Kapitel 2 |
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...in
Die Falle |
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Pine sei Dank.
Aber das wußten sie nicht.
Vorerst stellten sie nur fest, daß der Wahnsinn, der sie wie eine Finanzbehörde im Würgegriff gehalten hatte, von einem Moment auf den nächsten den Rückzug angetreten hatte, und dies war eine wunderbare Erlösung, die so unerwartet kam, daß niemand sein Glück fassen konnte und erst einmal mindestens zehn Minuten nur dasaß, um das Ausbleiben der Reizüberflutung zu genießen.
Der nächste Schritt bestand darin, sich der neu gewonnenen Realität zu stellen, und dazu bedurfte es erst einer Instandsetzung des eigenen physischen Daseins, weswegen ein recht reges Wanken und Torkeln in Richtung Quartiere zu beobachten war und der Wasserverbrauch in der nächsten halben Stunde einen historischen Höchstwert erreichte.
Sandras Ruf ereilte John in seiner Unterkunft, wo er sein von oben bis unten angesabbertes Uniformoberteil schleunigst in der Schmutzwäsche verschwinden ließ. Jäh erinnerte er sich wieder der Probleme, die sie gehabt hatten, bevor die Mannschaft in ganz anderen Sphären verschwunden war, und er eilte ins Hauptquartier.
Dort waren nur Sandra, die noch verhältnismäßig manierlich aussah, allein den Anschein einer unantastbaren Vergeistigung erweckte, und Maya, die dagegen den Eindruck machte, als wäre sie soeben von der Pirsch durch ein fünf Hektar umfassendes Dickicht voller Dornenbüsche und -bäume heimgekehrt, wo sie auch noch einen Kampf mit ungefähr 15 Grizzlybären ausgetragen, sieben wilde Stiere niedergerungen und einen Tango mit einem hungrigen Löwenpatriarchen aufs Parkett gelegt hatte. Sie war über und über zerkratzt, blutige Striemen lagen in verwirrten Rauten auf ihrem Gesicht, das Haar stand ihr in orkanartiger Manier vom Kopf, und ihre Kleidung hing ihr nur noch gerade eben am Leib, verdreht der Rock, zerfranst der Pullover, und auch die Stiefel waren ihr irgendwo abhanden gekommen.
Tony war noch nicht von seinem Feldzug gegen die militärische Disziplin zurück. Er hatte nämlich zuvor in seiner Eigenschaft als Oberagitierer die glorreiche Idee gehabt, die Öffentlichkeit mit Transparenten über die ungerechten Zustände, die so in der Armee herrschten, aufzuklären. Wahrscheinlich hatte er die restliche Zeit seines halluzinatorischen Wahns auf der Suche nach einem für diese Zwecke brauchbaren Stoff verbracht (1).
Doch auch zu dritt ließen sich notfalls ausreichend Informationen bezüglich des Mondes, seines Kurses und des unbekannten Gebildes im All einholen. Eine bestimmte Erwartungshaltung, was die bestehende Situation anging, hatte keiner von ihnen, aber das tatsächliche Ergebnis überraschte die drei doch einigermaßen.
Mit Ausnahme des Mondes und allem, was sich auf seiner Oberfläche und in seiner Umlaufbahn befand, existierte nämlich in der gesamten großen, weiten Ferne, die die Abtaster erreichen konnten, nicht das geringste. Die Sensoren machten überhaupt keine Messungen. Keine einzige.
Sandra überprüfte irritiert der Reihe nach die Funktionskreise des Computers, weil sie einen Systemfehler vermutete, aber alle waren intakt, auch die Telesonden, alle Meßeinrichtungen und die Kameras waren wie gewöhnlich in Betrieb.
John spürte sein cholerisches Barometer in die Höhe schnellen, und er schrie eine Weile herum, wobei sich der Inhalt des Geschreis mit der Aufforderung an Maya und Sandra, den früheren Zustand ihrer Umgebung tunlichst wiederherzustellen, ziemlich deckte. Beide ließen den Ausbruch stoisch über sich ergehen, und John kühlte sogleich wieder ab. Er schickte Maya ins med. Zentrum, damit sie sich dort versorgen ließ, und rief Tony per Commlock ins Hauptquartier.
Gleichzeitig mit den übrigen Mitgliedern kam auch Alan und berichtete, daß das Personal im Lazarett einiges zu tun hatte, aber es gab anscheinend keine dramatischen Verletzungen, ein paar einfache Brüche, Schürfwunden, und einer hatte, da er sich einer arktischen Grabeskälte ausgesetzt gefühlt hatte, ein Feuerchen entfacht, das ihm einige anständige Brandblasen beschert hatte.
John setzte die Mannschaft via Intercom über die neue Lage in Kenntnis.
Tony hatte offenen Mundes zugehört. Er unterzog die Angaben am Bildschirm einer ungläubigen Musterung und, nachdem er ein paarmal erfolglos auf den Monitor geklopft hatte (was ihm einen bitterbösen Blick von Sandra einbrachte), argwöhnte er, daß sie alle gemeinsam mit Mond und Drum und Dran über den Jordan - womöglich sogar ins Nirvana - gehüpft seien.
"Wohl kaum," antwortete im Sandra trocken, "dafür sind meine körperlichen Bedürfnisse eindeutig viel zu stark ausgeprägt. Ich habe einen derartigen Hunger, daß ich ein Pferd verschlingen könnte." Das erinnerte die übrigen daran, daß, Nirvana oder nicht, eigentlich Mittagszeit war - und wenn Empfindungen wie Hunger und Durst noch existent waren, so schien es zumindest naheliegend, daß sie bisweilen tatsächlich nicht das Zeitliche gesegnet hatten.
John bestellte die Mitglieder des Kommandostabs für eine Besprechung in die Kantine.
Maya, nun wieder mit Ausnahme der Kratzspuren in ihrer üblichen perfekten Fasson, und Helena kamen als letzte.
Letztere hatte irgendwo aus einem mysteriösen Fundus alte Sonnenbrillen ausgegraben, mit pechschwarzem Glas, klassische Agentenbrillen, wie Bob Mathias lachend erklärt hatte, als sie damit aufgekreuzt war, und sie trug eine große blaurot unterlaufene Beule über dem rechten Auge spazieren, Souvenir aus einer frontalen Kollision mit einer Mauer, die stur genug gewesen war, nicht auszuweichen, als Helena, des Sehens gerade unkundig, zielstrebig durch eine nichtexistente Tür getreten war. Sie setzte sich an den Tisch und verkündete a) im Augenblick von hellem Licht keine hervorragende Meinung zu haben und b) auf Wände auch nicht gut zu sprechen zu sein, da ihr eine solche zu ausgesucht scheußlichen Kopfschmerzen verholfen habe, und deswegen gedenke sie, den Rest des Tages in kontemplativem Schweigen zu verbringen.
Dies sorgte sogleich für eine rege Diskussion, denn die Aussage, wann nun der Tag seinem Ende zuging, war, wie die Alphaner inzwischen bemerkt hatten, mit Bestimmtheit nicht mehr zu treffen. Die Uhren funktionierten zwar, aber anscheinend jede nach ihrem eigenen Rhythmus, tickte nach Lust und Laune, auch alle Systeme, die automatisiert nach definierten Zeitplänen reguliert wurden, spielten verrückt und ließen sich nicht etwa von dem Umstand irritieren, daß sie alle, vom zentralen Computer gesteuert, nach dessen "innerer Uhr" eigentlich unter seinem Diktat falsch zu gehen hatten - sondern es war, als hätte das Datensystem die Herrschaft über seine Diener verloren, über seine Arme und Fortsätze, die, in Anarchie verfallen, ihre Funktionen, sofern sie zeitgebunden waren, selbst verwalteten. Da sich die wirklich notwendigen Systeme der Lebenserhaltung im Sinne der positiven und negativen Rückkoppelung entsprechend den Bedürfnissen regulierten, bestand im wesentlichen keine akute Gefahr, doch verwunderlich und selbstverständlich besorgniserregend war die Situation allemal.
Die vorherrschende Meinung bestand darin, daß der Mond vielleicht in ein Loch in der Realität, in ein Loch der Zeit gefallen war (das natürlich aufgrund der fehlenden theoretischen Grundlagen nicht näher definiert werden konnte) und daß sie nun hier inmitten wechselnder Zeitfelder saßen, die anscheinend willkürlich nur die mechanischen Zeitmesser beeinflußten.
Daß die biologischen Uhren der Alphaner von dem Phänomen durchwegs nicht beeinträchtigt wurden - wie gleich von Anfang an vermutet und später anhand spezieller Untersuchungen Stoffwechsel und Zellfunktionen betreffend bestätigt wurde - unterstützte nicht gerade diese Theorie, denn entweder die Zeit steht still, oder sie spielt verrückt oder sie funktioniert - aber dann sollten die Auswirkungen alles gleichartig treffen, Lebewesen und auch Dinge, wie etwa Uhren.
Ob die Chance auf eine Rückkehr in ihr eigenes Universum existierte, konnte nicht einmal erahnt werden, es gab keinen Anhaltspunkt, ob sich der Mond durchs Nichts bewegte, ob er an einer Stelle (?) gefangen war, oder ob ihre Anwesenheit irgendeinen Effekt auf die andersartige Physik hatte, sofern jene überhaupt existierte. Tony brachte die Situation auf den Punkt, indem er, von plötzlicher innerer Kälte erfaßt, bemerkte:
"Wir sitzen in der Falle! Ich bezweifle, daß wir uns aus eigener Kraft daraus befreien können!"
Er erntete betroffenes Schweigen.
"Daß unsere Gesellschaft auf lange Sicht hier nicht überleben kann, dürfte euch wohl klar sein. Wie wird sich zum Beispiel die fehlerhafte Regulation der hydroponischen Anlagen auf die Produktion auswirken?"
Helena tauchte aus ihrem Nebel des Schweigens wieder auf, in dem sie bisher verschollen gewesen war; hinter der Mauer der dunklen Brille war auch nicht ersichtlich gewesen, ob sie zuhörte oder die zweite - wahrscheinlich in gleichem Ausmaß produktive - Möglichkeit gewählt hatte, nämlich zu schlafen. Ihre Worte jedoch zeigten, daß sie der Diskussion durchaus gefolgt war.
"Wir könnten für all diese Einheiten biomechanische Koppelungen einrichten," sagte sie, "so wäre gewährleistet, daß die Systeme funktionieren, und zwar nach biologisch-chemischen Zeitvorgaben." Maya nickte bestätigend. Helena war ihr mit dem Vorschlag zuvorgekommen.
"Nun gut, aber irgendwann wird der Augenblick kommen, da wir bestimmte Rohstoffe brauchen - ich will ja nicht den Teufel an die Wand malen, aber ich hatte nicht den Eindruck, daß wir hier überdurchschnittlich viele Möglichkeiten zu deren Beschaffung haben!"
Tonys Einwand ließ alle verstummen, und die Versammlung ging einigermaßen desperat auseinander.
Die mangelnde Aussicht darauf hinderte die Alphaner jedoch nicht, sich weiterhin auf die Suche nach Lösungen, Erklärungen und Auswegen zu machen.
Sonden spähten auch nach wie vor in die den Mond umgebende Leere, um jede Veränderung zu registrieren, und John schickte sogar Alan mit einem Erkundungsadler los, um sich zu vergewissern, daß da draußen tatsächlich das war, was die Abtaster behaupteten, nämlich ein übermächtiges Gar nichts von einem Überhaupt nichts.
Alan kam zurück und bestätigte deprimiert das ultimative Vakuum.
