felisar bringen." Die Zuschauer glotzten. Es war trotz der eisernen Beschaffenheit ein fast filigran anmutendes Werk aus zahllosen Rädchen und Hebeln, Rohren, Gestängen und kleinen Spiegeln aus Glas, verziert mit einer Front aus schwarzem, ziseliertem Metall. "Gaiden, du wirst dafür sorgen, dass die Machina auf den anderen, fahrtüchtigen Wagen geschafft wird, und zwar, ohne dass sie dabei Schaden nimmt." Gaiden trat näher und betrachtete das unerklärliche Ding, dem er auch keinerlei Bedeutung beimessen konnte. Er hatte so was noch nie gesehen. Genaugenommen hatte er überhaupt noch nie eine Machina gesehen. Langsam umrundete er den havarierten Wagen und bemerkte, dass das Ungetüm auf einer Holzpalette stand, die man wohl auch zum Transport als Unterlage verwendet hatte. Er prüfte die Eiche, besah sich das Loch, in das das Rad gerutscht war und den Achsenbruch. Dann begab er sich zu seinem Herausforderer, der mit schadenfroher Miene und vor der Brust verschränkten Armen an der Spitze seiner Leute stand.
"Na, gibst du schon auf, ehe du nur angefangen hast?", wollte er feixend wissen. Die Männer lachten, während immer mehr Menschen zum Zusehen kamen. Gaiden schüttelte den Kopf.
"Ich brauche ein paar Hilfsmaterialien, damit ich die Machina bewegen kann", ließ er ihn wissen. Kieron hob beide Hände.
"Na, wenn ihn das glücklich macht", erwiderte er, "soll er seine Hilfsmaterialien haben! Jodan, du begleitest ihn." Aus dem Hintergrund löste sich der ältliche Schwarze und nickte Gaiden förmlich zu. Der warf Jhess, die von Kierons Wachen zurückgehalten wurde, einen bekräftigenden Blick zu, und sie sah, dass sein Zorn gewichen war und einer wachsenden Zuversicht Platz gemacht hatte. Sie lächelte ihm aufmunternd zu.
Die beiden Männer verschwanden, und während man auf sie wartete, machte sich auf der Wiese eine richtige Jahrmarktsstimmung breit. Feuerschlucker und Jongleure, einer, dessen Hund Kunststücke beherrschte und verschiedene Musikanten fanden sich ein, um den Leuten ein wenig die Zeit zu vertreiben und sich ein paar Münzen zu verdienen. Sogar ein fahrender Barbier bot seine Dienste an. Jhess wunderte sich über dieses Verhalten im Angesicht der Ruinen hinter ihnen, bis sie hörte, dass Piraan eine Stadt der Festivals gewesen war, bekannt für viele Straßenfeste und Bänkelsängerwettbewerbe, ein Zentrum der Künste, mit bekannten Malern, Bildhauern und Musikern, wo auch zahlreiche sportliche Wettkämpfe und Turniere stattgefunden hatten. Viele Reisende waren nur deswegen hierher gekommen, nun enttäuscht und entsetzt, dass dieser Ort des frohen Lebens nun nicht mehr existierte.
Etwa eine Stunde später kam Gaiden in Begleitung Jodans und zweier weiterer Männer zurück, die alle zahlreiche Utensilien herbeischleppten. Zwei viele Meter lange, dicke Seile wurden auf dem Platz abgeladen, den Kierons Aufpasser freihielten, jede Menge Werkzeug polterte zu Boden, große Schrauben, lange Nägel und mehrere hölzerne Rollen in unterschiedlichen Größen. Gaiden machte sich sofort an die Arbeit und zimmerte aus allen Zutaten zwei seltsame, idente Konstruktionen, die hauptsächlich aus Seilen und Holzrollen zu bestehen schienen, und die er dann mit den langen Nägeln an zwei starken Ästen der Eiche direkt über der Unfallstelle des Wagens fixierte. Die beiden Enden der Seile fädelte er unter der Holzpalette durch, auf der die Machina stand und verknotete sie nach oben mit dem dazu gehörigen Seil. Dann instruierte er Jodan, der ihm mit einigen weiteren Männern helfen sollte.
"Jodan und ich werden die Machina jetzt hochheben. Wenn sie in der Luft hängt, könnt ihr den darunter liegenden Wagen ohne Rücksicht auf Verluste entfernen. Legt die starken Bohlen über das Loch, damit der andere Wagen nicht auch hineinfällt, und wir können dann die Machina dort auf der Ladefläche abstellen." Ein aufgeregtes Stimmengewirr erhob sich, und die vorherrschende Meinung war jene, dass es zwei Männern nicht möglich sein sollte, ein so schweres metallenes Unding von der Stelle zu bewegen. Kieron dagegen blieb ruhig.
"Sie werden das Ding um keine Haaresbreite anheben!", sagte er laut, "Zum Aufladen waren mehr als sechs starke Kerle nötig."
"Abwarten!", entfuhr es Jhess, die zwar auch nicht wusste, was Gaiden da machte, sich aber sehr sicher war, dass die Erfindung auf jeden Fall funktionieren würde.
Unter lautem Oh- und Ah-Geschrei der Zuschauer, das sich
allmählich in stürmischen Beifall verwandelte, hoben die beiden Männer, mühelos,
wie es schien, die Machina von dem zerstörten Wagen, indem sie am freien
Ende der Seile zogen, bis der eiserne Gegenstand frei in der Luft schwebte.
Die Seile wurden an der Eiche festgebunden und der Boden darunter frei gemacht
für ein zweites Fuhrwerk, dessen Ladefläche genau unter die darüber schwebende
Machina platziert wurde. Gaiden und Jodan ließen sie dann vorsichtig
darauf herab und fixierten sie wieder mit ihren Halterungen.
Als das Werk
vollbracht war, kannte die tosende Begeisterung in der Menge keine Grenzen mehr.
Viel
Geld wechselte seine Besitzer.
Kieron stand mit ausdrucksloser Miene vor Gaidens erfüllter Aufgabe.
"Nun", sagte er, "warum nicht. Schließlich heißt es, dass Fernländer Glück bringen."
5
Mit dem Augenblick, da auf Mondbasis Alpha die Alarmsirenen erschallt waren, war alles Personal, das nur irgendwie entbehrlich war, in die Bunker unter der Mondoberfläche geschickt worden. Die Kommandozentrale blieb dagegen vollständig besetzt, und keiner der Anwesenden hätte einem Befehl, in den Verstecken zu verschwinden, etwas abgewinnen können. Anfangs war es anders gewesen, ganz am Anfang, als sie ein junges Team gewesen waren und keine eingeschworene Truppe, die wusste, dass sich alle auf einander verlassen konnten, aber jetzt, nach vielen langen Monaten im All und zahlreichen Schwierigkeiten, die sie manchmal zu überleben nicht erwartet hatten, hatte sich die Lage geändert. John Koenig trug dieser Erkenntnis Rechnung. Es hatte Zeiten gegeben, wo er alle, ohne Widerrede, in die Schutzräume geschickt hätte, nun aber verzichtete er auf die autoritäre Anweisung. Bei Helena war es ihm nicht leichtgefallen, aber ihr irritierter, mahnender Blick hatte ihn schnell den Mund schließen lassen. Sie hatte Stellung an ihrem medizinischen Computer in der Zentrale bezogen, und musterte, wie auch alle anderen, mit sorgenvoller Miene die herannahenden Raumschiffe auf dem Hauptbildschirm.
Es war wie ein Hohn. Die in der Schwärze des Alls fast unsichtbaren Drachen waren auf ihrem stoischen, unbeirrbaren Weg zum Mond, und, als wüssten sie, dass ihnen die Menschen auf Alpha nichts auch nur annähernd Gleichwertiges entgegensetzen konnten, bewegten sich in einem saumseligen, fast majestätischen Gleiten auf den Mond zu, langsam und gemächlich. Es war wie ein genüssliches Auskosten der Macht über einen schwächeren Gegner, der keine Möglichkeit hatte, sich zu wehren.
Die anderen fremden Schiffe dagegen, die Gegner der Drachen, blieben zurück, offensichtlich froh, nicht mehr das Ziel der Feinde zu sein, und reagierten nicht auf die permanenten Hilferufe, die mit dem ersten Anzeichen, dass man es auf Alpha abgesehen hatte, abgeschickt worden waren. Sie verharrten in einer Linie an den Grenzen des zu verteidigenden Sonnensystems und beobachteten nur, was die dunklen Feinde vorhatten.
John sah sich in einer auswegslosen Lage. Schlimmer konnte es kaum kommen: den Tod vor Augen und kein erdenkliches Mittel dagegen. Kein fieberhafter Versuch, eine Lösung zu finden, zeitigte Früchte, und was es noch schlimmer machte, war, dass man nicht wusste, was hinter den schwarzen Drachen steckte.
Alle Scan-Versuche, die mit den Sensoren unternommen worden waren, hatten sich als ergebnislos erwiesen. Es gab keine verwertbaren Daten, und der Computer konnte mit keiner einzigen informativen Aussage, was diese dunklen Gegner betraf, aufwarten. Es war nicht einmal sicher, dass Leben an Bord der Schiffe existierte. Die Außerirdische Maya hatte, ihre empathischen Kräfte einsetzend, versucht, aus der Ferne einen Draht zu den Wesen zu bekommen, die hinter der schwarzen Fassade steckten, doch sie war aus der tiefen kontaktsuchenden Versenkung aufgetaucht, ohne das Geringste gespürt zu haben.
Der Commander hatte die kleine Flotte der Kampfadler zum Abfangen der feindlichen Raumschiffe beordert. In den Augen jedes einzelnen Piloten hatte er bei der Verabschiedung das Wissen gelesen, dass sie sich auf einen Weg ohne Wiederkehr machten. Doch es gab keine Alternative. Alpha konnte nicht kampflos aufgegeben werden. Die Schutzschirme waren aktiviert, die wenigen Bodengeschütze, über die die Basis verfügte, waren auf die Ankommenden gerichtet, und so erwarteten die Alphaner ihren sicheren Untergang.
Johns Innerstes drehte sich nach außen, als er die finsteren Gegner beobachtete. Übermächtig, was die Zahl anging, technisch um Lichtjahre voraus, kalt und berechnend. Eindeutig völlig desinteressiert an den Wesen, die sie vernichteten. Er hatte gesehen, wie sie vorgingen. Und er wusste: Alphas Stunden waren gezählt.
---
Alan Carter saß zusammen mit Bill Fraser in Adler 1. Sie hatten die Raumanzüge angelegt, ein Vorgehen, das nur noch bei zu erwartenden Kampfhandlungen zwingend gefordert war. Die gelben Helme lagen griffbereit neben ihnen. Eben waren sie dabei, den Systemcheck abzuschließen, als ein Ruckeln ankündigte, dass die Plattform, auf der der Adler stand, nun gehoben wurde und sie auf die Startrampe transportiert wurden.
Zwischen den beiden Männern fielen keine überflüssigen Worte. Sie wussten beide, wie sie dran waren, und sie nützten die ihnen verbleibende Zeit damit, ihre Sicherheit zu überprüfen, wenigstens, soweit es in ihrer Macht stand. Ein sorgfältiger Check war unerlässlich. Mit einem weiteren Ruck rastete die Plattform auf der Mondoberfläche ein, und sie warteten auf das OK zum Starten von der Flugkontrolle.
Ein plötzlicher kalter Hauch traf Alan an der rechten Gesichtsseite, und verwundert griff er sich mit der Hand an die Wange.
"Es wird nicht nötig sein, euer Leben sinnlos zu riskieren", hörte er eine klingende weibliche Stimme neben sich. Dass er sich nicht getäuscht hatte, verriet die Tatsache, dass sich auch Fraser mit einem ebenso verblüfften Ausdruck im Gesicht zum Mittelgang im Cockpit umdrehte. Da stand eine seltsam anachronistische Frau in einem bodenlangen grauen Kleid, über das sie einen nachtblauen Mantel trug. Die Kapuze des Mantels war hochgeschlagen und verdeckte ihr Gesicht zum Großteil. Nur Kinn und Mund waren völlig frei zu sehen, die Augen ließen sich in einem Aufblitzen in der Dunkelheit erahnen. Der erdige Duft von Sandelholz machte sich in der Pilotenkanzel breit. Alan und Bill sahen einander simultan an, beide mit dem Ausdruck ultimativen Unglaubens.
"Was soll das?", entfuhr es Bill, dem Co-Piloten, während er die seltsame Erscheinung wie einen Geist anstarrte. Aus der Flugkontrolle kam die Anfrage, was denn passiert sei, die Sensoren hätten plötzlich das Auftauchen einer weiteren menschlichen Gestalt im Adler festgestellt.
"Wer treibt sich da unerlaubterweise bei euch herum!! Der Befehl lautet an denjenigen, sofort die Schutzräume aufzusuchen!" Alan drehte sich zu Petrov um, der am Schirm mit zornumwölkter Stirn zu sehen war.
"Würde mich wundern, wenn sie sich um deinen Befehl schert!", sagte er, und sein Gesichtsausdruck sprach Bände.
"Alan, was zum Geier ist bei euch los?", kam die ungeduldige Anfrage des Kommandanten. "Ihr habt Starterlaubnis, was ist, wartet ihr auf bessere Zeiten?"
"Wir haben, wie es scheint, Besuch", war dessen lapidare Antwort, und er drehte die Kamera so, dass John am anderen Ende die Frau sehen musste. Es folgte eine mehrere Sekunden dauernde Sendepause. Alan sah selbst am kleinen schwarz-weißen Bildschirm, wie sich Johns Augen weiteten und er einmal erfolglos zu sprechen anhob. Erst nach einem gleichermaßen verlegenen wie verärgerten Räuspern hatte er seine Stimme wieder im Griff.
"Ich kenne Sie!", entfuhr es ihm, jedoch die Angesprochene verharrte reglos in den Schatten ihrer Kapuze. John schien verwirrt, als könnte er die Person nicht zuordnen. "Ich weiß nicht woher", sagte er auch schon, "aber Tatsache ist, dass Sie hier nichts verloren haben."
"Sie hat irgendetwas mit den Drachen zu tun", mutmaßte Bill, "denn sie hat uns aufgefordert, den Kampf aufzugeben."
"Euch wird nichts passieren", ließ sie John wissen.
"Sind Sie ein Vermittler der schwarzen Drachen?", ließ Fraser seine finstere Vermutung vom Stapel. Eine abwehrende, grazile Handbewegung war die Folge.
"Oh, nein", erwiderte sie, "ich bin zu eurem Schutz gekommen."
"Ich komme an Bord", verkündete John, "lasst sie nicht aus den Augen!"
Während auf Geheiß des Sicherheitsdienstchefs alle übrigen
Kampf-Adler starteten und über Alpha in Abwehrposition gingen, blieben Alan
und Bill am Boden und warteten auf die Truppe aus der Kommandozentrale. Wenig
später schon war an einem dumpfen metallischen Laut das Andocken des Verbindungsgangs
zum Rampenschlitten zu hören. Alan erhob sich und führte die fremde Frau
nach hinten ins Passagierabteil. Sie ließ es widerstandslos mit sich geschehen,
und leichten Fußes schritt sie vor dem Adlerpiloten her, der sich im klobigen
Raumanzug wie ein schwerfälliger, tölpelhafter Elefant vorkam.
Gerade, als
sie ins Abteil eintraten, öffnete sich die Tür zur Schleuse, und sichtbar wurden
zunächst zwei Sicherheitsdienstmänner, die, ihre Waffen im Anschlag, eintraten, und
dahinter tauchten der Commander, Maya und Helena auf, die, wohl auf jegliche
Eventualitäten vorbereitet, einen kleinen Notfallskoffer bei sich trug.
Alan
hob beide Hände zum Zeichen, dass alles in Ordnung war.
"Sie scheint zumindest nicht gewalttätig zu sein", begrüßte er die Eintretenden, "und irgendwie würde das ja auch nicht mit ihrer Behauptung zusammenpassen, dass sie zu unserem Schutz da ist."
Aus dem Cockpit tauchte nun auch Bill Fraser auf und berichtete,
dass die schwarzen Raumschiffe mittlerweile den Orbit des Mondes erreicht hätten.
"Sie
haben sich über Alpha positioniert", sagte er mit sorgenvoller Miene, "und
sie befinden sich auch in Reichweite der Adler. Commander, die Piloten warten
auf Ihre Befehle." John holte tief Luft. Eigentlich hatte er damit
gerechnet, dass sich die Basis und mit ihr alle Einwohner im selben Augenblick,
da die Feinde sie mit ihren Waffen erreichen konnten, in einer lodernden, kurz
aufflammenden Feuersbrunst vom Dasein verabschieden würden. Es schien jedoch
eine Galgenfrist für Alpha zu geben. Er war sich nicht darüber im Klaren, was
das Auftauchen dieser Frau bedeuten sollte, genauso wenig, wie er wusste, wo
er sie schon mal gesehen hatte. Es war diese Erscheinung, der nachtblaue Mantel,
die Kapuze, dieses eindrucksvolles Bild, das in ihm ein jähes Gefühl des Wiedererkennens
ausgelöst hatte. Als hätte er diesen einen Moment schon mal erlebt.
Nun,
was auch immer ihr Auftauchen hier im Adler bedeutete, die Menschen schienen
noch ein wenig Zeit zu haben.
"Aber ehe ich Sie auf unsere Basis einlade, möchte ich
Sie bitten, uns auch Ihr Gesicht zu zeigen", sagte er. Sie hob in einer
anmutigen Bewegung beide Hände, und die dunkle Kapuze fiel zurück auf ihren
Rücken.
Hinter John wurde ein ersticktes Luftholen von einem Poltern nahezu
überlagert. Er drehte sich um, und sah, dass sich Helena bereits nach ihrem
Koffer gebückt hatte. Sie kam wieder hoch, im Gesicht eine indifferente Miene.
Nur die Nasenflügel bebten.
"Entschuldigung", sagte sie mit rauer Stimme.
"Alles in Ordnung?" Sie nickte mit einem schmalen Lächeln, und John beschloss, es fürs Erste hinzunehmen. Er wandte sich wieder dem Gast zu und sah sich einem ätherischen Wesen gegenüber, durchscheinend fast und jung. Das Haar war mit zahllosen bunten Bändern zu einem Knoten hochgesteckt, die in ihrer Farbenpracht das Weiß der Strähnen nahezu verschwinden ließen. Aber die Augen waren wie Gletscher, so kühl und wissend. Ihr Blick war alt wie die Welt, und John vermeinte, Äonen darin vorüberziehen zu sehen. Er wusste nicht, was er fühlen sollte, es war als blickte er der Ewigkeit ins Antlitz. Er räusperte sich, um seine Fassung wieder zu gewinnen und deutete einladend mit der Hand in den Transfergang zum Rampenschlitten.
"Ich bin Commander John Koenig", sagte er, sich als Ausweg an seine guten Manieren erinnernd, "Chefärztin Dr. Helena Russell, die Piloten Captain Alan Carter und Bill Fraser, und die beiden Wachen sind Mr. Henderson und Mr. Gerard." Ein flüchtiges Lächeln umkräuselte ihre Lippen, als sie an John vorüberging.
"Ich weiß, Commander", sagte sie. "Man nennt mich Leïda." Sie blieb stehen und wandte sich halb um. "Und ich kann Ihnen versichern, dass Ihnen die schwarzen Drachen nichts anhaben können, solange ich bei Ihnen bin."
6
Nicht mehr allein unterwegs zu sein hatte seine Vor- und
Nachteile. Es war gut, den Hunger nicht länger als ständigen Wegbegleiter
um sich zu wissen. Es war auch gut, nicht mehr an ungeschützten Plätzen in der
freien Wildnis übernachten zu müssen sondern zumeist in zwar billigen aber dennoch
gesicherten Schänken und Gasthäusern, die am Weg lagen. Jhess seufzte, während
sie mit einem stumpfen Messer einen Berg Kartoffeln schälte.
Die Gesellschaft
dagegen war weniger gut. Kieron schien zwar ein geachteter, reicher Händler
zu sein, doch er war ein unheimlicher Mensch. Wann immer er auftauchte, spürte
sie seinen forschenden Blick auf sich, wie er sich fordernd in sie hineinbohrte
und jede ihrer Bewegungen verfolgte, als wartete er nur auf irgendwas, als verfügte
er über Informationen, von denen sie selbst nichts wusste. Sie war die einzige
Frau in der Gruppe und musste sich viele mehr oder weniger ernst gemeinte Frechheiten
der Männer gefallen lassen. Besonders Rongdon, Kierons hässliches Maskottchen,
hatte es auf sie abgesehen und erfand Spottverse, obszöne Lieder, und rohe Reime, die darauf
abzielten, sie zu verletzen,
am laufenden Band. Gaiden hatte dem Zwerg in einem Wutanfall die barbarischste
Tracht Prügel angedroht, die je über ihn gekommen war, doch Kieron, der Rongdons
Ergüsse überaus erbaulich fand und sich daran weidete, wie Jhess darunter litt,
hatte Gaiden unmissverständlich klargemacht, dass er ein toter Mann war, wenn
er dem Zwerg auch nur zu nahe kam.
Mittlerweile war es auch unmöglich, zumindest
vorläufig, die Gruppe zu verlassen, denn sie befanden sich auf dem Weg zum südlich
gelegenen Falkenpass über das Mittellandgebirge. Jhess sah sich um. Rundherum
gab es nichts als felsiges Gestein, kahle schroffe Formationen, die, vom ersten
Hauch des Winters gestreift, schon mit einer dünnen Schicht pulvrigen Schnees bedeckt
waren. Zerklüftete Abhänge und scharfkantiges Geröll lagen zu beiden Seiten
ihres Pfades, als wäre der lebensmüde Berg dabei, endlich im Angesicht der Unendlichkeit
zu zerfallen. Die Männer erzählten am nächtlichen Lagerfeuer Schauergeschichten
von den unheimlichen Erscheinungen, die hier ihr Unwesen trieben, und Jhess war sich
nicht so sicher, dass alle nur Märchen waren.
Jetzt war es jedoch gerade
noch hell, und das Tageslicht verwandelte die Welt in einen nüchternen Ort mit
praktischen Anforderungen. Sie war zur Küchenfee degradiert worden, eine Arbeit,
die sie fast noch mehr hasste, als alles andere, das sie tun musste, doch war
ihr wenigstens der alte Jodan als Oberkoch vorangestellt, der ein wortkarger
aber nicht unangenehmer Zeitgenosse war. Vor allem schien er sie hinzunehmen
als das, was sie war: die Frau eines anderen. Von ihm
hatte sie keine sexuellen Untergriffe zu erwarten, keine unangenehmen Fragen,
keine Geringschätzung ihrer Person als Frau. - Nicht einmal als Frau, die
nicht kochen konnte! Dabei war er nicht jenseits von Gut und Böse, kaum älter
als Kieron, doch von Natur aus verschlossen, rätselhaft. Jhess hatte bald
bemerkt, dass die anderen gehörigen Respekt vor ihm hatten, wenn sie auch nicht
wusste, womit er sich diese Achtung verdient hatte. Sie versuchte, sich in
seiner Nähe aufzuhalten, weil in Jodans Anwesenheit Rongdons Demütigungen ihr
gegenüber deutlich harmloser ausfielen.
Die Männer waren eben dabei, das Nachtlager aufzuschlagen. Sie
hatten sich einen Platz ausgesucht, der Schutz vor dem Wind und der Kälte bot,
einem großen Felsvorsprung benachbart. Die Winterzelte wurden aufgebaut,
und die Wagen mit den Handelsgütern schirmten den Lagerplatz noch zusätzlich ab vor den
frischen Böen, die hier im Gebirge besonders stark sein konnten. Brennholz war
mitgebracht worden, und im Zentrum des Platzes prasselte bereits ein schönes
Feuer, an dem man sich wärmen konnte und wo heißer Met bereitstand. Die Pferde
waren versorgt worden und standen nun auch zufrieden in der Nähe der Mauer.
Jhess
musste lächeln. Ihr waren die Tiere am Anfang etwas unheimlich gewesen, doch
hatte sie sich mittlerweile mit ihnen angefreundet, Gaiden hingegen war ihnen
sofort forsch entgegen getreten und hatte bald zu seiner Enttäuschung feststellen
müssen, dass er überhaupt keine Hand für Pferde hatte. Es war, als spürten
sie, dass er sie als reine Nutztiere betrachtete, wie Kühe oder Schweine, die
ihre Arbeit machen sollten und sich damit den Lebensunterhalt verdienten. Ihm
fehlte wohl die Gesinnung und die Einsicht, sie als Lebewesen mit eigenem
Charakter zu akzeptieren, und mit einer ansonsten zutraulichen braunen Stute
mit Blesse, die zufälligerweise nur in seiner Anwesenheit mit ihren eigenwilligsten
und unzähmbarsten Manieren aufwartete, geriet er täglich beim An- und Abspannen
in Streit. Noch hatte es keinen Tag gegeben, wo ihm nicht einer der anderen
zur Hilfe hatte eilen müssen.
Langsam versank die Sonne im purpurnen Dunst des Abends, nicht
ohne die Wolken in ein rotgoldenes Rauschen von Farben zu tauchen, und dann
kam die Dämmerung und nistete sich ein in den Tälern, von wo sie die Herrschaft
über das Land übernahm. Doch nur kurz war ihr tägliches Gastspiel, ehe auch
sie weichen musste vor der Nacht, die mit ihrer geheimnisvollen Macht den
Tag schlafen legte.
Als der letzte Strahl der schon winterlichen
Sonne entschwunden war, stand das Lager, und die Männer sammelten sich zum Abendessen.
Es wurde schnell dunkel und ziemlich kalt, doch in der Nähe des Feuers ließ
es sich gut aushalten. Die Stimmung war gelöst und man erwartete, bereits am
nächsten Tag gegen Mittag den Falkenpass zu erreichen und also vor dem Einbruch
des Winters, ehe die schweren Schneefälle kamen, das Gebirge hinter sich gebracht
zu haben. Westlich vom Mittellandgebirge war das Klima günstiger, hieß es, und
der Krieg hatte noch nicht Einzug gehalten.
Für Jhess hörte es sich so an,
als befänden sie sich am Vorabend zu besseren Zeiten.
Wohl aufgrund der guten Aussichten (und eines starken Met-Durstes
verschiedener Anwesender) herrschte eine geradezu greifbare Fröhlichkeit unter
der Gruppe, und sogar Kieron, der sich sonst bald zurückzog, blieb, ein berechnendes,
spöttisches Lächeln in den Mundwinkeln, am Feuer sitzen und beobachtete das
Treiben. Die Zwillinge Voltan und Valgun holten, von ihrer Berauschung beflügelt,
eine Schalmei und eine Kithara hervor, auf denen sie, erstaunlich musikalisch,
zu spielen begannen, und bald stimmte nahezu die ganze Runde in ihre scherzhaften
Trink- und Schänkenlieder ein.
Jhess fühlte sich zum ersten Mal in der Gesellschaft
dieser Reisenden fast wohl, auch wenn sie des Öfteren Kierons insistierenden,
inquisitorischen Blick auf sich spürte. Sie saß, in ihre warme Felldecke
an Gaiden gelehnt, der seinen Arm um sie gelegt hatte, und kam sich
beschützt
vor. Sie genoss dieses seltene Gefühl, während sie ins Leuchten des Feuers starrte,
Gaidens Nähe fühlte und dem frivolen Gesang zuhörte. Die Hitze der Flammen knisterte
ihr ins Gesicht und machte sie müde und schläfrig.
Plötzlich sah sie eine jähe Bewegung aus den Augenwinkeln, und mit einem Schlag war sie hellwach. Jodan war aufgesprungen.
"Was war das?", rief er, um den Lärm zu übertönen.
Der Gesang und die Musik brachen ab. Alle waren schon zu lange im Land unterwegs,
um nicht von einem Augenblick auf den anderen wachsam werden zu können.
Und
tatsächlich waren die Pferde unruhig, ein Scharren und alarmierendes Wiehern
war zu hören, und der verschlafene Bluthund Spot hatte sich, ganz entgegen seinen
sonstigen Gewohnheiten, von dem gemütlichen Platz neben seinem Herrn Jodan
aufgemacht und fing an, vor dem Lager irritiert auf- und abzulaufen und die Sterne
anzukläffen.
Schnell waren Waffen verteilt, und die Männer traten unerschrocken
der drohenden Gefahr entgegen. Jhess fand sich verwirrenderweise mit einem
Speer ausgerüstet. Sie fühlte sich am Arm gepackt und bemerkte, dass es Gaiden
war, der, ein Kurzschwert in der Hand, sie hinter sich zerrte.
"Bleib hinter mir, Jhess", befahl er ihr.
"Aber Gaiden.."
"Tu, was ich sage", herrschte er sie an, dann senkte er unvermittelt den Blick. "Und wenn... wenn mir was passiert, dann halte dich an Jodan."
"Nein, Gaiden.." Seine Miene spiegelte Zorn wider, doch er kam nicht in die Gelegenheit weiterzureden.
"Es sind schwarze Drachen!", erschallte plötzlich
der Ruf aus der Dunkelheit, und ein entsetztes Aufschreien der übrigen war die
Antwort. Tatsächlich war eine vage Bewegung über ihnen zu sehen, im milden Licht
des Mondes flimmerten die Schwingen der Drachen fast unmerklich durch die Stille
der Nacht. Vier oder fünf der unheimlichen Feinde waren auszumachen, wie sie
über dem Lager kreisten, angezogen vom Feuer im sonst finsteren Angesicht des
Bergmassivs, und mit jedem Kreis, den sie beschrieben, sanken sie tiefer und
in ihre Nähe. Die Pferde spielten verrückt, und Spot tobte, als könne er mit
seinem Gebell die Drachen davonjagen.
Kieron stand mit gesenktem Schwert
in der Hand und starrte nach oben in die doppelte Finsternis. Er wirkte sehr
ruhig und gefasst.
"Wir haben kein Mittel gegen sie", sagte er, "sie werden uns töten." Bewegung kam in die wie versteinerten Männer. Sie sprangen herbei und löschten das mittlerweile schon zur Hälfte abgebrannte Feuer. Vielleicht half es, die Drachen zu verwirren.
"Jhess, lauf weg", flüsterte Gaiden, machte aber keine Anstalten, ihren Arm loszulassen.
"Niemals!", keuchte sie entsetzt. In einem Aufflackern sah sie sich mutterseelenallein durch die feindliche Wildnis der Berge irren, ohne Proviant, ohne Wärme und vor allem ohne Gaiden.
Und dann ging alles sehr schnell. Der Anführer der Drachen,
ein besonders großes, furchterregendes Ungeheuer, stieß mit einem Mal hinab,
genau auf das kleine Lager zu und kam kaum eine Armeslänge über den Köpfen der
Menschen zum Stillstand, wo er mit schwachem Flügelschlag in der schwarzen Luft
verharrte.
Die Kälte der Toten machte sich breit, und es war, als umgäbe sie
der Hauch verlorener Seelen. Sie waren selbst wie tot. Die Zeit stand still,
in einem quälenden Sirren bohrte sie sich in die Eingeweide der entsetzten Menschen
und zerriss ihnen die Herzen. Sich zu wehren war undenkbar, selbst sich zu rühren
war unmöglich, und der Wunsch zu überleben war ein Gedanke, der einfach aus
dem Verstand gelöscht war. Nur eine unsägliche Leere war geblieben, so kalt
wie Eis und so schneidend wie geschliffener Stahl. Sie waren sich ihres Seins
kaum bewusst.
Der Drache bewegte sich noch etwas weiter herab, glitt voran, und sie konnten den Reiter sehen. Er war wie ein substanzloser Fleck in der Realität, ein Loch aus Nichtexistenz in den verschwommenen Umrissen einer schemenhaften menschlichen Gestalt. Ihn anzusehen, saugte die Lebenskraft aus den Gebeinen, saugte die Seele aus dem Leib. Ihn nicht anzusehen, war so unmöglich, wie ein deutliches Geräusch nicht zu hören.
Genau vor Jhess und Gaiden hingen Drache und sein Reiter in der
Luft, bereit zu nehmen, was sich ihnen bot, und die beiden spürten die
Augen wie glühende Kohlen auf sich. Es war eine Pein, die durch Mark und Knochen
ging, allein der Blick des Drachen, und es roch so sehr nach Tod, Verdammnis und
Verderbnis, dass sie kaum atmen konnten. Sie fühlten, wie das Leben sie verließ,
sich davonmachte und in die düsteren Schatzgefäße des Feindes entschwand.
Doch
einen Augenblick, ehe sie ihr Selbst endgültig aufgaben, stieß der Reiter seinen
Drachen in die Seiten, und dieser erhob sich mit heftigem Schlagen der Flügel in die
nachtschwarzen Lüfte. Mit einem gespenstischen Schrei rief er die anderen zu
sich, und wie ein verwehter Traum war der Spuk vorbei. Sie waren in der Weite
der Nacht entschwunden.
Gaiden und Jhess sanken zu Boden. Der Tod war unverrichteter
Dinge vorübergegangen, doch die Qual war so präsent, dass ihnen das Sterben
wie eine aus Bosheit nicht erteilte Gnade erschien. Was geschehen war, schien
jenseits alles Erklärbaren - es war nicht fassbar, selbst für jene nicht, die
unmittelbar daran teilgehabt hatten.
Bewegung kam in die übrigen der Gruppe. Sie liefen
zusammen, und der Tod selbst blickte ihnen noch aus den in der Dunkelheit grauen Gesichtern.
Man half Gaiden und Jhess auf, die nicht allein gehen konnten, und setzte
sie in der Nähe der schwelenden Holzkohlen, die vom Lagerfeuer übrig geblieben
waren. Alles geschah schweigend und in tiefem Schockzustand, bis Rongdon auf
einmal in schrilles Gelächter ausbrach, in das er sich, wie in einem wilden
Wahn, über den Platz springend und hüpfend, hineinsteigerte und damit Spot, der
bisher mit eingezogenem Schwanz unter einem der Wagen gelegen hatte, aus seinem
Versteck hervorlockte, wo er den Zwerg mit bösem Fletschen der Zähne anknurrte.
Es war so irreal, so unfassbar, dass man es geschehen ließ, und er tobte
mit seinem hysterischen Lachen durch die Runde der betäubten Kameraden, bis
er, nunmehr ein Ziel vor Augen, Kurs auf Jhess nahm, und sich, ausschüttend
vor Gelächter, zu ihr vorbeugte. Sie sah sein pockennarbiges fahles Gesicht
mit den hervorquellenden nassen Augen, wie sie sie boshaft anblinzelten, und
dann fühlte sie seine beiden Hände, wie sie grob ihren Leib packten, für einen
kurzen Moment, und sein Kopf kam noch näher, bis ihr der faulige Geruch
seines Atems in die Nase stieg.
"Ist der Balg jetzt tot?", erkundigte er sich mit
einem scharfen Flüstern und beobachtete, an Ort und Stelle verharrend, gierig
ihre Reaktion. Ihr bloßes Nichtbegreifen wich einem plötzlichen, furchtbaren
Zorn. Das Leben war wieder da und schoss in sie hinein in einem rasenden
Schwall fast blindmachender Wut gegen dieses Tier, diese Ausgeburt, diese
namenlose Provokation. Ihr leerer Blick verwandelte sich
in Dolchspitzen, und ehe er erkannte, dass er zu lange gewartet hatte, hatte
sie ihn an den Armen wie mit Schraubzwingen ergriffen. Ihr Verstand hatte sie
verlassen, und nur der Wunsch, ihm wehzutun, ihn in die Glut zu stoßen, war
noch da, und ihm die Armseligkeit seiner Existenz
ins Gesicht zu schleudern, während er lichterloh brannte!
Doch es geschah
nicht, denn mit dem Kontakt ihrer Hände zu ihm tat sich ein seltsames Tor auf,
und sie glitt wie ein Spion in seine Existenz, ungewollt, erschrocken, aber
auch ohne eingreifen zu können, und sie sah, was den Zwerg ausmachte -
sah seine eigenen Qualen, allgegenwärtige, körperliche Schmerzen und seine
zerstörte Seele, von Klein auf, die nie auch nur die Chance gehabt hatte, sich
ein wenig ins Licht zu erheben. Sie wusste, dass es in ihrer Macht lag, die
großen schwarzen Flecken einfach zu löschen, sie wusste, sie konnte ihn
heilen. Es war wie ein Instinkt, und schon merkte sie, wie die Dunkelheit in
diesem Dasein sich lüften wollte... und im selben Augenblick fühlte sie sich
gewaltsam weggerissen, und die Verbindung war nicht mehr.
"Nicht so", drang Jodans leise, warnende Stimme an ihr Ohr, "nicht im Zorn - du verletzt dich selbst! Mit dieser Gabe musst du sehr sorgfältig umgehen, sehr sorgfältig." Sie erkannte, dass er im Recht war, und warf Rongdon einen hilflosen, besiegten Blick zu, ehe sie sich, um Fassung ringend, von der wie versteinerten Gestalt abwandte, die sie in einer Mischung aus panikartiger Angst und dem Flehen nach Erlösung anstarrte.
Kierons Augen lagen wie immer auf Jhess, und diesmal waren sie voller Triumph und Genugtuung.
7
Leïda betrat das Quartier, das ihr auf Alpha zugewiesen worden war. Die Außerirdische Maya hatte sie von der Kommandokonferenz, wo sie erste Fragen beantwortet hatte, hierher begleitet und huschte nun nach ihr durch die sich bereits schließende Tür, um ihr die Funktion des Intercom-Systems zu erklären. Leïda lächelte nachdenklich, ohne den Ausführungen zuzuhören. Die Psychons hatten auf ihrem Trek durch das All den schwarzen Drachen zu viel Macht verholfen, obgleich natürlich die junge Maya dafür nicht zur Verantwortung gezogen werden konnte. Ihr Vater, ein verblendeter Wissenschaftler, hatte in seiner fast närrischen Liebe zu seiner Jüngsten dazu beigetragen, dass sie nicht denselben Weg beschreiten konnte wie ihr Bruder und seine Gefolgschaft, und so war sie in die Obhut der Alphaner geraten, die, selbst Heimatlose, ihr zugetan waren und sie immer weiter entfernten von den Idealen, mit denen die übrigen Psychons im All ihr Unwesen trieben.
"Leïda, Sie hören mir nicht zu", unterbrach Maya amüsiert ihre Erklärung, "Sie sind wohl nicht an unseren einfachen Mitteln der Kommunikation interessiert." Leïdas Lächeln verstärkte sich.
"Da hast du Recht, mein Kind!", gab sie zur Antwort, "Ich war in meinem Leben zum Glück nie abhängig von technischen Spielereien." Maya musterte sie mit scharfem Blick. "In meiner Heimatwelt bedient man sich anderer Mittel."
"Die da wären?"
"Magie!" Maya runzelte die Stirn in offensichtlichem Unbehagen.
"Ich glaube nicht, dass Magie funktioniert!"
