Die Falle

 

Diese Geschichte entspringt meinem unbändigen Drang zu fabulieren, zu übertreiben, kurz, mal so richtig die Sau rauszulassen! Es wäre ratsam, nichts davon zu ernst zu nehmen.
Nur für starke Nerven, die Spaß am Nonsens haben und die auch an ein paar unrettbar verknoteten Gehirnwindungen nichts auszusetzen haben!

 

Kapitel 1

 


 

Wie man Schutzgeist wird

 

Er saß da in seinem selbst kreierten Nichts und wartete auf die Betäubung, die die Leere bringen sollte - aber weit gefehlt: von Betäubung konnte keine Rede sein - ganz zu schweigen vom Funken einer asketischen Selbstzufriedenheit oder vielleicht dem Hauch eines gepriesenen, inneren Friedens. Er war nervös, überall kribbelte es, als verfügte er noch über einen herkömmlichen Körper, sein Geist sprang und stampfte wie eine heftig schnaufende Dampflokomotive, und, in jähen Zorn ausbrechend, katapultierte er sich aus der reizlosen Schwärze in einen Nichtraum voller flackernder, chaotischer, bunter Muster, Kreise und Spiralen, die rotierten, kullernde Schemen in wirrer, rauschender Bewegung. Doch auch dies nützte nichts, die Störung kam von innen, kam aus der Untätigkeit, unbändige aufgestaute Energien, die brach liegen sollten, damit er endlich frei werde.

Er war ein kosmischer Schutzgeist und nannte sich Pine. Einst war er ein zwar lausiger aber immerhin höchst irdischer, materieller und substanzbehafteter Schuster gewesen, ein im äußersten Maß cholerisches, kauziges Exemplar, dessen Hauptanliegen nicht die Herstellung von Schuhwerk gewesen war, wie man vielleicht vermuten könnte, sondern, gelegentlich zu seinem eigenen Leidwesen, das Treiben von schändlichem, jederzeit und überall verfügbarem Schabernack. Er war seinerzeit sozusagen ein Kobold in Menschengestalt gewesen.

Sein bürgerlicher Name lautete aufgrund der unglückseligen Vorliebe seines Vaters für das Lächerliche und Skurrile Clodostropine Khyrro, und Pine war schon sehr früh zur Erkenntnis gelangt, daß jemand mit einem solchen Namen sich nur entweder in ein Rumfaß verwandeln könne oder sonst unter rigorosem Vorgehen jedes Gelächter ersticken, jedem verräterischen Zucken eines Mundwinkels zuvorkommen müsse. Dies und die Tatsache, daß es ihm nicht gerade schwergefallen war, seine schier unerschöpflichen Energien in zweifelhafte Manöver jeglicher Art zu investieren, hatten ihn ganz flott in eine Pest für seine Umwelt verwandelt.

Eines Tages aber hatte er es in seinem Übermut zu weit getrieben und die Unvorsichtigkeit begangen, mit einem noch verkommeneren Subjekt, als er es war, dem Teufel höchstpersönlich nämlich, einen Pakt abzuschließen. Pine strich diese Episode gerne aus seinen Erzählungen oder veränderte sie nach seinem Gutdünken, vor allem, da er sich genierte, vom Höllenfürsten im Austausch für seine Seele nichts als einen neuen Hut gefordert zu haben - wenn er auch aus Gold gewesen war. An diesem Vertrag waren ihm dann im nachhinein einige Rechtswidrigkeiten aufgefallen, weswegen er sich mit der Kurzsichtigkeit und Ignoranz des wahrhaft Ahnungslosen in die Mühlen der Justiz geworfen hatte. Nach mühseliger Rekonstruktion und Einbeziehung aller Fakten war er zu dem Schluß gekommen, daß eine Handvoll Winkeladvokaten und insbesondere ein halbes Dutzend Flaschen hochprozentigen Wodkas ihn in die bestehende Situation bugsiert hatten (wobei er sich nicht ganz klar war, wer nun den Wodka getrunken hatte: die Rechtsanwälte, der Teufel, oder am Ende gar er selbst). Er hatte sich nämlich in höchster Verblüffung der Tatsache gegenüber gesehen, daß seine Seele nicht mehr dem Teufel, sondern ganz im Gegenteil, dem Schöpfer gehörte und er jenem bis in alle Ewigkeit verpflichtet war. - Seinen Goldhut war er obendrein los gewesen, den hatten die Halunken mit gierigem Raffblick als Honorar eingestreift.

Pines anfängliche Freude war allerdings allmählich der Erkenntnis gewichen, daß Schutzgeist zu sein - zumindest in seinem Fall - keinen Aufstieg bedeutete, daß er dafür kein Talent hatte und wahrscheinlich mit einem Bad in blubbernden Schwefelseen, beim Genuß eines Bechers Feuerwasser und in Gesellschaft einiger Höllenbräute ein weit schöneres Unleben hätte führen können als jetzt, da er sich läutern und seine Sünden bereuen mußte. Nicht, daß er es inzwischen nicht versucht hätte, edel zu sein, seinen Pflichten als Schutzgeist nachzukommen, doch schien er einfach nicht dazu fähig, eine einzige Aufgabe zur Zufriedenheit der Obrigkeit zu erledigen, denn wie er in einem traurigen, selbstkritischen Moment erkannt hatte, so war und blieb er ein Schlawiner und ausgemachtes Schlitzohr.

Pines momentanes Problem war ein strohdummer Mond, der sich von ein paar lächerlichen Atomexplosionen hatte erschrecken lassen und einen Hüpfer in seiner Umlaufbahn gemacht hatte. Pine, gerade von einer besonders ekelhaften Miß- und Übellaunigkeit geplagt, hatte seinen Zorn gegen alles Materielle und überhaupt auch gegen das Immaterielle gerichtet, und so hatte es sich ergeben, daß er, quasi ohne sich für die Idee sonderlich anstrengen zu müssen, dem biederen Trabanten mit seinem ätherischen Fuß einen überaus substantiellen Tritt verpaßt hatte, und jener darauf in wilder Panik davon gestoben war, um sich in den schwarzen Weltraum zu verflüchtigen.

Das Theater, das dieser, kaum erwähnenswerten Episode gefolgt war, war nicht vorstellbar - aufsalutieren hatte er müssen, und sein mit Flügeln bewaffneter Vorgesetzter, dem der Heiligenschein alle nasenlang in die Augen gerutscht war, hatte ihm die Verantwortung für die paar Menschen, die sich auf dem Himmelskörper tummelten, aufgebrummt (1).