John saß noch spät, d.h. subjektiv spät, hinter seinem Schreibtisch in der Kommandozentrale und schickte hartnäckig die Kamera auf Streifzüge durch die Schwärze. Unverdrossen ignorierte er das ständig gleichbleibende Kommentar des Computers nach jedem Schwenk, daß es keine neuen Daten gebe, und schlug die anschließende Option, das Programm zu beenden, aus. Seltsamerweise stachelte genau dieser Zusatz ihn erst recht auf fortzufahren, eine kindische Reaktion, wie er selbst wußte, um dem Computer eins auszuwischen. Wie blöd konnte doch der Mensch sein - er verspürte Genugtuung dabei, ein Gerät zu ärgern, das ihn in Wahrheit mit seinen stoischen unveränderten gefühl- und gedankenlosen Angaben in dem Maß mehr ärgere, in dem es selbst nicht reizbar war.
Es bestand sozusagen, wenn man alle anderen Störfaktoren ausschloß, Aussicht darauf, daß er das Spiel bis ans Ende aller Zeiten durchzog.
Die übrigen Mitglieder des Hauptquartiers dagegen litten nicht an der gleichen verbohrten Ausdauer. Maya und Tony waren längst gegangen, und Sandra hatte ihren Arbeitsplatz Yasko überlassen.
Alan war vor einer Weile hereingekommen und leistete ihnen Gesellschaft. Anders als John, der sich in seiner Funktion als metaphorischer Jagdhund geradezu in die Tastatur des Computers verbissen hatte, lehnte er bequem im Sessel, die Füße allen Regeln zum Trotz auf Mayas Tisch deponiert, im Augenblick von der Überlegung beansprucht, ob er nicht vielleicht auch noch die Schuhe ausziehen sollte.
Der möglicherweise relevanteste jener eben genannten Störfaktoren, die John von seiner Tätigkeit abbringen konnten, kam in Gestalt der Chefärztin durch den Seiteneingang in die Zentrale.
"Hab' ich's mir doch gedacht, daß ich euch hier finde!" Sie setzte sich, ebenfalls alle feinen Umgangsformen mißachtend, auf Johns Tisch und trennte kurzerhand via Knopfdruck seine Verbindung zum Hauptcomputer.
Sein zorniger Blick schoß sie ab.
"John, laß es gut sein." Er seufzte und sank in die Lehne zurück.
Die unheimliche Leere hatte vom Monitor auf ihn übergegriffen, und es war, als zöge sie bereits wie ein Nebel durch sein Gehirn, um alles, was dort gespeichert war, ebenfalls in ein Nichts zu verwandeln. Insgeheim war er froh, daß Helena seinem Zwang, mit der sinnlosen Tätigkeit fortfahren zu müssen, ein jähes Ende bereitet hatte.
Sie musternd, erwachte er zu neuem Leben. Sie hatte zugleich mit den Sonnenbrillen den undurchdringlichen Mafiosoblick abgelegt, ihre freundliche Miene erlangte durch die große Beule auf der Stirn, die das Gesicht geradezu überdachte, einen liebenswert skurrilen Charakter.
Er schlitterte übergangslos in eine überdrehte Heiterkeit und fühlte sich bedeutend besser.
Alan, der den Stimmungsumschwung gleich registriert hatte, ergriff die Gelegenheit zur Erstellung eines nicht ganz ernstgemeinten Hintergrundszenarios.
"Ich sage euch, womit wir es hier zu tun haben! Stellt euch vor: Ein intergalaktischer Händler, der Zeitfallen verscherbelt, hat die, zugegebenermaßen nicht ganz gescheite Idee, sie gleich zu Demonstrationszwecken an seinen potentiellen Kunden auszuprobieren."
Helena hakte sofort ein und bemerkte, man müsse in dem Fall davon ausgehen, daß es sich um ein defektes Modell handle. Sie empfahl John, sich um einen anständigen Rabatt zu bemühen. Eine rege Diskussion darum, was dieser Händler wohl sonst noch alles feilbot und inwieweit dies Dinge auch nicht funktionierten, entstand.
Ein Alarmton setzte ein, und die drei sprangen auf, während Yasko ihr stummes Zwiegespräch mit dem Computer mittels heftiger Betätigung der Tastatur intensivierte.
"Commander, die Sensoren haben ein Objekt in der Leere ausgemacht - ich schalte auf den Hauptbildschirm!" Sprachlos vor Verblüffung betrachteten sie den großen Monitor, auf dem sich ihnen ein seltsamer Anblick bot.
Was da völlig frei in der Schwärze schwebte, so fehl am Platz wie ein Osterhase, der sich verirrt und erst zu Weihnachten durch den Kamin in die gute Stube rauscht, was da nun wuchtig und protzend vom Bildschirm auf die Kommandozentrale herabäugte, war zweifellos und unverkennbar nichts anderes als ein gesetztes, behäbiges, ein sich quasi installiertes und vielleicht für alle Ewigkeiten deponiertes bauliches Gebilde, das, zur Gänze vom Kameraauge eingefangen, von mächtigem monumentalem Charakter schien, und es machte, trotz gewisser, nicht in diese Richtung weisende, Aspekte einen ausgesprochen grimmigen Eindruck. Sofern ein gemauertes Tor überhaupt zu einem grimmigen Eindruck in der Lage ist, natürlich. Ein gemauertes Tor oder zumindest etwas ähnliches: ein Gebäudeklotz von scheckiger, grauer Farbe, der dem Mond seinen zentral gelegenen, bogenförmigen Durchgang demonstrativ zuwandte. Die im ersten Augenblick für eine Halluzination gehaltene Erscheinung war jedoch von recht ausgeprägter Deutlichkeit und imponierte durch Details: Die massiven Seiten wurden von schlanken vorgesetzten Säulen eingefaßt, die, mit Säulensockel und -schaft im dorischen Stil ausgestattet, in Verbindung zum ebenfalls massiv scheinenden Überbau standen. Stukkaturen schmückten die freie Mauerfront. Am erstaunlichsten aber war eine, sich direkt über dem Torbogen befindliche, rote Leuchtschrift, der, untereinander angeordnet, die drei Worte zu entnehmen waren:
Willkommen!
Bienvenu!
Welcome!
Alan gestaltete im Bestreben, seinen Blick zu schärfen, seine Lider zu schmalen Sehschlitzen um und beugte sich, ausnahmsweise einmal sprachlos, vor.
John schaute Helena zweifelnd an.
"Ein Triumphbogen?" Sie fand, daß die Ähnlichkeiten durchwegs frappierend seien, war jedoch ansonsten erwartungsgemäß keine große Hilfe. Über die Sensoren kamen weitere Informationen herein.
Das Monument war 70 m lang und 30 m hocht. Mittels Adler war es in einer halben Stunde erreichbar. Aber sonst: Talmi - das gesamte Gemäuer war inwendig völlig hohl. Es bestand im wesentlichen aus Beton, da und dort einem eingestreuten Stahlträger, ein- und angekleisterten Gipsklumpen, einigen zurechtgehauenen Marmorblöcken, die, wie auch der Rest von grauer Außendispersion in den kühnen Tarnmustern aller Schattierungen bedeckt wurde, als hätten zahllose Maler in wenig professioneller Manier jeweils ein freies Fleckchen im individuellen Lieblingsgrau angestrichen.
Daß es einer baubehördlichen Prüfung nicht standhalten, ja nicht einmal einer vergleichsweise lauschigen Brise von 20 km/h Windgeschwindigkeit widerstehen könne, war eine jener süffisanten Mitteilungen des Computers, die die Besatzung mitunter daran zweifeln ließen, daß er tatsächlich ganz und gar ohne Eigenleben ausgestattet war.
Während des Betrachtens machte Alans Verwunderung seiner durchwegs stärker veranlagten Abenteuerlust Platz, und er äußerte den Wunsch, sich das Monument aus der Nähe betrachten zu wollen. Zufällig korrelierte dies mit Johns Plänen, er gab sein Einverständnis und teilte ihm Maya als begleitende Wissenschaftlerin zu. Alan enteilte freudig; John sah ihm kurz nach, dann verweilte sein Blick auf Helenas, von ausgeprägter Ratlosigkeit heimgesuchtem, Gesicht.
"Na, wenigstens passiert endlich etwas," sagte sie fast entschuldigend. "Das Spiel ist eröffnet."
Bald schon näherte sich der Adler der Triumphbogenimitation.
Maya beobachtete die Daten, die über die Sensoren hereinkamen, während Alan neugierig aus dem Frontfenster schaute, wo sich das Monument bereits drohend über das Raumschiff zu beugen und den Rachen aufzusperren schien, um es auf einen Sitz zu verschlingen. Die Gefahr, verschluckt zu werden, berührte Alan allerdings weniger als die Sorge, daß sich das Gemäuer unvermittelt seiner baulichen Mängel bewußt wurde und mit einem höllischen Spektakel auseinander fiel, um den Adler in einer Schuttlawine zu begraben. Vorsichtig steuerte er auf das Ungeheuer zu.
John vermutete, daß die Alphaner durch das Tor ge lockt werden sollten. Alan entgegnete, daß seine Ambitionen, dieses Riesenmaul von einem Torbogen zu passieren, gerade so groß wie ein Flohhut seien, und selbst wenn das kuriose Denkmal statt der leuchtenden Willkommensgrüße eine Horde von Nymphen mit goldenen Körpern Spalier stehen ließe, könnte er sich nicht dazu überreden lassen, den Adler in den Schlund zu manövrieren.
Maya kommentierte seine blumig geäußerte Meinung mit lediglich zwei Worten.
"Sehr vernünftig," sagte sie, ohne von ihrem kleinen Bordmonitor aufzuschauen.
Das Personal im Hauptquartier verfolgte gespannt den Erkundungsflug, und John schlug Alan vor, doch einmal den Bogen zu umrunden.
Der Versuch mißlang.
Statt dessen begannen Adler und Monument, sich synchron zu drehen, und je mehr Alan beschleunigte, um so schneller wurde der Reigen, es war, als folgte das Raumschiff der wirbelnden Drehung des Objektes - nicht umgekehrt - und schaute ihm dabei ständig ins Maul wie ein stationärer Satellit, der auch immer nur denselben Teil der Welt zu Gesicht bekommt.
"Von hier sieht es so aus, als bewegte sich der Mond und nicht wir," berichtete Maya, im ersten Moment erstaunt über den Effekt.
"Kommt zurück," wies John die beiden an, " wir sollten uns genau überlegen, ob wir der Einladung folgen wollen." Mayas stille Befürchtungen, daß sich der Adler nun nicht mehr vom Bogen wegbewegen ließe, erwiesen sich zum Glück als haltlos, und sie traten die Heimreise an.
Doch kaum hatte Alan die Beschleunigungsphase eingeleitet, als durch den Torbogen wie ein knallroter Torpedo explosionsartig eine nagelneue, blitzblanke glänzende Vespa hervorschoß und mit einer für einen Motorroller geradezu galaktischen Geschwindigkeit die Verfolgung aufnahm. Auf dem zweifellos deplazierten Gefährt saß, nach vorn über gebeugt, ein Jüngling, gekleidet in Jeanshosen und mit einem altmodischen, visierlosen Helm mit Kinnriemen, der (2) verbissen Gas gab und mit seinem schmucken Geschoss gerade auf den Adler zuhielt.
"Wenn die Mühle nicht frisiert ist, werde ich ab sofort Transvestit," keuchte Alan mit starrem Blick auf den Roller.
Die Ermahnung zu größerem Ernst hätte sich John ruhig sparen können, denn Alan reagierte darauf mit keinem Wimpernzucken.