"Dann wirf einen Blick zum Fenster hinaus - die schwarzen Drachen sind Magie!" Sie pausierte. "Wenn auch keine sehr hilfreiche." Maya folgte ihrem Fingerzeig und erahnte, mehr als sie sie sah, die feindlichen Raumschiffe, die wie ein schwarzer Schwarm gefährlicher Raubvögel über der Basis hockten. Sie fühlte, dass etwas sehr Dunkles von ihnen ausging, etwas Auszehrendes wie eine schwere konsumierende Krankheit, die auf ihrem Weg einen hohlen, toten Körper zurücklässt. Mit einiger Anstrengung riss sie sich wieder los von dem leisen Zerren nach ihrer Seele, indem sie sich für die Rationalität entschied.
"Sie sind nur weiter fortgeschritten als wir, darum möchten wir gerne annehmen, dass es sich hier um Magie handelt. Weil wir die Technik dahinter und ihre Arbeitsweise nicht verstehen."
"Ja", erwiderte Leïda geduldig, "diese Erklärung ist mir geläufig. Sie ist am häufigsten in Welten wie der Euren zu finden, wo man verlernt hat, in sich zu gehen. Wo das Verweilen nicht mehr möglich ist und so auch nicht mehr gesehen werden kann, was hinter dem Offensichtlichen liegt." Maya lächelte.
"Ich kann das nicht beurteilen, denn ich kenne nur diese eine Welt." Mit diesen Worten zog sie sich zurück.
Leïda sah sich im Quartier um. Hier war alles an Einrichtung
vorhanden, was erforderlich war, und die Temperatur schien, im Gegensatz
zu der, die in ihren üblichen Wohnräumen der Burg herrschte, deutlich höher,
aber es störte sie, dass nichts Persönliches vorhanden war. Nichtssagende Figuren,
symmetrische Bilder und Zweckmäßigkeit herrschten in diesen Wänden,
Rationalität und Vernunft. Es war logisch, dass die Finsternis diese Realität für
ihre Manifestation auserkoren hatte, sie war das schwächste Glied, das Schlupfloch,
durch das sich zu zwängen ein Leichtes gewesen war.
Leïda war schon immer
auf ihre bevorstehende Aufgabe vorbereitet gewesen, und mit dieser Welt,
diesen Alphanern, verband sie mehr als nur die Tatsache, dass sie auch wie jene
ein Mensch war.
Sie beendete ihre kurze Erkundung des Quartiers und nahm
auf dem kleinen cremefarbenen Sofa Platz. Ihr Blick lag auf der Tür zum Korridor. Sie hatte
die beiden Wachmänner gesehen, die dezent herbeigeschlichen waren, als
Maya sie hergeleitet hatte. Sie standen nun und bewachten ihren Eingang, nicht
wissend, dass verschlossene Türen für sie kein Hindernis waren. Ein verschlossener
Geist, ja, ein verschlossenes Herz und eine verkümmerte Seele - aber kein Schloss
vor einer Tür. Mit einem Gedanken nur konnte sie diesen Ort verlassen, diese
Welt, nur, um im nächsten Augenblick wieder zu erscheinen, auch wenn für
sie selbst Tage oder Monate zwischen den beiden Momenten lagen.
Sie war eine
Weltenwechslerin, die in vielen Realitäten zu Hause war, auch wenn ihre Macht
manchmal nicht so weit reichte, wie sie es sich wünschte. Sie war wie ein Katalysator,
der in Notsituationen eingesetzt wurde, aber sie konnte nicht bestimmen, wo
und wann sie eingriff, sondern sie wurde gerufen von höheren Mächten,
die ihr mit einem unverständlichen Flüstern in ihrem Kopf kundtaten, wann es
an der Zeit war, eine Aufgabe zu erfüllen.
Es war selten genug, dass sie so viel wusste über die Ereignisse, wie über die, die hier und jetzt stattfanden, doch diesmal war es notwendig, und schon lange trug sie die Bürde mit sich, die Last zu wissen, dass hier der Tod auf sie wartete.
---
Die Kommandokonferenz uferte in eine lautstarke Debatte aus, alle sprachen durcheinander, und einem Beobachter wäre aufgefallen, dass in dem Besprechungsraum eigentlich keiner dem anderen zuhörte. Maya trat ein und wurde im ersten Moment nicht einmal wahrgenomment, bis der Commander sie sah und für Ruhe sorgte.
"Nun, Maya, was gibt es zu berichten?" Sie eilte an den Konferenztisch und nahm mit wenig beredter Miene Platz. Dann seufzte sie und hob eine Hand.
"Ich habe nichts wirklich Aussagekräftiges gefühlt",
sagte sie mit Bedauern. John hatte sie zur Begleitung der Fremden in deren Quartier
mitgeschickt - mit dem Auftrag, ihre empathischen Fähigkeiten einzusetzen und
damit vielleicht mehr über die Motive der Frau herauszufinden. Er selbst war
Leïda gegenüber nicht abgeneigt, doch wollte er eine objektivere
Meinung hören, auch wenn ihm klar war, dass es bisher nicht viel an Information
gab, was als Grundlage für eine rationelle Entscheidungshilfe dienen konnte. Sie
hatte in Rätseln gesprochen, die die Kommandobesprechung in ein wahres Chaos
verwandelt hatte.
Er wusste, dass er die Frau kannte, wenn auch nicht woher, und
er hatte gehofft, dass Maya ihnen mit ihrem psychonischen Einfühlungsvermögen und
ihrem emotionellen Radar bei der Entscheidungsfindung weiterhelfen konnte.
"Commander, alles, was ich fühlen konnte, war eine Art... Wohlwollen uns
gegenüber. Aber ich bin mir ihrer nicht sicher, denn ich glaube, dass sie viele
Fähigkeiten hat, die wir uns kaum erträumen können. Es kann also auch genauso
gut eine Vorspielung gewesen sein, ein Irreführen, damit wir uns in Sicherheit
wiegen."
"Du meinst, sie macht uns vor, uns helfen zu wollen?", goss Tony Wasser auf seine eigenen Mühlen. Ihm war Leïda alles andere als geheuer, und er vermutete, dass die schwarzen Feinde einen Spion in ihrer Gestalt geschickt hatten, der sie aus einem Grund, den er nicht kannte, arglos und gefügig machen wollte.
"Aber was wollen sie dann von uns?", wollte John nachdenklich wissen. "Ich sehe darin keinen Sinn. Wenn sie eine Gesandte dieser feindlichen Raumschiffe ist, was will sie dann von uns? Alle anderen Feinde wurden einfach über den Haufen geschossen, das hat sie nicht gekümmert, und uns passiert nichts, obwohl sie uns mit wesentlich geringerem Aufwand als die anderen vernichten können? Sie warten da draußen, kein Schuss fällt. Wenn sie die Frau zu uns geschickt haben, muss es für sie auch wichtig sein. Aber was gibt es auf Alpha Wichtiges?"
"Vielleicht brauchen sie irgendeine Information, die wir zufällig auf unserer Reise gesammelt haben?", schlug Sandra vor und dachte an die Kontakte mit Außerirdischen, die sie schon gehabt hatten und an die vielen Daten, die sich in den Speicherbänken befanden. John dachte nach.
"Vielleicht. Aber was hindert sie, sich die Information einfach zu holen? Andere sind auch nicht zimperlich mit uns umgegangen, und diese Drachen machen mir nicht den Anschein, als hätten sie die Angewohnheit, lange herumzufackeln."
"Und was ist, wenn es stimmt, was sie sagt?", schaltete sich Alan ein. Er hatte ein Faible für die Fremde entwickelt, und das schon wenige Augenblicke nach ihrem Auftauchen, ohne sagen zu können, was sich dahinter verbarg. Sie schien ihm vertrauenswürdig. Und immerhin sollte man nicht vergessen, dass sich der Mond noch auf seiner Reise befand - ganz im Gegenteil zu vielen anderen Raumschiffen, gegen die die Drachen gekämpft hatten. Also konnte sie Alpha vielleicht wirklich beschützen.
"Und was ist, wenn in Wirklichkeit diese anderen Schiffe die 'Bösen' sind?", brachte Maya noch eine weitere Möglichkeit vor.
"Das meinst du nicht im Ernst!", rief Tony aus. "Die Drachen töten ohne Rücksicht und ohne Gnade! Ich kann daran nichts Gutes erkennen." Maya warf ihm einen verständnislosen Blick zu.
"Aber wir kennen ja die Umstände nicht, die zu dem Krieg geführt haben. Und du solltest auch nicht vergessen, dass nicht alle Völker des Universums dieselben Vorstellungen von Recht und Unrecht wie wir haben!"
"Also wie verhalten wir uns?", fragte John. Er wusste, was er tun wollte, doch war ihm die Meinung seines Stabs wichtig. Er blickte in die Runde.
"Wir leben noch", sagte Sandra, und Alan pflichtete ihr lebhaft bei.
"Maya?" Sie atmete tief durch.
"Wir leben noch."
"Helena?" Sie nickte wortlos.
"Ja, ja, ihr habt ja Recht", sagte Tony kapitulierend. "Auf jeden Fall aber darf sie sich nicht frei auf der Basis bewegen! Und ich will, dass sie uns mehr über diese schwarzen Trapezraumschiffe erzählt. - Ich meine, was heißt "dunkle Macht" und "Magie"? Ich brauche da doch etwas Greifbareres und Glaubwürdigeres als diese Schwafelei. - Und außerdem verlange ich, dass hier der Ausnahmezustand weiterhin bestehen bleibt. Alle Schutzschilde bleiben hochgefahren, die Mannschaft in den Bunkern und die Adler auf Abwehrposition. Die Alarmbereitschaft darf nicht nachlassen." John nickte dazu.
"Nichts anderes hätte ich angeordnet, Tony", meinte
er, "und wir werden uns auch eingehender mit Leïda befassen. Das kann ich
dir garantieren. Ich bin mir sicher, dass sie uns noch wesentlich mehr zu erzählen
hat!" Dann löste er die Versammlung auf, nicht, ohne den Chef des Sicherheitsdienstes mit
ein paar weiteren Anweisungen aufzuhalten, während die übrigen Mitglieder des
Kommandostabs den Raum verließen.
Als auch Tony hinausgegangen war, nahm
er erleichtert zur Kenntnis, dass die Chefärztin nach wie vor am Konferenztisch
saß und ihn nachdenklich musterte. Er setzte sich zu ihr und seufzte.
"Die Sache ist", meinte er, "ich glaube ihr, dass sie uns vor dem Angriff der Drachen beschützen kann. Aber ich glaube es ihr, weil ich ihr vertrauen möchte. Und das basiert allein auf dem wenig einleuchtenden Grund, dass ich das vage Gefühl habe, sie schon zu kennen." Er blickte ihr ins Gesicht und bemerkte, wie Besorgnis, die sie nur schlecht verbergen konnte, über ihre Miene huschte. "Helena, du weißt mehr, nicht wahr?" Sie schüttelte bekümmert den Kopf.
"Nein", erwiderte sie, "nein. Ich weiß nichts, nur, dass ich sie auch kenne, aus einem Traum. " Er horchte auf, und sie nickte. "Es war ein sehr dunkler, furchterregender Traum, durch Mark und Bein gehend, selbst jetzt, da ich nur daran denke, rieseln mir kalte Schauer über den Rücken. Ich kann die Situation nicht mehr wiedergeben, ich weiß nur, dass da der Tod auf uns wartete. Er war sehr kalt und grausam. Lähmend. Und er verschluckte uns."
"War sie der Tod?", wollte John verblüfft wissen. Helena dachte nach.
"Nein", gab sie zur Antwort. "Sie war es nicht. Sie war da - aber sie war nicht der Tod." John beugte sich zu ihr, und der Blick seiner hellblauen Augen schien sie zu durchbohren.
"Angenommen", sagte er, "nur mal angenommen, mit dieser Magie hat es etwas auf sich, müssen wir dann damit rechnen, dass dein Traum vielleicht eine Art Warnung ist?" Jetzt war es an Helena zu seufzen.
"John, ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht. Wie du habe ich nicht das Gefühl, dass sie uns Böses will. Ich denke, sie möchte uns tatsächlich helfen, aber wie auch Tony glaube ich nicht an Hokuspokus und Zauberei. Ich brauche Handfestes, Beweise, Nachvollziehbares. Sie hat kein Schiff, keine Waffen, keine Technik oder wenigstens Verbündete, die sie vorweisen kann. Wie will sie uns dann schützen?"
"Stimmt. Und trotzdem schießen die feindlichen Raumschiffe nicht."
"Eben. Warum schießen sie nicht?" Er nahm ihre kalte Hand.
"Lass es uns herausfinden", meinte er.
8
Gaiden schüttelte einige wenige Schneeflocken von seiner
warmen Winterjacke. Er konnte es noch immer nicht glauben, dass sie es über
das Mittellandgebirge geschafft hatten, ohne von wilden Winterstürmen überrascht
zu werden. Die Wetterscheide befand sich am Falkenpass, und westlich davon waren
ihnen Sonnenschein und laue Winde hold gewesen. Und was noch wichtiger war:
Die schwarzen Drachen hatten sich kein weiteres Mal gezeigt.
Jetzt waren
sie auf dem direkten Weg nach Atlan, und Gaiden freute sich auf die Stadt, die
eine kurze Möglichkeit zur Erholung von den Reisestrapazen versprach, was besonders
für Jhess wichtig war, denn auch, wenn sie darüber kein Wort verlor, so merkte
er, dass es ihr nun nicht immer leicht fiel, dem Tempo der anderen zu folgen.
Atlan
war Kierons Heimatstadt, und hier hatte er auch einen Großteil seines Besitzes,
ein hübsches Anwesen, wie Jodan versichert hatte, innerhalb der Stadtmauern
und also geschützt vor den immer wiederkehrenden Angriffen der Rebellen rund
um ihren wilden Führer Erdan.
In Atlan war eine mehrtägige Rast geplant,
während der Kieron seine anstehenden Geschäfte regeln wollte, ehe die Reise
zum Magier Felisar weitergehen sollte.
Schon tauchten die Zinnen der Burg Hoch-Atlan auf, die inmitten
der Stadt auf einem Hügel stand, selbst aus der Entfernung ein wahres Juwel
der Baukunst, mit weißem, filigranem Zierrat, von dem man sagte, dass ein Zauber
darauf lag, denn diese Grenze hatte noch kein Feind überwunden, wiewohl
die Stadt selbst schon öfters Plünderern zum Opfer gefallen war. Kein Makel
war an dem gleißenden Mauerwerk zu erkennen, keine Ausbesserungsarbeiten waren
vonnöten, und kein Stäubchen wagte es je, das reine Weiß zu beschmutzen.
Die
Stadt selbst war rund um die Burg entstanden, in der Hoffnung, auch an deren
Uneinnehmbarkeit und Sicherheit teilzuhaben, was insofern auch schon zweimal
geschehen war, als vor vielen Dekaden die Fürstin Amelinde anlässlich der viel
besungenen Kriege der Großen Vier alle Bewohner hinter ihren
Mauern zum Schutz aufgenommen hatte.
Atlan war mittlerweile zu einer Großstadt
geworden, die fast 50.000 Menschen beherbergte, und längst wäre es unmöglich,
allen in der Burg Zuflucht zu gewähren, aber die Schutzmaßnahmen waren verbessert
worden, und eine viele Meter dicke Schutzmauer spannte sich um den Leib der
Stadt, 50 gut bewachte Türme erhoben sich aus dem grauen Mauerwerk und ein 30
Meter breiter, tiefer Wassergraben grenzte die Siedlung vom Umland ab und
verwandelte sie in eine schwer besiegbare Beute.
Die Stadt war das größte
westliche Handelszentrum, viele Kaufleute hatten sich hier niedergelassen, und
wer im Lande etwas galt, hatte zumindest Verbindungen nach Atlan, wenn nicht
selbst eine Niederlassung in dem entsprechenden Viertel.
Die Stimmung innerhalb der Reisegruppe war deutlich gelöst,
seit die ersten Spitzen des Meldeturms von Hoch-Atlan zu sehen waren, und
plötzliche Eile trieb die Männer an. Selbst Spot sprang übermütig kläffend durch
die Gegend und ließ sich nur einmal in einer kurzen Pause dazu herab, sich von
Jhess eine Streicheleinheit zu holen.
Von allen Seiten strömten nun Menschen
herbei, waren mit beladenen Fuhrwerken und Tragetieren unterwegs, und schon
außerhalb der Stadtmauern hatten Kleinhändler ihre Karren aufgebaut und boten
ihre Waren feil.
Kieron führte seine Gruppe mitten durch das Getümmel, nicht,
ohne immer wieder stehen zu bleiben und Bekannte zu begrüßen, mit denen er ein
paar Worte wechselte. Am Stadttor musste er dennoch seine Zutrittsberechtigung
als Einwohner der Stadt in Form einer mit den Siegeln der Stadtväter versehenen
Pergamentrolle vorweisen. Ohne sie hätte er eine nicht unbeträchtliche Einfuhrgebühr
bezahlen müssen, was wiederum die vielen Händler vor der Stadt erklärte, die
mit einem wesentlich geringeren Beitrag davonkamen.
Die Gassen von Atlan
waren eng aber vollständig bepflastert und rein gehalten. Links und rechts türmten
sich die Häuser mehrstöckig auf und neigten sich einander zu. Mit kleinen Mauerbrückchen
stützten sie sich an ihrem Gegenüber ab, und zahllose behängte Wäscheleinen waren zwischen
den Hausfronten gespannt. Viel Licht drang nicht bis zum Boden hinunter, was
aber die Einwohner nicht daran hinderte, ihre Werkstätten und Kaufläden, soweit
als möglich, im Freien zu unterhalten.
Zuerst betraten sie das Viertel
der Schmiede, wo es nach brennendem Metall roch und der Lärm schier unerträglich
war. Der Hund tollte durch die Gasse, nahm es mit jedem Funkenregen auf und
wollte sich in seinem Übermut nicht beruhigen lassen, bis er sich die Nase ein
wenig an einem noch heißen Schwert versengte. Mit lautem Jaulen flitzte er zu
Jodan, von dem er offensichtlich erwartete, dass er dem boshaften Feind den
Garaus machte, doch der lachte nur und tauchte Spots Schnauze in eine Wasserlache
in der Gosse. Von da an trottete er kleinlaut an der Seite seines Herrn durch
das Menschengewirr.
Bei den Bäckern und Kräuterern duftete es verführerisch,
während die Schneider sich vor Aufträgen kaum zu retten wussten, denn die Gasse war nur
kurz, und die wenigen Kleidermacher standen der Fülle von potenziellen Kunden
hilflos gegenüber. In der Mitte der Stadt befand sich der Marktplatz, und auch hier
war dichtes Gedränge. Tuchhändler wechselten sich mit Kerzendrehern, Kesselflickern
und Kammmachern ab, Schmucksteinverkäufer, Kleintierhändler, Fleischermeister,
Käser, Werkzeugmacher, Obst- und Gemüsehändler waren im kunterbunten Durcheinander
über die Fläche des Platzes verteilt und priesen mit lautem Marktgeschrei ihre
Waren an.
Kieron leitete seine Leute unbeirrt durch die Menge burgwärts zu,
wobei es immer wieder Schwierigkeiten damit gab, die großen Wagen durch die
engen Straßen zu führen, ohne dabei Stände mit Planen, hängenden Töpfen und
baumelnden Gewürzbüscheln umzureißen. Auch musste sorgfältig Obacht gegeben
werden, denn Diebsgesindel trieb sich herum, und nicht nur einmal mussten unverschämte
Spitzbuben davon abgehalten werden, sich frech an Kierons Habe zu bedienen.
Und
was noch dazu kam: Hier wie auch überall sonst fielen Gaiden und Jhess auf.
Zwischen all den fast olivfarbenen Menschen mit ihrem schwarzen Haar und dem
dunklen Blick stach namentlich Jhess heraus, die auch noch ständig erfolglos
versuchte, eine vorwitzige helle Haarsträhne, die sich von den Fesseln ihrer
strengen Kopfbedeckung befreit hatte und ihr leuchtend übers Gesicht fiel, wieder
ordnungsgemäß unsichtbar zu machen. Besonders zwei junge Burschen mit verdorbenem
Charakter verfolgten sie mit rohen Worten und versuchten, der Strähne mit einem
Taschenmesser habhaft zu werden. Spot jedoch warf sich, noch ehe Gaiden einschreiten
konnte, mit drohendem Knurren vor Jhess, bis die Kerle das Interesse verloren
und in der Menge zurückfielen.
Der Spießrutenlauf hatte ein Ende, nachdem die leise, nur nach angenehmer Druckerfarbe riechende Gasse der Buchhändler durchschritten war, und zwei Ecken weiter, schon in der Steigung des Hügels zur Burg, fand sich Kierons Anwesen, das durch ein unscheinbares, aber bewachtes Tor in der Häuserzeile betreten werden konnte. Sie gelangten in einen erstaunlich großen Hof, der ebenfalls mit Kopfsteinpflaster ausgelegt war, und in dem mehrere andere Karren, Kutschen und Wagen geparkt waren. Für die Pferde und anderen Lasttiere gab es zur linken Hand einen Stall, von wo sogleich mehrere Stallburschen hervoreilten, sobald sie den Lärm der Ankommenden hörten. Kierons sehr repräsentatives Wohnhaus war nach hinten geradeaus über eine von zwei Seiten betretbare Prunktreppe erreichbar, und auf der rechten Seite des Hofs befand sich das Gesindehaus, dem alle Reisegefährten sogleich zugewiesen wurden.
Ehe Kieron in seinen Mauern verschwand, hielt er noch eine kurze Besprechung über das weitere Vorgehen ab. Von Jodan verlangte er, ihn zusammen mit den Zwillingen zu einer nachmittäglichen Verhandlung mit dem Kastellan der Burg Hoch-Atlan über den Ankauf einer merellianischen Taubenzucht zu begleiten, Rongdon forderte er auf, für sein leibliches Wohl frischen Heilbutt aufzutreiben und Jhess und Gaiden trug er auf, beim Gewürzhändler Elian zwei vorbestellte Butten mit Safranfäden erlesenster Qualität sowie Zimtrinden und Vanilleschoten abzuholen. Er gab ihnen einen enormen Geldbetrag in einem ungewöhnlichen Lederbeutel mit geätzten Mustern in Form kleiner Feen, den Gaiden sofort und mit unglücklicher Miene unter seinem Hemd verschwinden ließ. Jodan erklärte ihnen den Weg und gab ihnen Spot mit.
"Er weiß, wo es langgeht", beruhigte er die beiden, "und er findet auch wieder hierher. Seid also unbesorgt."
"Ich habe noch nie so viel Geld gesehen", raunte Jhess ihrem Mann verblüfft zu, während es ihr endlich gelang, die lästige Haarsträhne unter den bunten Stoffbahnen ihrer Kopfbedeckung zu verstauen, "wieso vertraut er es uns an? Wir könnten uns ja damit auf und davon machen!" Gaiden warf ihr einen nachdenklichen Blick zu.
"Glaubst du das?", wollte er wissen. Sie legte den Kopf schief und lächelte dann.
"Nicht wirklich", gab sie zur Antwort. "Wahrscheinlich schnappen uns seine Leute schon in der ersten Straße, die nicht auf dem Weg zu dem Händler liegt!" Er musste auch lachen und nickte.
"Ja, das befürchte ich auch!" So machten sie sich also, kaum angekommen, wieder auf den Weg und stürzten sich ins lebensfrohe Getümmel der Stadt.
Jodans Beschreibung taugte etwas, und es war nicht schwierig, die Gasse zu finden, in der Elian seinen Geschäften nachging. Es war ihnen gelungen, weitgehend unbehelligt den Marktplatz zu durchqueren, nicht, ohne auf eine Fülle von weiteren Ständen mit den exotischsten Waren zu treffen, und eben entdeckten sie erfreut das Schild des Gewürzhändlers, als hinter ihnen schnelle Schritte mehrerer Personen über die Pflastersteine klapperten. Gaiden drehte sich um, bereit, notfalls aus dem Weg zu treten und auch Jhess mit sich zu ziehen, als die Männer schon bei ihnen waren, sich auf sie stürzten und sie zu Fall brachten. Jhess stöhnte auf, und all seine Sorge galt ihr, er merkte kaum, wie man ihn in rasantem Tempo packte, ihm einen Leinensack über den Kopf stülpte und ihn fesselte. Plötzlich fühlte er sich hochgehoben und auf einen hölzernen Karren geworfen, der unter lautem Hufgeklapper des Pferdegespanns herbeigedonnert kam.
"Jhess, was ist mit dir, bitte, Jhess, sprich mit mir!"
"Mir geht es gut, Gaiden, alles in Ordnung", hörte er sie, während er in einer offensichtlich etwas zu schnittig genommenen Kurve durch das Schlingern des Wagens in ihre Richtung geschleudert wurde und schließlich ihre angewinkelten Knie in seinem Bauch spürte. "Ich habe mir beim Sturz nur die linke Hüfte scheußlich geprellt. Ich glaube nicht, dass sonst etwas passiert ist." Gaiden atmete erleichtert auf. Es war ihm ein Rätsel, was nun wieder vor sich ging, doch seine erste Vermutung bestand darin, dass jemand an das Geld wollte, das Kieron ihnen gegeben hatte. Jemand musste gesehen haben, wie es ihnen anvertraut worden war, und schnell seine Spießgesellen herbeigerufen haben.
Die Geschwindigkeit des Wagens mäßigte sich, nachdem es anscheinend
keine Verfolger gab und sich damit die Gefahr, erwischt zu werden, auch dramatisch
verringerte. Der Karren fuhr durch zunehmend ruhigere Straßen, bis er in einer
Gegend stehen blieb, in der es erbärmlich stank. Gaiden hatte nie zuvor derartig
grauenhafte Gerüche erlebt, und doch konnte er sich ungefähr vorstellen, wo
sie sich befanden, im Viertel der Gerber nämlich, die das Leder herstellten.
In der Nähe gab es auch einen Bach, leises Rauschen war zu hören, als sie anhielten
und die beiden Gefangenen abgeladen wurden.
Man stieß sie vorwärts, und sie
stolperten in die vorgegebene Richtung, bis sie durch eine niedrige Tür, an
deren Türstock sich sogar Jhess den Kopf anschlug, in einen Raum kamen.
Dort nahm man ihnen die Säcke ab, und mit etwas trübem Blick sahen sie sich
um. Zu ihrem Erstaunen erkannten sie zwei ihrer Entführer als die Burschen wieder,
die ihnen schon bei der Einfahrt in die Stadt so derb nachgestellt hatten. Beide
grinsten sie frech und mit desolatem Gebiss an. Gaiden bekam zudem, als er nur
begann, sich zu räuspern, zusammen mit der wenig freundlichen Aufforderung,
"das Maul" zu halten, eine Ohrfeige von einem der beiden, die ein
vernehmliches Glockenläuten in seinem Kopf auslöste. In Anbetracht dessen schwieg Jhess
wohlweislich, auch wenn ihr ziemlich viel eingefallen wäre, das sie den Kerlen
gerne an den Kopf geworfen hätte.
Der Raum, in dem sie sich befanden, war einfach, mit hölzernen Wänden und Boden, ein Vorraum wahrscheinlich, denn an der Wand hingen an Haken mehrere Übermäntel, Hüte und Hauben, und am Boden standen in einer sauberen Reihe blank gewienerte Winterstiefel. Eine Sitzgelegenheit existierte hier nicht, wie Jhess durch vorsichtiges Umherspähen leidvoll feststellen musste. Ihr war schwindlig, und sie hatte das Gefühl, dass ihr jemand den Boden unter den Füßen wegzog. Doch ehe sie Zeit hatte, eine Ohnmacht in Erwägung zu ziehen, merkte sie, wie von hinten an ihrer Kopfbedeckung gezerrt wurde, wie sich der Stoff löste und er schließlich in seinen Bahnen erdwärts schwebte. Ihr Haar fiel ihr wie ein Schleier vors Gesicht, und jemand fuhr mit den Händen hindurch, nahm es auf und strich darüber.
"Was für eine wunderschöne Farbe", hörte sie eine tiefe Stimme, "es ist ein Vermögen wert." Ein kräftiger großer Mann mit schwarzem Vollbart und harter Miene trat in ihr Gesichtfeld und schob den Schleier ihres Haares beiseite, um in ihr Gesicht zu blicken. "Aber längst nicht so viel wie ein ganzer Fernländer." Er schaute ihr in die Augen, während sie vom Sonnenlicht, das von außen durch das kleine Fenster fiel, geblendet wurde. Sein Blick auf Gaidens abweisendes Gesicht fiel ebenso intensiv aus.
"Ich habe noch nie in die Augen von Fernländern geblickt", sagte er fasziniert. "Es heißt, dass eure Blicke töten können, aber wenn das der Fall wäre, dann hättet ihr mir beide bestimmt jetzt ein Ende bereitet, nicht wahr!" Er lachte wild. "Und so gebt ihr mir die Gelegenheit, mich wunderbar an euch zu bereichern. Mir fallen auf Anhieb mindestens fünf überaus reiche Menschen ein, die mehr für jeden von euch bezahlen würden, als die meisten Schatzkammern beinhalten. Mächtige sind das, Fürsten und Könige. Ihr seid zu nützlich, um frei herumzulaufen!" Er wandte sich an seine vier Handlanger. "Was hatten sie bei sich?"
"Nicht viel", erwiderte einer von ihnen, zog aus einer Tasche den Lederbeutel mit Kierons Geld hervor und übergab ihn an sein Gegenüber. Gaiden hatte gar nicht bemerkt, dass er ihm abgenommen worden war. Seine verblüffte Miene sprach offensichtlich Bände, denn die Anwesenden mit Ausnahme von Jhess brachen in lautstarkes Gelächter aus.
"Du weißt wohl nicht, wo du bist, du dummer Kerl?", feixte einer von ihnen, "Du bist hier bei Ronam, dem König der Diebe und seinen nicht minder begabten Gefolgsleuten! Wir könnten dir die Haare vom Kopf stehlen, ohne dass du es merkst!"
"Ja, nur dein Haar interessiert keinen", fügte ein anderer, immer noch lachend, hinzu. "Das deiner Gefährtin ist eine andere Sache. Wir werden sie kahl scheren!" Jhess schnaubte ungnädig.
"Das traue ich einer ehrlosen Bande, wie ihr es seid, auch zu!"
"Ehrlos?", brauste der andere auf, "Ich werde dich lehren, uns ehrlos zu nennen!" Er holte zu einem Schlag aus, wurde jedoch von Ronam eingebremst.
"Hör auf", sagte er belustigt, "sie dürfen nicht zu Schaden kommen. Werft sie in den Kerker. Ich werde sofort Gesandte an die Männer schicken, von denen ich weiß, dass sie interessiert sein werden." Über eine Seitentüre wurden Jhess und Gaiden wieder nach draußen gelotst und dann durch mehrere verwirrende, enge Gassen geschleust, bis sie durch eine kleine bewachte Tür in ein steinernes Gebäude gedrängt und dort in eine Zelle gesperrt wurden.
Darin war es kalt und schmutzig. Das einzige Lager bestand aus einem Haufen verdorbenen, schimmligen Strohs, auf das Feuchtigkeit von der Decke tropfte. Durch ein winziges vergittertes Fensterchen kam zwar kaum Licht herein, doch reichte es für eine kalte Brise, die sich in jedem Winkel des Raumes breit machte. Jhess blieb wie angewurzelt stehen. Sie hasste Schmutz.
"Hier werden wir uns den Tod holen!", schimpfte sie, "Wer weiß, wie lange es dauert, bis dieser Ronam ausreichend mit seinen Kunden verhandelt hat, um uns zu verscherbeln!"
"Halts Maul, Weib!", war die Antwort des Wächters, der grinsend durch eine kleine vergitterte Luke in der Tür blickte.
"Ich möchte mal sehen, wie viel er für uns bekommt, wenn uns die Haare ausgehen, die Zähne ausfallen und wir an der Schwindsucht leiden, nur, weil ihr hier nicht ordentlich für uns sorgt!", fuhr sie unbeirrt fort, indem sie sich vor ihm aufgepflanzt hatte und beide Hände in die Hüften stemmte. Ihre Worte schienen ihm zu denken zu geben, denn sie sah in der Finsternis ein Auge verunsichert blinzeln und eine Hand fuhr mit kratzigem Geräusch über den üppigen, verwahrlosten Bart. Ein Bund Schlüssel schepperte, und dann hörten sie, wie das Schloss zur Zelle mit lautem Knirschen wieder aufgesperrt wurde.
"Nun gut", sagte der Wächter brummend, "ich habe noch eine zweite Zelle. Aber wenn ihr Dummheiten macht, dann seid ihr tot." Er schnappte sich Jhess und hielt ihr von hinten ein großes Messer an die Kehle. Mit dem Kopf deutete er Gaiden voranzugehen und geleitete die beiden über den dunklen Gang in eine gegenüberliegende Räumlichkeit, ebenfalls eine Zelle, die jedoch deutlich angenehmer war. Hier war es etwas heller, trockener, und das Stroh schien ebenfalls frischer.
"Na ja, nicht gerade fürstlich", erdreistete sich Jhess zu sagen, obgleich sie noch immer die scharfe Klinge an ihrem Hals spürte. Gleich darauf zuckte sie zusammen. Mit einem raschen Streich war ihr ein Schnitt zugefügt worden, der brennenden Schmerz auslöste.
"Das wird dich lehren, dein dummes Maul aufzureißen!",
hörte sie, während der Wächter sie von sich und in Gaidens Arme stieß. Es tat
ihm sichtlich leid, ihrer Forderung nachgegeben zu haben. Die Tür fiel
hinter ihm ins Schloss, und gleich darauf wurde der Schlüssel mehrfach umgedreht.
Gaiden
besah sich die Wunde an Jhess' Hals, die zwar ordentlich blutete aber nur oberflächlich
war. Mit einem Taschentuch stillten sie die Blutung.
"So habe ich mir meinen Aufenthalt in Atlan nicht vorgestellt", ließ Gaiden schließlich mit einem großen Aufseufzen hören und nahm auf dem Strohlager Platz.
9
Alan saß mit einer Tasse Tee in dem ihm zugewiesenen Bunker, den er sich mit Tony, Maya und Sandra teilte. Tee war nicht gerade sein Lieblingsgetränk, wenn er auch schon die dritte Tasse intus hatte, was darauf zurückzuführen war, dass Sandra von einem unüberwindbaren Einschenk-Zwang besessen war, der sie dazu brachte, jede auch nur halbvolle Schale sofort wieder zu füllen. Alan hätte jetzt einer ordentlichen Kanne Brandy deutlich den Vorzug gegeben, doch es nutzte nichts, dem nicht Vorhandenen nachzuweinen. Er war schon müde, und doch wusste er, dass er nicht schlafen konnte, wie auch die übrigen Anwesenden, die, wie er, eine Ruhepause verdient hatten. Das zweite Team saß in der Kommandozentrale und versuchte, sich der Illusion hinzugeben, dass sie alles dafür taten, die Basis sicher zu machen.
Alan wusste, dass er in vier Stunden hinaus musste, mit dem Adler in die Abwehrposition, die nicht mehr besagte als das jämmerlich-mutige Statement: Wir sind hier! Kriegt uns, wenn ihr könnt!
Sie konnten ja. Jederzeit.
Er hatte die Berichte der ersten Truppe gehört, die nach
nur drei Stunden Wache um Ablöse gefleht hatte.
Es half etwas, die Sichtblenden
zu schließen, den Feinden nicht von Angesicht zu Angesicht zu begegnen, sondern
sich allein auf die Instrumente zu verlassen, aber trotzdem war es an der Verteidigungslinie,
als stünde man am Abgrund zu einem seelenlosen Nichts. Man spürte keine
Angst aber eine Qual ohne Furcht, was seltsamerweise noch viel schlimmer war,
weil diese Qual das gesamte Sein einnahm, das Bewusstsein vollständig erfüllte,
und es war, als würde einem Stückchen für Stückchen das Leben aus der Brust
gerissen, als verschwände es unwiederbringlich in den glanzlosen, reflexionslosen
Leibern der Feinde, integrierte sich in dessen kalter Schwärze.
Die Männer
waren den Adlern bleich wie Gespenster und mit schlotternden Knien entstiegen,
und Alan war stolz auf sie, weil keiner von ihnen auf eigene Faust seinen
Posten verlassen hatte. Er hatte befohlen, einen größeren Abstand zu den Feinden
einzuhalten, was John wegen einer ungünstigeren Abwehrmöglichkeit nicht wirklich
gutgeheißen, aber in Anbetracht der Belastung für die Piloten doch akzeptiert
hatte.
"Maya, was machen diese Drachen mit dir", fragte Alan die Außerirdische und dachte daran, dass sie empfänglich war für Emotionen, die von außen kamen. Sie aber schüttelte den Kopf.
"Als sie weit weg waren, habe ich sie nicht gespürt, aber jetzt fühle ich, weiß ich, dass sie schrecklich sind. Ich hatte bisher noch nicht den Mut, sie zuzulassen", sagte sie. "Ich habe mich gegen sie abgeschottet, weißt du. Nur, wenn der Commander es von mir verlangt, würde ich mich für sie öffnen."
"Wie gut, dass du die Drachen blockieren kannst", meinte Sandra, die, immer noch mit ihrer Teekanne bewaffnet, nach einer leeren Tasse Ausschau hielt.
"Ich glaube, es funktioniert auch nur hier auf Alpha - ich meine, solange wir weit genug von ihnen weg sind. Oder vielleicht ist es auch Leïdas Schutz zu verdanken, sofern ihre Geschichte stimmt."
"Glaubt ihr denn, dass sie tatsächlich dazu in der Lage ist, uns zu beschützen?", wollte Tony wissen. Er nahm mechanisch einen Schluck und stellte die Tasse dann außerhalb Sandras Reichweite ab.
"Ich denke nicht, dass es einen Unterschied macht, was ich glaube", gab ihm Maya zur Antwort. "Ich persönlich bin der Meinung, dass wir inmitten einer Situation sind, die wir ohnedies nicht entscheiden können. Es ist wie ein schicksalhafter Ablauf, den wir auch nicht beeinflussen können, und wir sind Statisten, die ihre Rolle spielen, und egal, was wir tun, es wird am Ende nichts bewirkt haben."
"Aber Maya!", empörte sich Tony, "Ich glaube, dass wir unser Schicksal sehr wohl in die Hand nehmen können. Sollten wir wirklich nur ein Spielball irgendwelcher Mächte sein, die unseren Lebensweg lenken? Was für einen Sinn hätte dann alles?" Maya musste lachen.
"Aber nein", erwiderte sie, "hier und jetzt sind wir abhängig von anderen, die ihren Weg beschreiten und ihr Schicksal erfüllen müssen. Es hat aber schon genug Situationen gegeben, die bewiesen haben, dass auch wir manchmal die Fäden unserer Zukunft in den Händen halten."
"Und du meinst also, wir sollten einfach nichts unternehmen und abwarten." Sie lächelte.