Und nun hatte er den widerlichen Haufen am Hals! Diese Leute waren alles, was er nicht war, kurzsichtig, humorlos, verängstigt, und, was ihn am meisten wurmte, sie nahmen alles bodenlos ernst. Allen seinen köstlichen Einfällen standen sie ganz und gar verständnislos gegenüber, die wunderbaren Ideen, die er gehabt hatte, um seine Langeweile zu vertreiben, hatten ihnen Angst gemacht, und statt, wie er, darüber zu lachen, hatten sie geweint und geheult und unvorstellbare Mühen darauf verwandt, der Situation wieder zu entkommen. Sogar seinen als Geniestreich gedachten Plan, die ganze Kolonie in eine Horde steinzeitlicher Crô-Magnon-Menschen umzuwandeln, hatten sie mit ihrem mangelnden Sinn für das Romantische, Wilde, für die Anarchie zunichte gemacht. Ihr Verlangen nach Sicherheit, einem festen Gefüge, langweilte ihn zu Tode, aber das Problem war, daß gerade ihr Sehnen und Streben danach sie dazu befähigt hatte, immer wieder den Status quo zu erreichen - egal, was er sich auch ausgedacht hatte. Hartnäckig waren sie, und in ihrer Beharrlichkeit Gegner, die man nicht unterschätzen durfte.

Als er sich nun redlich darum bemühte, daß nur lautere Gedanken seinen Verstand bevölkerten, als er sich unter rechten Qualen zu reinen, großherzigen Überlegungen aufraffte und sich gerade auszumalen begann, daß von nun an keine Klagen mehr um ihn laut würden und er die Position als abschreckendes Beispiel für alle neuen Schutzgeister aufgeben müßte, da stahl sich hinterrücks ein subversiver Gedanke, eine vor Inspiration sprühende Eingebung, in seinen gerade so schön vergeistigten, mentalen Zustand, der ihn auf der Stelle alle guten Vorsätze vergessen machte.

Ja, er würde diese starre kleine Gesellschaft an ihre Grenzen führen, in eine Sackgasse, die sie sich mit ihrer engen, unflexiblen Sichtweise selbst geschaffen hatte!

Er blickte sich in ihrem Universum um und...

 

 

Von Bedrohungen

 

 

...schon sah er eine tückische Rasse, kriegerisch und furchterregend, für die Mord und Totschlag zum guten Ton gehörten und Quälen und Foltern die Essenz des Lebens darstellten. - Ein Pech für den kleinen herumirrenden Mond, der da ahnungslos und munter durch deren Herrschaftsgebiet rollte, ein ausgesprochenes Pech auch, daß sich ein verbrecherisches Auge auf die Mondstation Alpha richtete und daß unverzüglich ein riesiger Kreuzer, der bis an die Zähne bewaffnet war, ausrückte, um die Grenzen zu verteidigen und Gefangene zu machen. In diese Situation einzugreifen, schien Pine, zumindest, wenn man ein Schutzgeist war, halbwegs legitim zu sein.

 

 

Von der Morgenstund' - (Und die Wahrheit über den verschwundenen Socken)

 

John wachte, vom Weckdienst tyrannisiert, auf. Kraftlos lag er in seinen Federn, Geist und Fleisch fochten einen einsamen Kampf, der um so schwerer fiel, als sein Geist schwach und sein Fleisch, in Form zufallender Augenlider, ausgesprochen gut durchtrainiert war.

Es gibt kaum einen Augenblick, da ein Mann wehrloser ist, als am Morgen um die Zeit des Aufwachens. Der Grad der Wehrlosigkeit potenziert sich mit der Anzahl an Weingläsern, die der Mann am vorigen Abend geleert hat, insbesondere, wenn es sich um den noch immer nicht ganz ausgereiften alphanischen Kunstwein handelt und wenn er sich, außer mit dem Trinken, noch mit ein paar anderen energieraubenden Dingen beschäftigt hat, also z.B. endlose Diskussionen um die Zukunft geführt hat, die abzuwürgen ihm nur gelungen ist, indem er seinen Gesprächspartner ins Bett geschleppt hat. Bezeichnenderweise greift er auch gelegentlich solcher Diskussionen immer auf dasselbe, ihm lieb und vertraut gewordene, wenn auch in diesem Fall etwas eigensinnige, weibliche Individuum zurück.

Leichthin könnte man ein solches Vorgehen als den Ausdruck einer bisweiligen, bequem gewordenen Abendunterhaltung bezeichnen, in Wirklichkeit steckt aber viel mehr dahinter, ist dies eine sichtbare Manifestation einer höchst positiven Lebenseinstellung! Der Keim aller Hoffnung, das Geheimnis, liegt genau in der Möglichkeit, ein schauriges aber laszives Glas Wein zu sich zu nehmen und im Beisein des anderen Streß oder Routine zu vergessen, liegt in der kleinen Freiheit, die der globale Plan zuläßt.

John setzte sich schließlich unter Aufbietung aller Kräfte auf und blieb sinnierend am Bettrand sitzen. Wie Helena es geschafft hatte, rechtzeitig in ihren Frühdienst zu entschwinden, war ihm schleierhaft, sie war am Abend, wie ihm vage erinnerlich war, von noch heftigeren Durstattacken geplagt worden als er. Mit müdem Blick sah er sich um. Sie war noch in einer mehr materiellen Hinsicht präsent. Seit geraumer Zeit schon vergaß, verlegte, deponierte sie ihre Sachen bei ihm, wie auch er gelegentlich einen verschollen geglaubten Socken (2) aus den Tiefen ihrer Sitzgarnitur hervorzog oder ihm eines seiner verschwunden geglaubten Bücher aus ihrem Regal fröhlich zuwinkte. Schon allein zur Begrenzung des Suchradius, wenn es um das Auffinden von Kleidung, Unterlagen und anderen persönlichen Dingen ging, schien es zweckmäßig, ein gemeinsames Quartier zu beziehen. - Was beide bislang von dem Schritt abgehalten hatte, war die Befürchtung, die letzte Spur eines Freiraums zu verlieren, noch mehr Kompromisse eingehen zu müssen und anzufangen, den anderen nicht mehr zu respektieren sondern ihn für seine kleinen harmlosen Marotten zu verachten.