Wohl aber bemerkte er gelegentlich eines Seitenblicks zu Maya deren fragende Miene, und er fühlte sich zu einer Erklärung bemüßigt, wobei er sich zu einer ausschweifenden, nicht gerade klar strukturierten Schilderung verstieg, deren Kernaussage diese war, daß Transvestiten Männer "oder sowas" seien, die mitunter oder gar permanent oder eventuell auch überhaupt - Frauenkleider trügen. Maya schrieb seine darstellende Inkompetenz der Aufregung um den Vespafahrer zu, der mittlerweile in aller Frechheit mit seiner kleinen Schleuder die Geschwindigkeit des Adlers überrundet hatte und darum ordentlich aufholte. Dennoch war Maya der Meinung, ausreichend informiert zu sein.
"Alles klar," sagte sie, dankbar für die Information, "diese Transvestiten werden auch Schotten genannt, oder?" Alan bewunderte daraufhin, selbst über die Wahrung seiner Fassung am meisten erstaunt, in lobenden Worten ihren Scharfblick, während ihm schwach der Verdacht kam, daß ihm die Handvoll alphanischer Schotten dafür einen heißen Empfang bereiten werde.
Über die Transvestiten, die beleidigt waren, weil man sie mit Schotten verwechselte, wollte er lieber nicht nachdenken.
Der Abstand zwischen dem Adler und dessen kuriosem Verfolger nahm rapide ab, schon erreichte die Vespa das Raumschiff und arbeitete sich zum Cockpit vor. Sie tauchte am linken vorderen Beobachtungsfenster auf, und der Fahrer bemühte sich um einen Blick in das Innere. Alan fand sich jählings Aug' in Aug' mit einem blond-struppigen Burschen, dessen leicht hervorstehende Augen sich suchend, da das Einwegglas für ihn undurchsichtig war, im Panoramablick hin und her wandten, während seine Kiefer gleichzeitig unter heftigen Kaubewegungen einen über die Norm großen Kaugummi malträtierten. Der Versuch, ins Cockpit zu spähen, gipfelte schließlich darin, daß er die Nase an der Sichtscheibe plattdrückte und damit den fast zwingenden Eindruck eines verwunderten Ferkels machte, das glupschäugig an der Basedowschen Krankheit litt und, selbst für ein Ferkel, mit verhältnismäßig wenig Tassen im Schrank ausgestattet war.
Endlich begriff er, daß seine Anstrengungen umsonst waren.
Er klopfte an die Scheibe und machte mit der Hand eine kurbelnde Bewegung.
"Der will, daß wir das Fenster herunterlassen," interpretierte Alan die Aktion. Ein wilder Heiterkeitsausbruch überfiel ihn wie ein Blizzard, während Maya auf dem Copilotensitz höchst interessiert das Vorgehen des Fremden verfolgte und sich schließlich erkundigte, wo denn nun die Kurbel zu finden sei.
Die beabsichtigte Wirkung trat ein. Alan krümmte sich in einem Lachmuskelkrampf auf seinem Sitz.
Als noch nichts geschah, zuckte der Bursche die Achseln, griff in die innere Brusttasche seiner Lederjacke und zog einen weißen, länglichen Umschlag hervor, den er mittels seines Kaugummis direkt vor Alans Nase auf das Fenster pappte.
Endlich machte er kehrt und ritt, kurz noch die Hand zum Gruß erhoben, auf seinem Minitornado zurück zum Bogen, dessen Tor ihn alsbald verschluckte.
Alan schüttelte es vor Lachen, und Maya, die sich anstrengte, nur ja nicht zu amüsiert zu wirken, wertete die Informationen der Bordsensoren aus. Nach eingehender Prüfung der Daten hob sie den Kopf.
"Die Neuigkeit des Jahrhunderts lautet, daß alles, was wir gesehen haben, völlig unmöglich ist." Ein Glück, daß der Commander eine so kompetente Wissenschaftlerin mit auf den Flug gesendet hatte!
Der Kürze halber sei nun lediglich vermerkt, daß der weiße, einigermaßen klebrige Umschlag eine Einladung an drei Alphaner eigener Wahl enthielt, daß der Grund für die Einladung etwas kryptisch mit den Worten umschrieben war: "behavioristische Observierung zur sujektbezogenen Assimilation", und daß diese seltsame Art der Kontaktaufnahme (3) selbstverständlich Anlaß zu stundenlangem Kopfzerbrechen über die üblichen fünf Ws: Wer? Warum? Wann? Wo? und Wie? war und über ein O: Ob nämlich die Mondbewohner die Einladung annehmen oder sich lieber in vornehmer Zurückhaltung üben und dabei die Basis nicht verlassen sollten.
Als Ergebnis des geistig-emotionellen Scharmützels machte sich erheblich später ein Adler mit den drei Auserwählten an Bord - oder besser denjenigen des Kommandostabs, die das Los getroffen hatte: John, Helena und Alan - auf den Weg ins Ungewisse.
Mit Todesverachtung und zitronensaurer Miene lenkte Alan den Adler durch den Torbogen, der sich dabei genüßlich in alle Richtungen zu dehnen und zu strecken schien, als wäre er das Maul einer Schlange, die sich nach vorzüglichem Mahl das Kiefer wieder einrenken muß.
Und: Action! |
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Wie in einem Blitz verschwand das Nichts, ein schrilles Leuchten umgab mit einem Mal den Adler, und automatisch fuhren die Blenden an den Sichtfenstern herab. Nicht nur Alan, der allein im Cockpit saß, auch Helena und John, die im Passagiermodul via Monitor auf dem laufenden waren, fuhr der Schreck gehörig in die Glieder.
John befreite sich in aller Eile von seinem Gurt, wobei ein ungeschriebenes Gesetz in Kraft trat, wonach Handlungen, die überstürzt getätigt werden, überdurchschnittlich häufig mißlingen.
Er blieb deswegen hängen, stolperte und fiel Helena vor die Füße. Während er sich aufrappelte, ging ein heftiges Rumpeln durch den Adler, als hätte ihn eine riesige Hand mitten im Flug abgefangen, und der Schrei, den Alan verlauten ließ, hörte sich auch nicht gerade vertrauenerweckend an. Die Maschinen erstarben, und endlich gelang es John, das Cockpit zu erreichen. Helenas Hilfe bei der Wiedererlangung einer aufrechten Körperposition war von unschätzbarem Wert gewesen, und flüchtig sah er noch das spöttische Lächeln in ihrem Gesicht, das den Schrecken , wenn auch nur für einen Augenblick, gebannt hatte.
Alan hackte auf allen Tasten und Knöpfen herum, deren Bedienung ihm gerade auch nur entfernt ratsam erschien, doch nichts geschah. Der Adler machte keinen Mucks mehr und war mit sofortiger Wirkung in den Ruhestand getreten, aus dem er nicht mehr wiederzuerwecken war. Auch das Funkgerät war seinem Beispiel gefolgt. Kkein Rauschen entrang sich den Lautsprechern.
Die Bordsensoren waren wenigstens noch in Funktion, und sie plauderten von Stickstoff, Sauerstoff, Kohlendioxid und Edelgasen in Prozentanteilen, die sich wundersamerweise zu einer atembaren Atmosphäre zusammenfügten, von Luftfeuchtigkeit und moderaten Außentemperaturen, von UV-A, -B und -C-Strahlung und Ozonwerten, deren Konzentrationen wie zufällig für den Menschen akzeptabel waren.
Draußen breiteten sich in helles Sonnenlicht getauchte, dunstige, diesige Berge aus, Wolkenberge, die in den Himmel hineinwogten und -rollten, sich zu mächtigen weißen Gebilden aufbauschten und das Blau doch nicht erreichten. Der Adler schien in diesen Wolkenzusammenballungen festzustecken, und daß er nicht durchfiel und hinunterpurzelte, war nur eine weitere (und beileibe nicht die letzte) Unmöglichkeit, die sich der geplagten Gruppe präsentierte.
Die Perspektiven, die sich nun auftaten, übertrafen die ohnedies niedrig angesetzte Zahl von zwei nur unwesentlich: Man konnte 1. abwarten, ohne Tee (4) zu trinken, 2. den Adler mit Raumanzügen aber ohne Fallschirme verlassen (wenig verlockend) oder 3. um Hilfe rufen (was, da das Funkgerät ja seinen Dienst eingestellt hatte, auch nicht gerade von Intelligenz zeugen würde). So kam erstmal nur Vorschlag No.l in Frage, abwarten und nachdenken. Die Logik besagte, daß dies wohl kaum das Ende der Wegstrecke sein konnte. War also dem Großen Unbekannten eine Panne passiert?
Nach einigem erfolglosen Hin und Her hatte Alan die Idee, das Problem von der anderen Seite anzupacken und festzustellen, warum eigentlich der Adler so mühelos auf der Wolkenbank Fuß gefaßt hatte. Die Kameras wurden ausgefahren, die eine oder andere Laser- und Sonotechnik in Verwendung genommen, und schließlich, nach einem ausgedehnten Kampf gegen die Tücken des Bordcomputers, dem nicht einleuchtend war, wieso jemand mit so geringen Kenntnissen einiger spezieller wissenschaftlicher Programme gewonnene Daten auch ausgearbeitet und interpretiert haben wollte, schließlich also stand das Ungeheuerliche fest:
Auch ohne die passenden physikalischen Gesetze, die die Umstände klären konnten, waren die Wolken gewissermaßen himmlischer Natur und gehörten womöglich in die Gattung jener Wolken, auf denen Petrus und seine Himmlischen Heerscharen sonntags spazierengingen, die Lyra zum Gruße schwangen und den Heiligenschein (5) von Zeit zu Zeit im klaren Licht der Ewigkeit aufblitzen ließen: Diese Wolken waren ebenso fest und sicher wie ein Granitmassiv unter den Füßen. Weiterhin im Adler zu verweilen, war wegen bestimmter Tendenzen zur Ungläubigkeit verlockend aber höchstwahrscheinlich nicht zielführend, und so rief John zum Angriff auf das fremde Metier.
Alan schimpfte wie ein Rohrspatz auf den unheimlichen Drahtzieher und vergaß, von seiner leidenschaftlichen Wehklage schwer in Anspruch genommen, alle Vorsicht. Er eilte aus dem Adler und winkte, von wabernden Nebelschwaden bis zu den Knien umspielt, die beiden am obersten Treppenabsatz wie erstarrt Dastehenden herunter. Helena erlangte als erste die Fassung wieder und mißbrauchte sie zu einer erzürnten Strafpredigt über Alans Leichtsinn, in deren Verlauf sie auch das Vorhandensein gewisser gottgegebener Talente, namentlich seines gesunden Hausverstandes, in Frage stellte. Da Alan aber mit leichter Verblüffung im Gesicht die Tirade über sich ergehen ließ, statt durch die Wolkendecke wegzuflutschen, beruhigte sich wieder und verließ ebenfalls, vorsichtig allerdings, die sichere Treppe.
Es stand und ging sich federnd und etwas unsicher wie auf einer luftgefüllten Gummimatratze. Alan, dem das Donnerwetter gegen ihn, noch während es stattgefunden hatte, bereits entfallen war, und der deswegen auch nicht gekränkt sein konnte, beglückwünschte Helena zu dem Entschluß, anläßlich des Erkundungsflugs auf Stöckelschuhe verzichtet zu haben. Ihr Blick fragte deutlich, ob er nicht mehr ganz bei Trost sei.
John schaute sich etwas um und wies dann aufs Geratewohl in eine, von turmhohen Wolkenkonglomeraten gesäumte, Schlucht.
Die anderen folgten ihm, als er voranging.