"Ich weiß, dass uns das schwerfällt. Aber wenn wir etwas tun können, werden wir die Möglichkeit sehen und sie auch ergreifen. Aber bis dahin müssen wir uns gedulden." Sie deutete in die Kargheit des Notquartiers. Außer Klappbetten und wenigen Kästen für die wichtigsten Habseligkeiten gab es keine Einrichtung. Es herrschte eine klinische Leere im kalten Licht der Neonlampen. "Unser Aufenthalt hier unten ist von keinem Nutzen."
"Du bist also der Meinung, dass der Commander falsch handelt?", wollte Sandra erschrocken wissen. Maya war seit ihrer Aufnahme auf der Basis, seit sie ihren sterbenden Heimatplaneten verlassen hatte, eine verlässliche Vertraute Commander Koenigs gewesen. Kritisch, ja, aber niemals subversiv, niemals oppositionell. Maya schüttelte den Kopf.
"Nein, Sandra. Der Commander tut, was er tun muss. Es ist allein für die Alphaner notwendig, Aktionen zu setzen, zu zeigen, dass die Gemeinschaft wichtig ist - dass das Leben wichtig ist. John Koenig weiß genauso gut wie wir, dass uns die Hände gebunden sind, sonst hätte er die fremde Leïda mit anderen Mitteln dazu gebracht zu reden."
"Ja", gab Tony zu, "es ist die Untätigkeit, die mich wahnsinnig macht. Hätte ich alle Hände voll zu tun, wäre mir leichter." Maya legte ihren Arm um seine Schulter.
"Ich weiß, wovon du sprichst. Mir geht es nicht anders. - Lasst uns versuchen, ein wenig zu schlafen."
---
John schrak aus einem tiefen, traumlosen Schlaf auf. Ein Schrei hatte ihn geweckt, und es dauerte etwas, bis er sich in der bläulichen Dunkelheit des Raumes wieder zurechtfand. Helena saß neben ihm aufrecht im Bett und starrte geradeaus, während ihre rechte Hand erfolglos nach dem Lichtschalter suchte.
"Helena, was ist passiert?"
"Oh, John, bitte Licht", flüsterte sie, "ich finde es nicht. Es ist nicht da! Hier stimmt etwas nicht!" Er griff an die Kopffront des Bettes und schaltete die Leselampe an. Eine schwache, gelbliche Helligkeit verdrängte die blaue Finsternis der Nachtbeleuchtung und ließ schattenhafte leere Wände in einer kleinen Kammer zum Vorschein kommen.
"Wir sind hier ja auch nicht in unserer Unterkunft", beruhigte er sie und griff nach ihrem Arm. Sie zuckte zurück. "Hier ist das Notquartier in den Katakomben." Es machte nicht den Anschein, als hätte sie begriffen, was er gesagt hatte, und sie wandte sich ihm in höchster Anspannung zu. In ihrem Gesicht stand nackte Furcht.
"Ich habe ihn gesehen!", rief sie und deutete ans Fußende des Bettes. Er bekam es mit der Angst zu tun und suchte das Halbdunkel mit den Augen ab.
"Wen hast du gesehen?" Sie griff sich an den Kopf, als wäre es eine besondere Anstrengung, sich zu erinnern.
"Ihn", stöhnte sie, "den Namenlosen. Er wollte uns mitnehmen." Es war ihm plötzlich, als erfröre er von innen nach außen. Er konnte nichts mit dieser Bezeichnung anfangen, und doch war ihm klar, dass er Recht daran tat, sich hilflos zu fürchten.
"Es war nur ein Traum", flüsterte er nach einem wachsamen Blick in alle Richtungen und zog sie in seine Arme, "nur ein Traum." Ihr erster Widerstand brach, und sie sank zurück, an seine Brust, wo er den leichten Tremor ihrer Muskeln und ihr heftiges Atmen spürte. "Es war nichts. Schlaf einfach weiter." Er wollte das Licht wieder löschen, doch sie hielt seine Hand fest.
"Lass das Licht brennen", bat sie ihn, "mir ist, als wäre ich schon tot."
10
Die Zelle war zwar besser als jene, in die man sie zuerst gesteckt hatte aber dennoch weit davon entfernt, angenehm zu sein. Es war trotz allem reichlich kalt, und es gab auch nichts, wo man seine Notdurft verrichten konnte. Jhess, deren Blase mittlerweile wegen Platzmangels schon sehr schnell aufbegehrte, hämmerte unter lautem Rufen verzweifelt mit den Fäusten an die Tür, um sich wenigstens ein Nachtgeschirr bringen zu lassen. Doch umsonst, der Wächter dachte nicht daran zu erscheinen, und Jhess' Not wurde immer größer, bis Gaiden sie in die vom Lager am weitesten entfernte Ecke schob, eine Handvoll Stroh hinwarf und ihr befahl, sich einfach auf den Boden zu erleichtern. Für sie war es eine undenkbare Schmach und Schande, und sie wehrte sich, auf- und ablaufend, dagegen, doch blieb ihr am Ende nichts anderes übrig, als sie auch noch bemerkte, dass sich ihr Ungeborenes gegen sie verbündete und sich in seinem Nestchen so bequem zurecht legte, dass sich der Druck auf ihre Blase vervielfachte. Schweigend fügte sie sich und trollte sich zurück in die Ecke.
Gleichzeitig war plötzlicher Lärm draußen im Gang zu vernehmen. Mit lautem Hallo kam eine Horde von betrunkenen Männern herein, offensichtlich, um dem Wachmann Gesellschaft zu leisten, denn sie hatten, ihrem nicht zu überhörenden Gerede nach, jede Menge Wein, Essbares und Würfel zum Spielen bei sich. Gaiden stellte sich zur Tür und versuchte, durch das kleine Fensterchen einen Blick auf die Gruppe zu erhaschen, doch lag von ihrer Zelle aus der Aufenthaltsraum der Wache in einem nicht einsehbaren Winkel. Draußen wurde es schon finster, und es versprach, eine unglaublich unbequeme Nacht zu werden. Es gab keine Decken, und offensichtlich war es auch nicht vorgesehen, dass sie etwas zu essen bekommen sollten. Der Lärm, der dagegen aus dem Wächterzimmer drang, nahm aufgrund der weinseligen Stimmung immer mehr zu, und verdächtig stinkende Wolken gerauchter Kräuter schwebten in die Zelle und verpesteten die Luft.
Jhess saß neben Gaiden auf dem Strohlager und hatte ihre Arme vor der Brust verschränkt. Im Zwielicht des Abends konnte er erkennen, dass sich zwischen ihren Augen eine steile Falte gebildet hatte.
"Ich weiß ja, eigentlich sollte ich jetzt richtig Angst haben und schlottern, weil ich nicht weiß, wie lange wir hier festsitzen und was dann weiter mit uns geschieht", offenbarte sie ihm flüsternd, "aber im Augenblick bin ich nur richtig sauer! Was fällt diesem Dieb eigentlich ein? Als hätten wir es nicht ohnehin schon schwer genug!" Gaiden lächelte. Er mochte das Kämpferische an ihr, ihren Wagemut und den Hang zur Selbstbestimmung. Er wusste, dass das Eigenschaften waren, die an Frauen hier nicht sehr geschätzt wurden, und mit wenigen Ausnahmen mussten sie sich ihren Rollen als Hausbesorgerinnen und Erzieherinnen fügen. Wieder fragte er sich, wie es denn im Fernland war, an das weder er noch seine Frau sich erinnern konnten.
Die Stunden zogen sich dahin, und mit dem Trubel im Wachzimmer war kein Ende in Aussicht, im Gegenteil, Nachschub traf ein, der noch
nicht betrunken war, und löste offensichtlich die erste Garde ab, die schon unter
den Bänken lag. Weder Gaiden noch Jhess machten ein Auge zu, und als der Lärmpegel
mitten in der Nacht weiter anstieg, rannte Gaiden bereits auf den wenigen Quadratmetern,
die ihm zur Verfügung standen, im Kreis herum.
Auf einmal erklang ein
lautes Aufschreien, Dinge flogen durch die Gegend, und es war ihnen, als hörten sie
das metallische Geräusch von aufeinander treffenden Klingen. Wieder eilte
Gaiden zur Tür, in der Hoffnung, doch etwas erblicken zu können, und hielt Jhess,
die auch nachsehen wollte, hinter sich verborgen. In der Tat waren es Kampfgeräusche,
ein mehrmaliges Aufstöhnen, ein dumpfes Poltern wie von Körpern, die zu Boden
gegangen waren, und mitten darin vermeinten sie, ein zorniges Knurren zu hören.
Gleich darauf näherten sich Schritte, in der Dunkelheit des Gangs war jedoch
nicht zu erkennen, um wen es sich handelte, und ein Schlüsselbund wurde geschwenkt.
"Gaiden, seid ihr hier?", vernahmen sie eine bekannte Stimme, mit der sie nicht gerechnet hatten. Es war einer der Zwillinge, entweder Valgun oder Voltan, das ließ sich auch bei Tage und guter Sicht oft nicht genau sagen, und Gaiden beeilte sich, sich zu melden.
"Hier sind wir! Wie kommt ihr hierher?" In fieberhafter Eile wurden die zahlreichen Schlüssel ausprobiert, bis endlich der richtige gefunden war.
"Spot hat euch aufgespürt", sagte er knapp. "Mein Bruder und Jodan sind auch hier, die sind mit der Truppe da draußen beschäftigt. Leider sind sie zwar besoffen aber in der Überzahl, deswegen wird es gut sein, die Keulen zu schwingen!" Das ließen sich die beiden nicht zweimal sagen, sie schlüpften durch die nun offene Gefängnistür und eilten hinter dem Zwilling her. Sie gelangten zum Aufenthaltsraum, wo der Kampf stattfand, und sahen, dass Jodan und der zweite Zwilling kaum in Bedrängnis waren. Sie kämpften zwar gegen etliche Männer, doch waren jene zu schwerfällig und umnebelt, um rechte Gegner zu sein.
"Kommt schon, ich habe die beiden gefunden", rief
der Zwilling in den Raum, woraufhin sich sofort mehrere der Diebe auf sie stürzten.
Sie rannten weg, hinaus ins Freie, und liefen dort einem weiteren Kerl,
der ebenfalls auf dem Weg zum Zechen war, in die Arme. Es war Ronams rechte
Hand, einer der Burschen vom Markt, und er war, im Gegensatz zu seinen Kumpanen
im Haus, bei gutem Auffassungsvermögen und noch besserer Reaktionsfähigkeit.
Im Dunklen war nur das Aufblitzen von glänzendem Metall zu sehen, ein Ausholen
seines Armes, und Jhess, die ihm am nächsten war, stand erstarrt und blickte
ihm wehrlos ins Gesicht, wie er den Arm niedersausen ließ, um ihr die Klinge
in den Leib zu stoßen.
Doch gleichzeitig huschte ein Schatten von der Seite herbei
und sprang schützend vor sie. Es war Jodan, der den Dolchhieb mit seinem Körper abfing und anschließend wortlos zu Boden
ging. Gaiden stürzte sich auf den Dieb und schlug ihn in wildem
Zorn in die Bewusslosigkeit.
Nun waren keine Gegner mehr vorhanden, die
letzten Wehrhaften hatten die Zwillinge erledigt, und sie halfen Gaiden, den
schwer verletzten Jodan auf die Ladefläche ihres Fuhrwerkes zu schaffen. Spot
kreiste unglücklich winselnd um seinen Herrn und leckte ihm das Gesicht ab.
Der Wagen setzte sich in Bewegung, die Pferde wurden angetrieben, und schlingernd
und rumpelnd flüchteten sie aus dem übel riechenden Viertel.
Jhess beugte sich über Jodan, der röchelnd am Rücken lag und von den Schlägen des Wagens am Pflaster geschüttelt wurde, während Blut aus seinem Mund trat und den Hund dazu brachte, in ein klägliches Jaulen und Jammern auszubrechen.
"Fahrt doch vorsichtig!", schrie Jhess und
schob leere Leinensäcke, die sich auf der Ladefläche des Wagens befanden, unter
den Kopf des Verletzten. Dann riss sie seine Jacke auf und sah auf dem aufgeschlitzten
Hemd einen großen Blutfleck in der linken Brustseite. Sie schob den Stoff beiseite,
und gurgelnd entwich der Wunde hellrotes Blut, das sie entsetzt anstarrte. Sie wusste
nur wenig vom Körper des Menschen, aber es war ihr auch so klar, dass es sich
hier um eine schlimme Verletzung handelte.
Jodan rang nach Luft, und Schweiß
trat auf seine schwarze Stirn, während er sie mit klarem Blick ansah.
Es
war ihr, als könnte sie sehen, wie ihm das Leben aus dem Leibe trat, und sie
wollte es festhalten und zwingen, bei ihnen zu bleiben. Plötzlich war ihr klar,
was zu tun war, und, neben ihm hockend, legte sie beide Hände mitten auf das
klaffende Loch in seiner Brust. Sofort spürte sie, wie ihre Energie ihr durch
die Fingerspitzen, durch die Handflächen floss und in seinen Körper sickerte.
Sie selbst sickerte in seinen Leib und in seinen Geist, und da sah sie sein
Wesen, den wahren Jodan, der stattlich war und jünger, wie ein Fels vor
ihr stand, und der sie anlächelte.
Und sie fortschickte.
Die Verbindung war abgebrochen, was sie verwirrte,
bis Panik sie überfiel, weil sie merkte, dass er drauf und dran war, diese Welt
zu verlassen. Aber sie wusste, dass es in ihrer Macht stand, ihn vor dem Tod
zu bewahren, und verbissen machte sie sich erneut daran, ihm zu helfen.
Seine rechte Hand nahm jedoch ihren Arm und zog ihn von sich weg. Irritiert versuchte
sie, sich zu befreien, doch sein Griff war fest genug, dass sie sich ihm nicht
entwinden konnte.
"Jodan, was tust du", rief sie verzweifelt, "du wirst sterben, wenn du mich nicht helfen lässt." Seine Hand ließ sie los, hob sich und legte sich sacht auf ihre linke Wange.
"Nein", flüsterte er, "es ist nicht möglich."
"Ich bin nicht zornig!", schrie sie wütend, "Warum darf ich dich dann nicht retten? Ich kann es! Ich spüre es, und ich muss es tun!"
"Wenn du mich vor dem Tod rettest", erwiderte er mit letzten Kräften, "dann musst du in mein Bewusstsein kommen. Du musst mein Selbst mit mir teilen, meine Gedanken und mein Wissen. - Aber was ich weiß, darfst du nicht wissen, denn sonst müsst ihr sterben."
"Ich verstehe dich nicht!"; antwortete sie, und vor Verzweiflung traten ihr Tränen in die Augen. Seine Finger wischten den ersten Tropfen weg, der ihr über die linke Wange rann.
"Weine nicht meinetwegen", sagte er mild. "Hebe dir deine Tränen für später auf. Du wirst noch viele davon vergießen."
"Aber ich verstehe dich nicht!", wiederholte sie sich.
"Du darfst nicht verstehen", sagte er mit
einem fernen Lächeln, das ihr sagte, dass er nicht mehr wirklich von dieser
Welt war, "vorläufig nicht. Mein Freund Felisar wird euch sagen, wohin
ihr euch wenden müsst." Damit leerte sich sein Blick, und seine Hand fiel
zu Boden. Jodan war nicht mehr.
Wie betäubt saß Jhess neben ihm, besudelt
mit seinem Blut und merkte nicht, wie das Fuhrwerk, in Kierons Hof eingefahren, endlich
zum Stillstand kam, und wie alle Männer sich um sie ringten, um wortlos auf
den toten Leib ihres Gefährten zu starren.
"Er hat sich für mich geopfert", sagte Jhess fassungslos in die Stille und kraulte Spot abwesend, dessen mutiges Hundeherz mit Jodans Tod in ein untröstbares Hundeweinen ausgebrochen war. Er hatte gesehen, wie die Seele seines Herrn gegangen war, anderen Aufgaben entgegen, und er hatte begriffen, dass er ihr nicht folgen konnte.
Im Haupthaus wurde Licht gemacht, die große Eingangstür ging auf, und Kieron selbst im weißen Nachtgewand mit einem eilig über die Schulter geworfenen Mantel trat heraus und kam ihnen, die rechte der beiden Treppen benutzend, entgegen. In der Hand hielt er eine brennende Laterne, die ihm den Weg über den Hof leuchtete.
"Was ist das hier für ein Lärm?", wollte er laut wissen.
"Gaiden und seine Frau waren verschwunden", erstattete ihm Voltan Bericht. Oder war es Valgun? "Wir haben sie wiedergefunden - als Gefangene von Ronam, dem Dieb. Es gab einen Kampf." Er pausierte und scharrte mit dem Fuß im Boden. "Jodan ist dabei umgekommen." Kieron sagte nichts, sondern starrte nur die unglückliche Gruppe an. In seinem Gesicht arbeitete es.
"Schafft ihn fort", sagte er schließlich. "Dann muss ich mich um einen neuen Koch umsehen." Er wandte sich zum Gehen, verharrte und drehte sich noch einmal um. "Wo sind die Gewürze, die ihr mir hättet bringen sollen?", fragte er Gaiden.
"Noch beim Gewürzhändler", gab der zur Antwort.
"Und das Geld, das ich euch gegeben habe?" Gaiden seufzte.
"Das hat man mir abgenommen." Kierons Augen blitzten.
"So befindet ihr euch in meiner Schuld", sagte er. "Bis ihr den Verlust dieses Betrages abgedient habt, seid ihr beide Unfreie und werdet mir Dienste leisten. Wenn ihr flieht, werde ich euch einfangen und töten lassen."
11
John Koenig saß, gemütlich zurückgelehnt, in seinem Lieblingssessel, mit dem Versuch beschäftigt, die Ereignisse Revue passieren zu lassen und dabei
brauchbare, gültige Schlüsse zu ziehen. Das Auftauchen der fremden Leïda war
eine Überraschung gewesen, und die anschließende Konferenz hatte bei weitem
nicht alle Fragen beantwortet, die er an die Frau hatte. Ihre spärlichen Erklärungen
hatten zu einem so großen Durcheinander unter seinen Mitarbeitern geführt,
dass er sich entschieden hatte, die Befragung nach der ersten Dosis an
Unglaubwürdigkeiten, die sie unters Volk gestreut hatte, zu vertagen und allen
die Möglichkeit zu geben, die Gemüter abzukühlen. Er wusste, dass niemand sich
von ihrer Beteuerung, dass sie Opfer magischer Umstände waren, überzeugen hatte
lassen, und doch hatte diese Besprechung seltsamerweise ausgereicht, um eine
vorläufige Entscheidung zu treffen. Ihm aber genügte es nicht, denn er
stand ratloser da als zuvor.
Er befürchtete nur, dass ihre
Erläuterungen ihm Kopfschmerzen verursachen würden und war sich
gar nicht so sicher, ob er alles überhaupt so genau wissen wollte. Reichte es
nicht, dass sie tatsächlich noch lebten? Dass die schwarzen Drachen nichts gegen
die Mondbasis unternahmen?
Aber wie sollte es weitergehen, denn dass diese
Situation - Alpha beäugt durch eine dunkle Flotte von schaurigen Feinden, die
nicht daran dachte, das Feld zu räumen - nicht
immer so bleiben konnte, sollte selbst dem einfältigsten Gemüt auf der
Basis einleuchten.
John war nicht das einfältigste Gemüt auf der Basis, und darum entschied er sich, der Sache ins Auge zu sehen, sich die seltsamsten Geschichten, die die Frau erzählte, anzuhören, und dann zu entscheiden, ob er ihr glauben konnte oder sie in eine Zwangsjacke stecken musste - oder sie vielleicht auch wieder zu ihren schwarzen Freunden im All zurückschicken und das Schicksal des Mondes einfach hinnehmen musste.
Er kontaktierte Helena, Tony und Maya und rief sie zusammen, um, diesmal in kleinerer Runde, Leïdas Geschichte nochmals anzuhören.
---
Sie erwartete die kleine Gruppe lächelnd und mitten im Raum
stehend, und wirkte so völlig fehl am Platz, als hätte man eine Amazonas-Eingeborene in einem
Elektronik-Festival abgestellt. Sie war da, und doch schien sie ein
wenig neben der Zeit zu stehen, ein wenig neben der Welt, ein ätherisches Wesen,
dem man schon glauben konnte, dass es in einer Realität aus Zauberei und Magie
lebte.
Sie hatte ihren dunklen Umhang abgelegt und war nun von zarter, fast
filigraner Statur, zerbrechlich und leicht, und dennoch schwer von Wissen, und
alt wie die Zeit selbst. Ihr Blick war Erkenntnis, die Augen wie Tore zur einzigen,
ewigen Wahrheit, und das war vielleicht auch der Grund, warum es so leicht gewesen
war, ihre Anwesenheit auf Alpha zunächst ohne wesentliche Gegenwehr zu akzeptieren.
Sie war wahr, sie war die Wirklichkeit und das Tatsächliche, auf das es in einem
Menschenleben ankam.
John schüttelte den Kopf und versuchte, sich einzureden, dass diese Aufrichtigkeit auch eine Projektion sein konnte, eine Vorstellung für die Alphaner, die nur sahen, was sie sehen wollten, die sich jemanden wünschten, der ihnen aus dieser unglücklichen Situation half. Es konnte eine Falle sein - diese Bedenken schwebten seit dem ersten Augenblick, da er Leïda gesehen hatte, über ihm wie ein mahnendes Gewissen - auch wenn seine Intuition ihm sagte, dass er keine Angst vor ihren Motiven haben durfte.
"Ich habe schon auf euch gewartet", sagte sie mit
einer einladenden Geste in die Richtung der Sitzgruppe, und als ihr Blick auf
John
traf, rieselte ihm Gänsehaut über den ganzen
Körper herab. Es war kein Schaudern aus Angst, überhaupt nicht, es war eine sonderbare
Empfindung, sich genau hier und jetzt an dem einzigen Ort zu befinden, an dem
er sein durfte.
Mit einem verlegenen Räuspern begleitete er seine Freunde
zur Couch und nahm Platz.
Leïda ließ sich, der Gruppe gegenüber, in
ein Fauteuil sinken, und John kam das nicht richtig vor. Es erschien ihm wie
ein Verhör, das er nicht wollte. Sein Wunsch war ein Gespräch unter aufrichtigen
Gleichgesinnten, eine Aussprache, die ihm sagte, wie sie sich verhalten sollten
und was ihnen nun wirklich bevorstand.
Doch Leïda schien das nicht auf die
gleiche Weise zu bewerten wie er, sie wirkte gelöst, als wäre sie froh, dass
man gekommen war, um sie anzuhören.
"Ich sehe, dass ihr an meinen Worten zweifelt",
meinte sie einleitend und machte mit der Hand eine Bewegung, die alle Anwesenden
einschloss, "und ich kann euch
beruhigen. Damit habe ich gerechnet. Meistens ist es nicht notwendig, deutlich
zu werden, müsst ihr wissen. Fast all meine Aufgaben kann ich erledigen, ohne
die Beteiligten in der jeweiligen Welt aufklären zu müssen.
Doch diesmal
komme ich nicht gänzlich umhin, denn ihr seid verknüpft mit dem Geschehen, mit mir und
meiner Bestimmung. Unsere Welten sind verbunden, nicht nur durch die schwarzen
Drachen, die euch bedrohen und die auch in meiner Welt sind.
Es ist so: Wir
werden immer dann gerufen, wenn es notwendig ist, die kleineren
und größeren Unebenheiten des Schicksals auszugleichen, Hilfestellung zu leisten,
da, wo die Umstände widrig sind, damit alle wesentlichen Schicksalslinien dieselbe
Chance auf Verwirklichung haben." Tony wedelte
mit der Hand.
"Moment, Moment!", meldete er sich, "Das geht mir zu schnell. Was hat es mit diesen Drachen auf sich? Was wollen sie von uns?" Ihr Lächeln blieb, unberührt von den gereizten Worten des Sicherheitsdienstchefs.
"Sie wollen euch vernichten."
"Potzblitz! - Auf diese Idee wären wir niemals gekommen! Es zielt ja auch kein Geschwader von gegnerischen Schiffen auf unsere Mondbasis. Etwas Neues bitte." Tonys Stimme troff vor Sarkasmus.
"Sie sind eine Manifestation dessen, was gemeinhin als das Üble, Böse bezeichnet wird."
"Dem Teufel?", fragte John, selbst verblüfft über den Zusammenhang, den sein Gehirn hergestellt hatte.
"Manche würden das behaupten, ja", sagte sie, "doch in meiner Welt gibt es keinen Teufel. Er ist nur ein Name, eine Benennung der dunklen Energien, die sich gesammelt haben und sich nun Freiraum verschaffen."
"Der dunklen... was?", fragte Maya nach. Sie war sich nicht ganz sicher, nicht Opfer einer großen Show zu sein.
"Die Energie einer jeden schlimmen Tat, die begangen wird,
einer jeden Bosheit, die nicht neutralisiert werden kann, sammelt sich und staut sich auf, bis irgendwann der Topf
voll ist und sie hinaus will", versuchte Leïda zu erklären. Ihre Stimme
blieb dabei ruhig und ihre Miene ernst. "Sie sucht den Weg des geringsten
Widerstandes für ihre Manifestation, und dann erscheint sie als das Schreckliche,
das einzig von dem Zwang getrieben wird, seine Macht zu mehren, stärker zu werden,
indem es sich nimmt, was es bekommen kann. Es verleibt sich Seelen ein, und
die Seelen, sie verlöschen
einfach, als hätte es sie nie gegeben. So wird das Gleichgewicht immer mehr
gestört, und ein unvorstellbares Chaos bahnt sich an, das das Weltengespinst
auflösen wird, wenn man ihm nicht Einhalt gebietet." Sie schwieg, als sie bemerkte,
dass sie in eine Wand aus vier Mienen blickte, die ultimative Verständnislosigkeit
ausdrückten. "Es tut mir Leid", sagte sie, "ich vergesse immer
wieder, dass ihr nicht denselben kulturellen Voraussetzungen entstammt
wie ich. In euren Worten: Die schwarzen Drachen, die in meiner Welt wüten,
haben einen Weg gefunden, in eure Welt zu gelangen, und hier wie dort werden
sie alles intelligente Leben vernichten, wenn es nicht gelingt, sie aufzuhalten."
Sie blickte die Alphaner erwartungsvoll an, was nichts an den ungläubigen Gesichtsausdrücken
änderte.
Schließlich räusperte John sich.
"Aber warum haben sie eigens ihren großen Kampf mit den anderen Geschwadern abgebrochen und sind zu uns gekommen?", fragte er, "Sie hätten sich doch dort wesentlich mehr Seelen einverleiben können als bei uns." Leïda schwieg kurz, und antwortete dann, indem sie John direkt ansah.
"Sie wurden angelockt von euren Träumen", erwiderte sie. "Eure Träume sind flüchtige Fenster in eure wahren Seelen, in euer wahres Schicksal. Wir sind miteinander für alle Zeiten verbunden, und die Drachen wissen es. Ich kann euch vor ihnen beschützen, so lange meine Kraft ausreicht, aber ich merke, dass ich immer schwacher werde."
"Aber warum die Schwäche?", erkundigte sich Maya, die immer noch versuchte, Leïdas Aussagen in ihr Weltbild einzupassen.
"Ihre Stärke macht mich schwach", war die Antwort. "Es ist ein Wechselspiel uralter Mächte, die die Schicksalsfäden in den Händen halten. Sie jonglieren mit den Kräften, die in den Welten herrschen und bestimmen die Spielregeln. Es ist die Magie der Alten Wesen, die mich seit vielen eurer Jahrhunderte dazu bringt, wichtige Aufgaben zu erledigen, um das Gefüge der Universen zusammenzuhalten."
"Seit Jahrhunderten?", schnappte Tony aufhorchend. Er fühlte, dass diese Frau etwas Besonderes war, etwas, das sein Auffassungsvermögen bei weitem überschritt, und dennoch hatte er ein misstrauisches Herz, das immer in Sorge war, übertölpelt zu werden. "Sie sehen jung aus, nicht wie ein uraltes Mütterchen!" Sie musste lachen, aber ihr kristallener Blick huschte auf den Grund von Tonys Bewusstsein, und er erhaschte einen flüchtigen Hauch auf eine fremdartige Persönlichkeit, die für ihn wie eine exotische, ferne Gegend war, die er nicht erforschen durfte, weil es ihm nicht bestimmt war.
"Ein Wechsel zwischen zwei Welten gibt mir einige meiner Jahre zurück", war die Antwort, "und nachdem ich schon viele Male zwischen den Universen gewechselt habe, bin ich äußerlich immer jung geblieben." John beugte sich gespannt vor. Er fühlte sich in Leïdas Welt hineingezogen, ihre Worte waren wahr, und es war ihm, als ordneten sich mit ihren Erklärungen verwirrte Fragmente in seinem Verstand zu einem nahezu erkennbaren Puzzlebild.
"Ist denn nicht alles im Leben ausgeglichen?", wollte er wissen. "Hält sich nicht alles die Waage? Wie kommt es dann, dass es der Finsternis gelingt, so sehr zu überwiegen?"
"Der Lauf der Dinge", gab sie zur Antwort. "Das Dunkle nimmt, während man glaubt, dass es gibt, und das Licht gibt, während man glaubt, dass es nimmt. Viele gehen in die Falle und erliegen den Verlockungen des scheinbar Leichteren."
"Und die Wesen, die von den schwarzen Drachen verschlungen werden, sind das jene, die diesen Verlockungen nachgegeben haben?" Maya war sich nicht sicher, überhaupt auch nur irgendetwas verstanden zu haben. Leïda schüttelte den Kopf.
"Aber nein, Maya. Die Seelen, die hier vernichtet werden, sind so hell oder dunkel wie alle anderen auch, doch sie gehen unglücklicherweise im schwarzen Schlund verloren, während allen anderen die Möglichkeit bleibt, ihren Reigen in die Vollendung zu Ende zu tanzen." Alle schwiegen. Es gab solche Theorien in der Metaphysik, doch niemals war Gleichartiges den Alphanern als Tatsache serviert worden. Dieses Gedankengut war für sie eine Angelegenheit des Glaubens, gleichwertig mit anderen Lehren und eine Sache der individuellen Überzeugung.
"Dann müssen wir uns also von unseren althergebrachten Vorstellungen verabschieden?", schloss Tony widerwillig.
"Alles ist existent", erwiderte sie rätselhaft, "alles, was man sich nur vorstellen kann. Niemand muss sich von irgendetwas verabschieden."
"Das ist mir zu hoch." Tony hob beide Hände und richtete den Blick an die Decke.
"Das macht nichts. Nicht alles kann verstanden werden."
Helena meldete sich erstmals zu Wort. So seltsam es ihr selbst vorkam, doch sie interessierte sich plötzlich nicht mehr für die Erklärungen hinter dem Erschaubaren, hinter dem Reellen, dem sie intellektuell folgen konnte. Der Grund lag wahrscheinlich darin, dass sie der Frau glaubte. Ohne Wenn und Aber, denn sie fühlte das Band, das sie aneinander kettete.
"Leïda, was können wir nun tun?"
"Nichts", erwiderte sie gelassen. "Gar nichts. Die Dinge nehmen ihren Lauf, ganz unabhängig davon, ob ihr etwas unternehmt. Ich kann euch nur bitten, mir zu vertrauen." Tony rieb sich mit der Hand am schon stoppelbärtigen Kinn.
"Irgendwas sagt mir, dass wir ohnedies keine andere Möglichkeit haben." Mit ihrem Lächeln auf seine Worte war es, als streiften unsichtbare Feen durch den Raum. Es war reine Magie.
12
Gaiden bildete die Nachhut und ging gemessenen Schrittes
hinter dem Fahrzeug einher. Sie waren vor fast einer Woche aus Atlan aufgebrochen,
und wenig später hatte sie der Winter eingeholt. Zwei Tage hatte sie der
Schneesturm gekostet, und sie hatten in der Dorfschänke zu Barda gewartet, bis
das erste Wüten vorüber und eine Weiterfahrt wieder möglich war. Kieron hatte
dem Dorfschmied zu einem ausgezeichneten Geschäft verholfen, indem er von ihm
einen großen Lastschlitten geliehen hatte, mit dem die Fahrt nun leicht bewältigbar war.
Mit dem Wagen wären sie schon vor der Ausfahrt aus dem Hof des Gasthauses stecken
geblieben, und die Auslieferung der Machina an Felisar hätte bis zur
Schneeschmelze verschoben werden müssen.
Weiter vorne stapfte Tommo,
der neue Koch, durch die kalte Schneelandschaft, hatte den Kragen hochgeschlagen,
den Kopf unter einer monströsen Fellmütze versteckt und schmetterte, unbeeindruckt
von den kalten Böen, die der Wind über die flache, schneebedeckte Landschaft
zu ihnen herschleuderte, lauthals ein fröhliches Lied vor sich hin. Er war breiter
als hoch, was die Zwillinge, als Kieron mit ihm angekommen war, veranlasst hatte
zu bemerken, man sehe ihm an, dass ihm sein eigenes Essen schmecke, was nur
gut für die Gruppe sei, weil er also offensichtlich ein guter Koch sei. Ansonsten
war er ein schlichtes Gemüt, das man einzig damit reizen konnte, wenn man an
seinen Kochkünsten etwas auszusetzen hatte. Jhess samt ihren küchenmäßigen Unzulänglichkeiten
nahm Tommo stoisch als gegeben hin, wenn er auch darauf bedacht war,
sie "trotz allem" mit dem einen oder anderen grauenhaften Mittelchen
zu versorgen, weil es angeblich "gut und gesund" für sie war.
Noch weiter vorne ging Rongdon, der sich mit seinen kurzen Beinen im hohen Schnee plagte, während es ihm aber nebenbei keinerlei Schwierigkeiten zu bereiten schien, ausgiebig über die Schinderei zu schimpfen und sich zu beschweren. Er hatte sich Kierons Unmut zugezogen, weil er ihm einige Münzen gestohlen hatte, und durfte nun nicht neben ihm am Schlitten sitzen, bis die Wogen wieder geglättet waren. Rongdon hielt sich seit dem denkwürdigen Ereignis im Mittellandgebirge den Fernländern gegenüber zurück. Es war nicht zu übersehen, dass er Jhess scheute, um die er nun immer einen sichtbaren Bogen machte. Es war ihm offensichtlich bewusst, dass sie sein Wesen gesehen hatte, und mehr von ihm wusste, als jeder andere auf der Welt. Gaiden vermutete, dass er sich schämte.
Neben Gaiden trottete Spot einher, der seit Jodans Tod keine Freude mehr zu verspüren schien, und nicht einmal eine Handvoll Schneehasen, die provokant vor seiner Nase auf- und abtanzten, konnten ihn davon abhalten, Trübsal zu blasen. Gaiden bückte sich, und strich dem Hund über den Rücken.
"Na, komm, alter Junge, das Leben geht weiter." Spot blickte mit waidwundem Blick zu ihm auf, als wollte er sagen, dass er leicht reden könne, denn er hatte ja nicht seinen besten Freund verloren. Das Hundegesicht war, selbst für einen Bluthund, eine fast zum Lachen reizende Karikatur aus tiefster Traurigkeit. Gaiden lächelte und kraulte ihn zwischen den Ohren. Ein mattes, wenig enthusiastisches Schwanzwedeln war die Antwort, und Gaiden schritt weiter. Er blickte auf und sah Jhess hinten auf der Ladefläche des Schlittens sitzen, wo sie dazu verdammt war, inmitten des Ruckelns und Zuckelns des Schlittens Kierons Socken zu stopfen, einer Aufgabe, der sie mit komischem Ernst nachkam, und Gaiden fragte sich, ob sie bei der undankbaren und nicht leicht zu bewältigenden Arbeit nicht ständig daran dachte, die Socken einfach oben zuzunähen, sodass Kieron sie nicht verwenden konnte und das nächste Mal Abstand davon nahm, sie das Stopfen auf einem zugigen, offenen und obendrein unruhigen Fahrzeug zu heißen!
Seine Gedanken schweiften von seiner Frau zu Jodan und
was sie ihm über seinen Tod berichtet hatte. Der alte, schwarze Mann hatte
etwas gewusst, das ihnen beiden, wenn sie davon Kenntnis hätten, schaden,
ja, sogar den Tod bringen konnte. War es also eine notwendige Maßnahme, dass
sie so wenig über sich selbst sagen konnten, war ihr Unwissen denn ein Schutz
vor anderen, die ihnen an Leib und Leben wollten - oder war es am Ende gar ein
Schutz vor sich selbst? Gaiden hätte was darum gegeben, die Antworten zu kennen,
aber erstmals, seit er sich mit der Frage, wer er war und warum er sich nicht
erinnern konnte, beschäftigte, erschien ihm ein Sinn hinter den unerklärlichen
Umständen zu liegen. Es machte ihm den Umgang mit allem, dieser Reise, Jhess
und der bedingungslosen Liebe, die er für sie hatte, sogar mit Kieron und seinem
despotischen Geltungsdrang, den er, seit er die beiden Fernländer zu seinen
persönlichen Sklaven gemacht hatte, immer mehr hervorkehrte, leichter, denn
es bedeutete für ihn, dass er und Jhess sich auf einem Weg befanden, der ein
Ziel kannte, und dass am Ende dieses Weges die Erinnerung auf sie wartete -
und vielleicht auch die Rückkehr in ihr angestammtes Leben, jenseits der
Grenzen im Fernland, wo auch immer es zu finden war.
Gaiden hoffte,
dass Felisar Licht in die Sache bringen würde, dass er ihnen helfen konnte,
den richtigen Weg zu finden und die Dinge zu vollenden.
Kieron würde ein Problem sein, denn es war viel Geld gewesen, dass ihnen Ronam abgenommen hatte, und es würde lange dauern, diese Schulden abzutragen, umso mehr, als Kieron nicht daran dachte, ihnen zu sagen, wie lange sie für ihn arbeiten mussten, um den Schaden, der ihm entstanden war, wiedergutzumachen. Aber vielleicht war Felisar die Antwort auf all seine Fragen, denn wenn er Jodans Freund gewesen war und auch wusste, wohin er und Jhess sich wenden mussten, dann war er womöglich ihr Verbündeter, der Interesse daran hatte, sie an ihrem Ziel zu sehen, und dann würde er ihnen auch gegen Kieron helfen. Gaidens Herz wurde leichter bei diesen Gedanken, er fühlte sich trotz der mühevollen Stapferei durch den Schnee beschwingt, und er nahm Tempo auf, um den Wagen einzuholen.
Jhess lächelte ihn an, als er aufgeholt hatte.
"Hast du Lust, mich beim Stopfen der Socken abzulösen?", wollte sie wissen, und ihre hellen Augen blitzten in der bleichen Wintersonne. Er grinste.
"Ja, ich würde sie gern in Kierons Maul stopfen", antwortete er lachend, aber nicht zu laut.
"Und ich helfe dir dabei", stimmte sie ihm, ebenso lachend, zu.