Bis er endlich in der Kantine saß und der Kaffeeduft verführerisch um seine Nase wehte, verging eine mühsame halbe Stunde, da ihm jeder Routinegriff so von der Hand ging, als wären ihm über Nacht Seehundflossen gewachsen - und dies zu allem Überfluß auch noch am Rücken. Turmspengler klopften und hämmerten gutgelaunt auf die Windungen seines Gehirns ein, die Anwesenden schienen sich untereinander nur schreiend verständigen zu können, und das Licht strahlte ihm haarsträubend impertinent und grell ins waidwunde Auge. Er spielte gerade mit dem Gedanken, seine Selbstachtung zu begraben, auf allen Vieren ins Lazarett zu kriechen und dort lechzend und wimmernd ein paar Tabletten zu erflehen, als sich das ganze medizinische Personal im Konvoi in die Kantine schob, um gemeinsam zu frühstücken.

Helena löste sich, als sie seiner ansichtig wurde, aus dem Verband und setzte sich, frisch wie der junge Morgen, neben ihn. Er schaute sie groß an, und sie ließ eine weiße Tablette in seinen Kaffee gleiten.

"Du solltest nicht so viel Wein trinken," wies sie ihn amüsiert zurecht, "jedenfalls nicht, solange unsere Chemiker die Qualität nicht endlich verbessert haben." Er war viel zu schwach und zu dankbar, um sie darauf aufmerksam zu machen, daß er ja tatkräftige Unterstützung bei der Vernichtung des minderwertigen Alkohols gehabt hatte.

Mit dem Kaffee wachten einige seiner Lebensgeister wieder auf, die zum Großputz in seinem Kopf aufriefen, und tatsächlich begann er, langsam wieder klarzusehen.

Als Alan und Tony eintrudelten, war er schon fast zu einem zusammenhängenden Gespräch - vorausgesetzt, es bewegte sich in einfachen, unkomplizierten Bahnen - in der Lage, und es gelang ihm ansatzweise, das Ausmaß seiner Unpäßlichkeit vor den beiden zu verbergen. Als sie aber begannen, quantenmechanische Aspekte der Raumkrümmung zu erörtern, wußte er, daß seine Kapazitätsgrenze überschritten war, und wollte diese heimliche Festung des Intellekts fluchtartig verlassen, doch sie hielten ihn zurück und fingen auch noch an, die Chaostheorie ins Gespräch einzubringen, wobei ihre Diskussion nach einigen wenigen Augenblicken ins mehr Virtuelle und Abstrakte abglitt und sie darüber zu philosophieren begannen, daß sich in der einen Ecke des Weltalls zum Beispiel ein Commander betrinken und daß diese Tatsache an anderer Stelle für die Entstehung eines alles verschlingenden Raumwirbels verantwortlich sein konnte.

John, indisponiert wie er war, schlürfte nur an seiner dritten Tasse Kaffee und rührte sich ansonsten nicht.

Helena, die mit jedem Moment an erschreckender Frische dazuzugewinnen schien, leistete ihm schließlich unerwartete Schützenhilfe und startete ihre Attacke mit erhobener Stimme, indem sie Tony bezichtigte, mit der Kreation seines neusten Biers dafür gesorgt zu haben, daß im letzten Sommer in der Poebene sämtliche Fliegen mausetot von den Wänden gefallen seien und er sich damit zum Mörder einer ganzen Generation von Kröten und Fröschen gemacht habe, die elendig verhungert seien. Dies sei selbstverständlich wiederum der Grund dafür, warum Alan seit zwei Wochen von der Dame seines Herzens einen Korb nach dem anderen in Empfang genommen habe. Alan, der in der Tat genügend Körbe gesammelt hatte, um damit einen Exporthandel zu betreiben, dies aber als `top secret´ handhabte, hauchte nur geröteten Gesichts ein halb vernehmliches "Du bist der Schurke!" in Tonys Richtung.

In dem Moment machte sich Johns Commlock bemerkbar, würdevoll zückte er ihn und lauschte Sandras aufgeregtem Bericht, wonach die Sensoren auf dem Kurs des Mondes seltsame Anomalien im Raum festgestellt hätten.

Augenblicklich vergaß er die hämmernden Brigaden in seinem Oberstübchen und erhob sich eilig. Den Commlock zurück an den Gürtel steckend, ließ er in Richtung Alan und Tony verlauten, daß es nun an der Zeit wäre, ihre so reichlich vorhandene Innovation ausnahmsweise sinnvoll in Verwendung zu nehmen. Die beiden hatten schon, da sie mit Johns Inbetriebnahme des Sprechgeräts einen aktiven Horchposten bezogen hatten, erfaßt, daß der Lenz nun vorbei war. Sie folgten dem Kommandanten, wie auch Helena, ins Hauptquartier.

"Wieso weiß sie es?" flüsterte Alan Tony auf dem Weg dorthin zu.

"Das pfeifen doch schon die Spatzen von den Dächern!"

"Die auch?" wollte Alan gänzlich erschüttert wissen, während er in die Kommandozentrale taumelte.

"Allerdings," erwiderte Tony, der seine Schadenfreude gerne ausgedehnter zur Schau gestellt hätte, doch von der angespannten Atmosphäre daran gehindert wurde. In der Tat herrschte heftige Aufregung, die Anwesenden pflegten via Terminals fieberhaften Kontakt mit dem Hauptcomputer. John stürzte mit der Frage nach bisherigen Angaben zu seinem Anschluß, und Maya wandte sich mitsamt ihrem Drehsessel ihm zu.

"Die Informationen sind widersprüchlich, Commander; Es gibt Hinweise für Zeitanomalien, wir haben einen kaum meßbaren Tachyonenausstoß festgestellt, elektromagnetische Schwankungen, auch Beta-Quanten. Die Daten lassen sich nach unseren Erkenntnissen nicht in ein zusammenpassendes Bild einordnen. Wenn wir auch nur einen Anhaltspunkt dafür hätten, würde ich behaupten, daß uns da jemand ärgern will."

"Wie sieht's aus, können wir eine Darstellung am Monitor bekommen?"

Sandra bemühte sich darum, und auf dem großen Bildschirm erschien der Raumquadrant, optisch verfremdet, in dessen Mitte sich ein seltsames, buntes, fluktuierendes Gebilde befand, dessen rascher Farbwechsel von den unterschiedlichen Informationen herrührte, die computergesteuert in die Darstellung integriert wurden.