So viele Erkundungsflüge ins Unbekannte sie auch bisher absolviert hatten, so war noch keine von einer derartig lächerlichen Unmöglichkeit gewesen - zumindest war noch nie von ihnen verlangt worden, den Adler in schwindelnden Höhen zu verlassen und auf Wolken herumzuwandern.
Es war also mit dem Vertrauen um ihre Sicherheit nicht weit her.
Jeden Augenblick befürchteten sie, durch eine Lücke in den mehr als fragwürdigen Untergrund hinabgezogen oder etwa von herabdonnernden Nebelmassen erschlagen zu werden. Besonders letzteres mußte sich, wie sie selbst wußten, für einen unbedarften Zuhörer töricht anhören, und doch schoben sich in der Höhe zu beiden Seiten Wolkenansammlungen, die ausgesprochen bleiern aussahen, bedrohlich an die Ränder der Kluft heran, als Vorwarnung glitt der Nebel in dichter Konsistenz an den unregelmäßigen bläulich-weißen Steilwänden herab, zog wie Rauch über sie hinweg und durch sie hindurch. Feucht wurden Kleidung und Haar, klamm die Finger und die Lippen blau vor Kälte. Alan, der anfänglich noch guten Mutes vorangeschritten war, hielt sich nun dicht bei seinen Begleitern und stimmte schließlich ein lauthals vorgetragenes Lied an, das er offensichtlich aus dem Stegreif improvisierte und in dem eine mobile Heizung namens Bill der Held des Tages war.
Wie lang nun die Wanderung durch die furchterregende Schlucht dauerte, war aufgrund der auch an diesem Ort andauernden zeitlichen Konfusion nicht direkt nachvollziehbar, aber befragt, hätte es gewiß für jeden von ihnen nur eine mögliche Antwort gegeben:
Viel zu lange!
Doch glücklicherweise fand der enge Durchgang irgendwann ein Ende, und damit verschwand auch unvermittelt die Wolkenlandschaft.
Ein spiegelglatter, ewigweiter Marmorboden breitete sich vor ihnen aus. In der Ferne ragten Säulen wie zahllose Finger in die Luft. Ein direktes Anzeichen für Leben waren sie nicht, aber John hielt es für naheliegend, sich dorthin zu begeben, und da dem schwerlich etwas zu entgegnen war, setzten sie sich schlitternd und rutschend in Bewegung. Als das wolkenfeuchte Schuhwerk endlich trocken war, normalisierte sich der Eiertanz, und sie kamen schneller voran.
Nirgends war indes eine Menschenseele oder sonst ein lebendes Wesen zu sehen, kein Lufthauch regte sich - eine unwirkliche, wie erstarrte Szenerie bot sich ihnen dar wie die verlassene Kulisse in einem Giganten-Theater.
Sie erreichten den Säulenwald aus buntem Marmor, und eine bösartige Unsicherheit schickte sich an, vom Kopf abwärts zu kriechen, einen kurzen Zwischenstop in der Brust einzulegen, wo sie das Herz zu einer bedeutend flotteren Gangart animierte, um dann gemächlich in den Magen zu wandern, wo sie die von Angst Gebeutelten mit heftigem Bauchzwicken peinigte. Vorsichtig gingen sie dennoch weiter, während proportional zu ihrem Voranschreiten die Beklemmung zunahm. Alan hatte längst das Singen eingestellt, jedes auch noch so leise geäußerte Wort hallte schauderlich laut und trotzdem stumpf und verfremdet wider. Allein das dumpfe, höllernde Echo ihrer Schritte war mehr, als sie sich freiwillig zugemutet hätten. Auf Zehenspitzen schlichen sie weiter.
Ein plötzliches metallisches Klappern, dessen Ursprung nicht allzu weit weg schien, beendete die gespenstische Stimmung, und sie schöpften wieder Hoffnung.
Das Klappern wurde von einem Kling! Und einem Ratsch! unterbrochen und fing dann von neuem an.
"Eine alte Schreibmaschine," sagte Helena erstaunt, und sie gingen dem Geräusch nach. John wollte wissen, wieso sie sich da so sicher sein könne. "Ich habe schon als Kind ein solches Fossil benützt," antwortete sie verdächtig heiter, "ich habe damit unserem Nachbarn anonyme Briefe geschrieben, in denen ich ihm drohte, seinen Goldfischteich durch Einbürgerung eines Piranhas zu entvölkern."
"DU hast Drohbriefe geschrieben??" konnte sich Alan nicht genug wundern.
"Ja, ich war nicht gerade das, was man landläufig unter einem braven Kind versteht. Unser Nachbar wollte einen alten Ahornbaum fällen, dessen Geäst mein geheimes Versteck war. Ich wurde aber rasch als potentieller Attentäter enttarnt, und um meine kriminelle Karriere war's geschehen. Ich mußte dem alten Libman einen Sommer lang im Garten helfen. Daraus resultiert wohl mein gestörtes Verhältnis zu Goldfischen." Wenn man bedachte, daß der Goldfisch, mit Ausnahme der weißen Maus, das am häufigsten vertretene Haustier auf Alpha war, so war dies doch ein recht trauriges Resümee.
Zwischen den Säulen tauchte endlich ein Tisch auf, an dem eine Frau an einer alten Underwood-Schreibmaschine saß und in fliegender Eile darauf tippte.
Wenn es je die Personifikation einer echten spröden, verkorksten Mamsell gegeben hatte, so war es zweifellos sie. Sie blickte, das Schreiben unterbrechend, die Ankommenden über den Rand ihrer schwarz gefaßten, mit silberner Kette versehenen, Brille an und begrüßte sie mit dem Charme eines Rudels hungriger Wölfe: "Na endlich!!"
Verdutzt ließen sie die merkwürdige Erscheinung auf sich wirken. Ihr Gegenüber war ein hageres Frauenzimmer jenseits der 40, das dünne aschblonde Haar in einem straffen Knoten gefangen und angetan mit einer weißen langärmeligen Bluse und einem grauen Rock von geradezu astronomisch uninteressantem Erscheinen, eine schiere Inkarnation der puren Unauffälligkeit. Eigentlich ließ mehr die Tatsache fehlender Nacktheit darauf schließen, daß sie überhaupt Kleidung trug.
Die Frau war, unschwer erkennbar, ein wandelndes Klischee.
Ihr Gesicht hatte herbe, knochige Züge, wie auch die gesamte Gestalt die Vermutung nahelegte, daß sie sich seit jeher von den Rechnungen und Geschäftsbriefen, die sich auf ihrem Schreibtisch stapelten, ernährte. - Sie war eine flachbrüstige, schmallippige und sogar etwas hakennäsige, klapperdürre, nur in sehr eingeschränktem Maß überhaupt als weibliches Wesen definierbare Person, gegen die sich Helena, zwar durchaus mit Reizen ausgestattet aber eben von bodenständiger, eher griffiger Natur, so, wie sie nun war, mit Frontbeule und nebelfeuchter Gruselfrisur wie die fesche Lola aus dem "Blauen Engel" ausmachte.
Dieses bedauernswerte Geschöpf konnte derart eindeutig bei keinem noch so abgehärteten menschlichen Wesen den Funken einer Bezauberung hervorrufen, so daß sich gleich Mitleid in den plötzlich butterweichen Herzen der Ankömmlinge breitmachte. Noch ehe jedoch die Befangenheit sie versteinern konnte, bereitete die Sekretärin ihrem Zartgefühl ein jähes Ende.
Ihr Ausbruch war wie das Erscheinen der Vier Apokalyptischen Reiter in einer Person, und es fehlte nur noch die Wolke aus gespienem Feuer, um sie als legitimen Nachkommen des Drachen Smaug zu identifizieren.
Vielleicht stieg sogar tatsächlich etwas Dampf aus ihren Nüstern auf.
"Ganz hervorragend!" schrie sie zum Auftakt, von deftiger Röte überzogen, und ihre Faust fuhr wie das Letzte Gericht auf den Schreibtisch herab, daß es donnerte.
John fühlte sich von ihrem gesteinskalten, schiefergrauen Blick wie mit einer Lanze förmlich durchbohrt. Im letzten Moment widerstand er der Versuchung, hinter Helena in Deckung zu gehen und schluckte statt dessen nur, von einem akuten Anfall an Sprachlosigkeit dahingerafft.
"Nie können die Leute ihre Termine einhalten," setzte sich das Zornestoben fort, "ich sitze hier und warte, während sich die Herrschaften, was weiß ich, vielleicht AMÜSIEREN!!"
Sie ließ keine Zweifel daran offen, daß sich das Wort "amüsieren" in diesem Fall praktisch ausschließlich mit Großbuchstaben schrieb. Ein Donnerwetter der Sonderklasse ergoß sich nun über die Alphaner, die nicht ein noch aus wußten und das meiste der eruptiven Gewaltrede wegen des rasanten Abspultempos gar nicht mitbekamen. Einziger Inhalt der Explosion schien jedenfalls ihre Allergie gegen Unpünktlichkeit in jeglicher Erscheinungsform zu sein. Schließlich holte sie Luft und geiferte: "Glauben Sie etwa, ich hätte meine Zeit gestohlen?" Dies war nun ein läppisches Argument, da ja die Zeit an diesem Ort nur eine sehr untergeordnete Rolle spielte!
John hoffte, den rasenden Giftzahn vielleicht mit einem sachlichen Gespräch wieder zur Räson zu bringen.
"Verzeihen Sie, wenn wir Ihnen Unannehmlichkeiten bereiten," sagte er etwas hilflos, indem er das Register "Ruhig & Reuig" seines Tonfallspektrums zog, "aber wir hatten keine Ahnung, daß Sie uns erwarten. Wir sind überhaupt sehr zufällig in dieses Szenario geraten."
"Kein Zufall!" schnaubte die Furie, und es war gar nicht schwer, sich ein Knäuel Schlangen auf ihrem Kopf vorzustellen, das erzürnt herabzüngelte und -zischelte. "Gar kein Zufall! Schon allein die Rechnung hört sich nicht im mindesten nach einem Zufall an!" Sie wandte sich einer alten Registrierkassa zu, die silbrig glänzte, mit Blumen und Ranken ziseliert und mit einer Handkurbel versehen war, und an deren steil abfallenden Front wie Korkenstoppel die Zahlenknöpfe herausragten. Sie hämmerte und kurbelte unter Aufzählung der einzelnen Rechnungsposten auf die Kassa ein. "Grundgebühr: 7 Milliarden Pfund, Mehrwertsteuer 50%, macht 3,5 Mrd. £. Luxussteuer 20%, das sind 1,4 Milliarden. Extras inklusive Steuern: 3,2 Mrd. £; Erschwerniszulage 900 Mio Pfund und Bearbeitungsgebühr: 400 Mio Pfund. Wie wollen Sie zahlen ? Bar, Scheck oder Kreditkarte?"
"Von welchen Pfunden ist hier bitteschön die Rede?" wollte Alan perplex wissen.
"Von Pfund STERLING," herrschte sie ihn an.
"Wir haben überhaupt kein Geld," sagte John, "egal, um welche Währung es sich handelt. Welche Leistungen haben wir denn in Anspruch genommen?"
"Wir sprechen hier über die Rettung Ihrer Kommune!"
"Gemeinschaft," verbesserte Helena sie, da die Bezeichnung "Kommune" doch ein etwas falsches Licht auf die Natur der Basis warf - obgleich es sie nicht wundern sollte, wenn die verdorrte Jungfer die alphanische Gesellschaft für eine Lasterhöhle, mehr noch, ein satanisches Refugium, hielt, dessen Umschreibung als "Kommune" von ausgeprägtem Feingefühl ihrerseits zeugte.
