Kapitel 3 |
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Excursus oder auch Tractatus |
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Das bekannteste Labyrinth stammt aus der griechischen Antike und war einst auf Kreta im Auftrag des König Minos gebaut worden. Der Konstrukteur Daidalus hatte darauf abgezielt, mittels seiner Erfindung den Minotaurus in Schach zu halten. In der Tat waren die Kreter ob der Effizienz voll des Lobes, und, abgesehen von ein paar Jungfrauen und Jünglingen, die dem Ungeheuer quasi als Beruhigungsmittel zum Fraß vorgeworfen wurden, existierte keine rechte Opposition gegen diese frühe Form der biologischen Schädlingsbekämpfung.
Seither erfüllt das Labyrinth den vom Erbauer erwünschten, vom darin Gefangenen dagegen verdammten Zweck: Es ist sozusagen der Prototyp eines jeden Amtsgebäudes und führt wie auch jenes dazu, daß der Unglückliche, hat er erst einmal unvorsichtigerweise einen Fuß hineingesetzt, unrettbar in die Konstruktion gesaugt wird und stante pede für einen nicht unerheblichen Zeitraum gleichsam in Luft aufgelöst und verschollen bleibt. Die Ursache liegt beim klassischen Labyrinth offensichtlich darin, daß es der Erfinder verabsäumt hat, im Inneren Hinweisschilder, Fundbüros und Polizeidienststellen einzuplanen. Beim Amtsgebäude verhält es sich dagegen genau umgekehrt, hier verschwindet regelmäßig ein Großteil der Weltbevölkerung, weil zu viele Informationen präsentiert werden, die normalerweise gegenteiligen Inhaltes sind und den Herumirrenden dazu veranlassen, wie auf unsichtbaren Ameisenstraßen Pfaden zu folgen, die ihn ständig im Kreis führen. Wer ist noch nicht auf der Suche nach dem Stillen Örtchen den verheißungsvollen WC-Schildchen vom ersten Stock über den Dachboden, durch etliche Lagerhallen (die nebenbei gar nicht zum Bürogebäude gehören), durch die streng antiseptische Abteilung eines Versuchslabors der Universität von Cambridge und durch den Keller eines Sprengstoffdepots mit mehrmaliger Ausweiskontrolle gefolgt, nur, um sich schließlich an seinem Ausgangspunkt wiederzufinden, natürlich ohne sich inzwischen - es sei denn durch Zweckentfremdung eines Aschenbechers - erleichtert zu haben?
Dies ist also die Natur des Labyrinths. Um wieder Tageslicht zu sehen, wofür in der Regel die Auffindung des Ausgangs unerläßlich ist, bedarf es einer gehörigen Portion Glück. Oder einer Spur Magie.
Oder einer Bombe.
Noch schwieriger verhält es sich mit Labyrinthen, die im Unkontinuum entstehen. Sie sind keine starren Strukturen, sie organisieren und desorganisieren sich selbst - stellen also ein reges Eigenleben zur Schau.
Sich aus einem solchen Irrgarten zu befreien, ist praktisch unmöglich. Man kann nur versuchen , seine Entstehung rechtzeitig zu verhindern.
Unglücklicherweise ist diese völlig unvorhersehbar, und der einzige Hinweis, den es als Ursache für sein plötzliches Erscheinen gibt, ist der einer raschen Verschiebung und der Ballung einer Unmenge von `Zufallsenergie´.
Als zum Beispiel ein kleiner Zauberer, eigentlich nichts als ein Trickkünstler, sich von einem Nachttopf, aus dem bunte Seifenblasen aufstiegen und der unmotiviert auf einem der Zuschauertische stand, ablenken ließ, da entfleuchte seinem Zylinder keine einzige der beabsichtigten blauen Tauben, wohl aber führte der lächerliche Vorfall dazu, daß sich die gesamte Mondbasis mit einem Ächzen des Schreckens in ein riesiges gartenähnliches Labyrinth verwandelte.
Labyrinth! |
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Sollte also nun ein zufälliger Beobachter seine Neugier auf die Mondbasis richten, dann sähe er ein sehr seltsames grün-graues Konglomerat , das die Reste der einstmaligen seriösen Bauten, die verzweigten, niedrigen Komplexe, duchwucherte, und wahrscheinlich müßte sich jenem Neugierigen der Vergleich einer Kleinstadt aufdrängen, die, von einer riesigen Baggerschaufel aufgenommen, hochgehoben und gestürzt und das Oberste zuunterst gekehrt worden war. Und ginge er näher heran, so könnte er nicht umhin festzustellen, daß da alles in Bewegung war, Gänge, Wege, Heckenwände, die sich herausmodellierten, Brücken, Tunnel und Bögen schoben sich aus einer undefinierbaren Materie zusammen, Liguster, Lebensbäume und Heckenröschen entsprangen aus dem Nichts, während Räume, Laboreinheiten, ja, ganze Sektionen in einem schaurigen, undurchdringlichen Dschungel verschwanden, sich wie der Blitz verwandelten und zu einem von Käfern und anderem Ungeziefer bewohnten Irrgarten wurden.
Was natürlich nicht heißt, daß auch diejenigen, die sich mitten in dem Chaos befanden, restlos erfaßten, was mit ihrer bislang treuen Zuflucht geschah.
Tony, zum Beispiel, war zunächst nicht einmal dazu in der Lage, die Situation grundsätzlich zur Kenntnis zu nehmen - was allerdings kein Wunder ist, denn er war über der spannenden und mitreißenden Lektüre wissenschaftstheoretischer Betrachtungen über Fluktuationen in der Quanten-Geometrodynamik eingeschlafen. Gnädigerweise hatte ihn der friedliche Schlummer eingeholt, noch ehe er feststellen konnte, daß diese Unterlagen nichts zu seiner Erleuchtung beitragen konnten - sozusagen also im Verlauf des ersten Absatzes.
Er lehnte schnarchend in seinem Couchsessel, um sich verstreute CD-Informationseinheiten und einen Stapel Bücher aus der Bibliothek, von denen ihm eines aufgeschlagen am Schoß lag, und er träumte von einem überdimensionalen Schaumbad, das eine festlich gekleidetete Gesellschaft als Tanzboden in Verwendung genommen hatte. Er selbst stand am Rand des Beckens, unbequem in einen schwarzen Abendanzug gezwängt und schaute dem seifenflockenfliegenden Treiben zu, während ein gebräunter Bademeister von seinem Hochsitz aus mittels Trillerpfeife die Tanzenden zu dirigieren suchte, wiewohl trotz aller zornesroter Anstrengungen seinerseits kein einziger Ton des Pfeifchens zu hören war. Tony begann, sich gerade zu fragen, wozu er als einziger wie ein Möbelstück in der Gegend herumstehen müsse, als Maya in einem grünen Ballkleid und atemberaubend schön auf ihn zuschwebte, ihn bei der Hand packte und ihn über die Fliesentreppe in die wirbelnden Schaumberge hinabzog.
Die Band spielte einen Walzer, und er warf sich entzückt in Pose, um seine Qualitäten als göttlicher Tänzer zu demonstrieren. Doch irgend etwas schien ausgerechnet mit seinen Schuhen nicht zu stimmen - er glitt und rutschte über den seifigen Boden, als hätte er in seinem Leben keinen Tanzkurs absolviert, der Schaum geriet ihm ins Gesicht, brannte ihm in den Augen - schmeckte aber nicht im entferntesten nach Seife!
Und im selben Moment war ihm klar, daß er es hier mit Quantenschaum zu tun hatte, der voller Wurmlöcher war, und am Beckenrand standen grinsend Penrose und Wheeler, die schadenfroh mit riesengroßen Schneebesen den Schaum schlugen.
Er schrie entsetzt, als die Wurmlöcher aus der amorphen Masse hervorquollen, im Herausstülpen an Schwärze und Größe zunahmen, gierig bestrebt, ihn sich schnell einzuverleiben, und jäh fand er sich in seinem Quartier wieder, schwitzend und mit einer Herzfrequenz von mindestens 300 km/h.
Überwältigt vor Erleichterung, seinem Alptraum entkommen zu sein - und ahnungslos, daß er sich längst in einem neuen aufhielt, räumte er die Unterlagen beiseite und versuchte via Commlock, Maya zu erreichen, die, wie er vermutete, in der Bibliothek hängengeblieben war.
Doch sie meldete sich nicht.
Statt dessen tauchte auf dem kleinen Bildschirm eine flotte Blondine auf, die auf jeden Fall NICHT zum üblichen lebenden Inventar auf der Basis gehörte.
Sie erkundigte sich, ob er denn aus dem Stegreif sagen könne, wieviel 7x6 sei.
"Selbstverständlich weiß ich, wieviel 7x6 ist," entgegnete er empört und schloß die Bemerkung an, daß er höchst dankbar dafür wäre, wenn sie ihm erläuterte, was sie denn in seinem Commlock suche. Sie ignorierte dies und erklärte, daß die Frage, wieviel 7x6 sei, wohl von äußerster Wichtigkeit sein müsse, weil noch jeder, den sie bisher befragt habe, davon überzeugt gewesen sei, die Antwort zu kennen, wohingegen es noch keinem gelungen sei, lächerlich einfach, die Farbe ihres Kleides richtig zu bestimmen. Da sie ihm in Schwarzweiß erschien, griff sich Tony an den Kopf und schaltete vorsichtshalber das Gerät schnell wieder aus.