Von vorne waren plötzlich laute Rufe zu hören, und mit einem
Ruck blieben Pferde und Schlitten stehen. Eine Schneewehe hatte den Weg verlegt,
auf dem man sich befand und schien, wie die Zwillinge, die vorangegangen waren
und sich die Angelegenheit näher angesehen hatten, festgestellt hatten,
mit den Lasten nicht zu bewältigen zu sein, zumal auch noch zwei alte, morsche
Eichen, die auf der Böschung gestanden waren, unter der Last des anfänglich
nassen Schnees umgefallen waren, sodass ihre dicken Stämme quer über dem Weg
lagen, halb bedeckt und zugefroren von Schnee und Eis.
Alle gingen, um sich
das Hindernis anzusehen und nach Lösungen Ausschau zu halten. Der Weg war über
eine Strecke von mehreren hundert Metern verschwunden und auch zu weich für
die Pferde und den schweren Schlitten, um darüber hinwegzufahren, selbst wenn
es gelingen sollte, die wuchtigen Stämme beiseite zu räumen.
"Ich habe keine Zeit für weiter Verzögerungen!", knurrte Kieron ungnädig, während er mit verschränkten Armen das Malheur betrachtete. "Gaiden, wie lange dauert es, hier durchzukommen?" Gaidens Hand hob sich an sein Kinn, und er dachte eine Weile nach.
"Auch wenn wir die Pferde einspannen, um das Holz aus dem Weg zu räumen, so haben wir nur einen Spaten mit. Die Strecke, die wir räumen müssten, ist ziemlich lang, das wird uns viel Zeit kosten. Außerdem frage ich mich, wie kommt es an dieser Stelle zu so einer ausgedehnten Schneebarriere? Hier sind Bäume, die müssten die schlimmsten Verwehungen abhalten. Ich glaube nicht, dass das mit rechten Dingen zugeht. Und sieh dir die beiden Eichen an, die sind mitsamt dem Wurzelwerk ausgerissen. - Bei gefrorenem Boden?? Wie sollte das von allein geschehen sein?"
"Die Wesen des Wirrwalds", sagte Kieron nachdenklich. "Sie wollen uns zu sich locken. Hier draußen sind sie keine Gefahr für uns, aber wenn wir ihnen im Wald in die Fänge geraten, ist es um uns geschehen. Es wird uns ohne Magie nicht gelingen, diesen Durchgang frei zu bekommen." Alle sahen ihn an. "Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder wir kehren um, doch müssten wir im Freien übernachten, weil das letzte Dorf zu weit weg ist, um es vor Eintritt der Dunkelheit zu erreichen, oder aber wir riskieren es und nehmen es mit den törichten Geistern des Wirrwalds auf. Die Strecke ist nicht weit, Felisars Burg liegt auch nicht fern, man muss es nur schaffen, den Wald zu durchqueren."
"Gut, dann drehen wir also um", sagte Rongdon weinerlich, wohl in Gedanken schon die ganze Strecke, die er so mühsam bewältigt hatte, wieder zurückgehend. Kieron schüttelte den Kopf und zeigte nach Osten.
"Seht ihr den Himmel, wie klar und durchsichtig er scheint? Heute Nacht wird es so kalt werden, dass wir hier draußen im Freien erfrieren werden. Wir müssen ein Dach über dem Kopf haben, wenn wir morgen noch leben wollen." Einer der Zwillinge kratzte sich am Kopf.
"Also willst du durch den Wirrwald fahren?" Kieron nickte und lachte, als ihn alle betreten ansahen.
"Es sind schon andere durchgekommen, keine Angst, wir wären nicht die Ersten. Wir müssen nur am Weg bleiben, das ist alles. - Schluss mit den langen Gesichtern, ich habe nicht vor, hier festzufrieren!" Er eilte zurück zum Schlitten, saß auf und nahm die Zügel in die Hand. Er dirigierte die Pferde, und zusammen mit den Zwillingen gelang es, das Gespann umzudrehen. Nur wenige Meter weiter tauchte ein schöner Weg nach links abgehend auf, und Kieron lenkte den Schlitten darauf. "Nun, bitte. Folgen wir also ihrer Einladung!"
"Kieron, was passiert, wenn sie uns kriegen?", fragte Jhess ihn, während sie wieder aufstieg, um sich ihrer Arbeit zu widmen.
"Sklaven werden gefressen", erwiderte er kurz angebunden.
"Sei nicht so gemein", sagte sie zornig.
"Wäre ich gemein, so müsstest du hier zu Fuß neben dem Schlitten hergehen." Seine dunklen Augen musterten sie, wie sie hinter ihm vorbei auf die Ladefläche stieg, und sie wusste, dass sie gut daran getan hatte, immer dafür zu sorgen, dass sie nie mit ihm allein gewesen war.
"Vergiss nicht, Jodan ist nicht mehr da. Er kann dich nicht mehr beschützen", raunte er ihr zu und versetzte ihr damit einen weiteren Stich. Sie nahm ihre Stopfarbeit wieder auf und wünschte sich, schon auf Felisars Burg zu sein und einen Weg zu finden, Kieron und seinen stechenden Blick hinter sich zu lassen.
Der Weg zum Wirrwald war, wie nicht anders zu erwarten, ohne Hindernisse und einladend leicht zu befahren, und es dauerte nicht lange, bis die Bäume sich zum Wald verdichteten. Es schien unspektakulär, zu beiden Seiten des weiten, schneebedeckten Weges breiteten sich eine Vielzahl hohe Fichten und Tannen aus, die nur wenig Schnee durch ihr dichtes Dach gelassen hatten, und sie verschwammen fern in der lauen Dunkelheit unter Ihresgleichen. Es war totenstill, abgesehen von den Geräuschen, die von den Menschen und Pferden ausgingen, kein Vogel, kein anderes Getier zeigte sich.
Gaiden fröstelte unter seiner dicken Winterkleidung, während er nach wie vor der Letzte der Gruppe war und hinter dem Schlitten herging. Nun blickte er sich deutlich häufiger um, denn er hatte das Gefühl, von tausend Augen beobachtet zu werden, als streiften abertausend Geister seinen Rücken und fassten mit langen, spitzen Spinnenfingern nach ihm. Jhess hatte mit ihrer Arbeit aufgehört und schaute sich ebenso unbehaglich um. Rongdon war, ganz ungeachtet der Anweisungen von Kieron, auf den Schlitten aufgesprungen und versteckte sich hinter der Plane mit Felisars Machina. Die übrigen Männer gingen vorsichtig weiter, sich der Tatsache bewusst, dass sie jeder Magie schutzlos ausgeliefert waren und auch mit ihren Körperkräften nichts ausrichten konnten.
Vor ihnen tauchte schließlich, als die Spannung ins Unermessliche zu steigen drohte, eine Weggabelung auf. Kieron hielt die Pferde an und stieg ab. Ein altes, windschiefes und mit Moos bewachsenes Schild wies in ausgeblichener Schrift darauf hin, dass es links zur Steinburg, ihrem Ziel, ging. Spuren zeigten, dass sich schon jemand für diese Strecke entschieden hatte. Der rechte Weg jedoch war breit und verlockend, und sogar einige Sonnenstrahlen fielen bis auf den Boden.
"Links oder rechts, Meister?", fragte einer der Zwillinge Kieron, der beide Hände in die Hüften gestemmt hatte und einmal hierhin und einmal dorthin äugte.
"Wir fahren nach rechts", entschied er kurzerhand und schwang sich wieder auf den Schlitten. Als seine Männer nicht reagierten, trieb er die Pferde an und fuhr voran. Gaiden folgte ihm als Erster.
"Diese Gespenster sind Wesen der Nacht", meinte er, "ich gehe jede Wette ein, dass sie einen Sonnenstrahl nicht auf ihren Irrweg leuchten lassen können." Kieron lachte laut auf.
"Dumm bist du nicht", sagte er mit widerwilliger Anerkennung und schwang die Peitsche, um die Pferde anzutreiben, die zögerlich voranschritten, als merkten sie selbst, dass es in diesem Wald nicht mit rechten Dingen zuging.
Bald wurde der Weg enger, schon war das Sonnenlicht verschwunden, und nur noch vage Helligkeit flimmerte durch das Nadelgeäst und die immergrünen Bäume. Von der Ferne drangen Geräusche auf die Reisenden ein, und je näher sie kamen, umso deutlicher wurde es, dass es sich um menschliche Stimmen handelte. Ein glockenhelles Lachen ließ sie zusammenfahren. Es war, als brächte das Lachen alle ihre inneren Saiten zum Klingen, und sogar die Tiere spitzten die Ohren. Spot erwachte aus seiner Lethargie und sprang, aufgeregt bellend, an Gaiden hoch, während seine Schlappohren ihm nur so um den Kopf wirbelten.
Zwischen den Bäumen tauchten helle Gestalten auf, Mädchen
mit langen wehenden Haaren in weißen Kleidern, die lachten und hinter einander
herliefen. Sie bemerkten die Reisenden und näherten sich ihnen kichernd und
tuschelnd. Vier oder fünf waren es, die mit leuchtenden Augen und schimmerndem
Haar bis an den Weg kamen und die Gruppe auslachten, weil sie wie erstarrt standen
und das Schauspiel beobachteten.
Eine besonders Fürwitzige mit milchiger
Haut und wunderschönem, ebenmäßigem Gesicht tänzelte herbei und blieb vor einem
Zwilling stehen.
"Wie heißt du?", fragte sie ihn mit weicher Stimme. Er starrte sie nur an, und sie lachte wieder. "Er weiß seinen Namen nicht mehr!", feixte sie, und die anderen Mädchen lachten hinter vorgehaltenen Händen.
"Valgun", brachte er schließlich mit rauer Stimme hervor, ohne sie aus den Augen zu lassen, "ich heiße Valgun."
"Nun, denn, Valgun", sie lachte wieder, und streifte ihr blondes Haar in einer anmutigen Geste aus dem Gesicht, "was macht ihr hier in dem gefährlichen Wald? Wisst ihr nicht, dass euch Irrlichter dem Großen Erdgeist Toru in den Schlund weisen werden?"
"Wissen wir", erwiderte Valgun mit belegter Stimme, und er konnte seinen Blick nicht von ihrer Schönheit abwenden. "Aber uns blieb nichts anderes übrig, als diesen Weg zu wählen." Wieder das Lachen!
"Oh ja! Der Schnee da draußen ist wirklich boshaft und tückisch. Er lässt Wege verschwinden, und der unbarmherzige Winter wirft einfach Bäume auf die Straßen! Ihr seid tatsächlich zu bedauern."
Gaiden war, wie auch die anderen Männer, nach vorne gegangen, um zu sehen, womit sie es hier zu tun hatten. Hauptsache, sie verließen den Weg nicht, schärfte er sich ein, dann konnten sie ihnen nichts anhaben! Doch sie waren lieblich, nicht nur anzusehen, ihre Stimmen waren wie Feenmusik, so schön und verheißungsvoll. Er wusste, dass sie darauf aus waren, sie in den Wald zu locken, weg von ihrem sicheren Schlitten, von der richtigen Strecke, und doch waren sie wie die Heiterkeit eines Sommertags, wie das unschuldige Lächeln eines kleinen Kindes und wie die vollkommene Verwirklichung eines lang gehegten Wunsches. Er konnte sich gegen sie nicht wehren, selbst, als er Jhess sah, wie sie auf der Ladefläche stand und die Wesen feindselig musterte.
Kieron war mittlerweile wieder abgestiegen, um zur Anführerin der Mädchen zu gehen.
"Wollt ihr uns tatsächlich dem alten Toru zum Fraß vorwerfen?", wollte er wissen.
"Aber sehen wir denn so aus?", war die Gegenfrage, der wieder ein obligates Gelächter folgte.
"Kommt doch lieber mit uns", schlug er vor und beugte sich zur jungen Frau vor. Sie neigte sich ihm entgegen und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Seine Hand hob sich wie mechanisch und legte sich auf die Stelle, an der ihre Lippen ihn berührt hatten.
"Kommt ihr doch lieber mit uns", sagte sie mit verführerischem Lidaufschlag.
"Du weißt, wir dürfen den Weg nicht verlassen!"
"Aber ja doch! Das sind alles nur Märchen, damit man unseren Wald in Ruhe lässt! Sonst kommen sie her, um zu jagen und die Bäume zu schlagen, unsere Pilze und Beeren zu stehlen! Wir sind nur fünf gastfreundliche Schwestern, die euch nichts Böses anhaben können."
"Wo wollt ihr uns hinbringen?", fragte Tommo, der, wie auch die anderen, den Blick von ihnen nicht lassen konnte.
"Unser Haus steht nicht weit weg von hier. Seht, es wird bald dunkel werden, und dann werdet ihr euch erst recht verirren in diesem großen, dunklen Wald! Was haltet ihr davon? Wir haben genug Platz, und es wäre uns eine Freude, euch zum Nachtmahl einzuladen! Seht, da hinten ist schon das Haus." Tatsächlich leuchtete unweit von ihnen zwischen den Bäumen Licht. Es schien nicht fern.
"Warum nicht", sagte Kieron langsam und erntete Beifall von den übrigen, "Es ist ja nicht weit weg vom Weg, die paar Schritte finden wir allemal wieder her. Auf ein Nachtmahl lasse ich mich gerne einladen." Er nahm ihre dargebotene Hand, um sich von ihr führen zu lassen.
"Auch wenn wir das Nachtmahl sein werden?", traf ihn hart Jhess' Stimme im Rücken. "Seid ihr wahnsinnig, ihr dummen Kerle?" Sie stand mit vor der Brust verschränkten Armen vor ihnen am Schlitten und starrte böse auf die Gruppe herab. "Junge schöne Mädchen, die bei der bitteren Kälte nichts als dünne Seidenkleidchen tragen und euch Zaubermusik in die willigen Ohren flöten? Seid ihr noch zu retten? Kieron, steig auf den verdammten Schlitten, und Gaiden, du machst, dass du zu mir kommst!" Ihre Worte waren wie Messer, die die Magie zerschnitten, und von einem Augenblick zum nächsten zerronnen die jungen Frauen, verpufften wie zerstiebender Nebel im Nichts, und die Männer kamen wieder zu sich. Das verlockende Licht verlosch.
Kieron stieg wieder auf, holte ohne Vorwarnung aus und schlug Jhess mit einem schallenden Schlag mitten ins Gesicht, sodass sie nach hinten taumelte und sich erst im letzten Augenblick an der Vertauung der Machina festhalten konnte.
"Ich werde dich lehren, mir gegenüber einen solchen Ton anzuschlagen", ließ er sie mit zorniger Stimme wissen. Sie wusste gar nicht, wie ihr geschah, und merkte nur, wie ihr das Blut aus der Nase schoss. Gleichzeitig war Gaiden zu Kieron nach oben gesprungen und packte ihn mit beiden Händen so kräftig am Revers, dass ihm die Luft wegblieb.
"Fass meine Frau noch einmal an", keuchte Gaiden, der weiß wie die Wand geworden war, "und ich garantiere dir, dann hat dein letztes Stündlein geschlagen!" Kieron wedelte hilflos mit beiden Händen, während sein Mund, nach Sauerstoff ringend, auf und zu klappte wie ein Fisch im Trockenen. "Sie hat uns gerettet vor diesen Gespenstern, ein wenig Dankbarkeit ist das mindeste, was ich von dir erwarte!" Er zögerte noch einen Augenblick und stieß Kieron dann mit einem verächtlichen Laut von sich.
"Das werdet ihr mir büßen", stieß der zwischen zwei erstickten Atemzügen hervor, "das werdet ihr mir büßen." Die anderen Männer standen wie vom Donner gerührt da, nur um Tommos Mundwinkel zuckte kaum sichtbar der Anflug eines schadenfrohen Grinsens.
"Sehen wir zu, dass wir weiter kommen", meldete sich Voltan verlegen zu Wort, "es wird wirklich bald dunkel, und da wäre es klug, den Wirrwald hinter uns zu haben." Der Schlitten setzte sich wieder in Bewegung, und Kieron sagte nichts mehr. Er hockte wie ein teuflischer Rachegott auf dem Bock und starrte düster und in finsteren Gedankengängen verwoben vor sich hin.
Die Wirrwesen hatten zum Glück ihr Pulver verschossen, denn bald lichtete sich der Wald, und zwischen den dünner gestreuten Bäumen war bereits rechter Hand der Berg auszumachen, auf dessen oberster Kuppe wie ein krallenbewehrtes Ungeheuer Felisars Steinburg herunterlinste. Wie ein Ypsilon spaltete sich der Weg vor ihnen in zwei Pfade. Beide schienen quer über eine Lichtung zur Burg zu führen, und wieder hielt das Gespann an.
"Gut, der Wald ist zu Ende", sagte Kieron, "also spielt es wohl keine Rolle, welchen von beiden Wegen wir wählen." Ein Rascheln und Rauschen erklang aus einer uralten Eibe am Wegrand, und einen Augenblick später machte es einen Rumpler, und aus dem Geäst purzelte kopfüber jemand auf den Boden. Aus einem Durcheinander von winterlichen Stofflagen tauchte endlich unter Keuchen und Stöhnen ein wirrer weißer Haarschopf auf, dessen Inhaber unter verzweifeltem Hantieren und ineffizientem Herumfuchteln danach trachtete, seine Gliedmaßen zu ordnen, um wieder auf die Beine zu kommen. Schließlich schälte sich aus dem Wirrwarr ein zerknitterter Alter heraus mit langem, zerzaustem Bart, den er erst zähmen und an Ort und Stelle bringen musste, um überhaupt in der Lage zu sein, einen Blick auf die Gruppe zu werfen. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er dann auf die Reisenden, die ihn ihrerseits verblüfft musterten, bis er, mit einem halben Blick auf die Seite grapschend, ein lilafarbenes Stoffungeheuer aufklaubte, das sich als sein Hut herausstellte, und den er mit einem unwirschen Grunzen auf den Kopf stülpte. Er rutschte ihm umgehend über die Augen und musste von Hand wieder in Position gebracht werden.
"Da seid ihr also endlich", begrüßte er die Gruppe und erhob sich umständlich, um seine Siebensachen in Form eines Korbes mit Misteln, einer Sichel und anderen Zweigen und Ästchen an sich zu raffen. "Habt ganz schön auf euch warten lassen", tadelte er sie und drohte ihnen mit einem dürren, langen Finger.
"Dann bist du Felisar", sagte Kieron einigermaßen verblüfft.
"Jajajajajaaa", erwiderte der Alte ungeduldig, "ich bin auch gleichzeitig euer Begrüßungskomitee. Ich habe noch ein paar Dinge aus der Natur gebraucht, das kam mir jetzt gelegen. Also worauf warten wir noch, gehen wir. Es gibt am Fuß des Bergs Stallungen, da könnt ihr die Pferde und den Schlitten lassen."
"Wie sollen wir die Machina dann in die Burg schaffen?", erkundigte sich einer der Zwillinge. Felisar wirkte zerstreut.
"Ach ja, die Machina...ist sie denn so schwer?"
"Das kann man wohl sagen", gab ihm Gaiden zur Antwort. "Sie ist wirklich ein Wunderwerk. Ich habe sie mir angesehen auf unserer Reise zu dir. Sie ist ein selbsttätig arbeitendes Werk zur Prägung von Münzen. Wunderschön. Man muss nur den Rohstoff bereitstellen, und dann arbeitet sie sozusagen von alleine!"
"Ja, nicht wahr. Sie wird mir jede Menge Freude bereiten mit den vielen Münzen, die ich herstellen werde. - Lasst uns nun endlich gehen." Er schlug den Pfad zur rechten Hand an, doch Gaiden blieb mitten im Weg stehen, sodass Kieron scharf an den Zügeln riss, um die Pferde rechtzeitig zum Anhalten zu bringen.
"Troll dich", schrie er Gaiden böse an, "was bleibst du hier mitten in der Strecke stehen?"
"Wir nehmen den anderen Weg", gab Gaiden zur Antwort, "der Kerl da mag sein, wer er will, Felisar jedenfalls ist er nicht, denn die Machina ist kein Werk zur Herstellung von Münzen."
"So, und was ist sie dann, du siebenmal kluger Herr?", wollte Kieron giftig wissen.
"Man kann damit Dinge betrachten, die sich in großer Ferne befinden. Es ist ein sehr erfindungsreiches Werk von großer Kunstfertigkeit", erwiderte er, "und wenn das Felisar wäre, dann wüsste er, dass er keinen Münzenpräger bestellt hat." Kommentarlos riss Kieron die Zügel herum und lenkte den Schlitten auf den anderen Weg.
Mit einem Fluff! verschwand die gesamte Szenerie vor ihnen, und dichte Bäume säumten ihren Weg. Mit der Täuschung hatte sich auch der verschrobene Alte in Luft aufgelöst.
"Ui, das war knapp", entkam es Rongdon, der wie ein kleines verschrecktes Hühnchen in seinem Versteck auf der Ladefläche kauerte.
"Schnauze", fuhr ihn Kieron an, "von dir will
ich nichts mehr hören!" Der Zwerg duckte sich, und es schien, als traute
er sich nicht einmal, auch nur Luft zu holen. Mit einem lauten, energischen
Hühh! beschleunigte der Schlitten, sodass die Männer zu Fuß kaum nachkamen.
Eine
Biegung weiter war der Wald wirklich zu Ende, Eine gerade Straße ohne Abzweigungen
führte über eine verschneite Wiese auf eine Anhöhe, auf der nun die wirkliche
Steinburg zu sehen war. Es handelte sich um einen schwerfälligen gemauerten
Klotz mit einem einzigen, gedungenen Aussichtsturm. Die Mauern schienen nicht unüberwindbar,
und es fehlte jede Wehr. Felisar schien sein Heim mit anderen Mitteln zu schützen.
13
Alpha war wie eine Stadt der Toten. Nach wie vor war der Ausnahmezustand nicht aufgehoben worden, und der Großteil der Besatzungsmitglieder fristete sein Dasein unten in den Katakomben auf engstem Raum. Nur die notwendigsten Dienste wurden aufrecht erhalten, aber selbst da waren die Gespräche verstummt. Es herrschten Angst und Unsicherheit.
Alan Carter lag mit offenen Augen und bei eingeschaltetem Licht in seiner Unterkunft auf dem Bett und konnte nicht schlafen. Er wusste, dass er gegen die vom Commander aufgestellten Regeln verstieß und verließ sich darauf, dass ihn seine Freunde, mit denen er eigentlich im Notquartier sein sollte, nicht verraten würden. Er hatte mit John einen Disput gehabt und dabei den Kürzeren gezogen.
Er hatte seine Schicht als Adlerwache draußen in unmittelbarer
Nähe der schwarzen Drachen hinter sich gebracht und konnte alles bestätigen,
was ihm die übrigen Piloten erzählt hatten. Zuerst näherte man sich mit steigender
Aufregung den großen Schiffen, die wie unüberwindbare lichtlose Berge vor dem
Cockpitfenster aufstiegen und immer größer wurden, bis sie es vollkommen ausfüllten,
obgleich man noch ewig weit von ihnen entfernt war. Dann begab man sich in Warteposition
und schloss bald, weil man vorgewarnt war, die Sichtblenden, sodass man sich
nur an die Instrumente allein halten konnte. Man bekam das Gefühl, dass sich
Saugarme von den Feinden zu den irdischen Raumschiffen herüberschlängelten,
durch die Adlerhülle drangen und sich an Schläfen, Augen und Ohren hefteten,
und, altmodischen Stromsteckern gleich, begannen, Geist und Energie
ihrer Opfer abzuzapfen, um sie zu inhalieren, zu inkorporieren, bis am Ende
nichts mehr übrig war als eine leere Hülle. Es nützte ein wenig, sich abzulenken,
nicht daran zu denken, dass man sich in unmittelbarer Nähe des Todes aufhielt,
der in Ketten lag und nur hungrig auf seine Chance wartete zu entkommen.
Man bemühte sich, das Kettenrasseln zu überhören und das ungeduldige Schnauben
und Scharren des Gegners. Es dauerte nicht lange, und es gab nichts anderes
mehr, an das man denken konnte, und die gesamte Vorstellungskraft wurde darauf
verwandt, sich zwanghaft zu überlegen, was geschah, wenn man wirklich verschluckt
wurde. War es dann einfach, als würde das Licht ausgeschaltet? Oder merkte man,
was passierte, versank man in den Qualen, die es bereiten musste, wenn einem
die Seele portionsweise aus dem Leib gerissen wurde? Und es war, als
bliebe die Zeit stehen, als verharrte der Moment und als zögerte der Sekundenzeiger,
sich zu bewegen. Minuten schienen gar nicht mehr zu vergehen, und die Schicht
von drei Stunden währte ein ganzes Leben lang.
Die Ablöse, die zu einem Zeitpunkt
kam, da man mehr an Desorientierung litt als in allen Übungseinheiten des Astronautentrainings
zusammen, lief wie eine heillose Flucht ab, und das Betreten des sicheren
Boden auf Alpha war wie ein Einzug ins Gelobte Land.
Alan war nach seiner Landung unangemeldet in Koenigs
Büro getaumelt und hatte eine sofortige Einstellung der Adler-Überwachung verlangt.
John hatte, irritiert von der Verwirrtheit seines Ersten Piloten, gleich aus
dem Medizinischen Zentrum Hilfe angefordert, was Alan in Rage versetzt
hatte. Er hatte John vorgeworfen, sich hinter seinen Mitarbeitern zu verstecken,
ohne ein offenes Ohr für sein Personal, für die Leute an der Front, zu haben.
Daraufhin war eine Kälte
in Johns Miene gekehrt, die Alan nur selten gesehen hatte, und er hatte seine
Anforderung nach Hilfe aus dem Lazarett abgesagt. Seine Worte waren so förmlich
gewesen wie ein offizielles Ansuchen, als er ihn aufgefordert hatte zu sprechen.
Alan hatte ihm erklärt, dass seiner Meinung nach die geistige
Gesundheit seiner Piloten gefährdet war, wenn sie auch weiterhin ihren Dienst
da draußen im All versehen mussten und dass dieses Wachen an der Feindeslinie
ohnedies überhaupt keinen Sinn machte, denn wenn Leïda dazu in der Lage war,
die Menschen zu beschützen, dann brauchte es die Patrouillen nicht, und wenn
sie es nicht konnte, dann war die Mondbasis, Adler hin oder her, sowieso dem
Untergang geweiht.
Der Commander hatte die Ansicht seines Ersten Piloten
alles andere als geteilt und hatte ihn erregt gefragt, was denn die Alphaner
glauben würden, wenn er die Adler von der Linie abzog.
"Sie werden denken, dass John Koenig der Mut verlassen hat, dass er vor lauter Hoffnungslosigkeit nicht einmal mehr daran denkt, die Basis zu schützen! Alan, du musst verstehen, dass ich das nicht tun werde! Denn bisher sind alle diszipliniert, willig, die Dinge zu tun, die notwendig sind, wenn es auch am Ende auf nichts anderes hinausläuft, als würdevoll zu sterben! - Was ich unter allen Umständen verhindern werde." Alan war unbeeindruckt gewesen, die Impressionen da draußen im All waren noch zu frisch und furchterregend!
"John, ich bitte dich! Du weißt gar nicht, was du von den Männern verlangst." Des Commanders frostiger Blick hatte ihn gemustert, er selbst hatte blauäugig zurückgestarrt.
"Ich war selbst draußen, Alan. Ich weiß, was es heißt, dort Wache zu schieben." Alan war aus allen Wolken gefallen.
"Du warst da draußen? Und wieso weiß ich nichts davon?"
"Ich hatte mich kurzfristig dazu entschlossen, du hast gerade geschlafen. Ich wollte wissen, ob diese Aktion den Leuten zumutbar ist."
"Aber John!" Alan war wirklich aufgebracht gewesen. "Ich als Verantwortlicher für die Adlerflotte und Erster Pilot werde nicht davon verständigt, wenn der Commander die Basis verlässt - und vielleicht sein Leben riskiert? Wieso hast du mir nach deiner Rückkehr nichts davon gesagt?" Johns Miene blieb undurchdringlich.
"Nun, ich war ähnlich gut drauf wie du es jetzt bist. - Alan, ich werde nicht länger mit dir über meine Entscheidung diskutieren. Vorläufig bleibt es dabei, dass ich an der Front unsere Präsenz wünsche. - Und dir rate ich, einen Abstecher bei Bob Mathias zu machen."
"So? Warst du denn dort?"
"Ich habe ja Helena."
"Und was sagt sie?" Johns Blick hatte an Schärfe verloren, und der Hauch eines Lächelns war mit der Antwort in seine Mundwinkel gekehrt.
"Dass ich zu Mathias gehen soll."
Es war das versöhnliche Ende eines Streitgesprächs gewesen, aber Alan schwante es, da er nun über die ganze Diskussion nachdachte, dass er den falschen Weg gewählt hatte, sein Anliegen durchzusetzen. Er hätte zur Chefärztin gehen müssen, denn wenn es jemand schaffte, John plausibel ein anderes Vorgehen einzureden, so war sie es.
Er wälzte sich im Bett herum. Das helle Licht störte ihn, aber die Vorstellung, im Dunklen liegen zu müssen, schreckte ihn ab, denn mit der Dunkelheit war es, als kröchen die Drachen herbei und legten sich zu ihm, an seine Seite, um ihn in den Tod zu singen.
14
Der Weg aus dem Wirrwald hatte bald in der Hauptstraße gemündet,
die Kierons Gruppe vor dem Hindernis verlassen hatte, und diese führte knapp an der Steinburg
vorbei. Kaum eine halbe Stunde, nachdem der letzte Baum des Waldes hinter ihnen
lag, fuhr der Schlitten durch das Tor in den Burghof ein. Keine verschlossene
Pforte verhinderte das Einfahren, kein Wächter stellte sich ihnen in den Weg,
niemand schien sich Sorgen darum zu machen, dass auch Lumpen die Welt bevölkerten
und selbst dieser unscheinbaren Burg ihre Aufwartung machen konnten.
Am Boden
des Hofes war
der Schnee völlig festgetreten und stellenweise auch etwas eisig, was auch nicht
verwunderlich war, denn es herrschte reges Treiben. Von überall her drangen
Gesprächsfetzen auf sie ein, Gelächter und Arbeitsgeräusche.
Zwei Mägde machten
sich am Brunnen zu schaffen, der wohl trotz der niedrigen Temperaturen nicht zugefroren
war, der Küchenjunge schleppte einen ganzen Arm voll Holz quer über den Hof,
eine Köchin war dabei, im Freien Hühner zu rupfen und gegenüber, in der Nähe
der Stallungen, inspizierte der Hufschmied mit kennerischem Blick die Hufe eines
vorgeführten phlegmatischen Wallachs, und daneben saß ein Messerschleifer, der
wohl gerade dabei war, den gesamten Messer- und Scherenbestand der Burg zu schärfen,
denn es türmten sich zwei riesengroße Körbe voller stumpfer Schneidewerkzeuge
neben ihm auf. Eine Handvoll kleiner Kinder tobte durch den Hof und wurde von
einem unwirschen, buckligen Kerl, der ein ganzes Bündel erlegter Hasen
zur Küche brachte, verjagt. Aus sicherer Entfernung sangen sie ihm mit ihren
schrillen Kinderstimmen ein Spottlied hinterher:
"Arbidan,
Buckelmann,
trinkt vom Met
soviel
er kann!"
Aus den Rauchfängen kräuselte sich fröhlich grau-weißer Rauch, und aus der Küche dampfte der verführerische Duft köstlichster Speisen, der in einem Schwall zu den Reisenden herüber kam, als der bucklige Arbidan die Tür hinter sich mit heftigem Schwung zuknallen ließ.
Kierons Schlitten hatte angehalten, und gleichzeitig kam hinter weißen Tüchern, die auf einer Wäscheleine hingen und träge im Wind flatterten, ein eulenhaftes Wesen zum Vorschein, dessen handtellergroße Augen wie Fragezeichen auf die Fremden gerichtet waren. Dazu gehörte eine brennende Laterne, die mittels eines Riemens und einer kompliziert anmutenden Vorrichtung auf der Stirn der Eule fixiert war und unruhig in der Dämmerung flackerte, sowie ein nachtkleidartiger Umhang aus dunkelblauem Stoff, aus dem dürre Arme und Beine an den richtigen Stellen herausragten. Die Füße steckten in großen Plüschpantoffeln, die nicht den Eindruck machten, als seien sie für eine Anwendung außerhalb des Hauses gedacht. Das Wesen näherte sich den Ankömmlingen und stolperte und glitt über den glatten Boden, bis es endlich stehen blieb und sich unter abfälligem Schnauben am Kopf zu schaffen machte. Die riesigen Augen lösten sich zusammen mit der Lampe, die durch die Manipulation erlosch, und hinter der Apparatur kam zusammen mit seinem weißen Wuschelhaarberg und langem Bart ein ältliches Männlein zum Vorschein, das alsbald weitere Anstrengungen unternahm, sich einerseits schlingernd und rutschend zu nähern, und andererseits mit zusammengekniffenen Augen zu erspähen, wer denn der werte Besuch war.
Nun war es an den Reisenden, ihrerseits einen zweiten Blick zu riskieren, denn nach Abnahme der grotesken Gesichtsverkleidung, war es nicht schwer zu sehen, dass sie den alten Herrn schon kannten.
"Du bist uns schon im Wirrwald begegnet!", sagte Kieron ohne ein Wort des Grußes, "Du hast versucht, uns auf die falsche Fährte zu führen!" Der Alte blieb, unverhohlen einen amüsierten Gesichtsausdruck zur Schau stellend, stehen.
"Toru, der alte Taugenichts", sagte er, "ich habe ihm schon hundertmal gesagt, dass er mich bei seinen Fallen aus dem Spiel lassen soll! Der nutzlose Kerl hat eine imago von mir hergestellt, und es gibt Leute, die behaupten, sie sähe mir ähnlicher als ich selbst!"
"Wir bringen dir deine machina", erläuterte Kieron seine Anwesenheit, und Felisar schlitterte auf seinen lila Pantoffeln über den glatten Schneeboden zur Ladefläche des Fahrzeugs, während er Gaiden die seltsame Vorrichtung, die er am Kopf getragen hatte, in die Hand drückte. Der betrachtete sie verblüfft.
"Ha-Haaaaa!", schrie Felisar mit Begeisterung, "Mein astronomicon! Wunderbar, das werden wir gleich in den Turm bringen, ich habe dafür schon einen hervorragenden Platz gefunden!" Er rieb sich die Hände und fing an, aufgeregt hochzuklettern, um die schützende Plane von der machina zu entfernen. Die Zwillinge eilten ihm zur Hilfe, nicht, ohne sich vorsorglich zu erkundigen, ob er denn mit dem Auspacken nicht warten wolle, bis sie an Ort und Stelle sei.
"Aber nein! Warum denn?" Er umrundete bewundernd das Werk und beäugte mit kurzsichtigem Blick die kunstvolle Ziselierung, drehte an den Rädchen und krabbelte schließlich am Boden herum, um sich nur ja nichts entgehen zu lassen. "Künstler!", ließ er schließlich selig verlauten, "Künstler sind sie dort im Osten! Das ist ein Wunderwerk!" Kieron stand unbeeindruckt daneben, während sich die anderen über den Eifer des alten Mannes amüsierten.
"Und wie sollen wir das Ding in den Turm bekommen?", fragte er schließlich, die Arme vor der Brust verschränkt. "Es scheint dir entgangen zu sein, dass selbst die Tür zum Turm zu eng ist für die machina!" Felisar wedelte, noch halb auf der Ladefläche kniend, desinteressiert mit der Hand.
"Ja, jaaa", gab er zu, "sie ist ein bisschen eng. Aber ich brauche die Tür ohnehin nicht, denn das astronomicon wird da oben durch das Fenster in den Raum gebracht!" Damit wies er triumphierend auf eine Luke, die sich ganz oben im Turm, fast zwanzig Meter über der Erde, befand und sogar noch kleiner war als die eben schon beanstandete Tür. Kieron sagte nichts mehr, doch sein Gesicht sprach Bände. Er hielt den Alten für einen ausgemachten Trottel.
Felisar dagegen warf sich in Position, indem er, aufrecht
stehend, die magere Hühnerbrust nach vorne reckte, sein störrisches Haar nach
hinten und den langen Bart, der über die Schulter auf seinem Rücken hing, ordnungsgemäß
an die Front verfrachtete und schließlich beide Arme hob, um damit auf das astronomicon
zu zielen. Gleich darauf bewegte er sich und wies in die Richtung des Turmes
samt seines Fensters, und siehe da, die machina erhob sich wie ein braves
Kind und schwebte gemächlich auf die Luke zu, die sich plötzlich wie ein schwarzes,
sich öffnendes
Maul dehnte und streckte und größer wurde, bis sie in voller Ausdehnung den ganzen metallenen
Kasten schluckte. Als er verschwunden war, schrumpfte sie wieder auf die ursprüngliche
Größe zusammen und starrte unschuldig auf die sie umgebende Landschaft herab.
Felisar
klopfte sich die Hände an den Oberschenkeln ab und winkte die Leute fidel zu
sich.
"Heute ist mir nach einem Bankett!", rief er, "Seid meine Gäste! Ihr seid alle an meiner Tafel eingeladen!" Kieron zögerte sichtbar. "Keine Angst! Für eure Pferde und den Schlitten wird gesorgt. Kümmert euch nicht darum." Kieron machte noch immer keine Anstalten, sich von der Stelle zu rühren, und Felisar blickte ihn etwas ratlos an. "Wenn du dir Sorgen um deine Bezahlung machst, so kann ich dir versichern, dass du meine Burg nicht ohne den vereinbarten Betrag verlassen wirst." Kieron schüttelte grimmig den Kopf.
"Es gibt hier Personen, die nichts an deinem Tisch verloren haben", brummte er und wies auf Jhess und Gaiden. "Sie sind meine Leibeigenen und werden uns nicht begleiten." Felisars Antwort war eine wegwerfende Handbewegung.
"Unfug! Hier gibt es keine Leibeigenen, und sie kommen mit."
"Ihr werdet dort bleiben, wo ihr hingehört", befahl Kieron den beiden und deutete auf die Stallungen. Seit sie Atlan verlassen hatten, waren Jhess und Gaiden zusammen mit den anderen Armen, die sich nicht mehr leisten konnten, in den Stallungen der verschiedenen Gasthäuser einquartiert gewesen. Anfangs war es eine Erniedrigung gewesen, die besonders Gaiden schwer zu schaffen gemacht hatte, doch schon nach kurzer Zeit hatten sie bemerkt, dass es unter dieser Gruppe von Reisenden eine Art brüderliche Gemeinschaft gab mit einem eigenen "Reise-Ethos", der diese ständig wechselnde, heterogene Gesellschaft zu einer verschworenen Einheit machte, die jeden akzeptierte, wenn er sich nur an die ungeschriebenen Gesetze hielt. Dazu gehörte beispielsweise, dafür zu sorgen, dass keiner in den wirklich kalten Wintermonaten draußen übernachten musste und wenigstens eine Schale der wässrigen "Wandersuppe" zum Essen bekam, die von den Wirtsleuten für diese Art von Gästen gekocht wurde. Diebstahl war das schlimmste Verbrechen, das begangen werden konnte, und wer dabei erwischt wurde, war für alle Zeiten ausgestoßen und musste sehen, wo er blieb.