"Rettung wovor?" fielen John und Alan unisono ein.
"Wenn Sie sich beschweren wollen, dann wenden Sie sich an meinen Vorgesetzten," war die lapidare und bei weitem friedvollste Antwort, die sie bisher erhalten hatten. Sie riß den Kassabon ab und drückte John die Rechnung über 16,4 Milliarden Pfund Sterling in die Hand. Er betrachtete sie ungläubig.
"Wo finden wir Ihren Vorgesetzten?" Sie wies mit scharfem Fingerzeig in eine Richtung.
John hatte genug von der Gorgone.
DAS nannte man professionelle Cholerik! Sein eigenes gelegentliches Aufbrausen war dagegen nichts als dilettantisches Schmierentheater. Im Vergleich zu dieser Urgewalt an explosivem Vulkanismus war er nur ein unscheinbarer Lehrbube, der unambitioniert und talentlos die Geheimnisse des Jähzorns bestenfalls streifte.
Die Urgewalt hatte inzwischen jegliches Interesse an den wie begossene Pudel dastehenden Alphanern verloren und hackte und hämmerte wieder verbissen auf der alten Schreibmaschine herum, daß man sich wundern mochte, warum die Typen bei einer derart respektlosen Behandlung nicht schon längst herausgesprungen waren und ihr Heil in der Flucht gesucht hatten.
Alan wandte sich in die zuvor angegebene Richtung, froh, dem Drachen mit heiler Haut entkommen zu sein - wie auch die anderen - und so eilten sie vondannen.
Sie gelangten in ein Areal, in dem die Säulen immer dichter aufgestellt waren, bis geradezu einzelne Gänge entstanden, die ihnen mehr oder weniger den Weg wiesen. Dann änderte sich auch die Natur der Säulen, deren runder Querschnitt immer mehr Quadratform annahm, und zudem bestanden sie nicht länger aus den hübschen verschiedenfarbigen Marmorarten, sondern manche von ihnen waren aus Sandstein, manche aus Holz oder aus Beton, andere geziegelt und verputzt, und es gab sogar welche, die aus festem Pappkarton gemacht waren. Dicht an dicht wechselten sie sich ab, bis sie sich schließlich berührten und dann eine einförmige graue Mauer daraus wurde, die zu beiden Seiten zahlreiche Meter in die Höhe ragte. Am Ende des auf diese Weise entstandenen Korridors befand sich eine blaue Tür.
John stieß sie auf und trat, gefolgt von Alan und Helena, in einen weißen deckenlosen Raum. Er war recht weitläufig, wirkte aber wegen Unmengen von Gegenständen, die die linke und rechte Mauer säumten, wesentlich kleiner. Alles war von einem blendenden, strahlenden Weiß, erschien wie ein modernes Kunstwerk. Lange balkenartige Objekte wiesen schräg in die Luft, Dinge ohne erkennbaren Sinn, andere wanden sich auch in Erstarrung über den Boden oder waren übereinander gestapelt, wie ein fragiler Turm, der nur zufällig noch nicht umgestürzt war. Auf einem Sockel lag, von einer weißen Serviette halb umwickelt und daher auch nur aus einer bestimmten Perspektive gut sichtbar, ein angebissener Hamburger. Helena dachte angesichts dieses kuriosen Ambientes schmunzelnd an eine Begebenheit aus ihrer frühen Kindheit, wo sie, Erzählungen zufolge, in einem Museum, einen Augenblick von ihren Eltern aus den Augen gelassen, das halbe Kunstwerk eines Chicagoer Lokalmatadors in Form von ausgetüftelt plazierten Erdnüssen verschnabuliert hatte. - John schwitzte in der grellen Helligkeit, und Alan eilte spornstreichs auf den gegenüber positionierten Ausgang zu.
"CUT! CUT!" rief eine genervte Stimme aus dem Abseits, und alle erstarrten.
Der englische Regisseur Charles Crichton, sonst ein humorvoller Zeitgenosse, schien, was leicht an seiner gepeinigten Miene zu erkennen war, mit dem linken Fuß aufgestanden zu sein. "Meine Lieben!" fing er sein Lamento an. "So wird das nie was! Was ist nur heute mit euch los? Das Mikro ist im Bild - und welcher Blödmann von der Kulisse hat sein Frühstück am Set liegengelassen?" Der Mikrophongalgen wurde pflichtschuldigst gehoben, und das Skriptgirl entfernte eilig den von einem der Beleuchter zurückgelassenen Hamburger.
Die Schauspieler standen währenddessen in der Dekoration und fächelten sich Luft zu. Sie schwitzten unter den Scheinwerfern in ihren Kunstfaserkostümen, und draußen hatte es 30°C im Schatten. Die Gürtel zwackten, die Commlockattrappen zwickten, und ihre Füße schwammen in Schweißseen, die wegen der Stiefelschäfte bereits bis an die Knie reichten.
Charlie begab sich zum Regiesessel und ließ sich schnaufend hineinfallen, während er sich mit einem großen Taschentuch die Stirn abwischte. Schließlich deutete er auf die Akteure. "Und was ist mit euch? Keine Konzentration, wie? Barbara, meine Liebe, ich schätze ja dein Lächeln, aber hättest du auch nur einen Blick in dein Skript geworfen, wüßtest du, daß es völlig fehl am Platz ist! Die Folge soll zwar lustig werden, aber für den Zuschauer - ihr, ihr habt wirklich nichts zu lachen. Kommentarloses Dulden?" fragte er ungläubig, als sie ihn nur mit unschuldigem Augenaufschlag - anlächelte. Ein Verdacht kam ihm, und er schaute sich im Studio um. Im Hintergrund arbeitete eine Handvoll von Ausstattern und Technikern konzentriert an Bühnenzubehör, an dem es wirklich nichts zu tun gab.
"Hätte ich mir denken können, daß ihr Nichtsnutze wieder dahinter steckt! !" schimpfte er und knurrte in die Richtung der Schauspielerin: "Nimm dir gefälligst ein Beispiel an deinem Mann!"
"Ich bin ja ein ernsthafter Schauspieler!" grinste Marty, ohne zu erwähnen, daß die nunmehr unschuldige Truppe im Hintergrund mit rotglühenden Clownsnasen und Antennen am Kopf, an deren Ende sich schwankende Leuchtsterne befanden, eine Pantomime zwischen Requisiten und nicht benutzter Kulisse aufgeführt hatten, wobei gerade Charlie Objekt der Nachahmungstäter geworden war und die Schauspieler darum im Halbdunkel ein Balett von fünf oder sechs Ausgaben des Regisseurs gesehen hatten, der ihr Spiel mit ausschweifender Gestik zu dirigieren versuchte.
Marty, der seine Wette, wonach er behauptet hatte, bei der Arbeit auf jeden Fall ernst bleiben zu können, somit gewonnen hatte, trug noch ein wenig dicker auf: "Ich strebe schließlich nach Höherem," sagte er, "nach dem Oscar, zum Beispiel!"
"Nicht mit dieser Rolle, mein Lieber," konterte Nick Tate trocken.
Charlie rollte mit den Augen und erhob sich, nur um mit seiner Klage im allgemeinen fortzufahren.
"Keinen Menschen interessieren die Anweisungen eines alten Mannes. Ich rate euch, überlegt euch gut, ob ihr nach dem 50.- Lebensjahr noch altern wollt. Zumindest solltet ihr offiziell das Zählen einstellen. - Jeder auf seine Position, es geht weiter! Wir spielen die Szene von Anfang an. Marty, du kommst als erster herein, dann du, Barbara: Kein Schmunzeln, Grinsen, Feixen, Lachen oder gar Kichern, bitte, sondern ich erwarte einen tragik-, angst- und sorgenvollen Blick, wenn es sich einrichten läßt! Alan als letzter - Nick, sei so gut und lehne dich beim Eintreten nicht wieder an die Kulisse, das macht im Film einfach nichts her, wenn das ganze Gebäude wackelt!!
"Sie war's," behauptete Nick gespielt aufrichtig und deutete mit dem Daumen auf seine Szenenkollegin.
"Oh ja," erwiderte sie liebenswürdig, "ich habe neuerdings telekinetische Fähigkeiten!"
"Also bitte, Barbara, sei so nett, diese Telekinese nicht einzusetzen. Du siehst ja, daß Nick ein Verräter ist und dich bei jeder Gelegenheit anschwärzt. Übrigens braucht Alan nicht wie der geölte Blitz durch die Dekoration zu flitzen. Sie hat eine Menge Geld gekostet, und wir sollten sie auch genügend ins Bild rücken - sagt zumindest Gerry." Charlie wartete, bis ihm alles in der Szenerie zu Gesicht stand und die Maskenbildner ihre Trockenlegungsarbeiten an den Darstellern beendet hatten.
"Kamera ab," rief er, "und: ACTION!"
John trat durch die Tür, gefolgt von Helena und Alan.
Fast ein Elbe |
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Sie verließen den hellen, weißen Raum wieder, ohne festgestellt zu haben, welchen Zweck er erfüllte, ob er tatsächlich Kunst war oder NUR Kunst war oder vielleicht eine andere verborgene Bedeutung hatte. Gelegenheit, darüber zu diskutieren, bot sich ihnen jedenfalls nicht, denn hinter der nächsten Tür lauerte genug Interessantes, um eine auch nur mäßig neugierige Person zumindest abzulenken.
Sie traten in eine große Halle, die auf den ersten Blick schon allein wegen der Kelim-Teppiche - oder zumindest eindrucksvollen Imitaten - einen recht exklusiven Anschein erweckte. Auch hier war es dem Konstrukteur offensichtlich nicht möglich gewesen, auf Säulen zu verzichten. In diesem Fall trugen sie eine beträchtliche Anzahl spitzbogiger gotischer Gewölbe. Der Ort gewann dadurch gewissermaßen einen sakralen Charakter, wie eine Kathedrale - wenn man vom Fehlen jeglicher religiöser Insignien und von zahlreichen roten Clubgarnituren absah, die im Saal verteilt waren, schwere Zweisitzer und Fauteuils in gediegenem bordeauxrotem Büffelleder gruppierten sich um Couchtische mit schwarzen Tischplatten aus Basalt. Gesprenkeltes Licht fiel von kostbaren, großen Lustern und goldenen Wandleuchtern auf die Szenerie - vielleicht der Spleen eines exzentrischen Millionärs.
Und doch war nichts Anheimelndes an diesem Arrangement, wie doch zweifellos beabsichtigt war, und die Alphaner entdeckten auch bald, was nicht stimmte. Es war dies die geisterhafte Stimmung, die herrschte, als wäre für einen Moment der Lauf der Dinge angehalten worden, im Augenblick erstarrt. Zigarettenrauch stand wie eine zerrissene, seidige Fahne in der Luft, die Flammen im Kamin wiesen als matte, ersterbende Finger nach oben in den Abzug, halb geleerte Cognac- und Weingläser standen auf den Tischen, Zeitungen lagen aufgeschlagen daneben oder auf den Sitzen, und nirgends war eine Menschenseele zu sehen. Es roch auf eine unbeschreibbare Weise verblichen, nach einer längst verlorenen Vergangenheit.
Sie schauten sich ein wenig um und nahmen dann, da sie nicht wußten, was sie sonst tun sollten, in der nächstbesten Sitzgruppe Platz. Dort warteten sie etwas müde und relativ schweigsam.
Alan klagte über Hunger, und John warnte ihn vor einer Projektion dieses seines Hungergefühls nach außen, womöglich in Form einer musikalischen Darbietung. Alan schwieg gehorsam.