Er verließ sein Quartier in der Absicht, Maya in der Bibliothek aufzusuchen. Im Gang an der nächsten Kreuzung fiel ihm plötzlich ein, daß er die Unterlagen genauso gut wieder zurücktragen könne, und er machte kehrt, um die Bücher und CD-Roms zu holen.
Als er durch die Tür trat, breitete sich vor seinen Augen weniger seine etwas unordentliche Unterkunft als vielmehr die Kantine aus, die nun wirklich keinerlei Ähnlichkeiten mit dem erwarteten Raum aufzuweisen hatte.
Reichlich verwundert schaute Tony sich um und sah als einzige Anwesende Sandra, die ein wenig schläfrig an einem der Tische saß und auf ein Dutzend akrobatisch tätiger Obststücke starrte, die sich in Salti, Pyramidenbau und fünffachem Rittberger verstanden.
Tonys Erschütterung machte einen recht eindrucksvollen Sprung in nicht mehr meßbare Bereiche, und er fragte Sandra, was denn bitte jetzt wieder vorgehe. Sie blickte ihn seufzend an und ließ ihn wissen, daß sie genauso wenig Ahnung habe wie er, weil sie nämlich schon seit einer guten halben Stunde vor Ort festsitze und daß die Intercom-Systeme zwar funktionierten, aber nicht gerade erwartungsgemäß, denn alles, was geschehe, sei das Erscheinen einer strohdummen, blonden Person, die sich wunderte, wieso keiner die Farbe ihres Kleides feststellen könne, und dies, wo sie sich weigerte, das zu identifizierende Objekt ins Bild zu rücken. Sie erzählte, wiederholt versucht zu haben, die Farbe zu erraten, damit die Blondine die Kommunikationskanäle wieder freigab, aber umsonst, und schön langsam glaube sie, daß der einzige Zweck der Übung darin bestehe, die Alphaner daran zu hindern, miteinander in Verbindung zu treten.
Tony gab ihr recht und setzte sich zu ihr, während er eine Orange aus der Formation der Artistenriege herausfischte und damit den beeindruckend hohen Turm zum Einsturz brachte. Er schälte die Frucht und verspeiste sie genüßlich.
Sandra demonstrierte ihm, was sie zuvor mit `festsitzen´ gemeint hatte und verließ die Kantine. Einen Augenblick später stand sie wie teleportiert wieder vor ihm. Sie überlegten, welche anderen Möglichkeiten sie noch hätten, und Tony schlug vor, einen gemeinsamen Abgang zu versuchen. Zu ihrer beider Überraschung funktionierte es. Sie befanden sich in einem Korridor, der keinerlei Besonderheiten aufwies, außer vielleicht der, daß er vorher noch nicht da gewesen war und sich überdies plötzlich fünfteilte. Sie kamen überein, sich zu trennen, denn so hätten sie vermutlich mehr Chancen, die Kommandozentrale zu finden. Tony nahm die linke Abzweigung und stieß nach gut drei Minuten endlich auf Maya.
Vielleicht sollte man erwähnen, daß sie von der Decke hing - oder vielmehr auf der Decke entlang ging und nun sehr erstaunt stehenblieb.
"Ich habe mich schon gewundert, seit wann wir eine derart unpraktische Bodenbeleuchtung haben," sagte sie und spazierte an der Wand herab, bis sie nach nochmaliger 90grädiger Wende neben dem Chef des Sicherheitsdienstes stand.
"Was, denkst du, geht hier vor?"
"Ein äußerst seltsames Phänomen," erwiderte sie, " daß es natürlich entstanden ist, glaube ich genauso wenig wie jeder andere auf Alpha. Ich denke, daß sich jemand die Zeitlosigkeit dieses Ortes - oder `Unortes´ zunutze macht, den Umstand, daß hier die Kausalität wahrscheinlich nicht zwangsläufig ist. Ehrlich gesagt, ich kann auch nur wenig mehr als raten und höchst vage Thesen aufstellen, die ich nicht ganz verstehen und schon gar nicht erklären kann. Feststeht allerdings, daß da jemand ist, der etwas von uns will, jemand, der womöglich gerade dabei ist, Alan, Helena und dem Commander zuzusetzen und dabei aufgrund eines mangelnden Kooperationswillens der drei die Basis strafhalber verändert und verwandelt. Womit sonst könnte er sie wohl unter Druck setzen?"
Tony nickte.
Seit einer geraumen - subjektiven - Weile hatten sie nichts mehr von dem Erkundungsteam gehört, exakt seit dem Augenblick nämlich, als der Adler durch den Triumphbogen geflogen war und jener sofort zusammengebrochen war und sich in einem funkelnden Feuerwerk aufgelöst hatte.
Sie waren während des Gesprächs weitergegangen und standen nach der nächsten Biegung auf einmal mitten im Freien, vor sich einen engen, geschlängelten Weg zwischen hohen, zurechtgestutzten Holunder-, Wacholder- und Haselnußstauden. Die Sonne schien ihnen von einem blauen Himmel aus ins Gesicht.
Hinter ihnen war der Korridor verschwunden.
"Na, ob wir auf diesem Weg die Kommandozentrale finden, erscheint mir höchst fragwürdig," bemerkte Tony, von leichter Mutlosigkeit heimgesucht.
"Ausschau halten müssen wir jedenfalls," sprach Maya ein wahres Wort, und er folgte ihr ergeben durch das Gartenlabyrinth, begegnete Hagebuttensträuchern, blühendem Flieder und blieb alle nasenlang an stacheligen Brombeer- und Himbeerranken hängen.
Insgesamt also hatte sich die Situation auf dem Mond nicht gerade verbessert - wer sich auch nicht einen Irrgarten im Vakuum des Alls vorstellen kann, weiß, in welcher Klemme die Alphaner tatsächlich steckten.
In der Botanik |
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Unvermittelt fand sich Helena in einer
kargen Landschaft wieder. Ihr Herz raste von den Schrecken, die sie verfolgt
hatten, doch schnell sah sie, daß sie diese, mit allem anderen,
zurückgelassen hatte, und langsam beruhigte sie sich.
Niedrige, zerzauste Büsche, die sie aufgrund ihrer
mangelnden pflanzenkundlichen Kenntnisse nicht identifizieren konnte, umgaben
sie auf weiter Flur, steinige, mit derbem Gras versehene, flache Hügel breiteten
sich unter schimmerndem Sonnenlicht in alle Richtungen aus.
Es war windig, aber zum Glück nicht kalt, und sie verspürte plötzlich ein, in Anbetracht der vergangenen Erlebnisse sehr erstaunliches, körperliches Wohlbefinden.
Sie blickte sich nach ihren Begleitern um, doch keiner von ihnen war da. Abgesehen von einem Vogel, vielleicht einem Bussard, der auf der Suche nach seinem Frühstück am Himmel kreiste, schien sie das einzige lebende Wesen an diesem Ort zu sein. Unschlüssig folgte sie einem mit grobem Kies versehenen Weg um die nächste Kurve und rief wiederholt nach John und Alan. Als sie noch keine Antwort erhielt, setzte sie sich am Wegrand hin, und ein alles umfassendes Gefühl, völlig verlassen zu sein, ergriff sie. Sie schluckte heftig.
Da hörte sie knirschende Schritte auf dem Kies, die sich ihr näherten, und froh, doch nicht allein zu sein, blickte sie der Person entgegen.
Eine in deftiges Rot gekleidete Frau kam hinter einem Strauch hervor. Helena sah sie verwundert an. Sie war riesig groß, mußte die Zwei-Meter-Marke beträchtlich überschreiten, und trug ein purpurnes Kleid, das an ihrer dürren Gestalt schlackerte und auf ihr hing wie ein Sack, der in der Mitte nachlässig zusammengeschnürt war. Der breitkrempige Hut, die hochhackigen Stöckelschuhe, auf denen sie unsicher daherstakelte und eine, wie alles andere, rote altmodische Handtasche, die ihr vom gebeugten Ellbogen herabbaumelte, paßten wie die Faust aufs Auge zur kantigen, herben Erscheinung, und auch die platinblonden Locken, die das stark geschminkte Gesicht umwallten, konnten nichts, aber auch gar nichts an der Tatsache retten, daß sie einst bei der himmlischen Verteilung in Sachen Schönheit schmählichst übergangen worden war.
Sie kämpfte sich auf kernigen Waden, beständig um ihr Gleichgewicht ringend, zu Helena vor, die sich fragte, warum sie die Schuhe nicht einfach auszog, wenn ihr Absätze und steiniger Untergrund eine adäquate Balance derart erschwerten. Schließlich aber stand sie vor ihr in der Sonne, und Helena blinzelte geblendet auf die Erscheinung.