Felisar aber schien nun etwas ungeduldig zu werden.
"Meine Einladung gilt für alle oder keinen", ließ er mit einem resoluten Zwinkern verlauten und nahm Gaiden die Apparatur ab, die er nach wie vor in Händen hielt und vor unterdrücktem Zorn fast zerquetschte.
"Mein spectulum", sagte er nicht ohne Stolz,
"wusstest du, dass jeder Schneekristall anders aussieht! Und je genauer
man ihn betrachtet, umso vielfältiger wird er!" Gaiden schüttelte den Kopf
und folgte Felisar, der Kieron nun offensichtlich ignorierte.
Der fügte sich
schließlich mit finsterem Groll; er hatte es nicht vergessen, was ihm im Wald
passiert war und es war ihm anzumerken, dass er nach einer Möglichkeit suchte,
sich zu "revanchieren".
Der Stallbursche, ein kleiner, braun gebrannter Jugendlicher mit zu großer Kleidung, wandte seinen verwunderten Blick von Kieron ab und spannte die Pferde ab, nachdem er den Schlitten der Burgmauer benachbart geparkt hatte. Offenbar war es für ihn ein abwegiger Gedanke gewesen, dass irgendjemand von Felisars Gästen im Stall übernachten musste.
Über eine steile Treppe führte der Magier die Gruppe in das Haupthaus. Die ganze Burg schien ein verwinkeltes Labyrinth zu sein, das von außen kleiner wirkte, als es am Ende von innen wirklich war. Sie kamen durch eine große Säulenhalle, die mit ihrem Marmorboden wohl mehr in einen Palast gehörte als in die unscheinbare Steinburg, sie wurden durch Arkadengänge, die kleinen Hofgärten zugewandt waren, geführt, und überall wuselte es vor lauter Menschen. Eine bunte Schar von sehr unterschiedlich gekleideten Besuchern war zu sehen, die offensichtlich aus aller Herren Länder stammten. Einfache Leute aus dem Dorf mit schlichter, zweckmäßiger Kleidung, genauso wie sorgfältig herausgeputzte Männer und Frauen tummelten sich in den Gängen, nach ihrer jeweiligen Landestracht gekleidet oder auch angetan mit erlesenen, teuren Gewändern mit Perlenstickerei auf Gold durchwirkten Stoffen. Alle Arten von Kopfbedeckungen waren zu sehen, Turbane aus dem Königreich Bacht, breitkrempige, städtische Hüte, Barets aus dem Südwesten, und wuchtige Bärenmützen aus dem Norden. Gaiden verstand nicht alle Sprachen, die hier durch die Korridore hallten. Er wandte sich Jhess, die er unwillkürlich an der Hand genommen hatte, leise zu.
"Wenn es überhaupt jemanden gibt, der uns erzählen kann, wo wir das Fernland finden können, dann muss er hier sein!" Sie drückte seine Hand lächelnd, ohne den Blick von den vielen unterschiedlichen Menschen zu lassen.
"Ich frage mich, ob es hier vielleicht noch einen Fernländer gibt - wie wir?", meinte sie versonnen. "Er könnte uns wenigstens erzählen, wie es dort ist."
"Das wüsste ich auch gerne." Spot war wieder zum Leben erwacht und eilte aufgeregt schnüffelnd hierhin und dorthin, und stellte schließlich einer schwarz-weißen Katze hinterher, die mit zornbebendem Fauchen auf den nächsten Fenstersims sprang, wo sie eifrig von Spot angebellt wurde.
"Spot, komm her", rief ihn Gaiden zu sich, "du kannst dir doch nicht schon bei der Anreise die ersten Feinde schaffen!" Der Hund ließ widerwillig von seiner Belagerung ab, und die Katze entfernte sich naserümpfend und mit aufgestelltem Schwanz. "Was machen die vielen Leute in deiner Burg?", fragte Gaiden den Magier, der ein freundliches, wenn auch ein wenig abwesendes Lächeln für die vielen Menschen bereit hatte.
"Sie studieren", war die Antwort, "sie kommen hierher, um alles über die Welt zu erfahren. Wer die Aufnahmeprüfung besteht, kann hier lernen, was das Herz begehrt. Meine Lehrer kommen von überall her, ebenso wie die Schüler."
"Auch aus dem Fernland?", wagte Jhess angehaltenen Atems zu fragen. Felisar musterte sie mit bernsteinfarbenem Blick, in dem eine seltsame Art von Mitgefühl lag. Jhess fühlte sich elend. Felisar lachte leise und brach damit den Bann.
"Haha, dem Fernland! Nein, aus dem Fernland wirst du hier niemanden finden. Niemanden außer euch beiden, meine ich."
"Jodan sagte..."
"Meinem Freund Jodan ist Schlimmes widerfahren", unterbrach der Magier sie, und über seine schattenhafte Miene legte sich Trauer. "Aber es war gut und richtig so. Jodan ist dem Ruf seines Schicksals gefolgt."
"Aber er sagte...", probierte es Jhess erneut, und Felisar legte seinen Zeigefinger auf ihren Mund, während ein altväterliches Lächeln seine Augen umkräuselte.
"Später", vertröstete er sie, "später. Nun sollt ihr erst die Gelegenheit haben, euch ein wenig frisch zu machen!" Er hielt ein junges Mädchen, das mit einer großen Wasserkanne über den Gang eilte, auf. "Tara, zeige diesen Leuten ihre Quartiere und sorge dafür, dass sie sich wohl fühlen."
"Jawohl, Meister", erwiderte sie rotwangig, "aber ich bin Elsra und nicht Tara."
"Hab ich doch gesagt!", murmelte er verwundert und entließ die Gruppe in ihre Obhut.
Ihre Unterkunft war einfach aber bei weitem das Beste,
das Jhess und Gaiden gesehen hatten, seit sie sich auf ihre Reise ins Nirgendwo
gemacht hatten. Ein achtkerziger Kandelaber sorgte zusammen mit einer schrulligen
Deckenbeleuchtung, die wie eine vielköpfige Hydra von der Decke hing,
für Helligkeit, ein fröhliches Feuer prasselte im Kamin und tauchte
den Raum in angenehme Wärme, das Bett hatte saubere, weiße Bezüge und eine echte
Daunendecke, und es gab sogar eine Kommode mit Spiegel.
Jhess hatte noch
in keinen Spiegel gesehen, seit sie Yemenes Hütte verlassen hatten, und sie
erschrak, als sie einen Blick hineinwarf. Müde Augen musterten sie aus einem
spitzen Gesicht heraus, das nicht mehr ganz so bleich schien wie am Anfang,
aber vom dunklen Teint, den sie an den übrigen Menschen gewohnt war, dennoch
sehr stark abwich. Das helle Blau ihrer Augen stach unangenehm heraus,
auch wenn sie Gaidens Blick, den sie gewohnt war, liebte und nie als störend
empfunden hatte. Sie nahm die Tücher vom Kopf, und ihr mittlerweile langes Haar
löste sich aus seinem Knoten und fiel ihr ins Gesicht. Mit hängenden Schultern
stand sie vor dem Spiegel und starrte auf ihre unförmige Gestalt, während ihr
die schlanken, schönen, edlen, dunklen Frauen mit den ausdrucksvollen Augen
und dem braunen oder schwarzen, sorgfältig hochgesteckten Haar, die ihren
Weg zuvor gekreuzt hatten, lebhaft im Gedächtnis herumtanzten.
Gaiden
näherte sich ihr von hinten und legte seine Arme um sie.
"Du bist die schönste Frau der ganzen Welt", sagte
er im Brustton der Überzeugung und hielt sie fest. Sie seufzte und lehnte sich
an ihn. Der Spiegel erzählte ihr etwas anderes.
An der Tür klopfte es, und,
hereingebeten, trat die junge Elsra ein, um ihnen zu zeigen, wo das Badehaus
war. Verblüfft näherte sie sich Jhess und nahm sie ungeniert in Augenschein.
"Ich habe noch nie so ein Haar gesehen", bekannte sie beeindruckt, "ich werde Felisar fragen, ob er einen Zauber weiß, der goldenes Haar macht." Gaiden grinste Jhess triumphierend an, und sie richtete die Augen gegen die Decke.
---
Das Bankett war ein Festmahl sondergleichen, Gaiden und Jhess hatten noch nie eine solche Fülle an essbaren Köstlichkeiten gesehen - noch sie sich auch nur annähernd vorstellen können. Die Tische bogen sich unter der geballten Ansammlung von Terrinen und Platten, von denen in betörenden Wolken einladende Düfte ausgingen. Bouillons und Suppen mit Gemüse, Fisch, Kartoffeln und Wurst, Linsen oder Bohnen wurden an den Tischen herumgereicht, und es war schwierig, nicht schon bei diesem ersten Gang einen Sättigungsgrad zu erreichen, der ein weiteres Schlemmen unmöglich machte. Es folgte eine schier unbewältigbare Flut aus Gebratenem, Gesottenem, Gekochtem, Sautiertem, Frittiertem, Gegartem, Geschmortem und Gedämpftem in einer rasanten Abfolge, die kaum mehr als zwei Bissen zuließ, ehe die nächste Speise aufgetragen wurde. Der Wein floss in Strömen, und es war, als flögen einem die gebratenen Tauben in den Mund. Das Mahl wurde flankiert von einem schwirrenden, wehenden Hin und Her aus fast fliegenden Dienstboten mit Schüsseln und Tabletts voller Speisen, die, aus einem endlos scheinenden Vorrat in der Küche schöpfend, nicht müde wurden, immer neue Gerichte aufzutragen, selbst, als auch die stärksten Esser mit lang gestreckten Gliedern an den Tischen hingen, aus hervorquellenden Augen und mit hängenden Backen auf das Gelage starrten und dabei seufzten und stöhnten, als hülfe dies gegen das unmittelbar bevorstehende Platzen des fülligen Schmerbauchs.
Es waren an die hundert Personen, die an dem Bankett teilnahmen,
und über allem lag ein lautes Gewirr aus Essgeräuschen, ausgelassenen Unterhaltungen
und der Lautenmusik der Bänkelsänger, die durch die Reihen schritten und die
Gäste mit Liedern und Possen unterhielten.
Kierons Gruppe saß an einem der Nebentische, zusammen
mit zwei schwarzen Gelehrten aus dem Erntal und vier munteren Schwestern aus
der Stadt Orlo, die einander wie ein Ei dem anderen glichen und schwarz-rotes
Haar hatten, das sich zu Fontänen auftürmte und bei jeder Bewegung der Schwestern den
Eindruck machte, als müsse es sich gleich kopfüber von ihrer Besitzerin stürzen.
Sie alle radebrechten fröhlich miteinander und schütteten Unmengen von Wein
in sich hinein, bis sie, im Stadium inniger Verbrüderung angekommen, gemeinschaftlich
die ermatteten Häupter in den Tellern mit Sauce- und Knochenresten
vor sich am Tisch zur Ruhe betteten. Die Zwillinge und Tommo hielten dabei mit, während sich die
restlichen Mitglieder der Reisegruppe aus verschiedensten Gründen zurückhielten.
Kieron
aß nur sehr wenig, während er das Treiben rund um sich mit missbilligendem,
stechendem Blick beobachtete, und er strahlte dabei eine Kälte aus, die eine
der roten Schwestern dazu veranlasste, einen Arm breit von ihm abzurücken
und so fast auf Gaidens Schoß zu landen, dem sie dauernd schöne Augen machte.
Gaiden war das unverhohlene Interesse unangenehm, und er tauschte mit Jhess
Platz, was nur dazu führte, dass er auf der anderen Seite von einer weiteren
Schwester belagert wurde, die ihm mit schwerer Zunge unverständliche Komplimente
in ihrer Sprache machte.
Jhess nahm es nicht weiter schwer, denn sie wusste,
in welchem Bett Gaiden übernachten würde.
Felisar saß weiter weg an der Haupttafel, umgeben von einer
Schar ernst dreinblickender Männer und Frauen, die die Kleidung von Zauberern
trugen, dunkle Tuniken mit sparsamen Borten aus goldfarbenen Mustern, steifen
Krägen und Spitzhüten oder breitkrempigen Kopfbedeckungen. Felisar selbst stach
gegen seine Tischnachbarn heraus wie ein bunter Hund. Er hatte zwar sein Nachtgewand
ausgetauscht gegen einen bordeauxroten Umhang, doch die Kappe, die er dazu trug,
schien mit Eigenleben ausgestattet, und fiel einmal nach links und dann nach rechts,
wenn sie ihrem Eigentümer nicht gerade vor die Augen rutschte und manuell adjustiert
werden musste. Aus den Taschen des Mantels
machten sich unentwegt verschiedene Dinge mit mehr oder weniger belebtem Charakter
selbstständig, kleine Häschen entsprangen ihnen ebenso wie eine ganze
Serie von postkartengroßen Bildern mit Ansichten der Steinburg, ein lebendiges
Taschentuch, das diverse Formen imitierte und als Can-Can-tanzendes girl
zwischen den Platten auf dem Tisch herumhüpfte, bis es von einer Schüssel mit
gratinierten Kartoffeln erschlagen wurde, die ein Bediensteter auf den Tisch
gleiten ließ. Schließlich kollerte eine ganze Sammlung von bunten Glaskugeln
aus seinen Taschen, und Felisars Tischnachbar verhinderte gerade noch im letzten
Augenblick ein paar fürchterliche Stürze und Kollisionen des Personals, indem
er die Kugeln mit einem nachlässigen Winken seiner Hand verschwinden ließ.
Felisars
Blick indessen schweifte abwesend durch den Saal, doch einmal spürte Gaiden
ihn auf sich, und selbst aus der Entfernung drang er wie ein brennender Pfeil
hinter seine Fassade, und Gaiden wusste, dass der Magier nicht nur der verwirrte
alte Herr war, dem jeder alles durchgehen ließ, weil er harmlos war. Felisar
vermochte vieles und sah auch, was nicht offen dalag. Er war mit Mächten im
Bunde, über die man nicht sprach, weil allein ihre Erwähnung schon Unglück brachte.
Diese Erkenntnis war nicht gerade beruhigend, und Gaiden fühlte sich einen
Moment lang unsicherer als zuvor. Er versuchte, seine Furcht zu verbergen, doch
auch Jhess hatte gesehen, was er gesehen hatte, und sie wandte sich ihm
zu.
"Jodan war kein Falschspieler", sagte sie leise,
"ich habe seine wahre Gestalt gesehen, und er hätte uns niemals verraten."
Gaiden seufzte unglücklich, er konnte seine Gefühle zur Situation nicht recht einordnen,
weil ihm klar war, dass er zu wenig über Felisar wusste. Es hieß, dass er der
Mächtigste aller Zauberer war, und keiner der Menschen, die sich auf
seiner Burg tummelten, machte einen unglücklichen Eindruck,
aber die Wahrheit lag immer im Verborgenen - und im Auge des Betrachters. Es
blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als abzuwarten und zu sehen, was Felisar
mit ihnen vorhatte.
Jodan hatte behauptet, dass der Magier wusste, wohin
er und Jhess sich wenden mussten, und er hatte vor, ihn zu fragen. Er dachte
zunächst darüber nach, wie er vorgehen sollte, und als er aufstand, um sich gleich an dieses Vorhaben
zu machen, sah er, dass Felisar den Saal bereits verlassen hatte.
Nun, also
nicht mehr heute, aber wenigstens stand ihnen eine angenehme Nacht bevor, in
einem richtigen Bett, keinem nackten Stroh, und nicht umgeben von einer Handvoll
laut schnarchender Wandergesellen und Reisegruppen, die bis spät in die Nacht
um wenige Kupfermünzen würfelten oder Karten spielten und dabei billigen Met
in sich hineinschütteten, bis sie den Verstand verloren. Er wusste, dass es
notwendig war, nur einmal, ein einziges Mal, die Nachtruhe zu genießen, und
dabei seine Frau ungestört in den Armen zu halten.
---
Die Nacht war klirrend kalt, und Kieron hatte Recht gehabt mit seiner Behauptung, dass der Tod auf diejenigen wartete, die in einer solchen Kälte draußen anzutreffen waren. Eisiger Wind schrammte um die Steinmauern der Burg, und alles verwandelte sich in starrendes Eis, selbst die Flagge mit Felisars Wappen, drei kunstvolle Einhörner zeigend, die sich in einem Reigen einander Angesicht zu Angesicht erhoben, hing klamm an ihrer Stange, ohne dem Zerren des Windes nachgeben zu können. Der Himmel war pechschwarz und von abertausend Sternen scharf durchsetzt, als hätte jemand zahllose Löcher in den dunklen Samt des Firmaments gerissen, und zwei Monde standen als scharfe Sicheln einander gegenüber, als wollten sie einander was erzählen.
Es war eine Nacht der Träume, die über die Menschen niederging, und sie krochen wie heimliche Gesänge aus den Nebeln des Unbewussten, tänzelten durch den Schlaf der Empfänglichen und trieben ihr Unwesen in deren entfesselten Gedanken.
Jhess war eine Träumende, die den harmlos scheinenden Pfaden ihres unterdrückten Bewusstseins folgen musste, bis es ihr ein schauriges, kaltes Szenario zeigte, leblose Mauern, die vom Tod umgeben waren, und verlorene Menschen, die nur darauf warteten, ihr Leben auszuhauchen. Es kam ihr alles widerwärtig fremd vor, und doch fühlte sie eine Verbundenheit mit diesen armen, zum Sterben verdammten Wesen, die schon so starr waren wie das Knirschen der winterlichen Eiszapfen im beharrlichen Pfeifen des Windes. Der Traum wich nicht, ließ sie nicht aus seinen Fängen los, und erst, als der erste Strahl der Morgensonne durch die Eisblumen am Fenster drang, gab er sie frei, und sie lag still, atemlos, in der wohligen Wärme des Bettes und lauschte Gaidens Schlaf neben sich.
15
Leïda stand am Fenster ihres Quartiers auf Mondbasis Alpha.
Die Landschaft bestand nur aus dunklen Schemen und Schatten und war eine luftleere
Finsternis, die auch ihr den sofortigen Tod beschert hätte, wäre sie ohne
Schutz hinausgetreten. Sie war ja ein Mensch, wie alle anderen auf der
Basis, doch mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet. Und trotzdem fühlte
sie wie die Menschen hier, merkte, dass die Leere an ihr zu zerren begann, die
Einsamkeit ohne Grach und Merinda, Tolgon und Mer, ihren Vertrauten. Vielleicht
aber zerrte auch etwas anderes an ihr. Sie fühlte sich schwach und nicht so
sicher, dass alles seinen vorbestimmten Weg gehen würde.
Sie lehnte sich
an die dicke Fensterscheibe. Das Glas isolierte Dank der besonderen Verbindungen,
die ihm beigemengt waren, hervorragend, und sie spürte nur eine leichte Kühle
an der Schläfe. Ihr Blick versuchte, die schwarzen Drachen zu erhaschen, die
über der Basis warteten, doch es war zu dunkel. Ein Aufblitzen zeigte ihr einen
Adler, der sich auf den Flug zur Verteidigungslinie machte, und sie seufzte.
Der Commander war ein Mensch, der gern versuchte, alles selbst in den Griff zu bekommen. Sie kannte ihn, schon von Klein auf - sie hatte ihn beobachtet, sein Leben lang.
Sie erinnerte sich an ihr erstes Treffen mit ihm.
Er war
noch jung gewesen, elf, zwölf Jahre, und ein energischer, schwarzhaariger Bursche voller Jähzorn,
der soeben eine Reihe von Scheiben eingeworfen und die gefüllten Mülltonnen
eines ganzen Straßenzugs umgeschmissen hatte, aus purer Frustration,
weil die Dinge nicht so liefen, wie er es sich gedacht hatte.
Er saß im Park auf einer Bank, das lange Haar unordentlich ins Gesicht hängend, vierrädrige Diskoroller an den Füßen. Eine gestohlene, viel zu große Fliegerjacke hing lässig über seinen Schultern, und mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand hielt er eine Zigarette, die rot aufglühte, während er unwirsch daran zog.
Leïda setzte sich neben ihn auf die Bank, und sein schmollender Blick traf sie.
"Die Bank gehört mir", ließ er sie mit schiefem Blick wissen, " verroll dich."
"Geht nicht", erwiderte sie und hob einen Fuß, der in bunten Sandalen steckte, "keine Rollschuhe." Er wandte sich von ihr ab und gab vor, den blauen Himmel zu betrachten und den Geräuschen der Straße zu lauschen.
"Ich weiß, dass du die Jacke und das Geld gestohlen hast", sagte sie und gab ebenso vor, den blauen Himmel zu betrachten und den Geräuschen der Straße zu lauschen. "Und dass das nicht das erste Mal war."
"Scheiße", sagte er, schnippte den Zigarettenstummel auf den Rasen jenseits des Parkweges und verschränkte die Arme vor der Brust. "Es hat mich niemand gesehen. Woher willst du das wissen?"
"Ich weiß alles", gab sie zur Antwort, "zumindest alles, was wichtig ist."
"Na, toll, und wirst du mich jetzt verpfeifen?"
"Du wirst die Dinge zurückgeben. Also wird es nicht nötig sein, dich zu verraten." Er warf ihr einen mitleidigen Blick zu, der ihr mitteilte, dass sie keine Ahnung vom Leben in der Bronx hatte. Fressen oder gefressen werden, hieß es da, selbst in seinem jugendlichen Alter.
"Das kannst du dir abschminken." Sie blickte unverwandt in den Park und beobachtete eine Gruppe von jungen Müttern, die, mit Kinderwägen bewaffnet, die Wege entlangfuhren, um den nächsten Spielplatz aufzusuchen.
"Weißt du", sagte sie nach einer Weile leise, "jeder hat die Möglichkeit, sich den Weg auszusuchen, den er gehen will. Jeder sucht sich seine Zukunft aus, mit seinen Einstellungen, seinen Entscheidungen und seinen Handlungen. Die Wünsche sind der Motor, sie sind die treibende Kraft, aber man muss, wenn man sie verwirklicht haben will, auch etwas dafür tun. Nichts wird einem geschenkt." Sie merkte, dass sie seine Aufmerksamkeit hatte, auch wenn er mit düsterem Blick auf den Boden vor sich starrte. "Wenn du es willst, wirst du eines Tages fliegen, dann wirst du eines Tages in ein Raumschiff steigen - und nicht nur den Mond betreten! Aber dein Weg entscheidet sich hier und jetzt. Es ist dein Entschluss, ob du die Dinge, die dir nicht gehören, behältst und so weitermachst, bis du im Gefängnis sitzt, oder ob du die Sachen zurückgibst und so die Stärke aufbringst, die Bronx zu besiegen. Dann kannst du auch deine Träume verwirklichen." Sein Gesicht hatte sich ihr zugewandt. Es war noch so jung und unwissend.
"Was bist du nur für eine psychedelische Tante?", fragte er, überrascht und beunruhigt davon, dass sie seine innersten, geheimsten und gleichzeitig brennendsten Wünsche erraten hatte, "Bist du auf LSD oder was?"
"Besser noch. Ich sehe die Zukunft."
"Das kannst du deiner Großmutter erzählen", erwiderte er abwertend. "Wer bist du überhaupt?"
"Gib mir deine Hand." Er war unwillig und störrisch, doch seine Neugier überwog, und nach einem scharfen Blick in ihre Augen entschied er sich, ihrer Aufforderung zu folgen. Sie nahm seine schmutzige Hand in ihre beiden Hände und hielt sie fest. Zuerst wollte er sie ihr entziehen, doch sogleich merkte sie, wie er in ihre Vision der Zukunft gezogen wurde.
In einem futuristischen Ambiente sah er einen mittelalterlichen, hageren Mann mit ausdrucksvollem Gesicht, der an einem vieleckigen Tisch stand und in die Runde blickte. Draußen war es dunkel, nur das Licht, das durch die Fenster hinausdrang, zeigte ihm einen kleinen Ausschnitt auf eine graue, leblose Mondlandschaft. Am Tisch im Raum saßen mehrere Personen, eine junge Frau mit kurzem, schwarzem Haar, ein Mann mit braunem Schnauzbart, eine Blonde, die mit einem Stift auf ihren Unterlagen herumkritzelte und ein älterer etwas abwesend wirkender Mann mit ziemlich breitem Mittelscheitel. John wusste sofort, dass er der Mann war, der da stand und dass er das Sagen hatte. Er ging hin und her und sprach mit den anderen, was der Junge nicht hören konnte, woraufhin die übrigen bestätigend nickten, sich erhoben und gingen. Die blonde Frau blieb sitzen und lächelte sein älteres Selbst an. Das Bild verschwamm und verschwand, obwohl er gerne noch mehr über diese Zukunft erfahren hätte.
Leïda blickte ihn an.
"Glaubst du mir jetzt?"
"Was war das für ein Ort?"
"Eine Station auf dem Mond."
"Wer war sie?", wollte er wissen, denn er hatte das unmittelbare, sehr aufregende Gefühl, sie zu kennen.
"Deine Frau", gab sie zur Antwort.
"Red keinen Scheiß", sagte er, doch sie antwortete nicht. In Wirklichkeit wusste er, dass sie ihn nicht belog. Verstört erhob er sich und fiel fast über seine Füße, weil er vor lauter Verwirrung vergessen hatte, dass er Rollschuhe trug. Ohne sich umzusehen, rollte er davon und nahm sich vor, diesen Vorfall im Gedächtnis zu behalten, um einst zu überprüfen, ob sie Recht gehabt hatte.
Leïda blickte ihm schmunzelnd nach. Sie wusste, dass er sie vergessen würde. Es war so gedacht - der Impuls war gesetzt, das Ereignis selbst, das dazu geführt hatte, schlüpfte ins Unterbewusstsein und blieb für immer im Verborgenen.
Viel Zeit war seit damals vergangen, und John Koenig hatte
nicht nur das Diebesgut zurückgebracht, sondern auch seinen Weg gemacht. Leïdas
Vision der Zukunft hatte sich erfüllt, und nun stand sie hier, war eine Gefangene
der Situation, ihres Schicksals - mehr noch war sie das als eine Gefangene der Alphaner - und dachte daran,
wie wenig sie gewillt war, den Weg zu gehen, der ihr bevorstand.
Einen Ausweg
jedoch gab es nicht, das war ihr bewusst, sie fühlte die Kälte des Namenlosen,
der nur darauf wartete, ihren Schutzschild zu zerschmettern und alles zu vernichten,
was wichtig für die weitere Zukunft vieler Welten war.
Mit einem Seufzen
wandte sie sich vom Fenster ab und legte sich mit ruhelosem Herzen aufs Bett.
16
Gaiden kam zusammen mit Jhess und Tommo vom Frühstück. Sie mussten über den freien Hof gehen, und Jhess warf ein Hölzchen, das Spot, ungewöhnlich aufgeweckt, apportierte und ihr überließ, nur, damit sie es für ihn wieder wegwarf. Plötzlich ertönten lautstarke Rufe, und unter schallendem Geklapper von Hufen ritten mehrere Männer über die Einfahrt in den Hof ein.
"Schnell!", schrie der Anführer der Gruppe, ein vermummter, wild aussehender Kerl, der im gleichen Atemzug vom Pferd sprang, "Wo ist Felisar? Wir müssen sofort zu ihm - die schwarzen Drachen sind auf dem Weg hierher! Sie werden bald da sein!" Er stürmte, ohne eine Antwort abzuwarten, davon, seine Männer im Gefolge, und die verblüfften Stalljungen hatte ihre Mühe, die in der Kälte dampfenden und aufgeregten Pferde einzufangen und sie zu beruhigen.
"Unmöglich! Sie können nicht schon hier sein!", sagte Tommo entsetzt, "Sie waren doch jenseits des Mittellandgebirges! Wie können sie so schnell hier sein!" Jhess hatte Gaiden am Ärmel gepackt.
"Nein", flüsterte sie, "Gaiden, das will ich nicht noch einmal erleben. Es ist, als ob sie einem das Leben aus jeder Faser des Körpers reißen wollten, als zerrten sie an dem einzigen Faden, der uns in dem Dasein hält." Er zog sie an sich und hielt sie fest, und ihre Nähe war ihm ein ebenso großer Trost wie seine Nähe ihr.
"Sie werden uns nichts tun", versprach er ihr leise, "Felisar wird etwas gegen sie unternehmen." Sie löste sich von ihm.
"Wird er, Gaiden?", fragte sie. "Ich bin mir nicht mehr sicher, was uns hier erwartet."
"Jodan war ein Freund." Sie lächelte traurig.
"Ja, das war er."
Im nächsten Augenblick waren laute Stimmen im Durchgang zum zentralen Komplex der Burg zu hören, und eine Handvoll Magier eilte in den Hof, die allesamt ehrwürdig und ernst waren, korrekt und dem Stand entsprechend gekleidet, um den Himmel in Augenschein zu nehmen. Felisar war unter ihnen leicht zu erkennen, denn er trug an diesem Morgen ein seltsames Unding aus längs gestreiften Stoffbergen ohne Kopfbedeckung, dafür von Drähten eingefasste, runde Gläser vor den Augen, die zu beiden Seiten mit henkelartigen Bügeln an den Ohren fixiert waren.
"Siehst du", sagte Gaiden flüsternd, "sie werden gegen die schwarzen Drachen unternehmen, was in ihrer Macht steht." Sie nickte, war jedoch nicht überzeugt, weil sie sich fragte, was denn tatsächlich in der Macht dieser Zauberer lag.
Der letzte der Magier war noch nicht im Hof, als eine sehr merkwürdige Stimmung über die Anwesenden schwappte. Es war, als käme eine Sonnenfinsternis über die Gemüter der Menschen und hüllte den hellen Tag in tiefe Finsternis.
"Sie kommen!", rief Tommo panisch, und Spot fing
an, wie wild im Kreis zu laufen, als wisse er nicht, in welche Ecke er zuerst
knurren müsse, um den Feind zu verscheuchen.
Ein Schatten legte sich über
die Burg, und es war tatsächlich, als verdunkelte sich der Tag, denn ein riesig
großer Drache schob sich in ihre Sicht, und dessen gemächlicher Flügelschlag
wehte den Männern die Hüte von den Köpfen, schleuderte die Wäsche von der Leine
und ließ die Kristalle des losen Schnees wie einen glitzernden Schleier über
den Platz wirbeln. Die Mäntel flatterten im geräuschlosen Heulen der Böen, und die Magier
standen aufrecht, richteten ihre entschlossenen Mienen nach oben zu den
Feinden, und doch taten sie - nichts! Sie beobachteten, was über ihnen vorging,
wie sich im hellen, kaltblauen Winterhimmel zu dem größten Ungetüm auch
noch mehrere kleine Drachen gesellten, die wie Fliegen um ihn herumkreisten,
während er wie suchend aus feurigen, pupillenlosen Augen herabstarrte. Die kleineren
Begleitdrachen dagegen hielten die Höhe nicht, sondern stießen immer wieder
in die Tiefe, und brachten mit ihrer Nähe zu den Menschen Wellen von unerträglicher
leerer Kälte, die tiefer als die winterlichen, frostigen Temperaturen ins Innere
drang und wie ein eisiges Greifen
tödlich kalter Fingerspitzen nach den menschlichen Feinden war. Es schien, als
dächten die Magier, dass sie nicht dazu in der Lage waren, die Drachen aufzuhalten,
denn sie beschränkten sich darauf, dem mächtigen
Schauspiel der reflexionslosen, schwarzen Leiber und deren lautlosem
Schwingenschlag in einer fast ergreifenden Manier blass machender Entrückung zuzusehen.
Im alles verschlingenden Sog der Untiere ging die Zeit verloren.
Mit einem Male lichtete sich das Halbdunkel über den Bewohnern der Steinburg, als wie auf Kommando die kleinen Drachen in alle Richtungen davonstoben und den Blick auf einen strahlenden Morgenhimmel freigaben, der wie ein Paradies der Helligkeit auf die Menschen herablächelte. Der große Drache war der letzte, der einen gemächlichen, wie bedauernden abschließenden Kreis über den Köpfen der ohnmächtig starrenden Menschen zog, und dann entschwand.
Es war frostig kalt, als die Körpersensoren wieder zu arbeiten begannen, und sich alle desorientiert und mitgenommen aufrappelten, um in die Wärme der Burg zu taumeln.
Gaiden und Jhess begaben sich klamm und ausgelaugt in ihr
Zimmer, um sich von der Todeskälte und der inneren Leere zu befreien. Diesmal war es, trotz des einen
übergroßen Drachens, nicht ganz so schlimm gewesen, denn aus
der größeren Ferne hatte die Unmittelbarkeit,
dieser fast lückenlose Kontakt zu den Schwarzen, gefehlt, dem sie das letzte
Mal ausgesetzt gewesen waren.
Sie hatten eben
erst das Feuer im Kamin, das mittlerweile erloschen war, erneut entfacht, als eine junge
Magd anklopfte und mitteilte, dass Felisar sie beide zu sehen wünschte.
Sie
wurden in die privaten Gemächer des Magiers geführt, und auf dem Weg dorthin
sahen sie, wie das Leben wieder auf der Burg einkehrte, verhalten zwar, aber
dennoch zuversichtlich und voller unverhohlener Freude, dass die Burg von den
übermächtigen Feinden verschont worden war.
Felisar erwartete sie, immer noch in den
längsgestreiften lächerlichen Umhang gehüllt und seine Augengläser auf der Nase,
durch die er einen deutlich weniger wirren Eindruck machte, wenn er auch müde
schien und ebenso erschöpft, wie sich Jhess und Gaiden fühlten.
Er stand
an einem ausladend großen Schreibtisch, auf dem sich in Leder eingebundene
Bücher zu abenteuerlichen Türmen stapelten und zahllose eng beschriebene Pergamentblätter
in einem systemlosen Chaos vor jeder Wiederauffindung erfolgreich versteckten. Drei Kerzen auf einem Armleuchter
flackerten beunruhigend nahe an den brennbaren Schriften, und Siegellack hing,
einst beim Schmelzen vergessen, in erstarrter Form vom Rand des Tisches und
klebte nebenbei mehrere Blätter zu einer nicht mehr trennbaren Einheit zusammen.
Felisar legte, einen entschlossenen Ausdruck im Gesicht, seinen
Federkiel auf die Seite, als sein Besuch eintrat. Gaiden sah sich bewundernd
um. Überall standen seltsame Apparaturen, deren Sinn er auf einen Blick nicht
ausmachen konnte, und die Bücherborde, die fast den gesamten Raum umfassten, quollen über vor geschlichteten und gestapelten
Schriftstücken jeglicher Natur. Die Möbel waren gepolstert mit dunklem Brokat
und wirkten edel und teuer. Felisar kam hinter dem Schreibtisch hervor und forderte
die beiden auf, Platz zu nehmen. Vor dem Kamin waren mehrere Sitzgelegenheiten
um einen niedrigen Tisch aus Nussholz gruppiert, und am Tisch stand eine Karaffe
mit dunklem, rotem Wein. Eine Geste des Magiers veranlasste die Karaffe, sich
zu erheben, und die Flüssigkeit rann, als sei sie ein kostbarer Lebenssaft, fast ölig in ebenfalls bereit stehende Kristallgläser.
"Was ist mit diesen Drachen?", fragte Gaiden den Alten schärfer als gewollt und ignorierte den dargebotenen Wein, obwohl er das starke Bedürfnis nach einem Schluck davon hatte. Er fühlte Jähzorn in sich aufkeimen, auch wenn er merkte, dass er noch geschockt war von dem zurückliegenden Ereignis. "Ihr habt sie nicht bekämpft!" Felisar lächelte nachsichtig und trank aus seinem Glas. Jhess, die sich wie eine Fremde in ihrem eigenen Körper vorkam, zu einer bloßen Zuschauerin degradiert, merkte, dass sie ihrerseits an ihrem Wein nippte. Ein wunderbares, belebendes, sonnendurchtränktes Gefühl schwamm mit dem Schluck in ihren Magen, und sie atmete befreit durch. "Ihr habt überhaupt nichts unternommen, um die Drachen abzuwehren!", drang Gaidens Stimme scharf und anklagend an ihre Ohren. Felisar beugte sich zu ihm vor.
"Gaiden, du verstehst nicht, das sind Erscheinungen aus den dunkelsten Tiefen der Existenz, den zugrunde liegenden Schichten, aus denen die Wirklichkeiten gemacht sind. Da sind Kräfte im Spiel, die du dir nicht ausmalen kannst - die selbst ich mir nicht ausmalen kann. Gegen sie können wir nichts ausrichten. Sie sind so alt wie das Leben selbst, und sie folgen anderen Regeln als jenen unserer Magie. Sie folgen den Gesetzen der Alten Mächte."
"Aber was wollen sie - und warum nehmen sie es sich nicht, wie sie es auch sonst tun, wenn sie wie Parasiten über das Land herfallen?" Der Magier stellte das Glas nachdenklich auf den Tisch zurück. Er wirkte sehr klar.
"Sie sind vollkommen blind, wenn sie in eure Nähe geraten", gab er schließlich zur Antwort, "weder sehen noch spüren sie euch, und vor ihren Augen ist nichts, was sie sich einverleiben und töten könnten."
"Was?" Gaiden gelang es nicht, seine Verblüffung zu verbergen. Endlich hob auch er das Glas, um es mit einem Schluck auszutrinken. Es entging ihm, welch vollendete Weinbaukunst hinter dem Tropfen steckte. "Ich verstehe überhaupt nicht, worum es hier geht!"
"Der ganze Krieg, alle Toten, das große Sterben in diesem Land ist aus der alleinigen Tatsache entstanden, dass sie dich und Jhess suchen! Sie müssen euch töten, denn ihr seid die Einzigen, die den Sieg des Namenlosen über alle Welten verhindern können. Und weil sie euch nicht finden konnten, begannen sie, einfach alles zu vernichten, was ihnen während ihrer Angriffe in die Quere kam." Beide starrten ihn voller Unglauben an.
"Weil wir Fernländer sind?", fragte Jhess nach einer Weile. Sie dachte an die sinnlose Zerstörung, die vielen toten Menschen und an die verbrannte Stadt Piraan. Ihr wurde schwer ums Herz.
"Auch", erwiderte Felisar vorsichtig. "Ihr müsst verstehen, der Grund, warum ihr für die Drachen unsichtbar seid, liegt darin, dass ihr keine Erinnerung habt. Nur das Wissen um euer Leben im Fernland, um eure wahre Identität, kann sie auf eure Fährte locken. Die bösen Träume, die unbewusst eure Verbindung mit anderen Welten und Zeiten an die Oberfläche bringen, sind für sie wie der Käseduft für eine Maus. Sie haben sie hergelockt - und doch konnten sie euch nicht sehen. Sie konnten gar nichts sehen, denn mit euch schützt ihr auch alle anderen, die um euch sind." Gaiden nickte. Der Vorfall im Mittellandgebirge war ihm noch erschreckend klar im Gedächtnis. Die Drachen waren, obwohl sie nur um Haaresbreite von ihnen entfernt gewesen waren, abgezogen, ohne irgendwem aus ihrer Gruppe ein Leid anzutun.