Endlich entdeckten sie am anderen Ende des Foyers eine Gestalt, zunächst leicht zu übersehen, denn sie bewegte sich ebenso wenig wie all die anderen Dinge an diesem Ort. Im ersten Moment hielten sie sie für ein weiteres Element der regungslosen Umgebung, das ebenso in die Szene eingefroren war, aber die Figur erschien, selbst aus der relativen Entfernung echter als der Rest, geradezu herausgerissen und in die Wirklichkeit überstellt.
Es handelte sich um einen Mann von schlanker Statur, der eine Art Uniform trug, eng anliegend, bestehend aus einem blauen langärmeligen Oberteil und einer schwarzen Hose, die in den kurzen Stiefeln steckte. Er beobachtete sie, die Arme locker nach hinten gehalten. Eine Hand umfaßte die andere über dem Gesäß.
Sie standen auf und begaben sich zu ihm, als sie sahen, daß er keine Anstalten traf, zu ihnen zu kommen.
Näher betrachtet, war sein Aussehen fast von exotischer Natur. Das schwarze Haar lag ihm wie nach Besuch bei einem schlechten Friseur in wenig moderner Helm-Fasson auf dem Kopf, und sein Gesicht, obschon markant aber von ungesunder gelblicher Farbe, zuckte mit keinem Muskel. Die dunklen Augen betrachteten sie aus schmalen Spalten. Er hatte schräge Brauen und spitze Ohren wie ein Elbe.
"Willkommen," sagte er kühl, als sie ihn erreicht hatten, "die Behauptung, daß Sie überdurchschnittlich lang gebraucht haben, um hierher zu gelangen, scheint mir durchaus angebracht." John, der sich gern wie ein Hai auf den Kerl gestürzt hätte, um eine Erklärung notfalls auch mittels Würgegriff und Schwitzkasten zu bewirken, war über das kalte, distanzierte Wesen seines Gegenübers derartig überrascht, daß ihm, der Wind aus den Segeln genommen, nur eine banale Äußerung entfuhr.
"Das kann man sehen, wie man will!"
"Ich hoffe, Sie sind in der Lage, uns über all die unverständlichen Vorfälle, in die wir geraten sind, aufzuklären," sprang Helena in die Bresche. Eine Braue in seinem Gesicht ging in die Höhe.
"Selbstverständlich, Dr. Russell," sagte er, "dazu bin da, mit Einschränkungen allerdings, wie ich zu meinem Bedauern gestehen muß. Zum einen bin ich selbst nur Gast hier aus einem anderen Universum als dem Ihren - und zum anderen bin ich an gewisse Regeln gebunden und muß daher über einige Dinge Stillschweigen bewahren. Ich wurde allerdings angewiesen, Ihnen durch Beantwortung Ihrer Fragen das Notwendigste mitzuteilen."
"Verstehen Sie denn, was hier vorgeht?" wollte John eindringlich wissen.
"Mitnichten," war die trockene, fast belustigte Antwort, "aber immerhin haben sich meine Untersuchungen als höchst faszinierend erwiesen. Ich habe Ihre bisherige Anwesenheit hier verfolgt und muß sagen, daß Sie sich, wenn auch in beachtlich langsamer Manier, ganz passabel durchgekämpft haben."
"Was soll denn das heißen?" wollte Alan wissen, der, streng genommen, noch gar nichts verstanden hatte.
"Was ich sagen will, Mr. Carter, ist folgendes: daß Sie nämlich durchwegs nach logischen Gesichtspunkten vorgegangen sind. Ihr Weg hätte selbstverständlich bereits im Adler auf der Wolkenbank zu Ende sein können." Er wandte sich an John. "Meiner Erfahrung nach pflegen Menschen emotionell Entscheidungen zu treffen, und gerade Sie, Commander Koenig, sind da, nach allem, was ich weiß, sozusagen ein leuchtender Stern am Himmel der intuitiven Lebensgestaltung." Der sarkastische Beiton war nicht von der Art, die übersehen wurde, doch John entschloß sich verbissen, nicht darauf einzugehen.
"Wer sind Sie?"
"Ist das von Bedeutung?" Er sah John ins Gesicht, dessen Miene Bände davon sprach, unter Zuhilfenahme wie vieler Techniken er ihn am liebsten in die Ewigen Jagdgründe befördern würde.
Ob diese potentielle Bedrohung ausschlaggebend dafür war, daß er schließlich nachgab, war, wenn schon nicht ersichtlich, so zumindest nicht naheliegend - jedenfalls entschloß sich der Fremde, der drohenden Eskalation aus dem Weg zu gehen. "Ich kann Ihnen sagen, daß mir Ihre Rasse nicht fremd ist - im Gegenteil: tatsächlich bin ich zur Hälfte menschlich - zu meinem Leidwesen, wie ich Ihnen versichern kann. Ich bin Offizier auf einem Forschungsschiff einer planetaren Föderation. Mein Name ist Spock. Sie sollten mich, wenn mir die Bemerkung gestattet ist, dennoch lieber Dinge fragen, die für Sie wirklich von Belang sind." Darauf hielt ihm John die Rechnung unter die Nase.
"Dann möchte ich gerne wissen, was das zum Beispiel soll!" Sein Gegenüber würdigte das Papier keines Blickes.
"Das, was es zu sein scheint, eine Aufstellung der Kosten, die Sie verursacht haben, als der Mond durch Entfernung aus einer Gefahrenzone gerettet wurde."
"Wir haben aber niemandem den Auftrag erteilt, uns zu retten!"
"Nun, da die Kosten einmal entstanden sind, müssen Sie die Rechnung selbstverständlich begleichen." Wenn er die Möglichkeit dazu gehabt hätte, wäre John nun zweifellos aus der Haut gefahren - das emotionslose Gesicht seines Gegenübers trieb ihn zur Weißglut, und er war inzwischen nicht mehr dazu bereit, irgendeine Garantie für ein zuvorkommendes Verhalten seinerseits abzugeben - obgleich er sich natürlich nach wie vor darum bemühte. Man sollte nicht den Fehler begehen und es sich mit seiner einzigen Informationsquelle verscherzen.
"Der mysteriöse Retter hätte aber eventuell daran denken können, daß wir kein Geld besitzen!"
"Commander Koenig, darf ich Sie darauf hinweisen, daß mein Hörorgan durchaus dafür konzipiert ist, einer Konversation im Hauptsprachbereich von 40-80 dB, d.h. einer normalen Lautstärke, folgen zu können!"
"Sagen Sie," mischte sich Helena ein, die sich bereits lebhaft vorstellte, wie Johns Blut in seinen Adern vor sich hin blubberte und köchelte und ihm mit seiner Hitze die Vernunftsganglien vorübergehend einschmolz. "Wo befinden wir uns überhaupt? Was ist das hier? Ein Zeitloch?"
"Dr. Russell, Sie scheinen eines der wenigen menschlichen Individuen zu sein, die sich zu gegebener Zeit mit einem minimalen Aufwand an Emotion dem Wesentlichen widmen können. Leider kann ich Sie nicht im Austausch für unseren Bordarzt auf unser Schiff mitnehmen. Sie befinden sich hier in einer Grauzone der Zeit und der Universen, es ist dies sozusagen ein Niemandsland, um einen poetischen Ausdruck in Verwendung zu nehmen." Seine trockene Sachlichkeit steckte sie an.
"Halten Sie es denn für legitim, von einer einzigen Äußerung gleich auf mein gesamtes Wesen zu schließen?"
"Das nicht," erwiderte er, "aber ich hatte Gelegenheit, einige Ihrer Logbucheintragungen zu studieren. Sie sind - menschelnd, selbstredend, wie sollten sie sonst sein, aber zumindest nicht unlogisch."
"Soll ich dies etwa als Kompliment verstehen?" Zu ihrer hellen Freude biß er sofort an.
"Ich mache keine Komplimente. Die Natur meiner Aussage ergibt sich aus einer einfachen Analyse Ihrer Berichte. Ein einleuchtendes Resümee, nichts weiter."
Auf Helena wirkte die Art des Fremden gänzlich anders als auf John. Sie merkte, daß er sie mit seiner Pedanterie belustigte, und sie spürte den unbändigen Wunsch, ihn zu ärgern, aus reiner Willkür eine sinnlose, aber durch folgerichtige Argumente am Leben gehaltene, Diskussion vom Zaun zu brechen, weil sie stark vermutete, daß es ihm ein echtes Anliegen war, immer das letzte Wort zu behalten.
"So, wir befinden uns also in einer Grauzone der Zeit," kam John wieder auf das Thema zurück, obwohl er das Gefühl hatte, daß Helena mit ihrer etwas ausschweifenden Taktik wohl zu ergiebigeren Resultaten gelangen konnte als er, "nur wer ist dafür verantwortlich?"
"Das," sagte er, "wüßte ich selbst gern."
Alan, der sich bislang in einer beobachtenden Position am wohlsten gefühlt hatte, verlor allmählich auch die Geduld. Der Kerl war ja zum Fürchten! Da stand er blasiert wie ein englischer Butler mit seinen lachhaften spitzen Ohren vor ihnen und erklärte in aller Seelenruhe, daß er ihnen zwar allerhand mitzuteilen hätte, aber nebenbei leider grundsätzlich ahnungslos sei!
"Was, bitte, haben Sie uns dann Weltbewegendes zu berichten, wenn Sie gar nichts wissen?" ereiferte er sich.
"Darf ich Ihnen versichern, daß Sie ein völlig falsches Bild von meiner Person haben, Mr. Carter. Ich weiß im Gegenteil viel mehr als nichts, es sei denn, Sie meinen es im philosophischen Sinn - und selbst da ist die Aussage ein klassisches Paradoxon (6). Immerhin weiß ich genug, um meinen Auftrag ausführen zu können, und dieser lautet, Ihnen darzulegen, daß Sie Ihre Schulden zu begleichen haben, um wieder in Ihr eigenes Universum zurückkehren zu können."
"Wie steht's mit Naturalien?" frage John mit einem Anflug von Hoffnung, obwohl es ihm fragwürdig schien, ob die Basis einen derartigen Kahlschlag überhaupt verschmerzen könnte. Doch wenigstens wäre der Mond frei.
Der Fremde aber verneinte ohnedies.
"Die Rechnung lautet auf 16.4 Milliarden Pfund Sterling. Soweit ich weiß, werden 20-Pfund Noten aus dem Jahr 1952 bevorzugt."
"Aber was geschieht, wenn wir nicht bezahlen können?"
"In diesem Fall," war die Antwort, "müssen Sie den Weg aus dem Unkontinuum selbst finden. Gelingt dies nicht, dann wird Ihre Basis für alle Zeiten hier festsitzen."
John dachte an die gähnende Leere, die den Mond in alle Richtungen umgab, und es wurde ihm mulmig zumute.
"Das ist alles? Keinen Hinweis darauf, wonach wir suchen müssen?" Wieder schüttelte er den Kopf und drückte sein Bedauern aus, nicht hilfreicher sein zu können.
Er hob eine Hand und spreizte die Finger, so daß ein von Zeige- und Mittelfinger einerseits und von Ring- und kleinem Finger andererseits gebildetes "V" entstand.
"Es bleibt mir nur, Ihnen Erfolg bei Ihren Unternehmungen zu wünschen. Friede und langes Leben." Noch während seiner letzten Worte verblaßte er , als blendete ihn jemand aus dem Geschehen aus. John wollte ihn packen und zurückhalten, denn aus seiner Warte war das Gespräch längst nicht beendet, und er hoffte, dem Fremden noch jede Menge Information entlocken zu können - vielleicht bisher nur den falschen "Fragemodus'" verwendet zu haben. Doch er griff ins Leere, der Mann war bereits nicht mehr faßbar.