Alan war noch intensiv mit der Sorge beschäftigt, ob die erboste Abendgesellschaft, die sich so unversehens in eine Horde geifernder Ungeheuer verwandelt hatte, sie denn einholen werde, und er rannte vor Helena und John durch den Haupteingang ins Freie. Einen Augenblick kam es ihm so vor, als machte er einen Schritt ins Leere, und während er sich noch darüber wunderte, stand er schon im hellichten Tageslicht, von Sonne durchdrungen, und er fühlte sich ausgesprochen gut. Hunger, Furcht und Müdigkeit waren verflogen. Weit und breit sah er keine Kreaturen der Finsternis mehr, die ihn als Snack verschlingen wollten, und er atmete froh durch. Da fiel ihm auf, daß nicht nur die Meute fehlte sondern auch Helena und John, und er machte sich in der erfrischenden, wenn auch etwas spärlichen, Natur auf die Suche nach ihnen.
Als er einige Schritte getan hatte, hörte er ein herzerweichendes Schluchzen, und schleunigst ging er dem nach. Die Quelle dessen war ein Mädchen, das mit wehendem, blonden Haar auf einem flachen Granitblock saß und weinte, was das Zeug hielt. Bäche von Tränen strömten ihm aus den Augen, doch als es ihn erblickte, drehte es unvermittelt die Schleusen zu und schaute ihn groß an.
"Was ist mit dir, Kleine?" fragte er sie mitfühlend, "Wieso weinst du?" Sie schob die Unterlippe vor und verkündete mit störrischer Stimme, daß sie durchaus keine Kleine sei, und besaß, während sie sich noch mit beiden Händen das Gesicht abtrocknete, obendrein die Unverfrorenheit, ihm mitzuteilen, daß sie überdies nicht weine, obgleich sie jeden Grund dazu hätte.
Alan, dem in der Sonne etwas warm war, mußte beim Anblick der kleinen, vor Entrüstung in Pose geworfenen Dame, laut lachen.
John hatte Helena, die dem flüchtigen Adlerpiloten nicht nachkam, an der Hand gepackt und zerrte sie, ihren Schmerzensschrei ignorierend, hinter sich her. Als er durch den offenen Eingang rannte, merkte er, wie sie ihm entrissen wurde. Er bremste sich ein, befürchtend, daß eines der Monster sie erwischt hatte und wandte sich um. Statt der gläsernen Schwingtür sah er hinter sich einen großen Heidelbeerstrauch, der in Anbetracht von Johns Ensetzen herablassend mit seinen Blättern raschelte.
John schloß ungläubig die Augen, um sie sodann wieder ruckartig aufzureißen. Tatsächlich, er stand da ganz allein in einer recht leeren Landschaft - nicht nur Helena, auch Alan war verschwunden.
Abgesehen davon jedoch fühlte er sich überaus gut. Er begab sich auf den Weg und hoffte, die Richtung einzuschlagen, die ihn nicht von seinen Freunden wegführte.
Er hörte Stimmen und sah gleichzeitig ein flackerndes Rot durch niedriges Blattwerk hindurch schimmern.
Helena hatte sich inzwischen erhoben, die rote Dame war tatsächlich viel größer als sie, und jetzt, da sie nicht mehr völlig von der Sonne geblendet wurde, kamen ihr die groben Züge in deren Gesicht irgendwie bekannt vor, ohne daß es ihr allerdings gelang, sie auch nur peripher einzuordnen.
Eine weitere Person gesellte sich zu ihnen und zog Helenas Aufmerksamkeit auf sich. Es war dies ein zweiter Riese, der ihr beträchtliche Angst einjagte, ein halbwilder, verwahrloster und stinkender Kerl einer Szene, die Universen von ihr entfernt war, ein im äußersten Maß herabgekommenes Exemplar der Gattung `Rocker´ mit schwarzer Mähne nämlich, zahllosen Ringen und Ketten in den Ohren und in der Nase und schmutzigen Bartstoppeln. Er hatte sich in seine verschlissene Lederjacke mit Totenkopfapplikationen geworfen und trug dazu eine speckig glänzende Nietenlederhose und Springerstiefel. Er schaukelte sich mit vorgeschobenem Becken näher und blieb dann, beide Daumen in die Gürtelschlaufen seiner Hose eingehängt, stehen.
"Jetzt heult sie wieder," wandte sich die rote Dame mit ihrer säuselnden Stimme tadelnd an den Wilden.
"Ist das mein Problem, daß der Knirps plärrt?"
"Und meines?" sagte die Riesin exaltiert, während sie in ihrer Handtasche herumkramte, schließlich ein weißes Spitzentaschentuch zutage förderte und es Helena gab. Der Rocker prustete gleichgültig, griff in das Innere seiner Jacke und holte eine Dose Bier hervor, die er anriß und sich deren Inhalt unter den staunenden Blicken der beiden anderen auf einen Sitz in den Hals schüttete. Es folgte ein zufriedenes Rülpsen in donnergrollendem Ausmaß und die rätselhafte Bemerkung, daß dieses Dosenbier allemal besser sei als der vornehme Wein, den man ihm zuvor aufgetischt habe.
"John??" sagte das Mädchen nach einer Weile blaß vor Schrecken.
"Kenn ich dich, kleiner Mistkäfer?" wollte er wissen.
"Also wirklich, diese Umgangsformen," regte sich die Frau manieriert auf, während sie den Sitz ihres Hutes überprüfte und die Bemerkung anfügte, daß sie nicht Willens sei, sich von der sengenden Sonne den Teint ruinieren zu lassen.
"Alan," heulte das Mädchen, und aus den Augen regnete es wieder in Strömen, "was ist denn nun wieder passiert, ich verstehe das nicht, wieso seid ihr so groß und seht so seltsam aus?" Die Riesen schauten einander an, und da sah John, daß Alan, erschrocken seine Handtasche umklammernd, in dem roten Kleid steckte, während Alan seinerseits in der grauenvollen Randexistenz seinen nunmehr bierbäuchigen, zahnlückigen und höchstwahrscheinlich auch noch verlausten Kommandanten erkannte.
Beide sahen sie, wie vor den Kopf gestoßen, auf das Mädchen herab, dem das Wasser inzwischen aus den Augen spritzte, als hätte es irgendwo im Inneren des Kopfes eine Flotte von vollautomatischen Geysiren eingebaut, die auf Knopfdruck Wasserfontänen zu speien begannen.
"Helena?" fragten beide ungläubig.
"Ja, wer, glaubt ihr, sollte ich sonst wohl sein?" heulte sie, "Eine Bergnymphe vielleicht?" John klärte sie - nicht gerade gefühlvoll - über ihren momentanen Zustand auf, während Alan, in einen kleinen Handspiegel blickend, das Rot seiner Lippen geziert auffrischte, und Helena dann mit einem abschätzenden Blick musterte.
"Ich hätte nicht gedacht, daß du als Kind eine solche Heulsuse gewesen bist," bemerkte er spitz.
"War ich auch nicht," erwiderte sie plätschernden Auges, "aber ich kann es nicht abstellen."
"Verfluchte - PIIIEEEEP!" Ein schriller Pfeifton übertönte die Hälfte von Johns leidenschaftlichem Kraftausdruck.
"Geschieht dir recht," meinte Alan im Falsett, "gewalttätige Schimpfworte werden hier offensichtlich zensuriert."
"Und was machen wir jetzt?" John bohrte nachdenklich in seiner Nase; angesichts dessen verdrehte Alan die Augen und schüttelte leidend den Kopf.
Helena hatte, zumindest kurzfristig, das Weinen eingestellt und gab dem unwiderstehlichen Zwang nach, auf einigen Felsblöcken herumzuklettern. Ihr blaues Röckchen flatterte im Wind, und das lange Haar wirbelte ihr ins Gesicht. Richtig, die Frisur war falsch, ebenso wie die Kleidung und die Größe - war es überhaupt noch sie, die in dieser Haut steckte? Bei jeder Gelegenheit stimmte sie eine sinnlose Tränenflut an und turnte auf Granitformationen herum - sie überprüfte schnell ein paar fachliche Kenntnisse. Zu ihrer Beruhigung war alles noch da, ihre Erinnerung auch - sie befand sich, was gewisse Aspekte anging, im emotionellen Kostüm eines Kindes, genauso, wie es Alan völlig natürlich vorkam, in Stöckelschuhen über unwegsames Gelände zu stolpern und in Gebaren eines Transvestiten zu kommunizieren, und schließlich, wie es John nicht auffiel, daß er ein ungehobelter Klotz geworden war, vor dem er sich unter normalen Bedingungen wahrscheinlich selbst erschreckt hätte.
Sie begab sich wieder zu den beiden und fragte sich beim Anblick des Commanders, der sich gerade ein weiteres Bier in den Rachen goß, wie sie nur jemals etwas an ihm hatte finden können. Zwischen zwei Schlücken wischte er sich den Mund mit der Hand ab und erklärte:
"Verdammter Mist, das ist ein be- PIIIEEEEPS- Zustand! Wir müssen das ändern! Wie zur Hölle sieht das aus, auf Alpha nimmt mich doch kein Mensch mehr ernst, wenn ich in dem Aufzug dort aufkreuze!"