"Sonst etwas?" Das Team, schon auf die Frage vorbereitet, konnte jedoch keine weiteren Veränderungen anbieten. Der Mond bewegte sich seit Wochen durch ein geradezu schamlos langweiliges All, weit und breit gab es keine Sternensysteme, kein interstellares Treibgut mit Ausnahme der wenigen Atome und Moleküle und der üblichen Hintergrundstrahlung. Auch bei einer vor wenigen Minuten durchgeführten Sensorenmessung hatte sich nichts Neues ergeben - abgesehen von dem eigenwilligen Phänomen, das seine Eigenschaften, so sie überhaupt feststellbar waren, von einem Moment auf den anderen veränderte, ein kleines buntes Chamäleon also, das vor den Alphanern hertanzte und sich offensichtlich über sie lustigmachte.

"Sicherheitsbericht?"

"Keine Daten," erwiderte Tony, während er noch die Angaben auf seinem Bildschirm überflog. "Es gibt keine Meldungen, die irgendwie interessant scheinen. Wir hatten eine ruhige Nacht, John."

"Helena?" Sie schüttelte ebenfalls den Kopf.

"Die biopsychosoziale Auswertung gibt nichts her. Wir befinden uns soweit in dem für uns ermittelten Äquivalenzbereich."

Ein Alarmsignal ertönte. Die Ursache dafür stand bald fest. Das Phänomen hatte sich nun, der Passivität offensichtlich überdrüssig, in Bewegung gesetzt und sich ausgerechnet einen Kollisionskurs mit dem Mond als Reiseroute auserkoren.

John schmiß ärgerlich eine Graphik, die ihm Maya ausgedruckt hatte, auf seinen Arbeitstisch. Sein Stimmungsbarometer stand sowieso schon auf `Sturm´, und diese Neuigkeiten trugen nicht gerade dazu bei, daß sich seine Laune besserte. Er forderte laut nach Antworten, obgleich er wußte, daß sein Team gut und gerne auf seine derartigen Ausbrüche verzichten konnte und auch ohne seine `freundlichen´ Aufforderungen dazu in der Lage war, effizient zu arbeiten. Jetzt aber waren selbst Computer und Sensoren wenig hilfreich, was ihn nur noch mehr ärgerte. Er fühlte alle Augen auf sich gerichtet, und speziell Helena schaute ihn an, als drohte sie ihm nonverbal mit einer fulminanten Dosis aus ihrem medizinischen Knockout-Repertoire. Bei dem Anblick ging ihm radikal die Luft aus, und sämtliche Gelüste, den Frust auszuleben, verflogen. Statt dessen fragte er lahm, wieviel Zeit noch bliebe.

"Es erreicht uns voraussichtlich pünktlich um 12 Uhr Mittag," war Mayas überraschende Antwort.

"Ich sende seit zwei Minuten eine Grußbotschaft auf allen Frequenzen," sagte Sandra, noch ehe John sie dazu auffordern konnte, "bis jetzt keine Reaktion."

"Vorschläge aller Art werden freudig angenommen, Leute," erinnerte Tony die Anwesenden, allerdings verriet sein Ton, daß er nicht gerade damit rechnete, zumal die meisten Informationen, die sie über das Phänomen gesammelt hatten, nicht verwertbar waren und sich auch der Rat des Computers auf die lakonische Empfehlung abzuwarten beschränkte.

 

 

Der Zauberer und der Zufall

 

 

Wir schreiben das Jahr 1946. Der Große Krieg ist im Jahr zuvor zu Ende gegangen und hat seine Narben hinterlassen, in den zerbombten Städten, am zerstörten Land und in den Seelen der Menschen. Europa liegt in Trümmern. Wo aber noch Leben ist, da regt es sich, erhebt sich und schüttelt die Vergangenheit und die bösen Träume ab. Wer am Leben ist, will vergessen, und niemals sind die Menschen dem Vergnügen weniger abgeneigt, als wenn sie Greuel gesehen haben und den Tod.

So war es auch in London, wo der Magier Peter Galloway ein Engagement im `Plaza´ hatte. Das Hotel war im Angriff gegen die Stadt, dem `London Blitz´ arg in Mitleidenschaft gezogen worden, doch der Wiederaufbau hatte sofort begonnen, und noch vor Abschluß der ersten Renovierungsarbeiten waren schon zahlreiche Reservierungen vorgelegen. Erstaunlicherweise schien es immer noch Leute zu geben, die über eine Menge Geld verfügten, und die Manager begannen wieder, von alten Zeiten zu träumen.

Galloway hatte noch an den folgenden drei Abenden Auftritte im Clubraum, dann sollte seine Reise nach Southampton weitergehen.

Einst war er der "Große Spinelli" gewesen, bis es ihm eines Tages, psychologisch betrachtet, nicht mehr allzu klug vorgekommen war, mit einem italienischen Pseudonym durch die Lande zu reisen. Von da an war er unter seinem eigenen unspektakulären Namen aufgetreten.

Zauberei und Magie waren seit jeher sein besonderes Metier gewesen, und dies bezog sich nicht nur auf berufliche Belange. Selbst einem Außenstehenden, der Galloways Geschichte hörte, konnte das mystische Flair, das ihn umgab, nicht entgehen. Dies mochte im besonderen daran liegen, daß er ein spezieller Freund, sozusagen ein Duzfreund, von Fortuna war - und so schritt er durch die Zeit, ständig umgeben von glücklichen Fügungen, einer freundlichen Vorsehung; und in seiner Anwesenheit hatten das grausame Schicksal wie auch das Verhängnis keine Gelegenheit, und vor allem kein Recht, sich einzumischen. Er war wie ein lebender Talisman, ein überschwengliches, extrovertiertes, allerdings schon etwas in die Jahre gekommenes Maskottchen, das durch seine reine Anwesenheit Katastrophen verhinderte, Lawinen am Berg festnagelte, umstürzende Bäume mitten im Fallen verharren ließ, bis die zu Erschlagenden in Sicherheit waren, und gerade inbrünstig aufschwellende Feuerslohen dazu brachte, es sich noch einmal zu überlegen und prompt zu ersticken, ohne auch nur einer Person ein Haar versengt zu haben. Er war während des Krieges mit seiner Assistentin Mona und den Tauben unangetastet mitten durch die feindlichen Linien gezogen, und sein, von ihm nicht steuerbares, Talent hatte sich als völlig unparteiisch erwiesen, als blind gegen den Unterschied zwischen Freund und Feind. Eine Reihe von seltsamen Vorfällen an der Front war, ohne daß freilich jemand davon Kenntnis erlangt hätte, auf seine Kosten gegangen.