Mit langen Gesichtern mußten sie zusehen, wie er sich, ihnen das ausdruckslose Gesicht nach wie vor zugewandt, vollends auflöste.
Mobile Vulgus - sprich: Der Mob |
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Im nächsten Augenblick bemerkten sie, wie unvermittelt nach Art des Unbekannten Personen auftauchten, aus dem Nichts materialisierten und sich plötzlich an den Tischen sitzend fanden, am Kamin stehend, als hätten sie sich von jeher dort befunden, und sie ließen sich in ihrer Unterhaltung nicht etwa aus der Fassung bringen, daß sie wenige Sekunden früher nicht vorhanden gewesen waren. Geräusche erklangen, menschliche Stimmen, ein Lachen, und von irgendwoher war dezent ein schubertianisches Streichquartett zu hören. Die Luft roch nach Pfeifenrauch und Parfum und ein wenig nach brennendem Holz.
Ein Kellner trat an die drei heran und bat sie, ihm zu folgen. Er geleitete sie an einen leerstehenden Tisch und überließ sie dann sich selbst. Wenig später trat der Ober mit einem Tablett hinzu und stellte vor Helena einen Martini ab, vor John ein Achtel Weißwein, und Alan bekam ein großes Glas Bier.
"Mit besten Empfehlungen des Hauses," ließ er verlauten, ehe auch er davoneilte.
"Heißt das, wir brauchen das Getränk nicht zu bezahlen?" brummte John, "Keine Angst, den Versuch hätten wir sowieso nicht gemacht."
Sie sahen sich um und bemerkten erst jetzt, daß sie inmitten dieser durchaus bevölkerten Runde offensichtlich nicht ganz passend gekleidet waren. Die übrigen Gäste trugen elegante Abendgarderobe, Dinnerjackets die Männer und die Frauen Abendkleider. Hier fand sich eine Ansammlung von blinkenden und schimmernden Exemplaren der Hautevolee, und es war schon offensichtlich, daß man mindestens Finanzhai sein mußte, um seinen Fuß in diese illustre Halle setzen zu dürfen.
Oder natürlich Frau eines Finanzhais.
Und tatsächlich übertrumpfte sich auch die Weiblichkeit gegenseitig eifrig mit ihren stofflichen Kreationen und schmückendem Aufputz. - Allerdings fanden sich zwischen den Jungen und Schönen auch etliche Damen, die ihren Begleitern trotz allen Aufwandes nicht gerade zur Zierde gereichten, wachsgelbe, aufgedunsene Matronen mit monumentalen Vorbauten und schauderlichen, blauen Lockenpyramiden - wobei anscheinend genau jene von nachtfinsterster Häßlichkeit auch die gewaltigsten Geschmeide wie Kuhketten um ihre Hälse trugen (vielleicht vom weisen Pendant als Ablenkung vom abschreckenden Äußeren gedacht).
Doch auch unter den Herren gab es neben braungebrannten Lebemännern und zahnblitzenden Beaus so manchen feisten Alten, dessen roter Kopf tränenden Auges aus dem zu engen Kragen hervorquoll, als stünde er bereits unter explosivem Dampfdruck und ein Windhauch genügte, um unter der illustren Runde mittels Detonation ein gewaltiges Desaster anzurichten. Alan schlug allen Ernstes vor, doch einmal die Sprengkraft eines solchen Dampfkochtopfs auszurechnen.
Insgesamt aber war die Situation wenig erbaulich, die Alphaner sahen sich nämlich plötzlich zu Schaustücken umfunktioniert, waren wie die Affen im Käfig, oder wie struppige, halbnackte und kaum intelligente Steinzeitmenschen, die mitten in eine Aida-Vorstellung hineingeplatzt waren - also ungefähr so willkommen wie Flöhe oder Steuereintreiber. Was in etwa dasselbe ist, weil bekanntlich beide Spezies zur Gruppe der Blutsauger gehören.
Es zeigte sich, daß besonders die Damenwelt den Flöhen in ihren Pelzen (zumeist Nerz oder Zobel) nicht das geringste abgewinnen konnten und sich deswegen in eine Stimmung heftigen Beleidigtseins zwingen mußten, was zu bewerkstelligen war, indem sie geübt die Augen verdrehten und nach der Luft rangen, die ihnen die drei verkommenen Subjekte vor ihren Nasen wegatmeten. Ein rothaariges Frauenzimmer in schwarzem Cocktailkleid mit Jadeschmuck und aufgetürmter Frisur, das sich in einer benachbarten Sitzgruppe installiert hatte, trieb es gar toll und verstand sich in der Kunst des Aufwiegelns, indem es lauthals abfällige Bemerkungen über das Gesindel machte, das sich neuerdings in nichtstandesgemäße Etablissements verirre, und wollte auch wissen, ob man nun vielleicht als Mitglied der besseren Gesellschaft zuhause bleiben müsse, um von einem solch gewöhnlichen Anblick verschont zu werden.
"Ich werde den Verdacht nicht los, daß wir hier nicht willkommen sind," bemerkte Helena nach einem Blick in die exaltierten Gesichter, "womöglich sollten wir lieber gehen."
"Nicht, ehe ich mein Bier ausgetrunken habe," sagte Alan, der ohne Standesdünkel aufgewachsen war, unbekümmert und prostete der Rothaarigen provokant zu, worauf sie augenblicklich an Empörung zu ersticken drohte. Einer ihrer Begleiter mußte die latent Ohnmächtige an die frische Luft hinausführen.
Nachdem auf diese Weise die Gefährlichkeit der verdorbenen Individuen (= Alphaner) erwiesen war, war es bald Zeit, einen Eklat in die Wege zu leiten, und Beschwerden wurden an die Kellner gerichtet, die aber bedauernd mit den Schultern zuckten und flüsternd kundtaten, daß sie keinerlei Handhabe hätten.
Nun sollte man annehmen, daß ein solcher Affront gegen den guten Geschmack die Gäste dazu veranließ, das Weite zu suchen, doch erstaunlicherweise blieben alle, selbst die rote Hysterische kam wieder herein und schoß im Vorbeigehen einen verächtlichen Blick aus grünen Augen auf den Pöbel ab.
Alan lehnte sich bequem in seinem Sessel zurück, während Helena steif auf der Kante des Kanapees neben John saß und an ihrem Martini nippte.
John selbst nahm wie Alan die Angelegenheit nicht weiter tragisch, vielleicht, weil die beiden Männer sich nicht gänzlich darüber im klaren waren, was das gehässige Mundwerk eines furiosen Weibsbildes auszurichten imstande war.
Helena dagegen zweifelte nicht daran, daß die Macht mancher nörgelnden Ehefrau weit genug reichte, um ihren sonst in diesen Dingen eher trägen Gespons dazu zu veranlassen, ebenfalls in Empörung zu verfallen und, derart in Fahrt gebracht, den Störfaktor, also John, Alan und sie, mit Brachialgewalt aus dem Ambiente zu entfernen. Und ihr war durchaus bekannt, daß hinter jeder vornehmen Fassade ein Grobian mit rauhem und gewöhnlichem Charakter stecken konnte, der die Gelegenheit begrüßte, vor seinen Freunden mit roher Gewalt protzen zu können. Anders gesagt, sie befürchtete Lynchjustiz, und sie sah sich und ihre beiden Begleiter schon als unfreiwillige Hauptakteure in einer Flugshow, die ganz sicher nicht amüsant war - zumindest nicht für jene, die als Flugschüler fungieren mußten. Alans Vorschlag, doch auf Kosten des Hauses auch noch etwas zu essen zu bestellen, stieß bei ihr daher auf wenig Gegenliebe, obwohl sie genauso hungrig war wie der Adlerpilot.
Doch plötzlich stieg ihr der Martini zu Kopf, als hätte sie davon literweise getrunken, und ihr wurde schwummerig vor Augen. Das durchdringende Unbehagen machte einem Gefühl der Gleichgültigkeit, mehr noch, der Geringschätzung ihrer versnobten Umwelt gegenüber Platz, und sie blinzelte verdattert in die von glitzerndem Licht dominierte Umgebung. Die Fremden wurden zu einer bunten lebenden Tapete, einer Masse bornierter, ahnungsloser Wesen, denen sie haushoch überlegen war, denn sie war wissend und stark. Was lag näher, als ihnen ihre Rückständigkeit und ihre dumme Arroganz auf den Kopf zuzusagen?
Sie stieg siegessicher auf das fragile Couchtischchen, das unter ihrem Gewicht bedenklich zu ächzen anfing.
"Liebe Gäste!" schrie sie von ihrem labilen Podest auf die konsternierten Anwesenden herab. "Ich will euch ja nicht den Abend verderben, aber wie kommt ihr bloß auf die Idee, daß euer großspuriges Treiben und eure protzigen Aktivitäten in irgendeiner Weise relevant für den Lauf der Welt sind? Ihr seid der Meinung, die Krone der Schöpfung zu sein, die Quintessenz allen intelligenten Lebens, aber in Wirklichkeit habt ihr keine Ahnung von dem Gefüge, das das Universum zusammenhält. Ihr sitzt hier und suhlt euch im Materialismus der angeblichen Realität, wißt aber gleichzeitig nicht, was sich allein in dem Glas Whiskey dort abspielt! Monster, sage ich euch! Die Welt ist voller Schrecken, voller abstruser Ungeheuerlichkeiten - UND ICH HABE SIE GESEHEN!" Sie beugte sich hinunter, packte mit halb akrobatischem Geschick Alan, der sie offenen Mundes anstarrte, am Kragen und zog ihn hoch. "Und der auch! Ganz zu schweigen von meinem Commander! Wir haben die Welt gesehen, wie sie wirklich ist, und ich kann es euch versichern, sie besteht nicht aus Dollars und Rolls Royce und Anzügen und Kleidern und lackierten Nägeln und ... Alan..." Sie sah ihn mit blitzenden Augen herausfordernd an.
"... Krawatten..." sagte er in Ermangelung eines besseren Vorschlags, und weil er noch immer wie ein gewürgter Truthahn in ihrem Griff hing.
"Sehr richtig! Krawatten! Die hätte ich fast vergessen! Die Krawatten sind das schlimmste Übel aller Zeiten, die rücksichtsloseste Erfindung seit Menschengedenken, denn sie schnüren ihren Trägern die Blutzufuhr zum Gehirn ab, und diese laufen alle mit blutleerem Oberstübchen in der Gegend herum und erfinden Dinge wie das Patriarchat und die Enthaarungscreme - Sachen, die natürlich nicht funktionieren, weil sie nicht ins Konzept der Allmacht passen! Ich meine, würde sich Gott die Beine enthaaren?" Daß ihre Argumentation der Logik den Krieg erklärt hatte, schien sie nicht weiter zu stören, und flugs schüttelte sie eine passende Theorie aus dem Ärmel. "Ja, werdet ihr sagen, das Patriarchat existiert schon länger als die Krawatte, aber hätte es die Krawatte zu der Zeit bereits gegeben, dann hätte der Erfinder sie zweifelsohne auch getragen, und das macht ihn zum potentiellen Schlipsträger. - Die Gesinnung, die Krawattenmentalität allein dreht ihm schon die Blutversorgung zum Gehirn ab, auch wenn er mit einem Dekolleté bis zum Bauchnabel durch seine Höhle hüpft!" Enthemmt und entrückt schleuderte sie einen flammenden Appell nach dem anderen auf ihr verärgertes Publikum, und sie beschwor den Nonkonformismus, die Toleranz und Ali Babas 40 Räuber. Wie sich jene in ihre Rede hatten verirren können, war ihr selbst nicht ganz klar, und dies war auch Anlaß für sie, flüchtig zu bemerken, daß irgend etwas nicht stimmte, aber sie war unfähig, sich zu bremsen und den Mund zu halten.