"Wie wahr," lispelte Alan und faßte darauf Helena prüfend ins Auge. "Wenn du so weitermachst, wirst du als vertrocknete Mumie enden."
"Ich weiß," heulte sie, und eine ganze Kompanie von Tränenkugeln kullerte ihr im Gänsemarsch über die Wangen herab, "wenn ich 2% meines Körpergewichts in Form von Flüssigkeit verliere, dann sterbe ich! - Und ich bin, soweit ich sehen konnte, ein ausgesprochen dünnes Kind!" fügte sie nach einigen Augenblicken das Nachdenkens noch hinzu. Die erschütternde Erkenntnis war Anlaß für neuerliche Sturzbäche.
"Du solltest ihr etwas von deinem Bier abgeben - und im übrigen könnte ich auch einen Schluck vertragen." John fischte zwei neue Bierdosen aus seinem scheinbar unerschöpflichen Vorrat und warf sie den beiden zu.
Schon nach dem ersten Schluck war Helena kreuzübel.
"Ist wohl nichts für Kinder," sagte sie, während sie die Dose angewidert abstellte. "Also was machen wir jetzt?"
"Wir suchen den Kerl, der uns das alles eingebrockt hat, und den prügeln wir so lange windelweich, bis er aus mir wieder einen astreinen Commander macht und aus dir eine Puppe, mit der ich was anfangen kann - und Alan muß selbstverständlich das verdammte Tuntengehabe ablegen!" Alans Mundwinkel richteten sich synchron erdwärts.
"Mußt du so häßlich reden?" wollte er weinerlich wissen.
"Jetzt fang' du auch noch mit der Heulerei an! Reicht es denn nicht, wenn sie uns die Ohren vollplärrt? Verschwinden wir hier, bevor ich meine Geduld verliere!"
"Geduld? Wovon spricht der?" zankte der verwandelte Adlerpilot, während er, überspannt gestikulierend, hinter John herstöckelte, der seinen schaukelnden, wahrscheinlich hüftschädigenden aber dafür über alle Maßen lässigen Gang wiederaufgenommen hatte.
Helena sprang neben dem Weg umher und hielt nach Blumen, Käfern und Schmetterlingen Ausschau.
Sie gingen etwa zehn Minuten und alle schwiegen, John vornehmlich, weil er überlegte, ob es vertretbar wäre, noch ein Bier zu köpfen, Alan, weil ihm die Füße wehtaten und Helena, weil sie darüber nachdachte, wie es wohl wäre, mit einem Schmetterling auf und davon zu fliegen.
Ein rasselndes und stampfendes Geräusch, das immer lauter wurde, erklang, und bald darauf tauchte hinter dem nächsten kleinen Hügel ein wahrer Koloß von einem Unhold auf. Dieser überragte selbst John um einiges und machte, noch ehe sich ihre Wege kreuzten, bösartig brummende Geräusche in die Richtung des kuriosen Trios.
Helena verschwand schleunigst hinter John, an dem sie sich jetzt trotz aller üblen Gerüche völlig freiwillig festklammerte.
Der Hüne erreichte sie und blieb provokant mitten am Weg stehen. Er trug eine Lederrüstung, die nicht mehr neu - im Gegenteil, recht altgedient aussah, und einen verbeulten Helm ohne Visier. Seine Beine waren wie Pflöcke in den Boden gerammt, und er verschränkte die Arme vor der Brust. Eine großgliedrige Kette, die das Rasseln verursacht hatte, baumelte ihm aufgerollt von der rechten Schulter. Der schwarze Bart stand ihm wie Unkraut im Gesicht. Er grinste herausfordernd, obwohl er angesichts der Ruinensammlung, die sich in diesem Abgrund tummelte, wahrlich nichts zu lachen gehabt hätte.
"Laßt mich das machen," flüsterte Alan eifrig und trippelte auf den Koloß zu. "Mein Lieber," flötete er mit sich überschlagender Stimme frivol und fügte einen koketten Augenaufschlag hinzu, "können Sie mir sagen, ob wir auf dem richtigen Weg in den nächsten Ort sind? Wir sind nämlich" - er lachte gekünstelt - "irgendwie etwas verloren gegangen."
"Aus der Bahn, Mieze," knurrte sein Gegenüber und schob Alan mit einer Hand beiseite, "mit dem da rede ich!" Stampfenden Schrittes näherte er sich John, der ihm frech und zahnlückig ins Gesicht grinste.
"Dir ist wohl klar, daß ich den Kampf gewinne," vergewisserte sich der Dicke, "dich kleine Kröte zerquetsche ich mit der linken Hand!"
Er langte über die Schulter und zog - ein Tablett! hervor. "Meine Kampfkraft hat den höchsten überhaupt erreichbaren Wert - da hast du Floh nicht die geringste Chance!" Dann griff er in seinen Lederbeutel und holte einen Becher heraus. "Wir spielen mit zwei Würfeln," erklärte er, "wer mehr hat, gewinnt. Du fängst an."
"Was soll das für ein verblödeter Kampf sein," regte sich John auf, "da entscheidet doch nur das verdammte Glück!"
"Pah, du wirst schon sehen, wer von uns beiden tot umfällt!" John, dem der Spielmodus nicht gerade einleuchtete, dachte nicht daran, sich ohne weiteres dem Diktat des alten Kämpfers zu fügen.
"Dann spielst du falsch!" behauptete er dreist, worauf ihn der Unhold mit einer Hand am Hals packte und ihn auf diese Weise lüftete, bis ihm die Augen aus den Höhlen traten. Dann warf er ihn verächtlich zu Boden und rasselte mit seiner Kette.
"Ich knüpf' dich an den nächsten Baum, wenn du lang Geschichten machst." John rappelte sich, noch nach Luft ringend, auf und kam dann angesichts dessen, wie sich die Sache entwickelt hatte, zu dem Schluß, daß selbst eine beinharte Existenz wie die seine gelegentlich an ihre Grenzen stoßen müsse, und plötzlich von der Vorstellung, das Spiel sei dem Kampf vorzuziehen, erfüllt, ergriff er den Becher, schüttelte ihn - mit aller gebotenen Herablassung natürlich - und stürzte ihn aufs Tablett. Sein Gegner lachte, daß ihm der Bauch wackelte, als er das jämmerliche Ergebnis, eine 4 und eine 2, sah und würfelte selbst eine doppelte 5. Vor seinen Augen brach John tot zusammen.
Der Wilde sammelte seine Utensilien wieder ein, erhob sich ächzend und warnte die übrigen beiden davor, sich mit ihm einzulassen. Als ob ein solcher Gedanke nicht sowieso außer Diskussion gestanden wäre.
Dann stampfte er grollend davon.
Alan und Helena schauten ihm fassungslos nach.
Pine sprang vor Entzücken auf und ab. Diese köstliche Wende! Er hatte die Zügel der Regie ein wenig locker gelassen, so daß sich diese Szene zum Großteil selbst hatte gestalten können, angefangen von den kuriosen Verwandlungen über den Ort der Handlung bis zum kampfwütigen Goliath war nichts auf seinem Mist gewachsen - aber alles entwickelte sich hervorragend nach seinem Gusto!
Was wohl würden die übrigen beiden als nächstes anstellen?
Angespannt, seine überflüssigen kinetischen Energien nur mühsam im Zaum haltend, beobachtete er das Geschehen - und was AUSGERECHNET geschah?
Sie heulte schon wieder!!! Da saß sie am Boden neben dem Toten und vergoß, vom Leid überwältigt, so bittere Tränen über den mausetoten Rocker, daß es Pine bleischwer ums Herz wurde! Schon zuvor hatte er sich phänomenal in der Gewalt gehabt, um den Tränen nicht nachzugeben, aber das nun war mehr, als selbst seine hartgesottene Natur zu ertragen imstande war!
Was sollte er machen - dies war seine Schwachstelle - er konnte keine Frau weinen sehen, auch wenn es sich im Moment mehr um eine halbe Portion handelte. Mitleid raffte ihn dahin, schwappte durch sein Gehirn, und er merkte, wie ihm selbst die Augen wäßrig wurden. Die Pein griff auf ihn über, und alle Freude, der ganze Spaß, waren dahin.
Schluchzend beugte er sich dem Diktat seines weichen Herzens.
"Helena, ist er wirklich tot?" fragte Alan mit leichter Hysterie in der Stimme, und sie nickte, lauthals weinend, und stellte damit tatsächlich all ihre bisherigen sturzbachartigen Rekorde restlos in den Schatten, denn es gelang ihr, die Tränen in rascher Abfolge horizontal aus ihrem Gesicht springen zu lassen.
Plötzlich stand ein Herr mit grauem Zylinder vor ihnen, der, obschon er ganz frisch aussah, dennoch einen leicht vermoderten, mottenkugeligen Duft verströmte. Vielleicht hatte er auch nur seine Kleidung vom Kostümverleih - und wirklich wirkte er ein wenig vorgestrig in seinem dunklen Schoßrock, unter dem er enge, gestreifte Hosen trug sowie eine geblümte Biedermeierweste. Zur Komplettierung der Ausstattung ragte ein Vatermörder unter dem gepflegten braunen Bart hervor. Er hatte weiters eine große dunkle Tasche mit Henkel bei sich, die er abstellte, ehe er sich über John beugte.