Im Elsaß hatte sich eine ganze Batterie fallender Bomben unerklärlicherweise auf ihrem Weg abwärts verirrt und war nie am Boden detoniert, Sturmgewehre und Flaggeschütze hatten auf beiden Seiten ganz selbstverständlich ihren Dienst versagt, Panzer waren plötzlich manövrierunfähig geworden und Gefangene waren entkommen, aus dem einfachen Grund, weil Verantwortliche vergessen hatten, die Verliese und Baracken zuzusperren, ja, ihnen gar die Existenz dieser ihrer Feinde entfallen war und jene darauf bequem aus dem Lager davonspaziert waren.

Für die Entwicklung des Krieges war Galloway, so gesehen, natürlich hinderlich gewesen, aber da der Krieg alles andere als sein Geschäft war, hielt sich seine Reue diesbezüglich stark in Grenzen. Im Gegenteil, es bereitete ihm eine tiefe Befriedigung, diesem Abgrund der menschlichen Natur gelegentlich seiner Allmacht zu berauben und eine kleine Zone der Kampfunfähigkeit zu schaffen,- was nicht zuletzt dazu führte, daß er in Ruhe reisen und arbeiten konnte.

Wo er war, existierte kein Krieg.

Er selbst war, was er lebte, ein bescheidener, zutiefst humanistischer Mensch, und vielleicht war diese Tatsache auch die ureigenste Grundlage seiner geheimen Gabe, die Bedingung, die seinen Bund mit dem Glück erst besiegelte. So war er ein kleiner Zauberer geblieben, der seine wahre Fähigkeit nicht übertrieben wichtig nahm und sie hinter Taschenspielertricks, seinen geschickten Händen, hinter der spektakulären Atmosphäre eines magischen Abends verbarg.

Nun stand er in der kleinen Garderobe, die man ihm zur Verfügung gestellt hatte, und bereitete sich auf den Auftritt vor. Er legte sein schwarzes Cape um, setzte den Zylinder auf und warf einen letzten Blick in den Spiegel. Sein gebräuntes, faltenreiches Gesicht mit lustig zwinkernden blauen Augen, umrahmt von weißem, buschigem, zur Kooperation hartnäckig unwilligem Haar schaute ihm flüchtig entgegen. Da kam schon der Aufruf, und er eilte hinaus in den Clubraum.

Eine niedrige, noch provisorische Bretterbühne war für den Anlaß aufgestellt worden. Freundlicher, erwartungsvoller Applaus begrüßte ihn, und er sah im Halbdunkel die runden Tische, an denen die Gäste saßen und bei Cocktails und Zigaretten seinen Darbietungen beizuwohnen gedachten.

Die kleine Band spielte `Ol´ Man River´aus `Show Boat´, und er begann zum Aufwärmen mit einfachen Kartentricks, ließ das Herzas verschwinden und in der Brieftasche des verdutzten Kellners wieder auftauchen. Alles funktionierte hervorragend, war, sofern man dies von einem Auftritt überhaupt behaupten konnte, Routine.

Dann jedoch nahm das Unheil seinen Lauf. Ein Scheinwerfer verstellte sich, der Beleuchter war wohl nicht ganz bei der Sache, und der Spot fiel zufällig auf die Mitte eines Tisches, so exakt, daß der Lichtkegel nicht einmal mehr die Gläser der Gäste erfaßte, die am Rand standen.

Galloway war gerade dabei, seinem Zylinder die beiden weißen Tauben Ruby und Dotty zu entlocken, die - ein kleiner, lustiger Einfall - während ihres Erscheinens plötzlich ein blaues Gefieder erhalten sollten.

Wovon er freilich keine Ahnung hatte, war, daß die Welt, wie wir sie kennen, nicht alles ist, daß sie an ihren virtuellen Rändern in ein Unkontinuum hineinschwimmt, wo sich alle möglichen Welten vereinigen. In dieses Unkontinuum gleitet von Zeit zu Zeit die reale Welt; mehr oder weniger unmerklich rutscht sie in die Unzeit und wieder heraus, einzig vom verblüfften Zuschauer dadurch erfaßt, daß er sich kurz wie in einer Irrealität gefangen glaubt, ihm die Umgebung seltsam unwirklich erscheint, vielleicht vor seinen Augen auch ganz flach wird. In manchen Fällen verliert der Betreffende sogar jegliche Orientierung, alles Wissen um seine momentanen Umstände, doch der Augenblick geht ohne Panik vorüber, es besteht nur eine Art globaler Ahnungslosigkeit, die doch gleichzeitig mit dem sicheren Gefühl verknüpft ist, daß in wenigen Momenten alles wieder beim Alten sein wird.

Insgesamt wäre diese Erscheinung nun gar nicht weiter erwähnenswert oder vielleicht von irgendeiner Tragweite, wenn nicht in seltenen Fällen aufgestaute Zufallsenergie eine solche Verschiebung des Kontinuums als Ventil mißbrauchen würde, wodurch allerhand Unsinniges vor das Auge des erstaunten Betrachters tritt.

In diesem konkreten Fall kam noch der erschwerende Umstand hinzu, daß die Natur der Verwerfung gar nicht so harmlos war, wie sie es sein sollte, weil nämlich ein boshafter kleiner - nun `Engel´ konnte man Pine beileibe nicht nennen - also Quälgeist die Finger im Spiel hatte und an der Himmlischen Fügung nach Herzenslust herummanipulierte. - Dies sollte dazu führen, daß den Magier erstmals in seinem Leben das Glück verließ, schlimmer noch, die sprudelnde Glücksenergie verkehrte sich in das glatte Gegenteil, und die manipulierte Zufallsenergie tat ihr übriges.

Nur eine Rettung wäre möglich gewesen: Was dann geschah zu verhindern.

Im Licht des verirrten Scheinwerfers erblickte der Magier statt der erwarteten Vase mit Röschen einen großen, nagelneuen weißen Porzellannachttopf, aus dem recht eindrucksvoll bunt schillernde Seifenblasen aufstiegen, blau, gelb, rot und grün tanzten sie einher, hinter einander aufgereiht wirbelten sie in Spiralen ins Licht empor und zerplatzten in farbigen Spritzern, die sich phosphoreszierend auf die Gäste senkten. Der Nachttopf indes klappte ein Paar lang bewimperte Augen auf, eine Nase stülpte sich in seiner Mitte wie eine mißratene Kartoffel heraus, und darunter röteten sich geschwungene Lippen, die in ein herzhaftes Lachen auseinander liefen.