"Du kannst uns also nicht mehr sagen." Felisar schüttelte den Kopf.
"Jede zusätzliche Information, die ihr habt, würde euer Leben gefährden, weil sie dafür sorgen könnte, dass alles Wissen wie ein Sturzbach wieder über euch kommt. Und wenn ihr vor der Zeit alles wisst, dann seid ihr unweigerlich verloren." Nach seinen Worten war beiden offene Mutlosigkeit in die enttäuschten Gesichter geschrieben. Sie hatten sich zuviel von Felisar erhofft, sich zu sehr gewünscht, dass sich mit dieser Begegnung endlich alle Geheimnisse lüfteten.
"Aber ich kann euch wenigstens sagen, wo das Ende eures Pfades ist", meinte der Magier schließlich aufgeräumt in die schwere Stille hinein. Gaiden horchte auf. "Euer Ziel ist die Ewige Burg."
"Die Ewige Burg?"
"Sie war immer da - sie wird immer da sein."
"Und wo ist sie?" Felisars Lächeln war wieder zerstreut wie eh und je.
"Sie ist auf keiner Karte zu finden. Wer auf dem Weg zu ihr ist, kann sich nicht verirren." Das war ein Hoffnungsschimmer. So waren ihre monatelangen ziellosen Wanderungen nicht umsonst gewesen, sondern hatten sie beständig näher an die Burg gebracht.
"Aber Felisar, wir sind Kierons Leibeigene", machte Gaiden den Magier auf ihre Lage aufmerksam. "Er wird uns nicht freigeben, umso weniger, als wir ihn offensichtlich gut vor den Angriffen der schwarzen Drachen schützen können. Er hat uns mit dem Tode gedroht, falls wir auf die Idee kämen zu flüchten. Und er wird die Drohung zweifellos auch wahrmachen. Denn wir nützen ihm nichts, wenn wir nicht bei ihm sind." Der Magier wirkte, als sei er mit etwas ganz anderem beschäftigt. Seine unsäglichen Hauspantoffel begannen, ohne ihn im Raum auf- und abzumarschieren.
"Nun, wir werden sehen", meinte er schließlich. "Trinken wir noch einen Schluck dieses köstlichsten aller Weine." Gaiden hob das Glas voller Bitterkeit, Jhess nahm ihres seufzend auf. Ihr kam es vor, als sei ihr der einzige kleine Schluck, den sie zuvor gemacht hatte, bereits zu Kopfe gestiegen.
Gaiden hatte kaum sein Glas zurück auf den Tisch gestellt, als die schwere, dunkle Holztür aufflog, und Kieron, Rongdon im Gefolge, hereinpolterte. Der Zwerg wirkte krummer, entstellter und zerstörter denn je, wie er hinter seinem Herrn hertrottete, einen verwunderten, verwirrten und gleichzeitig mitgenommenen Blick im schiefen Gesicht.
"Was geht hier vor?", regte Kieron sich auf, da er offensichtlich unfreiwillig hergetrieben worden war, und seine Miene überschattete sich düster, als er die beiden Fernländer wahrnahm. "Was treibt ihr hier? Glaubt ihr, nur, weil ihr nicht im Stall übernachten müsst, könnt ihr tun und lassen, was ihr wollt? Ich verlange von euch, dass ihr euch sofort trollt und alles für die Abreise vorbereitet. Ich werde von Felisar meinen Lohn für den Transport der machina holen und mich für seine Gastfreundschaft bedanken." Der Magier legte seinen Kopf schief, als Kieron vor ihm stehen blieb.
"Setzen", sagte er, und im selben Atemzug rückten zwei der gepolsterten Sessel hinter die beiden Männer, schoben sich von rückwärts an ihre Beine und veranlassten sie so, auf die Sitzfläche zu fallen.
"Ich möchte dir Jhess und Gaiden abkaufen", erklärte der Alte, und sein Blick machte einen leicht irren Eindruck. Kieron lachte.
"Sie sind nicht verkäuflich. Ich brauche sie selbst." Felisar schaute in die Ferne. Sein leerer Blick machte es schwer, einen ernstzunehmenden Gesprächspartner in ihm zu sehen, und Gaiden hatte den Verdacht, dass all seine Felle davonschwammen. Wenig später war der Magier wieder im Hier und Jetzt, und sein Blick traf Kieron. Es war derselbe Ausdruck, wie er ihn am Abend zuvor gehabt hatte, und jetzt begriff Gaiden es. Er hatte auch da dem Händler gegolten, denn dieser zuckte nun unwillkürlich zusammen, während sich seine Augen im Wiedererkennen des Schreckens weiteten.
"Was willst du von mir?", stöhnte er zornig, "Ich habe mir nichts zu Schulden kommen lassen!"
"Leibeigene!", stieß Felisar angewidert aus, "Aus freien Menschen Sklaven zu machen! Das würde dir so passen." Kieron wand sich unter seinem Blick und Schweiß trat auf seine Stirn.
"Ich weiß nicht, wovon du redest. Sie haben mein Geld verloren und werden ihre Schuld bei mir abtragen. So lange bleiben sie mein Eigentum!" Felisar fuhr fort, ihn zu mustern, und Kieron war wie in einem Bann, der ihm eine Bewegung seines Körpers verwehrte.
Jhess fragte sich, was hier vor sich ging, sie konnte sich
das seltsame Verhalten des Magiers nicht erklären. Warum er Kieron in die Mangel
nahm, war ihr ebenso unklar, wie dessen hartnäckiges Beharren auf sein rechtmäßiges
Vorgehen. Sie sah darin keinen Sinn, bis sie einen Blick auf Rongdon warf. Er saß
neben Kieron und machte den Anschein, als schlüpfte er in sich selbst, als zöge er sich wie
eine kleine Schildkröte vor den Unbillen des Lebens in seinen Panzer zurück,
ins Nichts seines grauen Daseins. Jedoch ehe er sich gänzlich aus der Situation verabschiedete, sah
er Jhess an, die ihn betrachtete. Sie erkannte sein Leid
und konnte den Blick nicht von ihm abwenden, bis sie bemerkte, wie sich eine große
Träne aus seinem rechten Auge davonstahl und, ihre nasse Spur hinter sich zurücklassend,
über die pockennarbige, breite Wange rann. Er schniefte herzerweichend und wandte
sich Kieron zu. Dann kletterte er stöhnend auf den Sessel, beugte sich zu ihm
und griff in die linke obere Brusttasche seines Herrn.
Ein lederner Beutel
kam zum Vorschein mit den geätzten Mustern kleiner fliegender Figuren.
Rongdon
seufzte und legte Jhess den Beutel wie eine Opfergabe in die geöffnete Hand.
Seine langen Finger berührten sie, und sie erkannte die Absicht dahinter,
seine Sehnsucht danach, zu sehen, was ihm schon einmal gezeigt worden war: ein
Blick in Jhess' Seele, die noch so jung wirkte, weil sie so wenig wusste von
lebenslangen Qualen, und doch ein seltsames Geheimnis verbarg, das wie ein Schatten
durch das dünne Kleid ihres Bewusstseins schimmerte.
Jhess sah im Flimmern
eines Augenblicks, wie Rongdon aus einem nichtigen Grund von Kieron misshandelt
wurde, sah entsetzt, wie der Prügel wieder und wieder auf den wehrlosen
Zwerg niederging, als er schon reglos in einer Ecke am Boden lag. Sie fühlte
seinen Schmerz, die gebrochenen Rippen und den aufgeplatzten Rücken, und wie
ein kleiner Funke stob ein heilender Hauch aus ihren Fingern, um wenigstens
diese Wunden zu beseitigen. Rongdon schaute sie überrascht an und richtete sich
endlich aus seiner gebückten Haltung auf. Ein zaghaftes Lächeln kam in sein
entstelltes Gesicht, und er sank zurück auf seinen Sitz.
Jhess hielt Gaiden und Felisar den Beutel entgegen. Kieron war verstummt, immer noch gefangen in des Magiers Blick - und nun nur noch ein entsetzter Zuschauer der Szene. Der Geldbeutel glitt in Gaidens Hand, und er sah die kleinen Feen aus dem Ebelstal, wie sie ihn, gefangen im Augenblick des Bildes, wieder neckisch anlachten.
"Du selbst steckst dahinter?", wollte er bestürzt wissen, als ihm die Bedeutung des Beutels klar wurde. "Du hast Ronam dazu gebracht, uns zu fangen, damit er uns verkaufen konnte?"
"Er konnte es schließlich nicht selbst tun!" Felisars Stimme war hart und kalt. "Er hat einen Ruf zu verlieren und hat versucht, die Sache mit Hilfe des Diebes auszuführen. Es hätte ihnen beiden eine immense Summe gebracht, aber als der Versuch fehlschlug, fiel ihm eine bessere Lösung ein: Er machte euch zu seinem Besitz, zu seinen Sklaven, die eine wunderbare Gabe haben und ihn vor allen Gefahren durch die Drachen bewahren können - und außerdem bleibt ihm die Möglichkeit, euch, wenn er euch nicht mehr braucht, an den Höchstbietenden zu verkaufen. Mit dem Vorteil, dass er den Erlös nicht zu teilen braucht. - Kieron, wenn du nur nicht so gierig und geizig gewesen wärst, diesen kleinen Betrag, der sich hier in dem Beutel befunden hat, von deinem Bruder Ronam zurückzuverlangen, dann wärst du heute davongekommen. Die Schuld, die auf dem Beutel liegt, hat dich verraten." Er wandte sich an die beiden Fernländer. "Ihr zwei seid jedenfalls freie Menschen, und ich rate euch, euch bald auf den Weg zur Ewigen Burg zu machen, denn ich sehe, die Zeit drängt." Sein Lächeln nahm wieder einen abwesenden Charakter an, und er erhob sich, offenbar ohne zu bemerken, dass er Kieron nach wie vor in seinem Bann festhielt. Der saß wie erstarrt vor ihm, einen hilflosen, zornigen Blick in den gefesselten Augen und keuchte laut in machtloser Aggression.
---
Der Abschied von der Steinburg fiel Jhess und Gaiden am folgenden Tag nicht leicht. Sie fühlten sich in dem bunten kulturellen Durcheinander wohl, weil sie hier als Gleiche unter Gleichen behandelt wurden. Und es war auch das erste Mal gewesen, seit sie sich auf ihre Reise gemacht hatten, da sie an einem bescheidenen Luxus teilhaben durften, ein Zimmer mit Bett und kein Strohlager, Besuche im Badehaus und gereinigte Kleidung. Eine Fülle an Essbarem.
Felisar stand am Burgtor und winkte mit einem weißen Taschentuch,
das beständig versuchte, sich aus dem festen Griff seiner Finger zu winden,
um sich davon zu machen.
Gaiden drehte sich ein letztes Mal um und ließ die
Gestalt des alten Magiers auf sich wirken, wie er, in einem wallenden schrill-gelben
Umhang mit aufgedruckten Obstmotiven, Kirschen, Äpfeln, Birnen und Pfirsichen,
vor der mächtigen steinernen Burgmauer stand und wieder so überhaupt nicht den
Eindruck vermittelte, als könnte er bis drei zählen.
Spot kläffte fröhlich, er war den beiden mit geradezu beleidigtem Gesichtsausdruck gefolgt, als sie versucht hatten, sich von ihm zu verabschieden. Er umkreiste eine braune, gemütliche Stute, die Verpflegung, Geschenke und die restlichen Habseligkeiten der Wanderer trug und mit gleichgültigem Gemüt den aufgekratzten Hund ignorierte, der sie beständig umrundete und ihr zwischen den Beinen herumsprang.
Der Weg war ein Fußpfad, und er führte die beiden Fernländer in eine kalte, schneebedeckte Wüste, die so weit wie das Auge reichte.
17
Maya verließ die Kommandozentrale. Ihre Schicht war zu Ende
gegangen, und selbst, wenn sie gewollt hätte, sie hätte sich außerstande gesehen,
noch eine Minute länger zu bleiben in dieser zermürbenden Atmosphäre, wo der
lauernde Tod vom Bildschirm herab sein schwarzes Auge auf sie warf und sie den
verzweifelten Piloten via Funk Mut zusprechen musste, obwohl sie selbst nur Hoffnungslosigkeit
sah.
Den anderen ging es nicht besser, und allein ihre Gemeinschaft half
ihnen, die Schicht überhaupt durchzustehen. Jetzt floh sie in die
ihr verhassten Katakomben, die aber zumindest den trügerischen Eindruck erweckten, als
könnten sie etwas mehr Schutz bieten. Die Lifttür ging auf, und die tristen,
weiß getünchten, immer noch rohen Wände umfingen sie in tröstlicher, gleißender
Helligkeit, denn jemand hatte die hellsten Spotlights, über die die Basis verfügte,
an die Decke montiert, als wären sie dazu in der Lage, die Finsternis der Schwarzen, sollte
sie den Weg über den Aufzug wählen, zu bannen.
Maya war durstig, aber sie fühlte keinen Hunger, obwohl sie seit vielen Stunden nichts mehr gegessen hatte. Ihr Weg führte sie
in die Richtung des provisorischen Aufenthaltsraumes, denn dort stand ein Samovar,
in dem ständig Teewasser bereitstand. Maya würde für alle Zeit den Geschmack des
schwarzen Tees mit der Trostlosigkeit einer sterbenden Basis in Verbindung bringen
- falls das Schicksal tatsächlich anderes als den Tod für sie vorgesehen hatte.
Als
sie die Korridorkreuzung erreichte, die zum Gemeinschaftsraum führte, schlugen
ihr schon an der Ecke ein lautes Stimmengewirr, Gelächter und Musik entgegen.
Verblüfft eilte sie den Gang entlang, betrat den Raum - und sah sich einer fröhlichen, lauten Runde aus
vierzig oder fünfzig Alphanern gegenüber, die sich bestens zu unterhalten schienen,
als hätten sie den Ernst der Lage vollkommen vergessen. Mehr noch, eine Gruppe
sang mit Gitarrenbegleitung ein belangloses, aber offensichtlich emotionales Lied
von einer Landstraße, die jemanden nach Hause bringen sollte.
Verwirrt trat
Maya ein, und ihre Füße wählten automatisch den Weg zum Teespender. Auf der
Strecke wurde sie von Bill Fraser abgestoppt, der ihr einen Teller mit
Kuchen unter die Nase hielt.
"Was feiern wir?", wollte sie vorsichtig wissen. Sie war sich nicht sicher, ob hier noch alles mit rechten Dingen zuging - ob nicht die Drachen vielleicht einen Weg gefunden hatten, den Verstand der Alphaner zu vernebeln, ihnen ihren klaren Geist wegzunehmen, um am Ende ein leichtes Spiel mit ihnen zu haben? Bill reagierte verwundert auf ihre Frage.
"Wieso feiern?", wollte er mit vollem Mund wissen,
"Wir lassen es uns hier nur ein wenig gut gehen! Der Mensch kann nicht
nur Trübsal blasen!" Er ließ sie alleine, und sie stand da, inmitten des
Gewühls, den Teller mit Schokoladekuchen in der Hand, und starrte die Feiernden
entgeistert an. Die Szene schien ihr trotz aller Lebhaftigkeit wie gespenstisch,
irreal, und nichts vom Frohsinn der übrigen drang durch ihre Hülle
aus Entsetzen, Angst und tiefer Trauer über die bedrängende und aussichtslose
Finsternis, die die Gemeinschaft am Mond umgab. Sie verstand nicht, was die
Alphaner dazu bewegte, sich derartig unpassend zu verhalten. Sie sah ihre
Emotionen, die Heiterkeit waren und Lachen - hatten sie vergessen, wie es "oben"
aussah?
Sollte sie mit dem Commander Kontakt aufnehmen und ihn warnen?
Sie wurde an die Mauer gedrängt, wo sie weiterhin versuchte,
fasziniert und abgestoßen zugleich, sich einen Reim auf das Verhalten der
anderen zu machen. Wie mechanisch aß sie den Kuchen, und nur
entfernt bemerkte sie, dass er das weitaus Beste war, das sie je auf Alpha gegessen
hatte. Als sie fertig war, wusste sie nicht, was sie tun sollte, und einen Augenblick
zog sie in Erwägung, einfach nur ihren Tee zu holen und sich damit zurückzuziehen.
Doch da bemerkte sie, dass Rettung unterwegs war, sie sah die Chefärztin
mit einem Stirnrunzeln den Raum betreten. Einen Augenblick später fand sich
jene
schon mit einem Becher punschartigen Getränkes und einem Stück Torte versehen,
und sie machte sich, einen leicht hilflosen Ausdruck im Gesicht, auf die Suche nach
einer Abstellfläche. Maya kam ihr zur Hilfe und nahm ihr den heißen Becher ab.
"Maya! Danke!", sagte Helena überrascht. Sie bemerkte die Verwirrung der Außerirdischen. "Was ist los? Was machst du für ein Gesicht?" Maya seufzte und zog Helena auf die Seite. Sie fanden freie Plätze auf einer alten, schon reichlich abgesessenen, fleckigen Couch, die vor langer Zeit bereits aus einem Quartier ausgemustert worden war.
"Helena, ich verstehe nicht, was die Leute hier treiben?" Die Ärztin sah sie verständnislos an.
"Was meinst du damit?"
"Ich meine, ist das denn normal, wie sich die Alphaner gerade benehmen? Draußen sterben unsere Piloten fast vor Furcht, wenn sie Wache schieben, eine Fremde, von der wir nicht wissen, ob sie uns wirklich wohlgesinnt ist, wurde in eines unserer Quartiere gesperrt, wir haben keine Ahnung, wie es mit der Basis weitergehen wird, und hier - hier wird gefeiert!" Sie fühlte sich aufgelöst. "Sie lachen und unterhalten sich bestens! Das will nicht in meinen Kopf!! Sie singen!" Helenas Miene spiegelte lächelnde Trauer wider.
"Hörst du, was sie singen?
I miss the Earth so much I miss my wife
It's
lonely out in space
On such a timeless flight...
Und sieh mal dort, Katie Moore.."
Maya blickte sich um und sah die ansonsten kühle, unzugängliche Bioanalytikerin,
wie sie mitsang, und ihr dabei Tränen aus den Augen perlten.
"Es ist ein menschliches Mittel, mit dem Schmerz umzugehen, Maya, mit dem Leiden und den Anforderungen, denen man sich nicht mehr gewachsen fühlt. Mit der Hoffnungslosigkeit. Die Seele braucht ein Ventil. Kein Grund, sich Sorgen zu machen." Maya nickte langsam. Jetzt, wo sie darauf aufmerksam gemacht worden war, fühlte sie auch die Furcht und den Kummer, der durch das aufgesetzte Lachen drang. Sie war überrascht worden und hatte sich vom äußeren Schein zu sehr beeinflussen lassen.
"Ich hab wohl die 'Feineinstellung' meiner Sensoren vergessen", sagte sie leise, "sonst wäre ich nicht darauf reingefallen." Helena schüttelte den Kopf und legte ihr die Hand auf die Schulter. Wärme und Behaglichkeit gingen von ihr aus, und Maya entspannte sich.
"Du bist nur zu müde", meinte Helena, "vergiss nicht, du bist auch ein Teil des Ganzen und nicht vor dem Einfluss der Schwarzen gefeit." Ein Lächeln wehte um ihre Mundwinkel. "Ich bin fast versucht zu sagen, du bist genauso menschlich wie wir." Maya musste lachen. Sie fühlte sich schon besser.
"Du hast Recht", sagte sie, "ich werde mich kurz hinlegen." Helena nickte und sah ihr gedankenvoll nach, als sie den Aufenthaltsraum verließ.
18
Die Ebene, die vor ihnen lag, war weiß und endlos. Eisiger Wind fegte über die ungeschützte Fläche und trug winzige wirbelnde Schneekristalle mit sich, die im Licht der Sonne millionenfach glitzerten wie Goldstaub. Gaiden ging voran, er führte die Stute Inkie am Zügel, die Jhess mit stoischer Gelassenheit trug und die wahrscheinlich nicht einmal ein Donnerschlag direkt über ihrem Kopf erschüttern konnte.
Spot war hinter den Schneeverwehungen her, in die er sich
mit Inbrunst hineinwarf, Schnauze voran, als versteckte sich dahinter ein köstliches
Hundebankett. Über und über voller Schnee pflegte er wieder aufzutauchen und
sich zu schütteln, dass weiße Flocken und kleine Eisbröckchen meterweit
um ihn herumflogen. Gaiden munterte dies auf, wenn er auch nicht so recht wusste
wieso. Sie befanden sich in einem öden, verlassenen Niemandsland, wo es nicht
einmal einen verirrten Raben oder Schneehasen hin verschlagen hatte, weder wussten
sie, wohin sie gingen noch, wie lange sie unterwegs sein würden. Er blinzelte
durch den Schlitz seines Gesichtschutzes aus einem bunten Schal und hoffte,
nicht bald schneeblind zu sein.
Jhess wollte vom Pferd absteigen, sie brauche
Bewegung, sagte sie, denn sonst fange sie zu frieren an. Sie war keine geübte
Reiterin, hatte aber bald eine Technik entwickelt, wie sie, ungelenk und unbeweglich,
trotzdem ohne Schwierigkeiten auf das Pferd kam - und wieder runter. Eine Zeitlang
gingen sie schweigend weiter, und jeder hing seinen Gedanken nach. Es war nicht
schwierig zu wissen, was der jeweils andere dachte, denn alle Überlegungen kreisten
um das Warum ihres Daseins in dieser Welt. Es war fatal, denn all ihr Streben,
all ihr Denken, richtete sich darauf aus zu erfahren, welche Rollen ihnen in
diesem undurchsichtigen Spiel inmitten von Angst und Tod zugeteilt waren.
Und doch war ihnen das Wissen verwehrt, weil sonst die Drachen ihrem Leben ein
Ende machten. Der natürliche Drang nach Aufklärung, der immanente Wunsch nach
der Lösung dieses Lebensrätsels geriet zur unterschwelligen Besessenheit, die
ständig gedämpft wurde von der Furcht vor dem Sterben. So mussten sie hoffen,
dass die Erinnerung nicht kam, obwohl sie in Wirklichkeit genau das Gegenteil
begehrten.
Der Tag ging zu Ende, ohne dass sich die eisige Landschaft wesentlich geändert hatte. Aus der ebenen Einöde war nur ein leichtes Wellenmeer aus kleinen Hügeln geworden, als wäre hier einfach die See von tiefstem Frost überrascht worden und mitten in der Bewegung erstarrt. Gaiden beschloss, das Lager aufzuschlagen. Es bestand keine Aussicht darauf, eine geschützte Stelle zu finden, so gesehen, spielte es keine Rolle, wo sie übernachteten. Felisar hatte in seinen sprichwörtlichen Zauberhut gegriffen und ihnen ein paar nützliche Dinge mitgegeben, die ihnen das Überleben in dieser feindlichen Gegend erleichtern sollten. Dazu gehörte ein Feuer, das, in einer kleinen Kiste verpackt, niemals ausging und sobald man den Deckel öffnete, fröhlich flammend gute Wärme von sich gab, ein verzaubertes, sich selbst aufschlagendendes Zelt mit kompletter Innenausstattung, die einen bescheidenen Komfort für die müden Reisenden bereithielt, und es gehörten zahllose kleine Döschen mit undefinierbarem Inhalt dazu, der sich, auf einen Teller ausgeleert, in eine köstliche Mahlzeit verwandelte. Der einzige Nachteil, der aus dem Umstand erwuchs, dass sie sich der Magie bedienten, äußerte sich darin, dass sich die verzauberten Dinge des Alltags das Recht herausnahmen, sich in das Leben der beiden Menschen einzumischen. Zum Beispiel passierte es, dass Jhess, während Gaiden ein hervorragendes Hühnerragout auf seinem Teller vorfand, auf eine miefige Dinkelpampe starrte. Als sie angewidert den Löffel zur Seite legte und Gaiden schöne Augen machte, um etwas von seinem Essen abzuzweigen, fing ihr Teller an, blubbernd mit ihr um den Verzehr des Breis zu verhandeln, denn dieser sei schließlich voller kostbarer Inhaltsstoffe, genau zugeschnitten auf ihre Bedürfnisse - und ehe der Teller nicht leergegessen sei, gäbe es nichts Weiteres. Punktum. Ein anderes Mal entpuppte sich Gaidens Mittagessen als riesige Ration Pferdekraftfutter, das die Notwendigkeit nicht einsah, auch von einem Pferd verspeist werden zu müssen und darauf drang, es sich in Gaidens Magen gemütlich zu machen, bis sich Inkie, vom Geruch angelockt, mit einem freudigen Wiehern über die Köstlichkeit hermachte und damit der Diskussion ein jähes Ende bereitete. Doch alles in allem überwogen die Vorteile der Zauberei, und insgeheim unterstellten sie es Felisars schalkhaftem Gemüt, es mit einem reibungslosen Ablauf seiner magischen Mittelchen absichtlich nicht so genau genommen zu haben.
Die Nacht war kalt und ereignislos, was sie auch nach mehreren Tagen der Wanderung durch die weiße Leere nicht anders erwartet hatten, und doch merkte Gaiden, als er am Morgen die Augen aufschlug, dass sich dieser neue Tag von den übrigen unterschied. Er sah, noch schläfrig, nach draußen vor das Zelt und blickte in eine undurchdringliche Nebelwand. Die Stute, die links neben dem Zelt stand, verschwand schon fast hinter wabernden Nebelschwaden, und doch sah sie Gaiden, wie er den Kopf hervorstreckte, und gab ein ungnädiges Wiehern von sich. Spot drängte sich an Gaiden vorbei nach draußen, blieb aber direkt vor dem Zelteingang verdutzt stehen - und machte sofort wieder kehrt, um mit einem Hechtsprung und einem lang gezogenen Winsellaut direkt auf Jhess' Oberschenkeln zu landen, wo er ein paar Streicheleinheiten einforderte.
Der Nebel dachte nicht daran, sich zu lichten, wenn es auch nicht mehr so kalt war wie an den vergangenen Tagen. Als das Zeltlager abgebaut und alle Dinge auf dem Pferd verstaut waren, hatte sich die Sicht nicht verbessert, und Gaiden hoffte, bei dem Mangel an Orientierungspunkten nun nicht im Kreis herumzugehen. Zuvor hatten sie versucht, sich vom Stand der Sonne leiten zu lassen, aber heute war das nicht möglich. Kein Funkeln von ihr drang bis auf den Boden, sie hinterließ keine vage Ahnung, wo sie sich aufhielt, und so musste man auf gut Glück einfach weitergehen.
Die Stimmung war alles andere als fröhlich, Gaiden war missmutig, Jhess still, Spot drängte sich dicht an ihre Seite und würdigte seine geliebten Schneehaufen keines Blickes, und selbst das Pferd wirkte etwas beunruhigt und schnaubte hier und da, als scheuchte es lästige Fliegen fort.
"Gaiden", sagte Jhess nach einer langen Weile, "hier ist es unheimlich. Es liegt etwas in der Luft, und mir ist schon ganz übel davon." Er blieb stehen und sah sie besorgt an.
"Brauchst du eine Pause?" Sie lächelte und schüttelte den Kopf.
"Nein, das ist es nicht", erwiderte sie. "Können
wir nicht einfach unser Zelt aufschlagen und bis morgen warten? Bis sich der
Nebel verzogen hat?" Gaiden atmete tief durch. Dieselben Überlegungen hatte
auch er angestellt, und doch trieb ihn etwas Unbestimmtes zur Eile an, ein düsteres
Gefühl, das im Zentrum seines Körpers saß wie ein nagender kleiner Dämon, der
ihn quälte. Felisars Worte, dass nicht mehr viel Zeit war, brachten ihn zur
Überzeugung, dass er gut daran täte, keine Minute mit Zuwarten zu verschwenden.
Er erklärte es Jhess, und sie nickte zu seinem Erstaunen widerspruchslos.
Sie dagegen
verschwieg ihm, dass sie spürte, wie nahe sie der Niederkunft war. An seinem
Verantwortungsgefühl trug er schon schwer genug.
So gingen sie weiter, blind und taub, denn kein Laut war zu hören, kein Windhauch mischte das Einerlei der grauen Wand um sie auf, und es war, als bewegten sie sich durch Watte, unbefriedigend, beängstigend - und doch nicht zu ändern.
Als Mittagsmahl entsprangen den Zauberdöschen nichts als
fade schmeckende Runkelrüben mit Kartoffelbrei, und selbst das magische Feuer
war klein und flimmerte bläulich, als fröre es im kalten Grau der Luft.
Schon
bald zogen sie weiter ins Ungewisse, und Gaiden suchte nach Spuren, die ihm
sagten, dass sie schon hier gewesen waren. Keine zu entdecken, trug nicht wirklich
zu seiner Beruhigung bei.
Der Tag schleppte sich dahin, trist und unerträglich, und
Gaiden merkte, dass er bald seine Entscheidung, zu jeder Gelegenheit das Weiterkommen
zu forcieren, aufheben musste, denn die Orientierungslosigkeit verursachte Kopfschmerzen
und ein Schwindelgefühl, das mit dem Fortschreiten des Tages immer schlimmer
wurde. Auf seine wiederholte Frage, ob Jhess ebenso in Mitleidenschaft gezogen
werde, antwortete sie, dass er sich um sie keine Sorgen zu machen brauche.
Fast
grimmig schritt er weiter voran, bis er vor sich durch die Wand aus Nebel ein
helles Flirren wahrnahm und der Hund gleichzeitig zu knurren anfing. Alarmiert
ging Jhess schneller und schloss zu ihrem Mann auf.
"Siehst du das auch?", wollte er wissen und zeigte auf raue, verschwommene Konturen, die unregelmäßig waren, sich aber dennoch nicht zu bewegen schienen.
"Du hast Recht", gab sie zur Antwort und starrte
angestrengt in den Nebel. "Das sieht doch wie eine menschliche Gestalt
aus." Langsam gingen sie weiter, begleitet von Spots bösem Knurren, der
sich dennoch feige an Jhess' Seite drückte. Inkie dagegen schien unberührt von
der Erscheinung und trottete weiter hinter den übrigen her.
Mit jedem Schritt,
den Jhess und Gaiden taten, schälte sich aus dem grauen Wabern mehr und
mehr eine Person heraus, die aufgerichtet vor ihnen stand und auf sie zu warten
schien. Sie erwies sich als eine schlanke Frau, ebenso groß wie Gaiden,
und sie hob sich weiß wie eine getünchte Wand kaum von der milchigen Umgebung
ab, die um sie war. Ihr Gesicht war scharf und streng gezeichnet, wie gemeißelt
die gerade Nase, dünne, nur leicht geschwungene Augenbrauen, die aussahen, als
hinge morgendlicher Reif an ihnen, die weiße Stirn glatt, die Wangen schmal
und bleich, und nur der Mund war sinnlich, geschwungene Lippen aus silbrigem
Glitzern. Die Augen waren stechend und kristallin. Sie trug einen weißen Mantel,
auf dem kleine Diamanten glitzerten, mit hohem Kragen, der gebogen war und bis
an die Mitte ihres Kopfes reichte. Das Haar war ein weißes Blond, aufgetürmt
zu einer kunstvollen Frisur, die durchbrochen wurde von dünnen, silberfarbenen
Fäden, die wie die gemalten Spuren von Schlittschuhen auf dem Eis aussahen.
Sie stand reglos da, schien auf etwas zu warten, und ihr Blick ging durch die kleine Gruppe hindurch.
"Wer bist du?", wagte Gaiden schließlich zu fragen. Minimales Leben kam in die Gestalt, ihr Kopf neigte sich um wenige Grade nach links, und ihr Blick fokussierte sich.
"Ich bin die Herrin des Eises", antwortete sie. Ihre Stimme war dunkel wie der Blick in einen Abgrund. "Man heißt mich auch die Weiße Frau. Mein Name aber ist Aïja."
"Wartest du hier auf uns?", wollte Jhess wissen. Sie hatte kein gutes Gefühl. Aïja nickte steif.
"Ihr werdet mich - begleiten."
"Was ist, wenn wir nicht wollen?", regte sich Gaidens Widerspruchsgeist. Ihr leerer, kalter Blick traf ihn wie ein Pfeil. Ihm blieb die Luft weg, und automatisch stellte er sich vor Jhess.
"Es spielt keine Rolle, was ihr wollt", war die Antwort, die fast ein wenig belustigt klang. Mit einer sperrigen Bewegung hob die Weiße Frau ihren Mantel, und der Stoff fuhr wogend auf. Eine leichte Drehung, und er kam über sie, verschluckte sie, und sie versanken im Nichts.
---
Sie kamen zu sich, ein luftiger Zug kitzelte an ihren Nasen, und widerstrebend öffneten sie die Augen. Alles um sie war hell, weiß und kristallen, wirkte gläsern und wie aus Eis. Sie lagen am Boden und merkten am frostigen Untergrund, dass der Schein nicht trügte - hier war alles aus Eis. Fahles Tageslicht drang durch bläuliche Eisplatten in der Decke der Halle, weiße Kerzen, die ein seltsames, kaltes Licht abgaben, steckten in Halterungen an den Wänden, die aus niemals schmelzenden gefrorenen Blöcken gemacht waren. Die Treppen waren Eis, ebenso wie die Säulen, die die domartige Kuppel stützten, und das gesamte Inventar.
Gaiden half Jhess auf, und sie blickten sich fröstelnd um. Es war niemand zu sehen, auch die Tiere waren verschwunden.
"Hallo?", rief Gaiden vorsichtig. Seine Stimme klang fremd im Echo der Halle wider. "Ist da jemand?" Nichts. Gaiden sah sich unschlüssig um, ohne einen Hinweis auf die Anwesenheit von anderen zu entdecken. "Ich würde sagen, wir verkrümeln uns hier unauffällig", sagte er schließlich, "falls das möglich ist." In Jhess' Gesicht waren Zweifel geschrieben - wie auch er glaubte sie nicht, dass dieses Ansinnen so ohne Weiteres möglich sein sollte.
"Dann sollten wir nach dem Ausgang suchen", sagte sie dennoch, "und nach Spot und Inkie." Er nickte und nahm sie bei der Hand. Ihr Griff war fest und entschlossen. Sie wandten sich dem nächstliegenden Durchgang zu, und wollten eben die Halle verlassen, als sie hinter sich eine laute, dunkle Stimme vernahmen:
"Wohin so eilig?" Sie drehten sich um, und da stand sie wieder, die Herrin des Eises, diesmal ohne Mantel in einem wallenden, weißen Traum aus glitzerndem Stoff, ein figurbetontes Kleid, das die perfekten Proportionen eines wunderschönen Körpers verriet. Wie ertappt drehten die beiden um und gingen zögerlich zu ihr. Aïjas Aussehen hatte sich nicht verändert im Vergleich zu ihrem Treffen draußen im Schnee, und doch wirkte sie jetzt lebendiger, aus Fleisch und Blut.
Mit einem eleganten Schwung der Hüften schritt sie über die wenigen Stufen herab und beugte sich zu Gaiden vor. Die frische Kälte ihres Atems traf Gaidens Gesicht, der sie überrascht ansah.
"Wie schön, mein Ebenbild hat euch aufgegriffen! Ich hatte schon befürchtet, euch verpasst zu haben. Willkommen in meinem Schloss!"
"Darf ich nach dem Grund fragen, wieso wir hier sind?", wollte Gaiden wissen. Er hatte versucht, höfliche Worte zu wählen, doch der Ton verriet seine Ungeduld und Ablehnung. Aïja lachte, und in dem Lachen lagen dunkle, magische Kristalle der Ewigkeit. Gaiden merkte, wie Jhess neben ihm zitterte. Vielleicht war er es aber auch nur selbst.
"Es gibt Mächte", erklärte die Weiße Frau mit betörender Heiterkeit, "die sind älter als diese Welt." Jhess nickte.
"Die Alten Mächte."
"Sie folgen ihren eigenen Regeln, tanzen ihren eigenen Reigen, und ihr könnt sie nicht begreifen, selbst wenn ich es euch erklären wollte. Alles hängt zusammen, alles folgt seinem Plan. Und doch liegen sie im Widerstreit, die Alten Mächte, denn nur das Gegensätzliche bleibt am Leben, überdauert die Zeiten. Uniformität führt zum Erlöschen, und so erhalten sie sich auf ihre Weise ihr Dasein. - Ich bin ein verlängerter Arm einer der Seiten, der in dieser kleinen Welt etwas auszurichten vermag."
"Aber was willst du von uns?"
"Ich will nichts von euch - im Gegenteil: Ich werde euch etwas geben!"
"Was sollte das sein?", erkundigte sich Gaiden misstrauisch. Aïja näherte sich ihm bis auf wenige Zentimeter. Er blickte in ihr makelloses Antlitz, doch ihre Augen stachen in sein Herz. Er schlug den Blick nieder, und dieser blieb an ihrer üppigen Figur hängen, auf der wie eine zweite Haut der glänzende Stoff ihres Kleides lag.
"Sieh mich an!", forderte sie ihn auf, und widerwillig hob er erneut den Kopf. Ihr Gesicht zerfloss, und einen kurzen Moment lang blickte ihn Jhess mit ihrem vertrauten Lächeln an. Er wusste, dieses Lächeln war perfekter als die ganze eisige Frau vor ihm in ihrer fehlerlosen Erscheinung.
"Von dem Gesicht lässt du dich rühren, nicht
wahr?", sagte Aïja, wieder mit ihrem eigen Antlitz. Sie wusste, dass sie
Gaiden mit dem Trick aus der Reserve gelockt hatte. Er schluckte, antwortete
aber dennoch nicht. Sie schwebte an Jhess' Seite.
Ihr überlegenes Lachen flimmerte durch die Halle. "Ich werde nie verstehen,
wie sie dich über Äonen hinweg zu fesseln vermag, dieses ein farblose Nichts, fahl
wie ein totes, verdorrtes Blatt!"
Äonen?
Der Anblick der
Fremden lenkte ihn jedoch sogleich wieder ab, sie war überlebensgroß,
herrlich; zu schön, um wahr zu sein. Wollte sie ihn für sich einnehmen?
Jhess daneben wirkte bleich, verkrampft und voller Angst.
Aber lebendig.
"Gib dir keine Mühe", sagte er trocken. "Aus ihren Augen leuchtet eine Seele - aus deinen dagegen:
nur toter Kristall. Also lass uns gehen, wenn das alles war, was du uns zu geben
hattest: eine sinnlose Konversation." Aïja nahm die Niederlage mit kaum
merklicher Enervation zur Kenntnis. In einer fließenden Bewegung eilte sie an
blauen Säulen vorbei zur Querseite des Saales und forderte Jhess und Gaiden
auf, ihr zu folgen. Über ein paar Treppen erreichte sie ein Podest, auf dem
eine glasig-weiße Schatulle stand, vier Handbreit lang, zwei Handbreit hoch
und tief. Sie setzte sich aufs Podest und lehnte sich in die Richtung der Schatulle,
die kostbar wirkte, mit weißlichen, perlmuttfarbenen Verzierungen bedeckt war
und in deren Material gekräuselte Silberfäden eingearbeitet waren. Sie wirkte matt, durchsichtig
und leuchtete aus dem Inneren in einem sanften, gelblichen Schimmern.