Auch Alan schwirrte der Kopf, und anfangs beklagte er nur im stillen sein hohes Alter, das für einen derart bestürzenden Mangel, die Alkoholtoleranz betreffend, verantwortlich war, dann versank er entgeistert im Anblick der Chefärztin, folgte ihrer plötzlichen Logorrhö, dem wirren Geschwätz, das so gar nicht zur kühlen, rationellen Denkerin passen wollte, ließ sich sogar wehrlos von ihr halb zu Tode würgen, und alles verschwand hinter einem seltsamen Dunst, der offenbar dazu in der Lage war, Schall und Licht und drohende Frauenzimmer zu dämpfen und auf ein spartanisches Minimum zu reduzieren. Als Helena ihn wieder freigab, sank er auf seinen Platz zurück und schaute ein wenig phlegmatisch abwechselnd in sein Glas und auf die expressive und losgelöste Chefärztin, während sich in ihm der vage Verdacht regte, daß das Getränk nicht NUR Alkohol enthielt und daß es sie alle mit seinen Klauen umklammerte.
Helena, die auf dem Tischchen stand und Reden schwang, schien ihm schon unglaubwürdig genug, aber John war kaum wiederzuerkennen. Der Wein - oder was immer - war offensichtlich mit Pauken und Trompeten in seinem Kopf einmarschiert und hatte dort von obskuren Einzelkomponenten Besitz ergriffen, unter denen auch ganz zweifellos das Limbische System war, und ihn dazu gebracht, sich eine Rose zwischen die Zähne zu klemmen und, so gewappnet, mit heftigem Augenbrauenspiel vor der Damenwelt auf- und abzuflanieren, so daß selbst Don Juan und Casanova persönlich ob der Posen und der herrlichen Gestik vor Neid erblaßt wären.
Alan dachte sich, daß es angebracht wäre, nun bald etwas zu unternehmen, da er anscheinend der einzige war, der merkte, was vor sich ging, doch trotz der einhellig negativen, wenn auch noch unschlüssigen Reaktion des Publikums war nicht mehr als der Wille einzuschreiten vorhanden, und es kam noch schlimmer, weil das komische Schwirren in seinem Kopf immer stärker wurde und ihm unmißverständlich klarmachte, daß er sehr bald selbst für nichts mehr würde garantieren können.
In dem Augenblick entdeckte Helena Johns kühne Anstrengungen zur Betörung, die zu seinem Pech nicht ihr galten, und eine heftige, durch innige Empörung ihrerseits hervorgerufene, Bewegung sorgte dafür, daß der ohnehin labile Tisch kippte, und mit einem Poltern verschwand sie von der Bildfläche.
Alan ergriff reflexartig mit einer Hand das Tischchen und stellte es wieder auf. Etwas apathisch reckte er sodann den Hals und sah, wie Helena nach einer Weile wieder, gänzlich desorientiert, in Erscheinung trat und, am Boden sitzend, einen Ellbogen auf den Tisch und das Kinn in die Hand stützte. Zu guter Letzt schnaufte sie überfordert. Das Haar fiel ihr vors Gesicht, und in Anbetracht dessen verspürte Alan plötzlich, von einer köstlichen Stimmung übermannt, den dringenden Wunsch, sich dieser güldenen Haarpracht zu bemächtigen, die da so kokett schimmerte und neckisch glänzte, und er erhob sich als frischgebackener Haarfetischist mit dem fixen Vorhaben, diesem coiffeurierten Meisterwerk, koste es, was es wolle, zuleibe zu rücken.
Gleichzeitig aber steckte John von einem Konkurrenten, einem jugendlichen Liebhaber im handlichen Schrankformat, dessen Anwesenheit ihm schlicht entgangen war, einen fürchterlichen Schlag aufs Kinn ein, der ihn rückwärtig niederstreckte, und er landete prompt auf seinen beiden Freunden, gerade, als Alan die Finger wie Greifer ausgefahren hatte, um Helena ein gehöriges Büschel Haare auszureißen. In kunterbuntem Durcheinander knäuelten sie zu Boden, und als sie sich entwirrt hatten, war der Zauber des magischen Trankes völlig verflogen.
Alan schaute verblüfft auf Helenas Kopf, der mehr nach Kraut, Rüben & Co. aussah, als nach der frisierten Handschrift eines meisterhaften Figaros. Er rieb sich die Augen, von seinen Fähigkeiten zur Halluzination schwer beeindruckt, während Helena und John unter Entwicklung einer entsprechend entsetzten Miene die Erkenntnis übermannte, wo sie sich eigentlich aufhielten und mit welchen amüsanten Tätigkeiten sie zu ihrer Erbauung hatten beitragen wollen.
Helena fuhr sich schamesrot durch das Tohuwabohu am Kopf, dieses vermeintlich wieder in Ordnung bringend, und erkundigte sich flüsternd, ob jemand wüßte, wie man sich in Luft auflösen könne, aber pronto, sie würde nämlich gerne davon Gebrauch machen.
John schüttete, den Schmerz überwindend, den letzten Rest seines Getränkes, das vom Tischsturz verschont geblieben war, weil es neben dem Sofa auf einem Beistelltischchen gestanden war, in die Tieffenbachie daneben, und sie begann sofort, bedenklich zu schaukeln und zu schwanken, dann streckte sie, wie vom Blitz getroffen, alle Blätter von sich und stürzte im selben Moment ermattet um, so daß sie welk zu Johns linker Seite auf der Armlehne des Sofas lag und gelegentlich mit ihrer Blattkrone hilflose, schnappende Bewegungen in seine Richtung unternahm.
"Ein Aphrodisiakum, das sogar bei Pflanzen wirkt," sagte John sichtlich erschüttert und beträchtlich mitgenommen von der Niedertracht ihres geheimnisvollen Gegners.
Sie blickten sich um und sahen entsetzt, wie sich die geschmückte, garnierte und verzierte noblesse noblige nunmehr drohend um sie zu scharen begann, und plötzlich machten die Personen gar keinen noblen Eindruck mehr, denn mit einem Mal begannen sie, sich auf furchtbare Weise zu verwandeln, indem sie nämlich aus ihren Abendkleidern und Fräcken quollen, und da wurden haarige Schenkel inmitten des zerrissenen feinen Zwirns frei, Krallenhände und -füße zerfransten Handschuhe und ledernes Schuhwerk, Perlen aus zerissenen Ketten kullerten zu Boden, und Augen glühten wie Kohlenbecken aus verzerrten Fratzen. Aus der vornehmen Gesellschaft wurde eine Meute von gefährlichen Ungeheuern, deren Mienen keinen Zweifel daran ließen, was sie mit den Alphanern zu tun gedachten.
Ein stampfendes, grauenerregendes
Grollen erfüllte die Halle, Wohlgeruch und angenehmes Ambiente verschwanden
zugunsten eines Schwefelgestanks und eines drohenden, blutroten Halbdunkels. Und
dann lag ein Sirren in der Luft, wie von einem Geigenbogen, der über einen zum
Zerreißen gespannten Nerv strich. Es war die pure Angst, und sie fuhr
den dreien durch Mark und Bein. Wie gelähmt starrten sie auf die drohenden,
übergroßen
Gestalten mit ihren sprießenden, drahtigen Haargeflechten und gebogenen Hörnern,
die aus den Stirnen wuchsen, und sahen nur noch Mäuler mit Reißzähnen,
von denen gelber Geifer tropfte, während sich der Ring sich um sie bereits bedenklich
verkleinerte.
Mit einem Grölen aus kollektiven Kehlen stürzten
sie sich klobig und behäbig auf die wehrlosen
Menschen.
"Jetzt heißt's ruhig Blut," brach Alan endlich den Bann, und er erhob sich, im Aufstehen die Schwerfälligkeit der riesigen Monster taxierend, um sich sodann blitzschnell mit einem Hechtsprung mitten durch den Mob zu retten - dicht gefolgt von Helena und John, die, wie auch der Adlerpilot, auffallend wenig Wert auf einen würdigen Abgang legten.
Die manipulierte Energie des Zufalls sammelte sich bereits, summierte sich und schickte sich an, in Wellen zu Kontingenten zusammenzufließen, die irgendwann mächtig und kräftig genug waren, um jedes nur erdenkliche Unheil zu bewirken.
Fußnoten |
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1)
Tatsächlich sollte
sich nachher herausstellen, daß Tony nicht nur eine Sprühdose gefunden hatte
sondern auch ein "Transparent", nämlich den roten Vorhang im Festsaal, auf dem
dann in Schwarz und leicht verwackelt zu lesen war: TOD ALLEN KUHGLOCKEN! -
bezogen auf Tonys Anliegen eine wahrhaft schlagkräftige Parole!!
2)
Selbstverständlich war es der Jüngling, der Gas gab und nicht der Kinnriemen, obwohl
gelegentlich schon einmal der Fall eintritt, da von Rechts wegen der Kinnriemen
aus Gründen der überlegenen Intelligenz Gas geben müßte und nicht der Jüngling.
Da allerdings das Verkehrsrecht keine wie auch geartete Inbetriebnahme eines
Motorrollers durch einen Kinnriemen vorsieht, wäre es niemandem anzuraten, sich
von einer Polizeistreife dabei erwischen zu lassen, daß man sich von seinem
Kinnriemen auf einer Vespa spazierenfahren läßt.
3)
Es liegt nahe zu vermuten,
daß der Auftraggeber zur Formulierung seines ohnehin dubiosen Anliegens ein
Fremdwörterlexikon zu Rate gezogen hat. Ebenso nahe liegt es anzunehmen, daß er,
von der Fülle der fremdartigen Ausdrücke überwältigt, sein eigentliches Ziel
etwas aus den Augen verloren hat und daß darum keiner den Anlaß, der am Ende auf
der Einladung gelandet ist, ernst nehmen sollte.
Wegen ihres Fußnotendaseins können diese Erkenntnisse den Alphanern dummerweise nicht nähergebracht werden.
4)
Man sollte meinen, daß jede bessere Adler-Ausschank mit
mehreren Litern Tee ausgestattet ist, aber vergessen wir nicht, daß diese
mehrere Liter Tee auch irgendwohin getrunken werden müssen. Die Tatsache, daß
man die Alphaner niemals - und schon gar nicht im Adler - ein gewisses
Stoffwechselinstitut aufsuchen sieht, fordert geradezu die Annahme heraus, daß
ein solches, insbesondere in den Raumschiffen, überhaupt nicht existiert, und
daher in weiser Voraussicht auf die Möglichkeit, große Flüssigkeitsmengen zu
konsumieren, verzichtet wird. Schließlich kann man ja nicht einfach an einer
Raststätte anhalten!
In diesem Fall aber ist die mangelnde Verfügbarkeit von Tee lediglich dem Umstand zuzuschreiben, daß auf Alpha die Vorräte zu Ende gegangen waren und man die neue Tee-Ernte noch nicht eingebracht hatte.
5)
Frisch geputzt, versteht sich!
6)
Freilich hatte er
vergessen, in Betracht zu ziehen, daß Sokrates´ Aussage um das Wissen, nichts zu
wissen, im Unkontinuum eine durchwegs akzeptable Äußerung darstellt, da man dort
ohne weiteres gleichzeitig alles und nichts wissen kann, ohne daß es je einem
Hahn einfiele, nach dem Widerspruch zu krähen.