Seltsamerweise schien Galloway der einzige zu sein, der dies bemerkte, mehr noch, die im Licht schimmernden Blasen hielten seine Aufmerksamkeit derart gefangen, daß er buchstäblich merkte, wie er mit gespensterschauendem Blick entgeistert dastand, den Zauberstab erhoben, und mitten in der Bewegung verharrte.

Schwindel packte ihn, der alles rundherum unwichtig erscheinen ließ, und auf einmal schob sich ein Gedanke in seinen Verstand. Es war mehr die zwingende, umfassende Vorstellung eines nicht näher beschreibbaren Gegenstands, der ihm entschlüpfte, wenn er ihn zu packen versuchte. Das Objekt bezwang ihn mühelos, schlug ihn in seinen Bann, und es gab keinen Ausweg. Er mußte versuchen, es zu erfassen, das Bild vor seinem geistigen Auge klar zu sehen. An nichts anderes konnte er mehr denken, während sein Blick nun auf dem, punktuell vom Scheinwerfer angestrahlten Nachttopf klebte, der ihn mittlerweile auffordernd angrinste, voller Hohn, von ihm forderte, das Rätsel zu lösen. Und doch erkannte er in seinen Gedanken nur eine wenig strukturierte Form, die milchig war und durchscheinend, vielleicht auch farbig, wie eine unvollendete Figur, eine Plastik, die der Bildhauer erst zur Hälfte freigelegt hatte.

Der Magier wußte, den Blick abzuwenden, brächte die Freiheit, aber, je mehr er daran dachte, um so unmöglicher schien es ihm, um so mehr zwang ihn das Lächeln auf dem Nachtgeschirr zu Überlegungen die nebulöse Gestalt in seiner Vorstellung betreffend.

Was war sie Wichtiges, daß sie ihm nicht aus dem Sinn wollte, was war ihr Zweck?

Er spürte Monas entsetzten Blick und die Unruhe im Publikum. Irgend etwas mußte rasch geschehen, wollte er nicht für immer in dieser Pose verharren!

Und dann: Keine Taube, ob weiß oder blau, entfleuchte seinem gelüpften Zylinder, statt dessen purzelte eine Flut von kleinen Figuren heraus, jede identisch mit der, die ihm im Kopf herumgespukt war, mehr und immer mehr davon kamen zum Vorschein.

Massen von bunten Gummibärchen schossen und sprudelten in Fontänen aus dem magischen Hut, anfänglich vom Publikum begeistert begrüßt, doch bald schon wälzten sie sich in Unmengen hinter den überstürzt flüchtenden Gästen aus dem Clubraum, bald aus dem `Plaza´, wo ihnen der verblüffte Portier die Tür aufhielt, erstickten die Straßen der Stadt, die Themse, wichen dann aufs Land aus, schoben sich gemächlich über die englischen Grenzen in den Atlantik hinaus, und gingen schließlich daran, die gesamte Erde einzunehmen.

Ein Perpetuum mobile hatte sich eingerichtet, eine sich selbst unterhaltende Kettenreaktion war gestartet worden, unendliche Energien flossen in Form von Süßigkeiten in die Realität, und doch stand die Nutzung derselben aufgrund der rasanten Ausbreitung leider nicht zur Debatte.

Die Welt erstickte hilflos in Gummibärchen.

 

 

Fußnote, als Einschub getarnt

 

 

Pine wälzte sich beim Anblick der Billiarden Tonnen von bärenförmigen Gelatinesüßigkeiten vor Freude und Vergnügen in seinen Spiralen und Kugeln und klopfte sich lachend auf die Schenkel.

Die Dummköpfe vom Mond auf immer und ewig festzuhalten, das war eine Lösung so ganz nach seinem Geschmack!

 

Uns soll es deswegen genügen, daß durch ungleiche Verteilungsmuster zahlloser Universen und paralleler Welten (oder vielleicht auch durch ganz andere Phänomene) Ereignisse geschehen und dabei gleichzeitig verhindert werden, während sie doch passieren und überdies trotzdem nicht stattfinden.

Das Unkontinuum ist somit der einzige Ort, oder vielmehr Nichtort, an dem legitimerweise ein Paradoxon ums andere ablaufen kann, ohne sich um Logik oder gar um die Gesetze der Kausalität scheren zu müssen. Tatsächlich ist dies ein raffinierter Schachzug des Erfinders, denn da außer ihm praktisch niemand dazu in der Lage ist, das System zu begreifen, besteht auch überhaupt keine Diebstahlsgefahr.

Das Unkontinuum sichert sich also quasi selbst vor Entwendung.

 

 

High Noon

 

 

Im Lazarett ging es zu wie auf einer U-Bahn-Station nach Feierabend. Schwindel, Kopfschmerzen und Übelkeit waren noch die am genauesten definierten Leiden, mit denen die Alphaner der Reihe nach einschneiten. Die übrigen Symptome konnten anscheinend nicht wirklich eindrucksvoll beschrieben werden, nur umschrieben als halluzinatorische Seh- und Hörstörungen, somatosensorische Phänomene, die im EEG nachgewiesen werden konnten. Doch hieß dies nur, daß die gesamte Besatzung nicht plötzlich einer kollektiven Psychose anheimgefallen war. Kausale Zusammenhänge fanden sich keine, obgleich es nahelag, die Wolke im All, die im rasanten Tempo auf den Mond zustürzte, für die Empfindungsstörungen verantwortlich zu machen.

Das medizinische Personal reagierte auf den Ansturm mit leicht fassungsloser Hektik, ohne im übrigen selbst vor den Erscheinungen gefeit zu sein, und versuchte ansonsten nur, den Ausbruch einer Panik zu vermeiden.

John, etwas verstört wegen eines wahren Kaleidoskops von köstlichen Geschmacksempfindungen, die wie eine nicht endende Flut über seine Zunge wogten, hatte sich im med. Zentrum eingefunden, weil er hoffte, dort noch eher als in der Kommandozentrale zumindest ein paar starke Gedanken zur Erklärung zu erhalten. Dr. Vincent, der mit einem hysterischen Patienten zu tun hatte , während ihm gleichzeitig das Läuten von zehn Big Bens im Kopf dröhnte, schickte ihn mit dem Ausdruck rührender Hilflosigkeit im Gesicht in die Notaufnahme weiter, wo sich schon irgendeiner seiner Kollegen seiner annehmen sollte.