Aïjas
Finger strichen sacht über die glänzende Oberfläche, und ihre kalten Augen leuchteten,
als sie sie auf die beiden richtete.
"Der Inhalt gehört euch", hauchte sie. Ein betörendes Lächeln umspielte ihren Mund.
"Was ist der Inhalt?", wollte Jhess wissen. Ihre Stimme hörte sich für sie wie ein schabendes Reibeisen an verglichen mit dem bezaubernden, dunklen Gesang ihres Gegenübers.
"Eure Erinnerung", antwortete Aïja prompt und weidete sich an dem entsetzten Staunen der beiden. "Ihr braucht sie nur zu nehmen. Sie gehört euch." Gaiden war wie vor den Kopf gestoßen. Er überlegte, ob sie unversehens schon ihren Bestimmungsort erreicht hatten und es nur nicht fassen konnten, weil er von allem abwich, was sie sich zuvor vorgestellt und ausgemalt hatten, an endlosen Abenden, dicht an dicht liegend, und flüsternd träumten vom Ziel ihrer Reise.
"Ist das hier die Ewige Burg?" Sie lachte kristallenes Schaudern.
"Entscheidet selbst." Gaiden brauchte nicht darüber nachzudenken, doch Jhess kam ihm zuvor.
"Ein ewiges Schloss des Eises, ja", sagte sie, "aber nicht die Ewige Burg, die wir suchen. - Gaiden, lass uns gehen." Er nickte, während sein Blick auf der Kassette lag.
"Aber wollt ihr nicht endlich wissen, wer ihr seid?" Gaiden machte einen Schritt nach vorne, auf Aïja zu. Jhess hielt ihn an der Hand fest. Ihr Griff war eisern und entschlossen.
"Keine Angst", sagte er zu ihr, "ich werde sie nicht nehmen. - Nur - hier soll alles liegen, was wir beide verloren haben! Kann das die Wahrheit sein?" Mit zwei Fingern der freien Hand berührte er die Schatulle und war erstaunt. Sie war kalt, aus Eis, wie alles andere auch in diesem Schloss, und doch fühlte er, wie von innen durch den dünnen Eisdeckel hindurch ein Sehnen drang, ein Wünschen und Hoffen auf Vereinigung, ein Flehen danach, wieder ein Ganzes zu werden. Auch ihre Vergangenheit litt unter der Trennung, fast, als sei sie ein eigenständiges Wesen. Seine Fingerspitzen brannten, und er wusste, dass Aïja ihnen die Wahrheit gesagt hatte. Seine Hand hob sich widerwillig.
"Du brauchst sie nur zu öffnen", drang der Alt der Weißen Frau wie Sirenengesang vor zu seinem Verstand, "gar nicht nehmen, nur öffnen. Ich kann es nicht für euch tun, das sind die Regeln. Öffne sie, und ihr werdet wieder ganze Menschen sein." Gaiden atmete schwer. Er fühlte dieses Verlangen, wie es auf ihn einströmte und ihn hilflos machte, obwohl ihm klar war, dass es ihr Tod war, zuviel zu wissen. Er merkte, dass Jhess an seine Seite getreten war, auch sie schien in Aïjas Bann geraten zu sein, und aus den Augenwinkeln erkannte er, wie sie ihre Hand hob. Die andere Hand lag noch in der Seinen, schlaff und ohne Kraft.
"Jhess", keuchte er, "fass sie nicht an, ich weiß nicht, wie lange ich mich noch wehren kann." Sein Denken wurde überwältigt von dem einzigen Wunsch zu sehen, was in der Schatulle war, und in einem Widerstreit mit sich selbst sah er klopfenden Herzens dabei zu, wie sich seine Finger dem Verschluss der Kassette näherten, einem wie Diamant glimmenden Knopf auf der ihm zugewandten Längsseite. "Hilf mir, Jhess, hilf mir!"
Da wurde ihm bewusst, dass sie seine Hand losließ, und kaltes Entsetzen überkam ihn. Sie war auch verloren, musste sich dem Zauber beugen, den die eigene Vergangenheit, die Erinnerung, auf sie ausübte. Sie fühlte wie er.
Aber dann bemerkte er, wie sich ihre warmen Hände auf seine Wangen legten. Sein Kopf wurde
weggedreht von der eisigen Schatulle, und Jhess kam in sein Gesichtsfeld. Sie
war aufgelöst und den Tränen nahe, Schweißperlen glitzerten auf ihrer Stirn,
aber sie streckte sich zu ihm nach oben und küsste ihn auf den Mund.
Sofort
wurde er in sie hineingezogen, und wie in einem Blitzschlag verschwand die äußere
Welt vor seinen Augen. Sie verlor auch im selben Moment ihre Bedeutung, denn
er sah Jhess' wahres Ich. Es war etwas Besonderes, die Essenz eines Menschen
zu sehen, denn diese war schutzlos und verwundbar, weil sie wahr war und die
Täuschung nicht kannte. Sie war mehr als die Vergangenheit, viel mehr als der
Inhalt von Aïjas kostbarer Schatulle. Jhess band ihn an sich, wie
er sie an sich band, es war ein Eintauschen und Teilen, die Vollendung, die
Perfektion eines jeglichen Seins.
Er
verweilte glücklich in diesem Augenblick, doch
dann bemerkte er eine zweite
Präsenz, die noch schlief aber dennoch wachte, klein und zerbrechlich schwebte sie
an den Rändern des Raumes von Jhess' Wesen. Er wunderte sich, wurde aber wie magisch angezogen von dem stillen, schläfrigen Lächeln, hinter
dem so viel zu stecken schien, verwundert über seine Verbindung zu der kleinen Seele, und
dann begriff er, wieso, denn sie waren alle drei verbunden, er, Jhess und
ihre gemeinsame Tochter.
Hatte sie ihnen geholfen?
Jhess ließ ab von ihm, sie waren wieder in der äußeren Welt,
inmitten von Eis und Kälte, und gerieten dabei in das Zornbeben des verlorenen Kampfes. Das frostige Schloss erzitterte im Heulen der Alten Mächte. Aïjas Schrei drang durch die Welten, war ein
Orkan, ein Blizzard, ein Tornado, ein Sturm. Die Welt löste sich auf, und im
nächsten Augenblick standen Jhess und Gaiden draußen in der Kälte des späten
Nachmittags, freudig empfangen von einem bellenden, herumspringenden Spot, der
sich sofort in den nächsten Schneehaufen warf, um darauf weiß wie ein Hundeschneemann
wieder aufzutauchen.
Der Nebel war verschwunden.
Inkie schnaubte verwundert.
19
John stand unter der Dusche. Die kleine Ration an fließendem Heißwasser, die ihm täglich zustand, war sein Refugium, sein Ort, die Gedanken loszulassen und den Verstand in die Pause zu schicken. Nicht immer gelang es, doch heute kam es ihm vor, als seien alle Gedanken gedacht, alle Sorgen bereits gemacht - es blieb keine Arbeit mehr für das Gehirn. Sein Kopf war leer, und im heißen Dampf war es, als schwebte er schwerkraftlos durch den Raum. Er dachte nicht an die Feinde, nicht an die Fremde, die ihnen Rettung verheißen hatte, nicht an die Alphaner - an niemanden. So musste das Nirvana sein, bedürfnislos, willenlos, nichts.
Der Alltag brach in Gestalt eines kalten Schwalls über
ihn herein, sein Kontingent an Warmwasser war aufgebraucht, und laut fluchend
flüchtete er aus der Dusche. Es war ihm noch nicht gelungen, den Systemprogrammierern
klarzumachen, dass dieses unvermittelte Umschalten auf "eiskalt",
Marke "Schockgefrieren", nicht jedermanns Sache war. Der Programmierer
mit dem unerklärlichen Spitznamen "Floppy" hatte grinsend von einem
gewissen Herrn Kneipp gefaselt, von Gesundheit und starker Effektivität, was
den Verbrauch des Wassers anging.
Üblicherweise schaffte John es, rechtzeitig
die Duschkabine zu verlassen - was natürlich haarscharf im Kalkül der Wasserberechner
lag!
Ins Badetuch gewickelt, verließ er die Nasszelle und suchte in einer Schublade nach frischer Wäsche. Mit einem halben Blick auf seinen Commlock, der auf der Kommode lag, bemerkte er, dass jemand versucht hatte, ihn zu erreichen. Er sah nach - es war Helenas Code gewesen. Er ging auf Rückruf.
"John, gut dass du dich meldest!", begrüßte sie ihn. Sie hatte ihr offizielles Dienstgesicht aufgesetzt, was hieß, dass sie sich im Not-Lazarett befand - und mit ihr ein hellhöriges, innig lauschendes Publikum von mindestens zwei oder drei Klatschbasen. "Du solltest unbedingt bald hier vorbeischauen", fuhr sie fort, ohne abzuwarten, was er sagen wollte. "Wir haben Leïda vor ungefähr einer viertel Stunde bewusstlos in ihrem Quartier gefunden. Der medizinische Alarm hat sich aktiviert."
"Wisst ihr, was geschehen ist?" Sie machte eine bekümmerte Miene.
"Leider nicht. Es gab zumindest kein Zeichen von Gewalteinwirkung. Sie ist schwach und schläft. Soweit scheint ihr nichts zu fehlen, aber die Tests sind noch nicht alle fertig."
"Ich komme." Sie nickte, und er beendete die Verbindung. Eilig kleidete er sich an und verließ mit noch feuchten Haaren seine Unterkunft. Mit etwas schlechtem Gewissen dachte er daran, dass er nicht die Gemeinschaftsduschen in den Schutzräumen benutzt hatte, wie es eigentlich vorgeschrieben war. Auf der Basis herrschte Gelbalarm, was bedeutete, dass man die Nächte in den Bunkern der Katakomben verbringen musste und ansonsten verpflichtet war, innerhalb von Minuten die Schutzräume aufzusuchen. Unter der Dusche zu stehen, erschwerte das Unterfangen beträchtlich - es sei denn, man riskierte es, sich als Flitzer, eingehüllt in eine Wolke aus Seifenschaum, der Lächerlichkeit preiszugeben. Für den kurzen Moment des Loslassens und der Entspannung war John allerdings, wie er mit reuevollem Grinsen zugeben musste, fast dazu bereit gewesen, genau das zu tun.
Im provisorischen Notfalls-Lazarett war es eng und ungemütlich. Alle wichtigen Maschinen waren in die Bunker geschafft worden und standen nun zwischen den Betten herum. Es sah aus wie ein Geräte- und Menschenlager, das niemand so recht in den Griff bekommen hatte. Mathias hatte auf die Frage, ob man hier nicht einmal Ordnung schaffen könne, verwundert geantwortet:
"Aber Commander, hier ist Ordnung! Alles ist funktionell eingerichtet - wenn auch der Platz etwas knapp bemessen ist!" Mehr Platz gab es nicht, da hatte er wohl Recht, und John dachte nicht daran, sich in die Entscheidungen, die die Chefärztin in ihrem Ressort traf, einzumischen, indem er ihr zum Beispiel empfahl, den einen oder anderen betagten Plasmaseparator oder Uraltsequenzierer auszuquartieren.
Nun musste er sich durch ein Labyrinth von Diagnoseapparaturen
durchkämpfen, ehe er überhaupt auf die ersten Menschen traf.
Helena stand,
einen Becher Kaffee in der Hand, über einen Scan gebeugt und nahm offensichtlich
Leïdas Gehirnaktivitäten unter die Lupe.
"Wie geht es ihr?" Sie blickte auf und stellte den Becher ab.
"Oh, unverändert", erwiderte sie, "es war wohl nichts anderes als ein Schwächeanfall. Ich würde mir keine Sorgen um sie machen, wenn ich nicht vermuten müsste, dass an ihrer Verfassung unser Leben hängt!"
"Was hast du für Daten?" Sie hob die Hand und ließ eine unbestimmte Geste folgen. Rundherum surrte und summte es.
"Sie ist ein Mensch wie wir", gab sie zur Antwort, "mit denselben körperlichen Schwächen, die auch wir haben. Meine Werte lassen vermuten, dass sie sich in einem Zustand der Erschöpfung befindet. Ich habe ihren Elektrolyt-Haushalt ausgeglichen, ihren Kreislauf gestärkt, ihre Energiereserven aufgestockt - und ihr ein paar power vibes geschickt! Aber ob das auf die Dauer ausreicht, wissen nur die Götter." Sie geleitete ihn an Leïdas Bett.
Die Fremde lag dort schlafend und wirkte noch fragiler in der Umgebung des bodenständigen, alphanischen Treibens, im basiseigenen, blauen Pyjama, der einen seltsamen Kontrast zu ihrem fast durchscheinenden Äußeren bildete.
"Weißt du, unsere Messungen ergeben, dass sie nicht viel länger gelebt hat als der Durchschnitts-Alphaner, obwohl sie behauptet hat, wesentlich älter zu sein. Ich kann das mit unseren Instrumenten nicht überprüfen, denn die Zelltodprogrammierung ihres Körpers bestätigt ihre Angaben nicht. Sie ist mit der unseren vergleichbar."
"Was bedeutet?"
"Was bedeutet, dass sie unseren Werten zufolge nicht älter oder jünger ist wie wir auch." John blickte nachdenklich auf Leïda herab. Sie wirkte sehr vertraut auf ihn, ohne dass er sagen konnte, woher er dieses Gefühl nahm.
"Nun, immerhin scheint ihr Schutzschirm über der Basis noch in Funktion zu sein," sagte er wie abschließend. Helena neigte den Kopf.
"Falls er überhaupt existiert." Er nahm sie überrascht ins Visier.
"Willst du behaupten, dass sie uns was vormacht?" Der Blick, den sie ihm erwiderte, war ernst.
"Ich muss es auf jeden Fall nach wie vor in Betracht ziehen", sagte sie. "Wenn ich methodisch und rationell denke."
"Ich weiß aber, dass du nicht methodisch und rationell denkst", erwiderte er, "nicht in diesem Fall!" Sie lächelte.
"Ich bin ja auch ein verzweifelter, schwacher Mensch, der sich an jeden Hoffnungsschimmer klammert."
"Und das legitimiert dein Vertrauen in sie?"
"Die Hoffnung legitimiert alles", sagte sie plakativ und wohl wissend, dass das Gespräch mit John drohte, in eine Tändelei abzugleiten.
"Ich fürchte, wir wissen nicht mehr als zuvor." John versuchte, die Diskussion wieder in relevantes Fahrwasser zu lenken. Helena nickte.
"Zumindest können wir keine Schlüsse dahin gehend ziehen, ob sie uns wirklich helfen will. Ich selbst fühle, dass es zutrifft, und ich weiß, dass es dir auch so ergeht, aber lieber wäre es mir, wenn ich es Schwarz auf Weiß hätte."
"Du sprichst mir aus der Seele", erwiderte er nachdenklich. "Zu wissen, ob sie zumindest theoretisch dazu in der Lage ist, der Drachen Herr zu werden, würde nicht zuletzt auch auf Alpha die Dinge wesentlich einfacher machen."
"Es würde alles einfacher machen", ließ sich Leïda mit schwacher Stimme verlauten, "auch für mich."
"Leïda, es tut mir leid, Sie aufgeweckt zu haben", entschuldigte sich Helena überrascht. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie schon soweit war aufzuwachen.
"Nein", gab sie zur Antwort, "mir tut es leid - dass ich euch nicht mehr Sicherheit geben kann. Meine Absichten sind gut, aber trotzdem kann ich den Ausgang der ganzen Sache nicht vorhersagen. Was in meiner Macht steht, habe ich getan, und alles Weitere... ich kann euch nur bitten, mir zu vertrauen."
"Aber sagten Sie nicht, solange Sie hier auf Alpha seien, könne uns nichts passieren?" Ein Schatten kam über ihr Gesicht.
"Das ist richtig. Aber ich kann nicht für alle Zeiten hier bleiben", erwiderte sie. "Es ist notwendig, die Sache zu Ende zu bringen."
"Die Schwäche...", begann Helena, wurde jedoch von Leïda unterbrochen.
"Die Schwäche ist Teil des Ablaufes, alles geht Hand in Hand, ist geplant, wenn ich auch nicht weiß, wie das Ende aussehen wird." John und Helena sahen die Frau entgeistert an. Sie senkte den Blick. "Ja, es werden noch schreckliche Dinge geschehen, aber ihr müsst mir glauben, dass sie notwendig sind. Ich kann nur hoffen, dass es mir gelingt, die Situation in die richtigen Bahnen zu leiten." Sie war bleich und wirkte verunsichert. Helena dachte an den Alptraum, den sie gehabt hatte und in dem ihr der Tod begegnet war. Sie sah noch Leïdas Blick, der voller Anstrengung gewesen war, voller Zielstrebigkeit und, ja, auch voller Furcht.
"Haben Sie Angst?", fragte sie. Leïda lächelte schwach.
"Immer", antwortete sie.
20
Die Welt war ein weißes Einerlei und der Marsch wenig befriedigend, weil es nicht so aussah, als kämen die beiden Wanderer mit Hund und Pferd von der Stelle. Das Wetter hatte sich nach der kurzen Eskapade im Nebel dazu entschlossen, im nächsten Zeitalter stabil, kalt und sonnig zu imponieren. Ein Tag war wie der andere, und selbst Felisars Essensdöschen schienen sich nicht zu dezimieren. Nie fehlte eines, als wollte ihnen die Magie keinen Hinweis darauf geben, wie lange die Rationen noch halten mussten. Die Eintönigkeit des Tagesablaufs war nur noch durch die Leere des Horizontes zu überbieten, und langsam reifte in ihnen die Meinung heran, dass sie durch einen letzten bösen Zauber von Aïja dazu gezwungen waren, für alle Zeiten an Ort und Stelle treten zu müssen.
Nur Jhess merkte, wie ihr die Zeit davonlief, und obwohl
sie ein geduldiger Mensch war, ertappte sie sich wieder und wieder dabei, sich
einen Pegasus zu wünschen, der sie im Nu an ihr Ziel brachte, oder einen Zauber,
der die Ewige Burg zu ihnen herholte.
Ein ums andere Mal ließ sie sehnsuchtsvoll
die Landschaft an ihrem Auge vorüberziehen und suchte nach einem Anzeichen,
das das Ende der Eiswüste verhieß.
Als es schließlich der Fall war, geschah
dies so unspektakulär, dass sie es kaum bemerkten. Aus den sanften schneeigen
Hügeln sprossen mehr und mehr eckige, sperrige Felsen hervor, die in der Dämmerung
des späten Tages verschwammen.
Zwei Tage noch gingen sie weiter, jetzt jedoch beschwingt und erwartungsvoll, wenn auch der Weg nun wesentlich beschwerlicher wurde. Als sich in der Ferne des klaren Morgens ein einzelner Berg inmitten der von großen Feldern unterbrochenen Formationen aufzutürmen begann, fühlten sie, dass sie ihren Bestimmungsort bald erreicht haben würden.
Jhess blieb stehen, die Hände in den Hüften, um ihren schmerzenden Rücken zu entlasten, und starrte minutenlang auf den Berg. Es war ihr, als wäre das Licht dabei, durch einen engen Spalt zu fluten, als drängte von weit weg eine leise, altbekannte Melodie auf sie ein, die sie nur noch nicht zuordnen konnte. Gaiden, der zunächst weitergegangen war, blieb stehen und kehrte dann um, um zu sehen, was mit ihr los war.
"Jhess?", wollte er mit flauem Gefühl im Magen wissen, und als sie nicht reagierte: "Jhess, ist dir nicht gut?"
"Gaiden", flüsterte sie außer sich, "diese Felsen, diese Farben! Der Berg..." Er stellte sich an ihre Seite und folgte ihrem Blick. Tatsächlich, wie einzelne Tropfen sickerte etwas in seinen Verstand und brachte ihm einzelne Fragmente, einzelne Bilder des Wissens. Der Schleier begann, sich zu lüften.
"Du hast Recht", sagte er, mit einem Mal ebenso aufgeregt wie sie, "es ist, als hätte ich das alles hier in einem Traum schon gesehen." Jhess packte ihn am Arm.
"Kein Traum, Gaiden", widersprach sie, "kein Traum. Ich war schon mal hier." Sie sprach es aus, und ihm wurde dabei klar, dass sie sich nicht täuschte. Für einen Traum war es zu real, zu wirklich - das war eine echte Erinnerung, die in seinem Kopf war. Auch er war nicht das erste Mal an diesem Ort. Jhess blickte ihn verzweifelt an.
"Wenn uns unsere Erinnerung jetzt einholt, Gaiden, dann sind wir verloren! Die Drachen werden uns schnell finden und töten." Er fuhr sich getroffen mit der Hand übers Gesicht.
"Wer bist du?", fragte er sie, und sie starrte ihn verdutzt an.
"Jhess!", antwortete sie empört und gleichzeitig von einer neuen Angst gestreift.
"Ich meine: außer Jhess", beeilte sich Gaiden, das Missverständnis zu beseitigen. Ihre Erleichterung war offensichtlich. Sie überlegte eine Weile und horchte in sich hinein.
"Ich bin immer noch nur Jhess allein", meinte sie schließlich, "Jhess aus dem Nichts." Er grinste und verbeugte sich in einer uneleganten Bewegung, die wohl galant und charmant sein sollte.
"Ebenso", stellte er sich vor, "Gaiden aus dem Nichts. - Ich denke, die Gefahr ist, solange wir so wenig wissen, noch nicht sehr groß. Ich glaube nicht, dass wir länger als zwei Tage brauchen werden, um die Ewige Burg zu erreichen, und mit etwas Glück lässt uns unser Gedächtnis noch so lange im Stich." Sie musste lachen bei der Wahl seiner Worte und nahm den Marsch wieder auf.
Bei jedem Schritt jedoch, den sie weiterkamen, schwebte die Erinnerung drohend über ihr und ließ kleine Flöckchen von Ahnung auf sie fallen.
Gaidens Gesichtsausdruck wurde immer grimmiger, wenn er auch versuchte, Zuversicht auszustrahlen. Jhess bemerkte bald seine verstohlenen Blicke gegen den Himmel und seine kaum zähmbare Ungeduld, die ihm Beine machte. Einzig die Rücksicht auf sie hinderte ihn daran, in einen atemlosen Trab zu verfallen, um der Erkenntnis zuvorzukommen.
Gegen Nachmittag desselben Tages tauchte weit weg am Himmel ein schwarzer Punkt auf, der beiden das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sie wussten, mehr, als sie es sahen, dass dies der erste der schwarzen Drachen war, die ihnen auf der Spur waren, und dass er weit weg am Himmel kreiste und nie näher kam, weil er sie nicht erfassen konnte, war ihnen so wenig Trost wie die Tatsache, dass sie auf dem Berg, den sie anvisierten, bereits schemenhaft die Umrisse der Ewigen Burg ausmachen konnten. Zu weit weg waren sie noch, um die Sicherheit zu haben, dass sie rechtzeitig in ihren Schutz fanden.
Sie hatten tausend Fragen über ihre Vergangenheit, darüber, ob die Ewige Burg das Fernland war, weil sie zum ersten Mal während der gesamten langen Reise das Gefühl hatten, etwas wiederzuerkennen, aber beide vermieden es, ein Wort darüber zu verlieren, aus Angst, die Erinnerungskaskade in Gang zu setzen und verloren zu sein. Sie versuchten, nicht wahrzunehmen, was rund um sie war, nur Belangloses zu denken und über den monotonen Alltag zu sprechen.
Kurz vorm Einbruch der Dunkelheit waren zwei weitere schwarze Flecken im Himmel zu sehen, auch sie weit weg - und trotzdem in viel zu großer Nähe.
Klamm und bang mussten sie die Wanderung aufgeben, als die Nacht kam, und sie fragten sich, was ihnen am nächsten Tag bevorstand. Das Zelt schlug sich selbst in einer Nische im Schutz mehrerer massiver Felsblöcke auf, duckte sich unter einem natürlichen Vorsprung, als hätte es eine Ahnung, was den beiden Menschen drohte.
Aus Angst vor bösen Träumen, die die Feinde tatsächlich auf
ihre Spur locken konnten, schliefen beide schlecht und waren lange vor dem Dämmern
des Tages hellwach. Die Nacht wich ins zwielichtige Grau vor dem Sonnenaufgang,
als Jhess und Gaiden aus dem Zelt traten und einen sorgenvollen Blick nach oben warfen.
Hunderte schwarze Drachen bevölkerten den Himmel, weit weg, und nur als
winzige Pünktchen zu erkennen. Jedoch waren sie da, bereit, sie von der Oberfläche der Welt zu
tilgen, sobald sie erst
die Witterung aufnahmen.
Es war still und unheimlich, als sie sich wieder auf den Weg machten. Die Ewige Burg hatte an Konturen gewonnen, sie war klein und unauffällig und lehnte in müdem Grau wie eine alte, hinfällige Dame am Rücken des Berges. Vor ihnen hatte sich eine Ebene aufgetan, und hier waren endlich wieder Anzeichen von Leben zu entdecken. Weit verstreute Bauernhäuser und befahrene Wege, im Winter schlafende Obstbaumkulturen. Die Menschen hielten sich dagegen versteckt, verkrochen sich in ihren Häusern, als könnten sie damit das Unheil abwenden.
"Gaiden, es hilft nichts", klagte Jhess gegen Mittag, und einmal mehr hatte er das Gefühl, gleich in Panik ausbrechen zu müssen.
"Was?"
"Ich kann nichts dagegen tun, egal, wie sehr ich mich anstrenge, mir fällt trotzdem immer mehr ein. Ich weiß, ich war schon hier, viele Male bin ich diesen Weg gegangen, diesen und andere Wege, und ich kenne die Ewige Burg." Gaiden war fahl in der winterlichen Mittagssonne.
"Ich weiß", sagte er, "Jhess, wir beide waren hier, immer wir beide. Es ist, als käme hier immer alles zusammen." Sie nickte schweren Herzens, denn wie bunte Schleifen der Erinnerung kamen die Eindrücke in ihren Verstand. Bilderfetzen drangen auf sie ein, die sie keiner Existenz zuordnen konnte, und denen sie zu ihrer grenzenlosen Erleichterung keinen Sinn zuordnen konnte.
Am Himmel näherten sich die Drachen. Einzelne stießen herab und spuckten ziellos Feuerslohen auf den Erdboden. Es war, als erwärmte sich die Luft unter den vielen schwarzen Leibern.
"Sie sehen uns noch nicht", bemerkte Gaiden mit einem kritischen Blick nach oben, "Jhess, wir können die Burg noch rechtzeitig erreichen."
"Aber wer sagt, dass wir dort sicher sind?", fragte sie. "Die Burg ist ewig, aber gilt das auch für die Menschen?" Gaiden senkte den Blick. Er hatte sich schon lange darüber Gedanken gemacht und dabei immer gehofft, dass Jhess nicht denselben Überlegungen folgte wie er. Er wollte, dass wenigstens sie nicht die Hoffnung verlor.
"Wir haben keinen anderen Ausweg", sagte er schwer, "Jhess, die Burg ist alles, was uns noch bleibt. Wenn wir dort nicht sicher sind, dann sind wir es nirgendwo."
"Ja", sagte sie, "ich weiß." Sie folgten einem ansteigenden, menschenleeren Weg. Mehr und immer mehr Drachen näherten sich, kreisten langsam die Ewige Burg ein. Sie fühlten, dass sie nicht umsonst hier waren.
Der Tag begann, sich zu verdüstern, und ein lähmendes Schaudern kroch Unheil verheißend durch Ritzen zwischen der Zuversicht und der schwindenden Hoffnung in das Bewusstsein der beiden Wanderer. Die Luft wurde wie Blei, so schwer, und jeder Schritt kostete Überwindung. Der Pfad, der auf die Burg führte, felsig und abweisend, schien sich zu krümmen und zu winden, als wollte er den sicheren Schritt verhindern, einen Fehltritt in den Abgrund herbeiführen. Jetzt war es anders als im Mittellandgebirge, anders als auf der Steinburg, wo am meisten die aushöhlende Kraft und das Zehren der schwarzen Drachen zu spüren gewesen waren. Sie waren da, wie ein Vorgefühl auf das Zukünftige, aber unmittelbar im Bewusstsein stand der Kampf gegen eine Hinfälligkeit, eine Schwäche des Körpers, gegen Missempfindungen von Raum und Zeit. Die Wahrnehmung war gestört, und es war, als befände sich der Geist in einem Wirrsal, einem chaotischen Strudel aus Eindrücken, die überallhin und gleichzeitig nirgendwohin gehörten.
Alles, woran Gaiden sich noch klammerte, war der Wille, das
Ende dieses Steiges zu erreichen. Er hatte bemerkt, dass zwar die Tiere auch
in Mitleidenschaft gezogen waren, ängstlich schienen und unruhig, dass
sie aber offensichtlich sahen, wohin der nächste Schritt zu tun war, und so
brachte er Jhess dazu, genau der Spur des Hundes zu folgen, der winselnd und
zögerlich voranging, sich aber irgendwie seiner Rolle als Wegbereiter bewusst
schien.
Die Welt verzerrte sich vor ihren Augen, als rollte eine alles umfassende
Glaskugel hindurch und nahm dabei Fäden und Fasern der Persönlichkeit mit sich.
Gaiden merkte, wie sich sein Wesen entleerte, und dabei trotzdem Erinnerungen
wie dünne
Rinnsale der Zeit durch sein Bewusstsein plätscherten, er sah sich und Jhess
in vielfältigen Ausführungen auf der Ewigen Burg, erinnerte sich, dass
sie ein Ort von Glück und gleichzeitiger Verzweiflung war. Sie war Anfang und
Ende der Welt.
Gleichzeitig rotteten sich die schwarzen Drachen über dem
Berg zusammen, sie waren überall, und wie ein
Hornissenschwarm kamen sie über die Ewige Burg, ein großer wirbelnder Schatten
aus Tausenden von Drachenleibern bildete sich wie ein Strudel über dem Komplex,
wo sie kreisten und immer tiefer kamen, immer näher.
Der Einfluss, den sie
auf die Menschen ausübten, wurde stärker mit jedem Drachen, der in den Wirbel
Aufnahme fand, keine Ausstrahlung,
die von den finsteren Geschöpfen ausging, ein Einfordern,
ein Wegnehmen, wie ein schwarzes Loch, das alles in sich hineinsaugte, was nur
in seine Nähe kam. Und immer noch sahen sie die Wanderer nicht, die langsamer
und immer langsamer vorankamen, und dabei den Bezug zur Realität, zum Ablauf
der Zeit und zu ihren Wünschen und Zielen völlig verloren. Sie waren ein Durcheinander
aus Verzweiflung, Leere, hereinbrechenden Erinnerungen und dem einzigen, noch
übrigen Wunsch: am Ende des Weges anzukommen.
Über ihnen blieb die jähe Schrecklichkeit der symbiontischen Präsenz
bestehen, die
die Feinde in eine Einheit verwandelte, in ein einziges Wesen, das schwärzer
war als das Nichts selbst, das den Himmel verdunkelte mit den gleichförmigen
geflügelten Drachen, die sich in einem perfekt funktionierenden Zusammenspiel
wie ein schrecklicher Tornado über ihren Köpfen drehten, während sich wie in Spiralarmen
einer Galaxie aus allen Richtungen neue Drachen in den wirbelnden Reigen einordneten.
Der schwarze Himmel wurde allmählich zu einem einzigen kreisenden Nichts, das
in seinem Drehen und Rotieren die Welt in diesem Zustand zwischen Sein
und Nichtsein, Leben und Auslöschung, verharren ließ, als gäbe es kein Ende.
Die Stille schrie in Qualen und setzte sich im menschlichen Geist als unentwegtes,
winselndes Kreischen fest, bis selbst sie nicht mehr zu hören war. Die
körperlichen Empfindungen hatten ausgesetzt, und übrig blieb nur noch die Marter der
entschwindenden Persönlichkeit, die sich gegen ihre Vernichtung hilflos wehrte.
Nur bruchstückhaft wurde Gaiden bewusst, dass vor ihnen die Gemäuer der Burg auftauchten. Sie waren die ersehnte Rettung, und doch nahmen sie es beide unbeteiligt auf, als ihnen das große, dunkle Tor aufgetan wurde. Man hatte sie erwartet. Im Inneren der Burg änderte sich nichts, und Gaiden war in einem Zustand aus Wachsein und Traum, und er konnte das Eine vom Andern nicht unterscheiden. Er sah die Bewohner der Burg, die mit ihm sprachen, doch er verstand nicht, was sie sagten, während in gleichem Maße Szenen auf ihn eindrangen, die er vergessen hatte.
In einem kurzen Auftauchen aus verwirrenden vergangenen Welten bemerkte er, dass er allein war in einem fast leeren, kalten Raum, dessen Wände aus nackten großen Steinquadern gebaut waren und in dessen Kamin ein armseliges kleines Feuer flackerte, das Mühe zu haben schien, sich wider die leerenden Kräfte der Schwarzen zu stellen. Gaiden stellte fest, dass er am Fenster stand. Es war geöffnet, frostige Kälte drang herein, und doch war er nicht in der Lage, die Läden zu schließen und sich vom finsteren Anblick im Himmel abzuwenden. Er musste zusehen, wie sie näher und immer näher kamen, mit jeder Szene, die ihm wieder einfiel, mit jedem Stück Identität, das auf ihn eindrang.
Er wusste wieder, wer er war.
Das Wissen um seine Vergangenheit hatte wieder aus der eisigen Schatulle seinen Weg zu ihm gefunden und ihm gezeigt, dass es immer ein erstes Mal war, die Qualen immer notwendig, die Versuchungen immer unabdingbar, denn die Ewige Burg war für sie nicht anders zu erreichen als auf dem steinigsten aller Wege. Und es gab niemals eine Garantie auf Erfolg, denn die Alten Mächte waren uneins.
Schwer lehnte er am Fensterrahmen, bereit, als Erster Opfer
der schwarzen Feinde zu werden, weil er sie damit - vielleicht zumindest kurz
- aufhalten konnte, er war jetzt nur noch eine Randfigur und nicht weiter wichtig.
Mit brennendem Blick schaute er auf ins kreisende Nichts und spürte keine Kälte
mehr, keine Angst, kein Bedauern.
Der schwarze Strudel aus abertausend Drachenleibern
pulsierte, ein einziges, lebendes Wesen, ein einzelner, alles überschattender Feind, ein Drache,
so groß, dass er den gesamten Himmel ausfüllte. Sein Blick aus glühenden Kohlen
drang durch Gaidens Augen direkt in sein Innerstes, denn nun sah jener ihn, nahm
ihn wahr und wusste, dass er ihn vernichten konnte. Triumph lag in dem gierigen
Glühen und ein wildes Lachen in den Zügen der übermächtigen Drachenmiene. Er
riss das schwarze Maul auf, und Gaiden blickte in den finsteren Schlund des
kondensierten Nichts, in den er nun hineingezogen würde. Er wartete darauf,
und sah, wie aus dem Rachen des Schwarzen wie ein Rauchfaden der Odem des dunkelsten
Bösen hervordrang, er verdichtete sich und schlängelte sich durch die Luft herab,
um durch die Lücken in der Schutzhülle der wehrhaften Ewigen Burg zu dringen
und sich die Seelen einzeln zu holen, sie zu vernichten. Sein erstes Ziel war
der Mann am Fenster, der sich ihm verwegen und trotzig in den Weg stellte und sich
selbst dabei quasi auf dem Silbertablett servierte. Er wusste wieder, wer er
war und hatte sich somit angreifbar gemacht, sich der Vernichtung preisgegeben.
Die irrisiernde schwarze Schlange zuckte zurück wie der Kopf einer Kobra, um Gaiden mit einem Streich zu durchdringen, aufzuspießen und für alle Zeiten zu vernichten - und sie verharrte einen Augenblick in Erwartung auf den auszukostenden Sieg. Sie löschte seinen Blick. Er nahm gerade noch wahr, wie sie blitzschnell nach vorne stieß, und im selben Moment durchdrang wie ein Chor aus tausend Stimmen ein Schrei die Welt.
21
Der Commander blickte auf das schwarz-weiße Gesicht des Sicherheitsdienstchefs, das ihn vom kleinen Monitor des Commlocks in einer Mischung aus Vorwurf, Panik und Zorn anstarrte.
"John, ich habe gesagt, sie nähern sich! Die verdammten Drachen kommen Alpha immer näher, und dir fällt dazu nichts ein?"
"Sie wird schwächer", erwiderte John. "Tony, ich weiß, dass das alles über unser Verständnis hinausgeht, aber haben wir uns nicht dazu entschlossen, Leïda zu vertrauen?"
"Wie soll ich ihr vertrauen, wenn ich buchstäblich sehe, wie unsere Basis in Rauch und Asche aufgeht! Und rundherum lächelt ein Publikum aus tausend Raumschiffen und spendet freundlichen Applaus! Oder was machen die da draußen, diese anderen Schiffe, die am Rand der Arena abwarten, was mit uns geschieht?"
"Tony, ich weiß genauso wenig wie du, weshalb sie auf unsere Rufe nicht reagieren."
"Und was werden wir unternehmen?"
"Wenn es nicht anders geht, müssen wir kämpfen", antwortete John mit schwerer Stimme. Er hoffte auf einen anderen Ausweg, darauf, dass ihnen Leïda helfen konnte, ohne dass sie in den sinnlosen Krieg ziehen mussten. Seine Worte entlockten Tony eine grimmige Miene.
"Und wann genau werden wir kämpfen?", wollte er wissen. "Wenn sie uns die Tür einrennen - oder laden wir sie vielleicht vorher noch auf einen Empfang ein?" John fühlte, wie das Vertrauen, das ihm Tony entgegen brachte, schwand, mit jeder Minute geringer wurde, da er keinen klaren Plan auf den Tisch legte, der zumindest zeigte, dass die Alphaner nicht tatenlos dabei zusehen würden, wie sie von den Schlünden der Feinde verschluckt wurden. Sonst zählte in Tonys Augen nichts, denn er konnte mit Schwäche nicht umgehen. Dass scheinbare Schwäche in Wirklichkeit Stärke sein konnte, war noch nicht ins Bewusstsein des heißblütigen Italieners vorgedrungen.
"Gib Acht auf deine Worte!", sagte John distanziert, "Ich möchte, dass meine Anweisungen befolgt werden. Im Augenblick herrscht hier Gelbalarm - und sonst gar nichts! Tony, wenn ich einen Kampf verhindern kann, dann werde ich das unter allen Umständen tun!" Tony merkte, dass er wohl etwas zu weit gegangen war und atmete tief durch.