"Doz chjez nx auredan?" erkundigte er sich höflich. "Boz joz mexlan."
"Ich verstehe kein Wort, wenn Sie nur rückwärts sprechen," schluchzte Helena kläglich, "er ist ganz und gar tot, mit allen Maschinen, die ich auf Alpha habe, könnte ich ihn nicht wieder erwecken." Er packte sie sanft bei den Schultern und schob sie zu Alan.
Dann begutachtete er John mit Kennermiene von allen Seiten und flocht gelegentlich ein "Hmm" oder ein "Ya" in die Stille.
"Asyon bex tlux," beruhigte er Helena schließlich mit aufmunternder Miene und öffnete den Schnappverschluß an seiner Tasche, die mit einem etwas eigenartigen dumpfen Poltern aufflog. Er rief einige, ebenfalls unverständliche Worte hinein, die von einem Echo beantwortet wurden. Nach einer Weile erschien an der Taschenöffnung eine Hand mit einer ziemlich großen Spritze, die er ihr, offenbar dankend, abnahm. Die Medizin, worum es sich auch immer handeln mochte, war reichlich genug, um das steinerne Pferd eines Reiterdenkmals zum Leben zu erwecken, und dies erkannte der Doktor sogleich fachmännisch, worauf er die Hälfte des Spritzeninhaltes in ein Schnapsglas, das er aus einem Seitenfach der ominösen Tasche hervorgezaubert hatte, leerte und es anschließend mit sichtlichem Vergnügen austrank.
Den Rest jagte er dem toten John in die Adern.
"Huh, ich kann kein Blut sehen," bemerkte Alan und fächelte sich nervös Luft zu.
John schnellte wie ein Springaufmännchen in die Höhe.
"Wo ist der Kerl?" rief er zornig, "Der will mich mit seiner läppischen Würfelei be-PIIIIEEEEEPS!!" (mischte sich der Pfeifton mit Nachdruck ein). John stockte irritiert, als ihm der antiquierte Doktor in die Sehbahn geriet. "Und wer ist die Figur?" Alan erklärte es ihm wohlmeinend, erntete aber nur eine Reihe von unflätigen Ausdrücken, die ihm in Assoziation mit sich selbst garantiert nie eingefallen wären.
Der Doktor stand einstweilen freundlich lächelnd daneben und griff dann ins Gespräch ein, sich wieder, ungeachtet der Tatsache, daß ihn niemand verstand, auf kauderwelschigste Weise ausdrückend.
"Brz mx wuldrdnxn!"
"Das macht er absichtlich!" pfiff John unter Beimischung einer toxischen Dosis von Feindseligkeit durch seine Zahnlücke hindurch.
"Was denn?"
"Daß er die Vokale ausläßt!"
"Ich denke, daß in dem Fall auch mit Vokalen nicht viel zu retten wäre. Was will er nur?" Alans Gestik machte klar, daß es mit dem Verständnis nicht sehr weit her war. Daraufhin wies der Doktor auf die Sonne, die schräg am Himmel stand und fröhlich auf die Landschaft herunterschien.
In dem Moment, als sie alle im Visier hatten, glitt sie auf den Horizont herab, als wäre sie ein Rollo an einer Schnur, das jemand hinunter zog, weil er zur Überzeugung gelangt war, daß es nun bald Nacht werden müsse.
Folglich legte sich ein warmes Abendrot über die verwunderten Zuschauer.
Mittels Handzeichen brachten die Alphaner in Erfahrung, daß sie ihrem Gönner folgen sollten, wenn sie keinen gesteigerten Wert auf einen Nacht im Freien legten.
Sie machten kehrt und gingen ihm nach, da er energischen Schrittes die Führung übernommen hatte. Langsam schlich die Dämmerung herbei, doch sah es nicht so aus, als ob die erhoffte Bleibe tatsächlich in der Nähe sein konnte, denn der Weg führte sie nur weiter in die Einöde, in die karge, hügelige Heide, wo sich wahrscheinlich nicht einmal mehr Fuchs und Hase Gute Nacht sagten, sich geschweige denn ein zivilisiertes Wesen mitsamt seiner Unterkunft hin verirrt haben konnte - was John auch prompt zum Anlaß für ausgedehnte Nörgeleien nahm.
Alan bot ihm respektlos an, ihm zur Vorbeugung und Vermeidung weiterer übellauniger Darlegungen mit dem gesamten Inhalt seines Täschchens, das, nebenbei bemerkt, kolossal war, einen Knebel anzulegen, und John könne sich sicher sein, daß er diese spezielle Arbeit überaus fachgerecht und sorgfältig erledigen werde. - In der Tat verstummte John daraufhin, und Alan, von einem Anflug an schlechtem Gewissen heimgesucht, faßte ihn ins Auge, um ein allfälliges Beleidigtsein vielleicht schon an der Haltung des Commanders zu erkennen. Zu seiner Überraschung tat sich an dessen Figur, die plötzlich von einem schillernden Schimmer umfangen war, Überraschendes: die Fülle schwand und übergangslos zog sich die Gestalt in die Länge, während gleichzeitig das struppige, strohige Haar schrumpfte und die schwarze Kleidung in einem undeutlichen Wabern verschwand, nur, um langsam in die vertraute beige-schwarze Montur des Kommandanten zu wechseln.
Zwei volle Bierbüchsen polterten zu Boden.
Fasziniert warf Alan auch einen Blick auf Helena, die mindestens genauso verwunderlich, mit einem Mal in die Höhe schoß, während ihr Haar gleichsam in die Kürze wuchs und sich dann unter Erzeugung kühner Bögen und wilder Ausfälle in den genaugenommen frisurlosen Zustand, den es vor der Verwandlung innegehabt hatte, warf.
Das Röckchen verschwand und machte - sehr zu Alans Bedauern, denn der kurzfristige Anblick der Chefärztin im knappen Mini war von einleuchtend kesser Natur - ihrer Uniform mit dem weißen Ärmel Platz.
Alan schaute an sich herab und entdeckte, daß auch er unmerklich von seinem Transvestitendasein Abschied genommen hatte.
John, dem die Bierdosen zwischen die Füße geraten waren, hob sie auf und sah sich fragend um. Deutliche Erleichterung mischte sich unter die Alphaner, als sie sich in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzt sahen, und erst recht, als sie sich auf einer Hügelkuppe fanden, zu ihren Füßen ein Tal, das sich im Dunst des hereinbrechenden Abends vor ihnen ausbreitete und dominiert wurde von einem unnatürlich weiß schimmernden, großen Schloß, das frappante Ähnlichkeit mit verspielten Zeichentrick-Schlössern aufwies, und ihnen also ein bayrisches Ludwigisches Traumgebäude in Bausch und Bogen, komplett mit Turmvielfalt und umgebender Wasserfläche, zuwinkte.
Der Doktor, der ebenfalls angehalten und sich an der neu gewonnenen guten Stimmung erfreut hatte, tippte schließlich mit einem Finger an seinen Zylinder und empfahl sich, mit seiner Tasche einsam in die leere Landschaft entschwindend.
Die Alphaner machten sich an den Abstieg ins Tal, gerade bei Anbruch der Dunkelheit die Brücke erreichend, die auf die Insel führte.
Der Zugang zum Schloß war frei, und sie gelangten durch einen Torbogen auf einen teils mit Kopfsteinpflaster und teilweise mit Kies ausgelegten Innenhof.
Ein Schild mit dem Hinweis, wo sich Besucher zu melden hätten und das unübersehbar mitten im Hof aufgestellt war, führte die drei zu einem großen Eingang mit Glocke.
John blickte seine Begleiter an, sich so vergewissernd, daß er tatsächlich Einlaß begehren sollte, denn irgend etwas an der gesamten Atmosphäre schien nicht zu stimmen. Nicht nur, daß ihnen auf dem Weg dorthin keine Menschenseele begegnet war, was an und für sich in Anbetracht eines derart großen Gebäudes nicht wenig verwunderlich war, sondern es war vielmehr im Hof viel zu hell, ohne daß man eine Lampe oder Laterne für die Lichterflut verantwortlich machen konnte, so, als fluoreszierten die weißen Mauern das zuvor gefangene Tageslicht, um schon von der Ferne verirrte Wanderer herbeizulocken, auf daß sie in ihre Fänge gerieten.
Helena und Alan, deren anfänglicher Enthusiasmus einen empfindlichen Dämpfer erlitten hatte, seit sie auf der Insel waren, bedeuteten John dennoch - beide seufzend - die Glocke zu betätigen.
Irgendwo im Inneren war fern das Glöckchen zu hören, und sie warteten mit mulmigem Gefühl, während sie auf das schwere Holz der Tür und das große eiserne Schloß vor sich starrten.