John fand dort mehrere erschrockene Leidende vor, die die Chefärztin machtlos umringten, während sie in dekorativer Verrenkung an der Kommunikationssäule klebte und mit dem linken Unterarm die Augen bedeckte.

"Grundgütiger," keuchte sie, unverkennbar eine panische Attacke unterdrückend, "das Licht - Explosionen - ich sehe nichts mehr!"

"Helena," rief er wässrig, der Speichel troff ihm fast aus dem Mund aufgrund einer delikaten gebratenen Forelle mit gerösteten Mandeln, deren Genuß so lang zurück lag, daß sie aus einer anderen Epoche zu ihm herübergeschwommen zu sein schien.

Helena kam schwankend auf ihn zu, ohne so recht zu sehen, wo er stand, ein ganzes Feuerwerk spielte sich vor ihren Augen ab.

Leuchtraketen in ihrem Kopf.

"Ich bin in Ordnung," erklärte sie, "es war nur der erste Schreck."

Er zog sie etwas auf die Seite, und sie dockte nun blindheitsbedingt an ihm an, indem sie mit beiden Händen seinen linken Arm umschraubte, als wollte sie ihm auf diese Weise ein Entkommen unmöglich machen. Er merkte, wie die Blutzufuhr unterhalb der Sperre allmählich versiegte und seine Hand schlaff und taub wurde, und flüchtig ereilte ihn die wenig erbauliche Vision von nacheinander herabbröckelnden Fingern. Er sagte jedoch nichts, denn Helenas momentanes Klammeraffendasein konnte, zumindest mit viel Phantasie, als menschliche Nähe interpretiert werden, ein in einer derartigen, angstmachenden Situation recht tröstliches Gefühl.

"Was zur Hölle passiert hier?"

"Diese Empfindungsstörungen verschiedenster Art, alle möglichen Schmerzen, Gerüche, Geschmacks- und Tastempfindungen, Geräusche, Musik, auch visuelle Erscheinungen, und nicht nur so unangenehme, wie ich sie habe, werden bei mancher Art von Epilepsie beschrieben. Man nennt sie `Aura´- aber keine Angst, genauso wenig, wie wir psychotisch sind, leiden wir plötzlich alle unter Epilepsie. Wir haben schon festgestellt, daß der übliche Symptomenkomplex auf uns nicht zutrifft. Zum Beispiel hat niemand von uns motorische Krämpfe. John, schön langsam glaube ich auch, daß sich da jemand einen Scherz mit uns erlaubt."

"Kann man diese Erscheinungen therapieren?" wollte er wissen, während ein ganzes Bataillon von gebratenen Marshmellows über seine Geschmacksknospen hüpfte. Er schluckte heftig.

"Abgesehen davon, daß wir beileibe nicht genug antiepileptisch wirksame Substanzen vorrätig hätten, John, sie nützen nichts. Das war das erste, das wir ausprobiert haben. Ich hatte es mir schon gedacht, daß man es uns nicht so leicht machen würde."

"Gibt es irgendein Muster? Vielleicht versuchen jemand, auf diese Weise mit uns in Kontakt zu kommen?" Helena zuckte unter der aufflammenden 10 000 Watt-Birne, die ihr in ihrer Sehrinde aufging, zusammen und lockerte endlich - wohl mehr aus einem Reflex heraus - die Schraubzwingen um Johns Arm.

"Ich wüßte nicht, wie wir unter den Umständen objektive Untersuchungen- was rede ich - überhaupt Untersuchungen anstellen sollten. Wir haben hier ein winziges Problem, John. Normalerweise leidet der Wissenschaftler nicht unter derselben Krankheit wie seine Mäuse, und normalerweise sitzt er auch nicht mit ihnen zusammen im Käfig. - Wenn man es genau bedenkt, ein recht effektiver Weg, eine gesamte Gesellschaft außer Gefecht zu setzen."

 

In der Kommandozentrale sah die Situation auch nicht gerade rosig aus. Sandra hatte sich selbst außer Dienst gestellt, sie wohnte statt dessen einer exklusiven musikalischen Darbietung bei, lauschte, mehr entsetzt als verzückt, den köstlichen Tönen der "Vier Jahreszeiten" von Vivaldi, konnte ihre Aufmerksamkeit nicht teilen, konnte nur aufnehmen und hören und war sozusagen ganz Ohr. Kein Wort, das an sie gerichtet wurde, drang zu ihr vor, es sei denn, es wurde ihr zufällig in schriftlicher Version vor die Nase gehalten- und selbst da bedeutete es ihr herzlich wenig. Furchtbar und herrlich zugleich - nur die Musik war von Bedeutung.

 

Tony sah sich unvermittelt attackiert von fliegenden Bierflaschen, kleinen braunen Glasflaschen mit verschiedenen Etiketten, die kecke Flügelchen trugen, und die sich unter heftig schlagender Bewegung derselben in die Luft erhoben, um sich militärisch aufzureihen und sich sodann auf ihn zu stürzen, ohne ihn jedoch zu erreichen.

"Wo bin ich?" stöhnte er bei einem erneuten Angriff, "Im Delirium tremens?" Soeben erhielt die Truppe Verstärkung von Wiskey-, Wermut-, Cognac-, Tequila- und Wodkaflaschen, und Tony glaubte, seinen Augen nicht zu trauen - diese fingen an, sich als im Rang Übergeordnete zu gebärden und ließen des Heer der kleinen Bierflaschen exerzieren, einzelne mußten sogar vortreten bzw. -schweben, und sie sanken bodenwärts, wo sie sich hinlegten und mit dünnen Ärmchen ihr Gewicht in Form von Liegestützen - sie waren immerhin gefüllte Bierflaschen - zu stemmen begannen.

Einen ganz besonderen Haß entwickelte Tony auf eine alte Cognac-Flasche, die sich auf ihre vier Sterne allerhand einzubilden schien, denn sie ließ die Untergebenen strammstehen, daß das Bier in deren Innerem schon nervöse Bläschen zu schlagen begann und ein paar Flaschen ohnmächtig unter der Hitze der Deckenbeleuchtung, die ihnen gnadenlos auf ihre Kronenkorken knallte, aus ihren Reihen sanken.