"Wie du willst, John", gab er nach. Aus dem Abseits wurde ihm eine Mitteilung gemacht. "Moment, John." Er kippte aus dem Bildschirm, hatte offensichtlich das Objektiv des Commlocks von seinem Gesicht gewendet, und John starrte via Monitor auf die Decke der Kommandozentrale. Er war bereits auf dem Weg dorthin und betrat den Raum just in dem Moment, da Tony wieder das Gespräch mit ihm aufnahm. Als er ihn eintreten sah, steckte er das Kommunikationsgerät an den Gürtel. "John, sieh dir an, was unsere Sonden auffangen." Sandra hatte die Aufnahme bereits auf den Hauptbildschirm umgeleitet.
Das Geschwader der trapezförmigen Schiffe kumulierte, sie näherten sich an einander an, bis sie verschmolzen und aus den vielen kleinen ein einziges großes Schiff wurde, das lebendig wirkte, flottierte im Nichts des Weltraumes und sich bebend in Bewegung setzte. Sein Ziel war der Mond.
"Rotalarm", befahl John, mit einem Male müde und
von Hoffnungslosigkeit durchdrungen. Die Schiffe zogen und zerrten an ihm, selbst
durch den Bildschirm, stärker als zuvor. "Piloten in die Kampfadler, alles
Personal mit Ausnahme der Stammmannschaft der Kommandozentrale in die Schutzbunker.
Die Medizinische Abteilung soll sich auf Verletzte vorbereiten." Die letzten
Worte waren besonders schwer über seine Lippen gekommen. Er rechnete mit keinen
Verletzten. "Piloten auf Wache: Ihr werdet das Feuer eröffnen, sobald die
Drachen Zone 1 erreicht haben, ist das klar?" Die Männer in den Adlern
des Wachdienstes bestätigten. Sie waren an der Front, fühlten die Todeskälte
näher und immer näher kommen und waren froh über den deutlichen Befehl. Es gab
hier draußen nichts Schlimmeres, als nichts zu tun.
Als der Feind die Grenze überflog, schossen sie, und doch
waren ihre Angriffe wirkungslos. Ebenso gut hätten sie mit Kinderspielzeug auf
die Übermacht zielen können, die sich unbeirrbar weiter dem Mond näherte.
Seltsamerweise wurden die Adler verschont, ignoriert, als wären sie völlig uninteressant. Keines Blickes wert. Das kollektive Schiff steuerte Alpha an, und war plötzlich da, hing über der Basis wie ein unbeteiligter Zuschauer, während die Adler von allen Seiten versuchten, es zu vernichten. Keine Waffe zeigte Wirkung, und als es in der Leere verharrte, als wartete es auf den nächsten Akt in der Handlung der Tragödie, begriff John.
"Kommt ihnen nicht zu nahe!", wies er die Piloten
an, "Stellt das Feuer ein und bleibt, wo ihr seid." Er selbst rannte
aus der Kommandozentrale, hinunter ins Not-Lazarett. Die Schwarzen hatten es
auf Leïda abgesehen, und nicht auf den Mond. Nicht auf die Alphaner.
Außer
Atem erreichte er das provisorische Medizinische Zentrum und eilte zum
Bett der Fremden. Es war leer, und sie stand, wieder in ihr anachronistisches Gewand
gekleidet, am Fußende und sah alles andere als glücklich aus.
"Commander", sagte sie, "die Stunde hat geschlagen. So oder so wird nun bald alles vorbei sein. Ich bin schon zu schwach, um die Drachen weiter abzuwehren."
"Aber das ist der Plan", wandte er ein und kam an ihre Seite. Sie nickte.
"Ja, es ist der Plan, und ohne ihn gäbe es keine Hoffnung mehr."
"Und mit ihm?" Ihr Lächeln war schmal und blass.
"Eine kleine." Er nickte. Besser als gar keine. Eine Seitentür zum Lager, das vom Personal des Lazaretts zwischen Kisten und verpackten Teilen als Büro und Untersuchungskammer verwendet wurde, ging auf, und Helena trat, noch bleicher als sonst, ein. Ihr Blick fiel auf die beiden Anwesenden.
"Können wir etwas tun, Leïda?", wollte sie wissen.
"Nur versuchen, mir zu vertrauen", war die Antwort. John hatte viele Fragen, doch er wusste, dass er keine Antwort erhalten würde, er spürte, dass die Zeit gekommen war, die Sache zu beenden. Mit einem Mal wurde es kalt im Raum, und die Konturen aller leblosen Dinge verschwammen, als wüsste das Licht plötzlich nicht mehr, welchen physikalischen Gesetzen es zu folgen hatte. Der Atem brannte kalt in den Lungen, und Kondenswölkchen bildeten sich beim Ausatmen der Luft. Ein Gefühl entstand, als stünden sie zwischen den Zeiten, als befänden sie sich mit einem Fuß in der Vergangenheit und mit dem anderen einen Schritt in der Zukunft. Die Sinne wollten nicht mehr erfassen, was ihnen dargeboten wurde. Da verschwand die Umgebung und hüllte sich in Schwärze, und nur die drei Personen standen da in einem Kegel aus bläulichem Licht. Leïda schloss kurz ihre Augen.
"Er ist da", sagte sie welk, und die Worte strengten sie sichtbar an. Kaum ausgesprochen, manifestierte sich ein schwarzer Schatten vor ihnen, er hatte eine vage, menschliche Gestalt, über zwei Meter groß, gewaltig, auslöschend.
"Der Namenlose", flüsterte Helena, und die Erinnerung an ihren Traum stand ihr lebendig vor Augen, die Szene, die Atmosphäre und die Anwesenden, genauso war es gewesen. Einst ein Traum, nun Wirklichkeit. Er war die Summe des Bösen, die zu einem Wesen geworden war aus dunkler Energie, mit menschlichen Augen nicht recht fassbar, und immer neben dem Fokus stehend, schwindend, sich windend. Der Anblick löste Qual und Pein aus, doch es war nicht möglich, die Augen von ihm abzuwenden.
Er war gekommen, um endlich und für alle Zeiten das letzte Hindernis zu beseitigen, das seine Existenz gefährdete, das ihn immer wieder daran gehindert hatte, über allem zu herrschen. Allein übrig zu bleiben in allen Welten.
"Wo sind wir hier?", wollte John fahl wissen, er hatte Helena hinausschicken wollen, doch war die Tür zum Lazarett verschwunden.
"Immer noch auf Mondbasis Alpha", sagte Leïda schwach, "er hat nur seine Umgebung mitgebracht. Sie haftet an ihm, der sterbende Raum, die Todeskälte, er könnte sie nicht abstreifen, selbst, wenn er es wollte." Der Namenlose bewegte sich kaum und schien nur halb anwesend, halb in einer anderen Existenz zu sein.
"Nur ein Hauch trennt euch noch vom Nichtsein", ließ er verlauten. Seine Stimme war wie ein hohles, verzerrtes und dumpfes Flüstern, das in Johns Kopf kreischte und ihn fast um die Besinnung brachte. "Diesmal werde ich dich vernichten, Leïda", versprach er ihr, "Dieses Mal reicht dein Vorsprung nicht aus, um mich zu besiegen. Ich war schneller." Leïda schwieg, ihr Blick war auf ihn fixiert, doch er ließ nicht erkennen, ob ihre Anwesenheit für ihn eine Rolle spielte. Seine Konzentration richtete sich unverkennbar auf die beiden Alphaner, die zu spüren begannen, wie es war zu verlöschen.
"Mach dass er aufhört", flehte Helena Leïda an, während sie sich unter Schmerzen krümmte. Neben ihr wand sich John mit hilflosem Blick in den Augen. Der Einfluss der Finsternis war von einer kaum erträglichen Intensität. Sie kämpften gegen einen tosenden Orkan der Leere, der um sie herum war, vom Namenlosen erzeugt, suchte er seinen Weg von ihnen zu ihm, begleitet von den Vorboten teuflischster Höllenqualen, die die beiden zu Boden sinken ließen. Immer neue Anstürme kamen in Wellen, ohne endgültig eine Verbindung zu ihm aufzubauen, immer näher, immer schlimmer waren die Auswirkungen auf John und Helena. Sie wanden sich grau zu Leïdas Füßen.
"Du kannst dir ihre Seelen nicht einverleiben", sagte Leïda, "nicht, solange ich sie schütze." Der Namenlose grollte.
"Ich habe viele Wege, mir zu nehmen, was mir zusteht", verkündete er in düsterem Ingrimm. Der Ansturm an Schwärze ließ nach, und die beiden Alphaner stöhnten auf im Nachlassen der Qualen. Gleich darauf hob er eine schwarze Hand, sein Umhang bewegte sich wie durch die Zeiten eilend, und von spitzen, langen, verworrenen Fingern schossen rote Feuerstrahlen, Drachenfeuer, das auf die gekrümmten Gestalten zielte und durch die Luft wie zischende Messer schnitt.
Helena und John waren wehrlos. Sie sahen, was geschah, wussten, dass nun das Ende bevorstand, nicht nur ihr Tod, auch der aller Alphaner, aller fremden Wesen in ihren Schiffen, die im Krieg waren gegen die schwarzen Drachen. Aller Welten. Es war vorbei.
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"Tony, ich bekomme die seltsamsten Messungen aus dem Not-Lazarett!", informierte Sandra den Chef des Sicherheitsdienstes aufgebracht. "Ich weiß nicht, was das ist, aber auf jeden Fall kann es nichts Gutes sein. Es trägt Frequenzmuster, die wir auch von den schwarzen Schiffen empfangen haben!"
"Leïda!", rief Tony zornig, "Ich wusste, dass sie ein falsches Spiel treibt! Sandra, bestell den Sicherheitsdienst zum Not-Lazarett! Maya, du kommst mit mir!" Die Außerirdische, wandte sich von Sandras Computerbildschirm ab, wo sie versucht hatte, aus den verwirrenden Messdaten rasch einen Sinn herauszulesen, und folgte Tony, der bereits davongeeilt war.
Unten gerieten sie in eine Woge aus schauerlicher Leere, die wie ein unüberwindbarer Anfall von Einsamkeit, Heimatlosigkeit und unstillbarem Heimweh auf sie einprasselte und immer schlimmer wurde, je näher sie dem Not-Lazarett kamen. Vor dem Eingang zur Kammer, in der Leïda untergebracht war, trafen sie auf die Männer vom Sicherheitsdienst sowie Dr. Vincent und mehrere Schwestern, die vergeblich versuchten, die Türe zu öffnen.
"Dr. Russell ist da drinnen", ließ Ben die Ankommenden wissen, "und wir glauben, auch der Commander!" Tony, der schon seit seinem Abgang aus der Kommandozentrale vergeblich versucht hatte, John zu erreichen, hämmerte gegen die Tür.
"John! Helena!", rief er laut, "Hört ihr mich? Was geht da drinnen vor?" Kein Laut drang nach draußen, nur ein Ziehen und ein Zerren an ihrem Verstand, an ihrem Wesen, das versuchte, ihnen ihre Existenz wegzunehmen. Tony schnappte seinen Commlock und gab für den Computer Kommandobefehle ein.
"Keine Berechtigung zum Öffnen der Tür", ließ ihn der Computer wissen. "Kommando-Code eins-Alpha."
"Override!", schrie Tony seinen Commlock an und wiederholte sich zornig, als das System nicht reagierte. Schließlich verließ ihn die Geduld, er riss seinen Laser vom Gürtel und zielte auf die Steuervorrichtung des Türmechanismus. Mit einem Blitz wurde sie kurzgeschlossen. Eine halbe Sekunde später flog die Tür auf, und Schwärze fraß sich wie ein Parasit durch die Atmosphäre. Im Not-Lazarett wogte eine dunkle Entität, die überwältigend war, für das Auge nicht ganz fassbar, aber doch entfernt menschenähnlich.
Die Alphaner erstarrten im Eingang, als wären sie vom Tod gestreift, sie sahen, wie die dunkle Schwärze überhand nahm, ein Gewirr aus dünnen roten Fäden spross aus einer Klaue des Unwesens und zielte auf John und Helena, die wehrlos am Boden lagen. Die Energie fraß sich durch das bläuliche Licht im Raum, und eine winzige Sekunde, ehe sie die beiden erreichte, trat ihr Leïda in den Weg. Der Energiestrahl floss in ihren Körper, sank in sie ein, als hätte er nur darauf gewartet, und mit dem Eintreten der bösen Energien veränderte sie sich. Ein Netzwerk aus roten Adern überzog ihre blasse Haut und breitete sich aus, bis die Netze in einander verschwammen, und Leïda wie eine rote Flamme loderte. Sie wand sich in Qualen. Der Namenlose lachte dazu in schaurigem Stakkato und beobachtete, wie sie die Kräfte verließen, wie sie langsam ihr Leben aushauchte. Sie hatte die Kontrolle über sich verloren, schwankte benommen, wie ohne Wahrnehmung unter den Todesstrahlen des Feindes, und das einzig Menschliche an ihr war ein gepeinigter Schrei, der furchtbares Entsetzen barg und das Flehen nach Erlösung, der Wunsch nach dem Tod. Ihre Arme schlugen um sich, weiße Blitze versprühend, die am Boden und an der Decke verpufften und weiße Kristalle aus Eis zurückließen. Der Namenlose glitt näher, schien sich zu wundern, wieso es so lange dauerte, dieses einzelne Wesen zu besiegen, und seine zweite Hand hob sich, aus der nun auch rote Energiestrahlen schossen und in Leïda einsickerten. Sie fiel zu Boden, und im Fallen sprengte eine Kaskade von weißen Blitzen aus ihrem Leib und erfasste John und Helena, die direkt hinter ihr waren und in stummem Entsetzen, wie auch die übrigen Alphaner, die Geschehnisse beobachtet hatten.
Tony sah, wie die weiße Energie auf die beiden traf. Ein schallender Knall war die Folge, Eisbröckchen flogen durch den Raum, und John und Helena waren nicht mehr. Schnee fiel von der Decke. Der Namenlose stieß ein anschwellendes Heulen aus, das sich wie eine kreischende Säge durch den Verstand der Zuseher pflügte, während mittlerweile aus all seinen Poren, aus seiner ganzen Existenz, die rote Drachenenergie hervorschoss und nach wie vor auf Leïdas Körper eindrang. Ihr gequälter Schrei vereinigte sich mit dem Geister-Heulen des Namenlosen zu einem gemeinsamen Gesang des Todes.
22
Der Schrei, so dünn er war, so zornig und aufbegehrend, durchdrang
Gaidens Verstand, aber im selben Augenblick gewann er die Kontrolle über seine
Sinne zurück. Er sah, wie die schwarze Kobra vor ihm wie glitzernder Sand zu Boden rieselte, ehe sie ihn erreichen konnte, und wie sich die dunkelkristallenen
Partikel im Fallen auflösten und verschwanden. Er rang nach Luft, während er
schwer am steinernen Sims des Fensters lehnte. Dann schwankte er zur Seite und
glitt in einem trägen Sturz zu Boden. Von seiner Position aus konnte er sehen,
wie der schwarze Leib der Drachenbrut auseinander stob, sich in jähem Entsetzen
auf und davon machte und doch keine Chance hatte, dem Schrei zu entrinnen. In
einem metallischen Flirren und Wabern verlor die Finsternis ihre Konturen und
verschob sich, wie von einem unheimlichen Zauber bedingt, ins Nichts. Von einer
Sekunde zur nächsten leuchtete ein tiefblauer Winterhimmel auf die Ewige Burg
herab, in der eine Sonne stand, so hell, als sei sie endlich ihrem Gefängnis
der Nacht entflohen.
Gaiden blickte auf den Ausschnitt des Himmels, während
ihm bewusst wurde, dass es nun vorbei war. Es war ein Schock mit gleichzeitiger
Erleichterung, ein Triumphgefühl, das so viel Verlust in sich barg, dass es
den Triumph kaum wert schien. Er fühlte sich schwach und bedrängt von tausend
Empfindungen, so gegensätzlich, dass sie, vereint in einer Brust, kaum erträglich
waren.
Nun merkte er wieder, wie kalt es war, und schließlich schaffte er
es, sich keuchend zu erheben. Schwindel erfasste ihn, aber er machte sich dennoch
taumelnd auf den Weg. Er war orientierungslos, obwohl er die Gemäuer kannte,
die Korridore und Kammern, und doch schien es ihm, als wandelte er zum ersten
Mal durch die kalten Gänge. Als er sich irgendwo in der äußeren Bastei wiederfand,
stieß er auf Spot, der ihm offensichtlich gefolgt war und nun freudig und schwanzwedelnd
an ihm heraufsprang. Gaiden lobte ihn und strich ihm über den schwarzen
Hunderücken, ehe er ihn aufforderte, ihn zu Jhess zu bringen.
Nicht Jhess,
nicht Gaiden, fuhr es ihm durch den Kopf, während er hinter dem eilig
davonlaufenden Hund herging. Bald erreichten sie den Wohntrakt, und er rang
nach Luft. Er fühlte sich von den vergangenen Ereignissen mitgenommen, aber
die starke Schwäche konnte er sich nicht erklären. Spot blieb vor einer hölzernen
Türe stehen und schaute sich erwartungsvoll zu ihm um. Er öffnete sie und blickte
in einen behaglichen, warmen Raum mit Gobelins an den Wänden, dicken, rotgemusterten
Teppichen am Boden und gemütlicher Einrichtung. Ruhiger, geschäftiger Frohsinn
schlug ihm entgegen. Eine gute Atmosphäre. Mehrere Frauen waren anwesend, und
Gaiden erkannte unter ihnen Merinda, Alga und Mer, deren Namen wie ein wirrer
Bogen aus Erinnerungsbruchstücken an seinem Bewusstsein vorbeizogen. Die zarte
Mer zog ihn in den Raum und schloss die Tür hinter ihm. Er sah, dass sie lächelte,
und eine große innere Freude strahlte aus ihrem Gesicht.
"Gaiden, der Sieg ist unser!", sagte sie. Nein, nicht Gaiden. Er war noch immer verwirrt und fand sich nicht zurecht, bis Alga und zwei weitere Frauen ihn in ihre Mitte nahmen und ihn nach rechts in die Tiefe des Raumes geleiteten. Da sah er eine Liegestatt mit Baldachin aus kostbarer Seide und das Bettzeug aus schwerem hellblauem Damast. Darin lehnte Jhess, von Kissen gestützt, bleich und erschöpft, in ihren Armen ein weißes Bündel, aus dem ein schwarzer Haarschopf schaute und ein winziges, zerknülltes Gesichtchen.
"Jhess!", rief er. Sie hob den Blick, und ihn traf
ein solcher Schmerz inmitten hoffnungsvollen Jubels, zerbrochenes Glück - eingefangen
in einem Moment, da es nicht weichen wollte.
Er eilte zu ihr und ließ sich
neben ihr am Bett nieder.
"Was ist geschehen?", wollte er wissen, "Ich verstehe nicht!"
"Ihr seid schon seit mehreren Tagen hier", erwiderte Merinda in ihrem schönen Alt aus dem Hintergrund, "der Einfluss der Drachen... sie verschlangen die Zeit, wie es Leïda vorhergesagt hat, ehe sie verschwand." Er hatte ihr ungläubig zugehört, doch mit ihren Worten kam die Erkenntnis, dass sie recht hatte. Er fühlte sich hilflos, von einem turbulenten Meer an wirren Gefühlen überwältigt, während er noch immer versuchte, alle Stränge der Information zu einem einheitlichen, vollständigen Ganzen zusammenzufügen. Er beugte sich zu Jhess hinunter und küsste sie, mit beiden Händen ihr Gesicht umfassend. Ihr schossen Tränen in die Augen. Er strich ihr feuchtes blondes Haar aus der Stirn, ohne zu wissen, wie er ihr Trost spenden sollte.
"John", flüsterte sie.
"Nein, nicht", sagte er leise, "denk nicht daran." Sie nickte, Schmerz und Trauer im Gesicht, und wandte ihren Blick dem Kind in ihren Armen zu. Er sah es an, das dunkle feine Haar und ein Engelslächeln, das über seine kleinen, zerknitterten Züge huschte. Ein seltsames, warmes Gefühl überkam ihn aus Stolz und Freude, und gleichzeitig war ihm bewusst, dass dieser Moment nichts war als ein Moment, flüchtig, und dann nur noch eine Erinnerung. Er und Jhess würden in das Fernland zurückkehren, die richtige Welt, ihre Welt, wo sie ihre Aufgaben hatten - und das Kind würde hier zurückbleiben, von anderen aufgezogen und auf seine eigenen Aufgaben vorbereitet. Es war immer so gewesen, und es würde auch immer so sein, bis sich ihre Kreise des Daseins, des Wiederkehrens, schlossen. Bis es notwendig war, einen anderen Weg zu beschreiten. Er und Helena waren einst, in einem anderen, viel früheren, Leben diesen Handel eingegangen, weil es bedeutete, dass sie immer zusammensein konnten. Sie zahlten einen hohen Preis dafür.
"Wir haben die Drachen besiegt", meinte er, "sie hat die Drachen besiegt." Helena nickte. Leïda hatte den Tod in Kauf genommen, um dem Namenlosen die dunklen Energien wieder abzujagen. Er hatte Seelen ausgelöscht, wie auch seine dunklen Handlanger, die Leben und Geist nehmen konnten. Hier wie dort hatten sie aber auch gekämpft, indem sie Funken ihrer schwarzen, gestohlenen Energie auf ihre Ziele warfen und sie damit zerstörten. Der Namenlose hatte so versucht, Helena und John auszulöschen, als es ihm nicht gelungen war, sie zu leeren, und er hatte, wissend um die wichtige Rolle, die sie beide in dem Kampf spielten, die alles vernichtende Energie auf sie geschleudert. Doch es war ein Fehler gewesen, denn mehr war nicht nötig gewesen, um die Kettenreaktion in Gang zu setzen. Leïda hatte den Strahl abgefangen mit ihrem Körper, und er war nicht mehr abgebrochen, ein schier unendlicher, maßloser Schwall von roter Dunkelheit war auf sie getroffen, durch ihren Körper geflossen - und verwandelt worden in reine, weiße Energien. Der schwarze Gegner hatte tatenlos dabei zusehen müssen, wie ihm alle dunklen Kräfte entzogen wurden, unaufhaltsam, unbeeinflussbar, bis er, wieder ein winziges Nichts, zurückgedrängt worden war in die Leere seiner Existenz, wo er nun schlief, bis man ihn wieder aufweckte. Leïda war es inmitten aller Wirrnisse gelungen, John und Helena in ihre Welt zu schicken, damit sie ihr ein neues Leben voller Stärke und Kraft gaben, positive Energien, die es ihr ermöglichten, ihre Aufgaben einen neuen Zyklus lang zu erfüllen. So, wie sie es schon viele Male zuvor getan hatten.
Sie verharrten wortlos, gefangen im Augenblick des fragilen
Glücks, und John legte seinen Kopf an Helenas Schulter, um seine Tochter
zu betrachten, den Moment einzufangen und ihn zu bewahren. Er wusste, dass sie
nicht viel Zeit hatten.
Er fühlte eine Hand auf seiner Schulter. Es war Grach,
der ihnen ein mildes Greisenlächeln schenkte.
"Ohne Ende kein Anfang", sagte er leise. "Nur im Sterben und Geborenwerden gemeinsam konnte sie den Namenlosen besiegen." Er beugte sich zu Helena herab. "Es ist jetzt an der Zeit zu gehen", meinte er, "ihr müsst sie nun freigeben." Helena reagierte nicht auf seine Worte, ihr Blick blieb gesenkt auf das Kind, bis John es ihr sanft aus den Armen nahm. Er spürte es einen Augenblick wie eine Feder so leicht in den Händen, und als sich ein ziehender, lähmender Schmerz in seiner Brust bemerkbar machte, reichte er es an Merinda weiter, die, wie auch die anderen Frauen, herbeigekommen war.
Wie mit dem Flügelschlag eines Schmetterlings flatterte diese Welt von ihnen fort.
23
Die Alphaner hielten sich mit erschüttertem Entsetzen die Ohren zu. Es war nicht möglich, den Blick abzuwenden, sie waren wie Zuschauer eines Theaterstücks, betroffen, aber nicht dazu in der Lage einzugreifen. Der durchdringende gemeinsame Schrei brach ab, die rote Energie aus dem Leib des Namenlosen verrauchte, wie auch er, der sich in den Nebeln zwischen den existenten Welten auflöste. Zurück blieb das Not-Lazarett und eine vollkommen verstümmelte, verkohlte Leiche, die, noch gekrümmt in ihrer letzten Position, dalag. Von John und Helena fehlte jede Spur. Es roch nach Feuer und Schwefel, nach Tod und Verbranntem.
Aber Alpha lebte noch.
Fassungslos betrat die Gruppe die kleine Kammer, um sich umzusehen. Es war heiß wie in einem Heizkessel, und die Luftfeuchtigkeit trieb ihnen den Schweiß auf die Stirn. Tonys Commlock piepste. Er nahm ihn erschüttert vom Gürtel und stellte den Kontakt her. Sandra war am anderen Ende.
"Tony, du siehst aus wie der Tod, ist dir ein Geist begegnet?", wollte sie entsetzt wissen.
"Schlimmer", erwiderte er, "der Teufel höchstpersönlich."
"Stell dir vor", sagte Sandra, ohne recht zu wissen, was sie mit seiner Bemerkung anfangen sollte, "die Drachen sind weg. Einfach verschwunden. - Und die fremden Raumschiffe scheinen auch ihr Interesse an uns verloren zu haben. Sie kehren in ihr Sonnensystem zurück."
"Ja", meinte er nachdenklich, "als hätten sie gewusst, was passieren würde. Die Gefahr scheint vorbei zu sein, aber Sandra, wir haben den Commander und Dr. Russell verloren. Sie sind aus dem Not-Lazarett verschwunden. Vielleicht sind sie irgendwo auf der Basis. Ich möchte, dass die Scanner nach ihnen suchen." Die Analytikerin blickte ihn erschrocken an.
"Sind sie tot?", wollte sie wissen.
"Ich weiß es nicht", gab er müde zur Antwort. "Sie haben sich in einem Blitz aus Energie aufgelöst. Ich würde ihre Chancen nicht allzu hoch einschätzen."
"Tony, ich werde die Adler wieder zur Basis zurückbeordern",
sagte Sandra. Er nickte und brach die Verbindung ab. Er schaute sich in der
Kammer um. Rohe Wände mit Brandspuren, die Einrichtung kokelte vor sich hin.
Vincent kam mit einem Feuerlöscher und tilgte die kleinen Brände. Eine
Sprinkleranlage war hier nicht eingebaut worden.
Tony ging als Letzter hinaus,
betäubt und ungläubig. Er verstand nicht, was geschehen war.
Als er den Lift erreicht hatte, summte sein Commlock wieder.
"Was ist?" Es war Sandra.
"Die Sensoren haben Dr. Russell und Commander Koenig gefunden", meldete sie ihm mit froher Miene. "Sie sind vor einem Augenblick wieder im Not-Lazarett aufgetaucht." Er drehte sich am Absatz um und zerrte Maya am Arm mit sich. Die Tür zur Kammer stand noch offen, und sie eilten hinein. Wenig später folgten Vincent und zwei seiner Helfer.
Tatsächlich lagen zwei Gestalten am Boden. Sie schienen ohne Bewusstsein, von den Eintretenden abgewandt, in den Uniformen des Commanders und medizinischen Personals, die ihnen jedoch irgendwie unförmig am Leib hingen. Vincent drängte sich nach vorne und beugte sich ohne zu zögern zuerst über die Frau. Vorsichtig drehte er sie zu sich um - und erstarrte. Es war Helena, und doch wirkte sie so fremd, als wäre sie ihre unbekannte Schwester, die der Basis einen Besuch abstattete. Er überprüfte ihre Lebenszeichen, und wandte sich dem Mann zu.
"Sie lebt", sagte er erleichtert, "scheint nur nicht bei Bewusstsein zu sein. - Dasselbe gilt für ihn." Es handelte sich offensichtlich um John, er wirkte auf unbeschreibliche Weise entspannt. Jung, dachte Vincent auf den zweiten Blick.
"Bringt sie auf die medizinische Station", befahl er seinen Helfern, die sofort herbeieilten.
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Kaum vierundzwanzig Stunden später kamen beide fast gleichzeitig zu Bewusstsein. Sie waren durcheinander und schienen sich nicht zurechtzufinden. Vincent diagnostizierte an ihnen einen Schockzustand und schottete jeglichen Besuch von ihnen ab, allen voran einen ungeduldigen, zornigen und dann schon wütenden Tony Verdeschi, der jedoch keinen Weg vorbei an der medizinischen Autorität fand.
"Ben, ich verstehe, dass du ihnen Ruhe verordnen willst, aber ich muss wissen, wie es ihnen geht. Die Basis steht hinter mir, und die Alphaner sind verständlicherweise aufgebracht und verlangen nach Antworten."
"Sie werden es erwarten können", war die lapidare ärztliche Antwort. "Und du auch."
"Nun gut, wenn du mich nicht zu ihnen lassen willst, dann sag mir wenigstens, was mit ihnen passiert ist!"
"Das weiß ich nicht", erwiderte Ben ruhig, während er weiter seine Scannerdaten ordnete.
"Hör zu, ich habe gesehen, dass sie nicht mehr dieselben sind, und ich bin nicht der Einzige. Es ist notwendig zu wissen, worauf wir uns einstellen müssen." Vincent legte die Scans zur Seite und blickte den Stellvertretenden Commander ins Gesicht.
"Alles, was ich sagen kann, ist, dass sie körperliche Veränderungen durchgemacht haben. Ihr biologisches Alter wurde um etwa sieben Jahre reduziert, und sie sehen aus, als hätten sie ein anstrengendes, entbehrungsreiches Leben geführt. Beide haben an Gewicht verloren, Muskelmasse dagegen gewonnen, und die Haut wirkt, als hätten sie sich hauptsächlich an der frischen Luft aufgehalten. Es gibt noch einige andere Veränderungen, besonders an Dr. Russell, über die ich hier nicht sprechen kann, aber alles weist darauf hin, dass beide eine lange Zeit von Alpha abwesend waren und dass ihnen Dinge passiert sind, die wir uns im Moment nicht vorstellen können. Ich erwarte, dass du ihnen Zeit gibst!"
"Du weißt ja gar nicht, was auf Alpha los ist! Die Leute reden, und Unfug hat die unangenehme Eigenschaft, sich zu potenzieren, wenn ihr kein Riegel vorgeschoben wird." Vincent blickte ihn geduldig an.
"Ich wohne auch hier", informierte er Tony, "mir ist bekannt, welche Blüten die Vorstellungskraft mancher Alphaner treibt. - Aber wozu bist du Stellvertretender Commander? In dieser Eigenschaft solltest du die Mannschaft besser im Griff haben. - Sag den Leuten, dass es ihnen gut geht." Tony dampfte zornig ab. Der Arzt grinste hinter ihm her. Er wusste, dass der Italiener zur Übertreibung neigte, und er hatte ein Gespräch mit Maya hinter sich, die ihm ungleich genauer über den seelischen Zustand der Basis berichtet hatte. Jedenfalls war jener seiner Meinung nach noch nicht besorgniserregend. Er beugte sich wieder über seine Scans.
Als er später einen Blick ins Krankenzimmer warf, fand er John, im blauen Basispyjama am Besuchertisch sitzend vor, während Helena, ebenfalls blau angekleidet, auf der Kante ihres Bettes saß. Sie hatte langes, helles Haar, das ihr über die Schulter fiel, und sie wirkte jung und verletzlich. Es war ein Blick an ihr, den er noch nie gesehen hatte, als hätte sie etwas Kostbares verloren. Als sie bemerkte, dass er sie ansah, verschloss sich ihre Miene.
"Wie geht es der Basis?", erkundigte sich John. Er wirkte seltsam gedämpft, als stünde er noch im Einfluss von vergangenen Ereignissen. Vincent erstattete Bericht, und John entspannte sich sichtbar.
"Commander, wie fühlen Sie sich? Dr. Russell?"
"Gut", erwiderte sie einsilbig. John nickte.
"Wir sind in Ordnung." Der Arzt ging zu seiner Chefin und setzte sich ihr gegenüber auf Johns Bett. Ihre Fassade war für Vincent durchschaubar, besonders nach dem Blick, den er zuvor von ihr erhascht hatte. John kam zu ihnen herüber und nahm neben Helena am Bett Platz. Ihre Hand suchte die Seine, und erst, als sie sie hielt, sah sie ihrem Kollegen in die Augen.
"Haben Sie eine Erklärung dafür, was hier passiert ist?", wollte Vincent wissen. Keiner von beiden antwortete.
"Commander, wir wissen, dass etwas mit Ihnen geschehen
ist, etwas, das, wie ich vermute, im Zusammenhang mit der Belagerung durch die schwarzen
Drachen steht. Sie beide haben Veränderungen durchgemacht, und wir haben sehr
präzise Aufzeichnungen über diese Veränderungen. - Dr. Russell?" Er sah
sie an.
Ihr Gesicht war grau, die Augen wie erloschen. Sie sagte:
"Ich erinnere mich nicht." Ihr Blick fiel zu Boden.
"Commander?" Er hatte Helena nicht aus den Augen gelassen, jetzt, da sich Vincent an ihn wandte, fasste er ihn ins Visier. Er fühlte sich kraftvoll und stark, aber seltsamerweise dennoch wie tot.
"Ich kann mich auch nicht erinnern", erwiderte er. Er sah, wie ein Schaudern der Erleichterung durch Helenas Körper ging. Dem Arzt blieb das nicht verborgen.
"Nun gut", meinte er in mildem Ton, "Sie können nur hoffen, dass sich der Rest der Basis auch so leicht zufrieden gibt wie ich."
"Ich werde dafür sorgen", sagte John, und Vincent nickte. Er erhob sich und verließ den Raum. Im Türrahmen stehend, drehte er sich noch einmal um.
"Sagen Sie mir, wenn Sie bereit sind, die medizinische Station wieder zu verlassen. So lange werden Sie in Ruhe gelassen." John nickte.
"Danke, Ben", sagte er. Der Arzt neigte wieder kurz den Kopf und verschwand.
Vincent wusste nicht, wie unmittelbar alles noch war, wie sehr beide verwoben waren mit der Existenz, die sie über lange Zeit geführt hatten, das fremde Leben als die Fernländer Jhess und Gaiden, die ohne Erinnerung gewesen waren. Nun waren sie in ihr altes Leben zurückgekehrt, hatten ihre Erinnerung wieder, doch sie wog schwer und trübte die Freude, endlich wieder dort zu sein, wohin sie gehörten. Sie hatten ihre Tochter zurückgelassen, und es war ihnen klar, dass ihr Weg ein anderer war als der, den sie gehen mussten.
"Bist du in Ordnung?", wollte John besorgt wissen.
"Ja", sagte sie, doch das war gelogen. Er sah sie an. "Ich wünschte, wir hätten nur ein wenig länger bleiben können."
"Nein", erwiderte er sanft, "das hätte den Schmerz nur umso größer gemacht." Er nahm sie in seine Arme, und sie verlor endgültig ihre Fassung. Es war zuviel. Zuviel für ein Menschenleben.
Der Handel?
John schaute auf sie herab, fühlte sie in
seinen Armen. Nicht zuviel, entschied er, nicht zuviel. Er hielt sie fest, im
Bewusstsein, dass sie für alle Zeiten zu einander gehörten.
Epilog
Es war Frühling, ein wunderschöner, sonniger Tag, lau, und wie das Erwachen des Lebens selbst. Inmitten frischen Grüns und der überschießenden Pracht bunter Blüten saß ein kleines Mädchen auf einer alten hölzernen Bank. Zu seinen Füßen lag ein schläfriger Bluthund, die Schnauze auf den Vorderpfoten, und musterte mit einem halb geöffneten Auge ein emsiges Insekt, das vor ihm einen Grashalm hinaufspazierte. Das Mädchen hatte langes schwarzes Haar, das glänzend über seinen Rücken flutete, ein blasses Gesichtchen und helle, lichtblaue Augen, mit denen es abwesend auf die duftenden Blüten eines Magnolienstrauches blickte. Im Garten war es leise, ein Zauber lag darüber, der ihn vom Lärm des geschäftigen Treibens auf der Burg abschirmte.
"Leïda!" Das Mädchen lächelte und sprang auf, als es seinen Namen hörte. Der Hund erhob sich schwanzwedelnd und folgte seiner kleinen Herrin.
"Felisar! Du bist wieder da!" Der alte Zauberer, noch von Kopf bis Fuß im missfarbenen Karo seiner Reisebekleidung steckend, ging in die Hocke, um Leïda in die Arme zu schließen. Dabei plumpste ihm der breitkrempige, verbeulte Hut vom Kopf, und weißes Haargefieder wogte um sein faltiges Gesicht. Spot knurrte den Hut an, doch als er versuchte, ihn nach Hundemanier mit den Fängen in die Mangel zu nehmen, kam rasches Leben in ihn, und er robbte flugs hinter seinen Besitzer. Der Hund schlich grollend hinterher, bis der Magier ihm über den Kopf strich und seinen Hut in einer riesengroßen Manteltasche verschwinden ließ. Aus den Tiefen der Stofffalten erklang laut und vernehmlich ein aufatmendes Seufzen.
"Du warst so lange weg", warf das Mädchen dem Zauberer vor, "ich dachte schon, dass du gar nicht mehr nach Hause kommst!" Er lächelte nachsichtig.
"Manche Dinge müssen leider sein." Leïda nickte verständnisvoll.
"Ich weiß", sagte sie und nahm ihn bei der Hand.
"Hast du denn all die Übungen gemacht, die ich dir aufgegeben habe?", fragte er.
"Aber Felisar, du hast mir keine Übungen aufgegeben!", erwiderte sie vorwurfsvoll. Er machte ein verdutztes Gesicht.
"Keine Erinnerungsübungen?" Sie schüttelte den Kopf und blickte ihn strahlend an.
"Kein Seelentraining?" Wieder verneinte sie.
"Aber ich war trotzdem fleißig", berichtete sie stolz. "Und", warf sie ergänzend ein, "ich habe sie oft besucht!" Felisar machte eine anerkennende Miene.
"Deine Eltern?" Sie nickte.
"Ich gehe zu ihnen in ihren Träumen!"
"Das ist gut!"
"Sie wissen jetzt, dass ich immer bei ihnen bin. So, wie sie immer bei mir sind. Träume sind -" Sie wickelte eine schwarze Haarsträhne um ihren Zeigefinger und blickte ihn nachdenklich an, "- ein sehr gutes Mittel, mich mit ihnen zu unterhalten."
"Das stimmt!" Ein erfreutes Lächeln kam in seine verwitterten Züge. Das Tor zu Leïdas Erinnerungen begann, sich zu öffnen, langsam und behutsam, wie es sich gehörte. Der Geist eines Kindes brauchte ein sanftes Erwachen. Felisar gab sich einen Ruck. "Na, komm", sagte er, "wenn ich mich nicht sehr täusche, habe ich dir von meiner Reise etwas mitgebracht!" Sie jubelte, und gemeinsam verließen sie den Frühlingsgarten. Hinterher trottete gähnend der Hund Spot.
-ende-
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20.11.05 - 07.03.06