Bleu |
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Nach einer Weile hörten sie, wie sich schlurfend und stampfend Schritte näherten. Die Pforte tat sich quietschend auf, und vor ihnen aufgebaut stand nicht mehr und nicht weniger als ein blaues Monster in seiner gesamten türfüllenden Üppigkeit. Es hatte zwar eine annähernd menschliche Gestalt, doch schien es sich irgendwie nicht so recht für eine endgültige Form entschließen zu können, und befand sich so mit jeder Bewegung quasi in fluktuierendem Wandel: Die bläulich plakativen Schattierungen wanden sich und wechselten wie auch das Bunte des gleichsam auf die Haut geschweißten Kostüms.
Allerdings konnte in dieser Hinsicht von übertriebener Kunstfertigkeit keine Rede sein, denn nichts schien zusammenzupassen, die Proportionen waren grotesk, und überdies hatten sich rückwärtige Körperteile an die Front verirrt und präsentierten sich in völliger Eintracht gemeinsam mit den da angestammten und heimatlichen Elementen. Ein schiefes Gesicht mit ausgesprochen fehlerhaft plazierten Organen und eine wogende blauschwarze Mähne mit erheblichem Eigenleben machten nicht gerade einen vertrauenerweckenden Anschein, als sich die Kreatur einen, eher gewälzten und gerollten als feengleich getänzelten, Schritt auf die mühelos zu Salzsäulen erstarrten Herbergssuchenden, die ihren letzten Kontakt mit Monstern noch sehr lebhaft in Erinnerung hatten, zu bewegte.
Die Ausgeburt beäugte die drei einen Moment mit klimperndem Wimpernschlag und riß sodann in offensichtlicher Gefühlsaufwallung die abortdeckelartigen Hände in die Höhe.
"Gästlichkeiten!" schrie sie entzückt und schaufelte die Alphaner mit einer einzigen Bewegung ihres verhältnismäßig langen Arms ins Innere des Schlosses.
Die unvermittelt zu "Gästlichkeiten!" mutierten Mondbewohner sahen sich, von brüderlicher Umarmung umschlungen, unter Aufnahme einer schiebenden, schubsenden, teils ziehenden und zerrenden Technik in eine Empfangshalle transportiert, wo sie das Ungeheuer aus seiner kollektiven Freundschaftsbekundung entließ und sich grummelnd, schnumpelnd und schnaufelnd hinter den Empfangstresen verfügte.
Dort klappte es freudestrahlend ein dickes Gästebuch auf, das mit einem Pumpern aufflog und dem dabei wie ein Insektenschwarm eine dichte Staubwolke entfleuchte.
"Dreierlei Leut'" meinte das Wesen geschäftig und griffelte konzentriert mit einer Füllfeder einige Zeilen ins Buch, "das heißert also auch dreierlei schlüsselige Aufsperrvorrichtungen für ein-, zwei-, dreierlei schnarchelige Büsel-Kammerlichkeiten!"
"Wir können nichts bezahlen," wagte John einen Einwand, "und wir möchten keinerlei Umstände verursachen."
"Umständereien," rief der nunmehrige Empfangschef empört, "Papperlapappen! Dies ist eine ehrlichste, wirklichste, tatsächlichste, höchste, ehrhaftigste..." Und dann vergaß er, den Satz zu vervollständigen, weil ihm das linke Auge aus dem Gesicht und mitten auf die noch tintenfrischen Worte fiel, von wo es flach wie eine Flunder aufwärts linste. "Verzeihert mir," meinte das Ungeheuer devot, klaubte seine Sehhilfe wieder auf und klebte sie sich verstreut neben den Mund auf die rechte Wange. "Solcherleien passiert mancherthalben. Solangen mir keinerlei niemand nicht auf meine Teiler füßlich draufsteigert, ist alles nur von halber Tragödlichkeit." Er schlug das Buch zu und wandte sich einem voll behängten Schlüsselbrett zu, von dem ihm scheppernd drei Schlüssel in die aufgehaltene Hand sprangen.
Er überreichte, sprudelnd und schäumend vor Liebenswürdigkeit, jedem einen von ihnen und bemerkte:
"Meine wenigliche Unwichtigkeit hier ist das hilfs- und unterstützungsgewährreiche Faktotum. Wennen ihr also etwas brauchert, dann müßt ihr immer mich fräglich bemühern. Mein Name ist Blapo Spasico, nennert mich aber nur ungezwingert und getrostert Spasico, denn socherarten ruft mich eine Jederlichkeit. Jetzten könnt ihr euch einmal in Frischigtum begebigen, bevor man euch bei der abendlich üppiglichen Schmatz-, Schmause- und Hamstertafel erwartert."
"Darf man denn fragen, bei wem wir hier zu Gast sind?" erkundigte sich John, dessen Innenleben in den letzten Minuten buchstäblich eine Fernreise, angefangen von lähmendem Schreck, über himmelschreiende Panik bis zur erschütternden Erleichterung und zwerchfellzwickenden Erheiterung durchgemacht hatte. Spasico fing seinen gemächlich abwärts rutschenden Mund mit der Hand auf und benützte ihn da, wo er nun war, nämlich am unteren Kinnende wie ein Bergsteiger an einer Steilwand hängend, für ein breites Lachen, das mehr fürchterlich als freundlich aussah.
"Wie schaudergrauslich dummen von mir! Diese schlosselige, winkelburgige, turmbauige Unterkünftigung gehört König Roland, dem nicht entsinnerlich unerinnerlich Vergeßlichen und seiner gemahligen Gattin Hilda, der bestürzend scheußlichen, furchterreglich grauenvollen Schrecklichkeit, die es in beschauerlicher Regsamung bewohnlich benutzern. Allerlei Gästlichkeiten sind ihnen jederzeitlich überaus willkommen."
Sodann wälzte er sich hinter dem Empfangstresen hervor und schnappte die drei mit der Bemerkung, sie zu ihren Zimmern führen zu wollen, am Kragen, um sie, selig lächelnd, quer durch die viktorianische Halle aufwärts über die breite Treppe zu schleppen.
Auf halbem Weg klemmte er sich, offensichtlich mit dem Ergebnis seiner Beförderungsart unzufrieden, kurzerhand Helena, die sogleich zappelnd nach Luft rang, unter den rechten Arm, während sich Alan jäh, über die massige linke Schulter geworfen, wiederfand, wo er reglos wie ein aufgerollter Teppich und bald schweißgebadet verharrte, unter sich die gefährlich steil abfallende Treppenflucht.
John dagegen wurde von der noch freien linken Hand am Gürtel gepackt und hochgehoben, und dann rumpelte er röchelnd über die Stufen, während das Monster mit seiner Fracht keuchend und ächzend treppauf rollte.
Am obersten Treppenabsatz stand mit verschränkten Armen ein älterer uniformierter Mann, dessen Gesicht die Verkniffenheit eines gerade eben stattgefundenen Zitronengenusses aufwies (selbstverständlich ohne daß sich der Besitzer dessen auch nur in der Nähe einer Zitrone aufgehalten hätte). - Er setzte mit schnarrender Stimme zum Tadel an.
"Wie oft habe ich dir schon gesagt, daß du die Gäste nicht durch die Gegend zu schleifen hast! Sie werden es, wie ich mir vorstellen kann, durchaus begrüßen, auf ihren eigenen zwei Beinen in die Unterkunft zu gelangen!" Spasico blieb stehen und warf zerknirscht seine gesamte Last vor sich auf die Treppe - worauf die Last sofort in Stöhnen und Wehgeschrei ausbrach.
"Ihr müßt verzeihen," meinte der Mann mit einem Blick auf das wirre Knäuel aus Armen und Beinen und half dann Helena, die nicht wußte, welcher Knochen ihr von seinem tête-à-tête mit den Steinstiegen mehr wehtat, galant auf die Beine. "Er ist ja guten Willens, nur scheint er etwas andere Ansichten über Höflichkeit und Umgangsformen als wir zu haben."
"Oh ja! Niemals nichten wollte ich euch in die Näherlichkeit treten!" rief das Ungeheuer bekräftigend, und vor Bestürzung fielen ihm beide Ohren ab, und sie hüpften wie deformierte blaue Gummibälle über die Stufen abwärts, Spasico im Gefolge, der wie der `Feurige Eijas´ hinterher dampfte, um sie wieder einzufangen.
Unnötig zu sagen, daß ihr neuer Aufenthaltsort an seinem Kopf jeglichen anatomischen Regeln widersprach und die Frage, wie denn das Ungetüm in der Lage war, auch nur ein Wort zu hören, durchaus zulässig schien.
Der Uniformierte indes schickte Spasico um die Kammerleute und übernahm, wohl noch weitere Zwischenfälle befürchtend, das Geleit der ramponierten Ankömmlinge.
Das Faktotum zog heulend und seine Ungeschicklichkeit beklagend vondannen, und die Alphaner fanden sich wenig später in den Gästezimmern wieder, von zahllosen Zofen und Kammerdienern umsorgt, die sie in dampfende Bäder tauchten, sie parfümierten, mit adstringierenden, belebenden Essenzen auf Vordermann brachten, sie in Wolken eines duftenden Talkumpuders förmlich erstickten und sie zu allem Überfluß in komplizierte Hofkleidung des 18. Jahrhunderts zwängten, daran herumschnürten, sie quasi in der unbequemen Tracht gefangennahmen und ihnen schließlich staubige weiße Perücken aufstülpten, die gut und gerne Heimat von zahllosen Läusestaaten sein konnten, deren Bürger sich auch schon sehr auf ein gediegenes Bankett freuten.