"Laßt euch das nicht gefallen," schrie Tony äußerst erbost und in der irrigen Meinung, er könne das Leiden der einfachen Flaschensoldaten beenden. Beim Versuch, sich den präpotenten Viersternigen zu schnappen, um ihn selbst einmal ein paar Klimmzüge absolvieren zu lassen - bei dem Bauch ein echtes Problem - da griff er ins Leere und wurde in einem kurzen Augenblick der Klarheit von der Erkenntnis übermannt, daß er ganz offensichtlich überschnappte. - Was ihn allerdings nicht daran hinderte, sogleich lautstark zornerfüllte Parolen über den militärischen Drill von sich zu geben und die Selbstgefälligkeit der höheren Heeresangestellte anzuprangern.

 

Alan war plötzlich ein infamer Geruch in die Nase gestiegen, eine üble Fahne, die ihm schlicht den Atem geraubt hatte. Es roch, als hätte ein umstürzlerisches Element eine riesige Wagenladung voller fauler Eier mitten in die Kommandozentrale entleert. Er war, nach Luft ringend, aufgesprungen und hatte sich in seiner Not auf die Regulation der Klimaanlage gestürzt, um mittels Turboschaltung den Gestank in Tornadomanier aus der Kommandozentrale zu blasen. Doch umsonst - statt dessen hatte ein zweiter Geruch begonnen, die faulen Eier zu unterwandern, zuerst nur ganz zart, doch allmählich kristallisierte sich heraus, daß nunmehr ein großräumiger Schweinestall, der seit ca. vier Monaten nicht mehr ausgemistet worden war, in Alans Nase Einzug hielt, und er sank hilflos und restlos überwältigt in seinen Sessel.

Damit nicht genug, während noch jemand fröhlich den Mist aufgabelte und -lockerte, um das Aroma so richtig zur Entfaltung zu bringen, da sah sich der Adlerpilot bereits, in rein olfaktorischem Sinn natürlich, in eine Senkgrube versetzt, die augenscheinlich randvoll war und in sommerlicher Hitze vergnügt vor sich herdampfte, -qualmte und -stank. Das war der Augenblick, da sich sein Magen in einem akuten Anfall von Überdruß zur Rebellion entschloß, und Alan verließ überstürzt die Kommandozentrale.

In der Folge bekriegte ein farbenfrohes Spektrum an schauderlichen Undüften seine Riechnerven; eine gruselige Kollektion aller geruchlichen Scheußlichkeiten, die sich nur in irgendeiner chemischen Formel zusammenfinden konnte, versuchte sich, von ausgesprochener Experimentierfreude gepackt, an ihrem inzwischen völlig zerrütteten Opfer, und sie verwandelten es in ein Häufchen Elend, das zitternd und bebend im Lazarett hockte, durchaus dazu bereit, sich ohne mit der Wimper zu zucken nicht nur auf Helenas Schoß sondern auch auf den von Ben Vincent oder Bob Mathias zu setzen, sollte dies die Auffindung eines Gegenmittels beschleunigen.

 

Maya dagegen spürte auf ihrem ganzen Körper ein Kribbeln und Krabbeln, ein Zwicken und Zwacken, ein Kratzen und Scharren, ein Kitzeln und Zupfen, ein Wuseln und Schaben, und obwohl sie auch bei eingehender Inspektion nichts entdecken konnte, hatte sie das Gefühl, daß Tausende von Insekten sie besiedelt hatten und in Völkerwanderungen auf der Landkarte ihrer Körperoberfläche nord- und südwärts, ost- und westwärts, kreuz und quer zogen und mit ihren Füßchen trampelten und stampften, daß es eine wahre Freude war. Um alle juckenden und beißenden Stellen gleichzeitig zu erreichen, hatte sie entschieden zu wenig Hände, und so sprang sie umher, mit ihren Nägeln über die Regionen herfallend, die der augenblickliche Treffpunkt der verschiedenen umherstreunenden Kolonien waren, die momentane Stätte des insektischen Wirkens, die sich durch herausragende Kribbelaktionen hervortat, wo eben die fähigsten Quälgeister versammelt waren und ihre Krabbelolympiade abhielten.

Maya hatte bereits, von einem kurzen Geistesblitz durchzuckt, versucht, in eine kitzelimmune Gestalt zu flüchten, in ein panzerbewehrtes Ungeheuer vom Planeten Kos, doch die unheilvollen Biester hatten es zuwege gebracht, unter den Panzer zu gelangen und sie unter noch ärgerer Wuselaktivität - kratzunfähig, wie sie war - an den Rand des Wahnsinns zu treiben.

 

So verwandelten sich allmählich die, nun, für den Hausgebrauch ausreichend normalen Alphaner in einen Haufen sabbernder, tränender, rotzender, kratzender, heulender und speiender Grenzdebiler, die nicht im entferntesten in der Lage waren, sich vor dem geheimnisvollen Phänomen in Sicherheit zu bringen - ganz davon abgesehen davon, daß sie die Möglichkeit dazu - genauer betrachtet - niemals gehabt hatten, auch nicht als Alphaner, die für den Hausgebrauch noch mit ausreichender Normalität ausgestattet waren.

Also galoppierten sie pünktlich um zwölf Uhr mittags via Teufelsritt in ...

 


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Fußnoten

 

 

1)
Was Pines Obrigkeiten angeht, ist zu erwähnen, daß jene selbstverständlich nicht ärarische Heilige waren, deren Berufskleidung Nachthemden darstellen, die bloßfüßig durch den Wolkendunst der elysischen Gefilde schweben und Harfe spielend Halleluja bis zur Heiserkeit singen - doch so stellte er sie sich vor, also erschienen sie ihm auch auf diese Weise.

 


 

2)
Es gibt Theorien, wonach Waschmaschinen Schwarze Löcher beinhalten, die sich von Zeit zu Zeit den Spaß machen, einzelne Socken zu verschlucken - wobei fraglich sein soll, inwieweit die sockenherstellende Industrie an dem Unternehmen beteiligt ist. Dies ist natürlich völliger Humbug. In Wirklichkeit ist deren Verschwinden damit zu erklären, daß es Unmengen von depressiven Socken gibt, die die Nase voll davon haben, daß man den lieben langen Tag auf ihnen herumtrampelt. Sie fliehen und verstecken sich vor den Menschen, doch da die meisten von ihnen (ausgenommen vielleicht ein paar Exemplare aus reiner Schurwolle) mit einem ausgesprochen niedrigen IQ ausgestattet sind, werden sie irgendwann in, auf und unter Möbeln gefunden,- just zu dem Zeitpunkt, da sich ihr Sockenpartner wegen erschütternder Einsamkeit selbst aus dem Staub gemacht hat.