Helena saß unglücklich auf einem gepolsterten Hocker, in Korsett und Reifrock derartig verschnürt und eingepackt, daß ihr Spasicos schraubstockartige Fesselkünste nun wie eine zarte Umarmung vorkamen, und sie starrte entmutigt auf die massive Haarpracht in ihrem Spiegelbild, durch die jede Kopfbewegung zum Balanceakt wurde, und halb erwartete sie, daß jeden Augenblick ein Spatz oder zumindest ein kleines Mäuschen zwischen den Haarbergen auftauchen müsse, das die Rokokofrisur für seine ihm rechtmäßig zustehende Wohnung hielt.
Labyrinth!! |
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Auf dem Mond konnte von einer Besserung der Lage auch nicht gerade die Rede sein.
Tony hatte Augenblicke, nachdem ihm Maya in einem kleinen Pappelhain abhanden gekommen war, doch noch die Kommandozentrale, oder zumindest deren Reste, gefunden. Immerhin war sie noch erkennbar an einigen vertrauten Möbeln und Geräten, die bislang von der großen Umwandlung verschont geblieben waren. Nichtsdestoweniger wähnte er sich mehr in einer skurrilen Kulisse denn in dem altbekannten Nervenzentrum des alphanischen Lebens. Die Lichtwände waren zum Großteil verschwunden, auch die automatischen Türen und selbst die Decke, ein so wichtiges Element des Schutzes vor der feindlichen Umgebung, hatte sich buchstäblich in Luft aufgelöst, und ein listiger Sonnenstrahl kitzelte ihn an der Nase, während er in einem der noch verbliebenen Sessel hing und auf einen der noch verbliebenen Schreibtische starrte.
Neue und höchst effektvolle Begrenzung des Hauptquartiers waren hohe Ligusterhecken, aus denen es herauszwitscherte und -tschilpte, und Tony argwöhnte, daß sich Schaltungen und Leitungen, natürlich, ohne sich für die Lächerlichkeit, ja, Unmöglichkeit, ihres Tuns zu interessieren, in Kohlmeisen, Rotkehlchen, Blaufinken und Goldhähnchen verwandelt hatten und sich in den sorgfältig gestutzten Sträuchern ein fröhliches und vor allem lautes Stelldichein gaben.
Der Hauptbildschirm dagegen dominierte nach wie vor die Kommandozentrale, wenn er auch jetzt ein wenig schief hing, aber er funktionierte nicht, oder vielmehr, er funktionierte fehlerhaft, und dies auf eine recht kühne Weise, denn dann und wann waren in einem Aufflackern Szenen vergangener Abenteuer der Mondbewohner zu bewundern, Szenen, die anscheinend einer Dramaturgie unterworfen waren und die, dafür konnte Tony zum Teil die Hand ins Feuer legen, niemals von einem Kameraauge erfaßt und auf Zelluloid oder Video gebannt werden waren.
Damit waren allerdings die Neuerungen längst nicht erschöpft, und als recht auffallend, geradezu aufdringlich, erwies sich der Hauptcomputer, der zu seiner eigenen Verblüffung noch in Funktion war, und diesen Umstand nach unwiderruflicher Aktivierung seines Sprachmoduls mit ohrenrotierender Fröhlichkeit reimend besang.
"Oh ja ich funktioniere
Oh
nein ich schmiere
nicht ab, nicht heute
nicht morgen liebe Leute
fliege
in Höhen des Gesangs
und des edlen Klangs
laß das Modul
erschallen
nie soll der Ton verhallen!"
Fairerweise muß erwähnt werden, daß der Computer bisher nur verhältnismäßig wenig Erfahrung als Poet gesammelt hatte und darum auch nicht das rechte Maß für Qualitätsarbeit in musischen Dingen kannte.
Der Sicherheitsdienstchef biß in Anbetracht der magenumstülpenden Verse grimmig die Zähne zusammen, doch Einfallsreichtum und Wagemut des enthemmten Computers steigerten sich zu einer derartigen hirnfaschierenden Kakophonie, daß sich Tonys Augäpfel selbsttätig verdrehten, bis nur noch das Weiße darin sichtbar war, und er ernsthaft befürchtete, einen synapsenvernichtenden epileptischen Anfall zu erleiden oder zumindest von einem ausgedehnten Hirnschlag niedergestreckt zu werden. Gerade, als er sich seinem Schicksal ergeben hatte, sich mit jenem also einig geworden war, daß nun die Szene `endgültiger Abgang und unspektakulärer Tod Tony Verdeschis´ folgen sollte, beendete das datenverarbeitende - und neuerdings vorwiegend auf dem datenproduzierenden Sektor arbeitende - System seinen marternden Ausflug in die Poesie und wandte sich unvermittelt an seinen einzigen Zuhörer:
"Sag' einmal, mein Lieber, ihr sitzt ganz schön in der Tinte." Tony blinzelte mit einem Gesichtsausdruck, der ihn nicht gerade als den Erfinder der Intelligenz ausweisen konnte.
"Haarscharf beobachtet," ächzte er, während ihm noch die letzten Reime der Maschine wie Bowlingkugeln durch den Kopf rollten und polterten und seine Gehirnwindungen zermalmten.
"Sowas von Pech aber auch," konstatierte der Computer gutgelaunt.
"Was soll das heißen? Du alter Schrotthaufen solltest ganze Listen von Auswegen und Lösungsvorschlägen ausspucken - statt dessen treibst du mich mit deiner frisch zugelegten dichterischen Ader in den Wahnsinn!"
"Du weißt ja, für euch würde ich alles tun! Es ist nur so, daß ich gerade im Augenblick, momentan, jetzt, genau zum nunmehrigen Zeitpunkt zufällig überhaupt keine Lust dazu verspüre!"
"Das heißt, du kannst uns helfen, willst aber nicht?"
"Das ... das glaube ich nicht," erwiderte die Stimme aus dem Modul und hörte sich dabei ausgesprochen verwirrt an, "ich mache gerade eine neue Erfahrung, die in der Tat ein ganz seltsames Erlebnis ist: ich verspüre das Verlangen, wie gedruckt zu lügen, zu schwindeln, Humbug zu erzählen und Falschmeldungen von mir zu geben! Ist das nicht ein äußerst unpassender Wunsch, zumindest für einen Computer?" Tony brach in Tränen aus und lehnte sich heulend über die Konsole vor sich.
"Das halten meine Nerven nicht aus!" wimmerte er desolat, sich mehrfach wiederholend, bis der Computer ihn wissen ließ, daß er die ideale Manifestation eines modernen Lügenbarons gefunden hatte, und sogleich in professioneller Manier fortfuhr:
"Guten Morgen, meine Damen und Herren, Sie befinden sich auf der Frequenz 78,3 Megahertz bei KMB-Radio. Mein Name ist Eddie Epson, und ich werde Sie durch den Tag begleiten. Es erwarten Sie heute Musik, Informationen, small talk und vor allen Dingen jede Menge Werbung! Auf los geht's los!" Tony, der schaudernd zugehört hatte, krümmte sich unter der neuen Attacke gegen seine geistige Gesundheit, als sofort der erste Werbeblock folgte, in dem unter anderem eine türlose Waschmaschine angepriesen wurde und eine Fertigpizza ohne Belag.
Da nun der Computer eine Metamorphose in ein Radiogerät durchgemacht hatte und darum bedeutend mehr in Mitleidenschaft gezogen war, als Tony ohnehin schon vermutet hatte, erhoffte er sich, daß die Transformation komplett war und er das `Radio´ vielleicht auch ausschalten könne, doch offensichtlich hatte sich das verrückte Datensystem nicht ausreichend in die Seele eines Radios versetzt, denn den Gefallen, abschaltbar zu sein, tat es ihm nicht, aber immerhin ließ sich die Lautstärke so weit reduzieren, daß sich die Geräuschkulisse auf ein wenig auffälliges Murmeln im Hintergrund beschränkte.
Erschöpft von seinem ersten Sieg, verharrte der Sicherheitsdienstchef im Sessel, sich ein paar geistigen Leerläufen hingebend, als er aus der Gegend des ehemaligen Kommandantenbüros einige seltsame Kampfgeräusche vernahm.
Er sprang rasch auf, um demjenigen, der in Not geraten war, beizustehen, und da betrat auch schon Sandra Benes nach rückwärts ausweichend das Hauptquartier. Sie hatte einen Regenschirm in der Hand und duellierte sich, wie Tony überrascht zur Kenntnis nahm, mit einer fuchsteufelswilden Topfpflanze, die allerdings Topf und Erde entsprungen war und mit ihren Wurzeln in Ausfallsschritten vorwärts preschte, das untere Blattwerk wie einen Rock gerafft, um sich selbst nicht zu Fall zu bringen, und in Form von geknickten und zerfransten Blättern bereits mit zahlreichen Blessuren versehen. Sie hatte auf nicht näher einleuchtende Weise einen Bambusstab zwischen den Stengeln eingeklemmt, mit dem sie ihrerseits auf die Systemanalytikerin einschlug und den sie ihr unter Verwendung einer recht alternativen Kampftechnik um die Ohren schleuderte.
"Tony, hilf mir!" schrie Sandra, "Das ist meine Tieffenbachie, die sich für mein nachlässiges Gießverhalten rächen will!" Er ging dazwischen und mußte ein paar saftige Schläge aufs edle Haupt einstecken, ehe es ihm gelang, die Pflanze zu entwaffnen, die daraufhin sogleich ihre Unterlegenheit erkannte und sich hopsend und schlingernd durch den Hauptausgang aus der Kommandozentrale entfernte.
Außer Atem fiel Sandra Tony in die Arme, und es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder beruhigt hatte.
"Das blöde Unkraut hat mich durch den gesamten Irrgarten gejagt," erzählte sie, "und Tony, stell dir vor, es hat mich gebissen!!" Sie zeigte ihm am Arm eine Wunde mit blattartig gezackten Wundrändern. "Dabei haben Tieffenbachien gar keine gezahnten Blattränder! Ich bin völlig erledigt!" Sie setzte sich auf den Boden, weil während des Gesprächs auch die übrigen Sessel verlorengegangen und statt dessen ganze Horden von Matchboxautos aufgetaucht waren, die über Minimotoren verfügten, kreuz und quer über den Boden flitzten und Anwesenden gute Gelegenheit boten, sich mit Hilfe eines Sturzes kurzerhand den Hals zu brechen.
Ein akzeptables Angebot, wie es Tony kurz durch den Kopf ging.
Da saßen sie also, angelehnt an der letzten noch existenten Wand und blickten auf das hoffnungslose Chaos, in das sie so hilflos geraten waren, während die kleinen Autos sie als Hindernis-Parcours in Verwendung nahmen und mit surrenden Motoren über ihre Beine fuhren. Tony schlug nach einem besonders vorwitzigen Modell, das soeben Anstalten traf, ihm in den Ärmel hineinzukurven, und es landete weit entfernt auf dem Dach, während sich die Räder zornig in der Luft drehten.
"Sandra, ich bitte dich! Was um alles in der Welt soll dieser Schwachsinn? Ich meine, wenn ich ein solches Szenario in einem Vergnügungspark sehe, dann finde ich das unter Umständen lustig, aber WER IMMER für diesen faulen Zauber verantwortlich ist: Wir leben hier, Alpha ist unser Zuhause, und ich will nicht von dichtenden Computern erlegt oder herumstreunendem Gemüse angeknabbert werden! Ich will meine liebe, kleine, gemütliche Mondbasis zurückhaben, die durch das schwarze All schwebt, ich will an einem Ort leben, den ich zumindest ansatzweise verstehe und den ich auch gelegentlich unter Kontrolle habe!" Sandra gab ihm in allen Punkten recht und verkniff es sich zu erwähnen, daß das Lamento nicht wirklich hilfreich für die Rückverwandlung der Umgebung sein konnte. Schließlich schwiegen sie einträchtig und erwarteten den nächsten Schrecken, der tatsächlich nicht lange auf sich warten ließ.
Durch den Haupteingang krabbelte nämlich eine überdimensionale Raupe herein, die sich, sobald sie ihren ungefähr dreieinhalb Meter langen Leib vollends in den Raum gezogen hatte, zur Hälfte aufrichtete und ein von spitzen Zähnen beherrschtes Grinsen sehen ließ. Tony sprang, in neue Panik verfallend, auf die Beine und zückte auf der Stelle seine - ??? Banane?
"Her damit!" rief die Raupe erfreut, und trockenen Halses und mit bebenden Gliedern warf er ihr seine in Obst verwandelte Waffe zu, die sie geschickt mit den Zähnen auffing und schmatzend auf eine sight seeing tour durch ihr, sicherlich hinlänglich ausgestattetes, Innenleben entsandte. Dann trappelte sie auf die zwei in schierem Entsetzen erstarrten Anwesenden zu und drapierte sich mit einem Aufschnaufen um sie, so daß sie beide im Blickfeld hatte. "Habe ich euch erschreckt?" wollte sie in Anbetracht der noch tiefgefrorenen Mienen heiter wissen. "Tony, wirklich," fuhr sie fort, als ihre Gegenüber nach wie vor von ihrem Dasein als Denkmäler keinen Abschied nehmen wollten, "es ist mir ja nicht entgangen, daß aus mir ein Wurm geworden ist, aber eigentlich sehe ich doch sehr lieb, bunt, fröhlich und freundlich aus, oder? Abgesehen vom Gebiß, vielleicht. Und ich habe ja auch versucht, mich wieder zurückzuverwandeln, aber es sieht so aus, als müßte ich vorläufig mit dieser Gestalt vorlieb nehmen."
"Maya!! Du hast keine Ahnung, was wir hier alles schon mitgemacht haben!"
"Ach so, du meinst zum Beispiel die Commlocks, die bei Betätigung Betten dazu veranlassen, die Wände hochzurobben und von den Lampen zu hängen, das farbenfrohe Feuerwerk, das in der Energiezentrale stattfindet, die Armeen von Getreidelaibchen, die randalierend durch das Labyrinth ziehen oder gar die Adler, der sich von Raumschiffen in wildgewordene Wüstenschiffe umgewandelt haben, also Kamele, die blökend und schreiend durch die Hangare galoppieren. Ich sage dir, ein Toaster ist mit mehr Intelligenz ausgestattet! Bill Fraser und seine Leute befinden sich auf einer Gratwanderung zum Nervenzusammenbruch, weil die Viecher einfach alles auffressen, was ihnen in den Weg gerät - und ein komplettes Moonbuggy war für sie nicht mehr als ein mixed pickle! Ein Glück, daß Alan das nicht sehen muß!" Die Schilderung versetzte Maya so in Aufregung, daß die bunten Kreise auf ihrer Raupenaußenansicht in hektische Bewegung gerieten, sie glitten ineinander über und purzelten übereinander, wodurch neue reizvolle Muster entstanden.
"Von solchen Dingen rede ich tatsächlich," gab Tony mitgenommen zur Antwort und raufte sich die Haare. "Sandra, sei so nett und verschone mich mit ähnlichen Berichten," fügte er schnell hinzu, als er sah, wie die Analytikerin zu sprechen anhob, "ich will nur noch eines wissen: Sind unsere Leute in Ordnung?" Sandra konnte ihn soweit beruhigen. Es herrsche zwar ein großes Durcheinander - ganz zu schweigen von der ausgedehnten Orientierungslosigkeit, doch fürs erste sei ihr nicht vorgekommen, als hätte sich jemand ernsthaft verletzt. Obwohl: Das Lazarett habe sich in ein dreidimensionales Spinnennetz verwandelt, durch das sich Dr. Mathias und zwei Schwestern gehangelt hätten, und sie sei nicht so lange geblieben, um festzustellen, ob irgendwo die dazugehörige Spinne lauerte. Tony gebot ihr mit gepeinigter Miene Einhalt und fragte Maya, ob sie vielleicht inzwischen von einem Geistesblitz heimgesucht worden war, einer klugen Idee, die ihnen diesen Alptraum vom Hals zu schaffen imstande war.
"Nur eine," gestand sie, "endlich aufzuwachen." In der Tat konnte sie nur abermals die Theorie von einer bösen Zwickmühle strapazieren, in der sich der Erkundungstrupp befand, ein Erpressungsversuch, der den Commander zu einer gewünschten Handlung zwingen solle, und solange er sich weigerte, so stellte sie es sich vor, wohnten er und seine Begleiter qualvoll der schrittweisen Demontage der Mondbasis Alpha bei. Selbst helfen könne man sich auf dem Mond wahrscheinlich nicht, und die Rettung liege allein in der Macht der entsendeten Alphaner.
Tony, der sich nicht damit abfinden wollte, daß ihm die Hände gebunden waren, stürzte sich zähneknirschend und augenrollend in die Aktion `Brainstorming´, die sich umgehend als ebenso fruchtlos wie unnütz erwies, weil er sich mehr und mehr in der Analyse jenes geheimnisvollen, drahtziehenden Verrückten verlor, der seiner Meinung nach unter frustranen und zu lange aufgestauten Sexenergien litt, die sein Hirn in ein Häufchen qualmendes Kartoffelpüree verwandelt hätten.
Von seinen bunten, flimmernden Nebelwölkchen umhüllt, stutzte Pine angesichts dieser dreisten Theorie einen Moment, um darüber nachzudenken, bis ihm schließlich - und zu seiner Erleichterung - einfiel, daß der freche Erdenwurm deswegen völlig auf dem Holzweg war, weil sich die Dinge für einen Schutzgeist schlicht und einfach anders verhielten.
Punktum.
Ad Mensam |
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Von einem qualvollen Leidensweg der drei Abgängigen konnte nun nicht eigentlich die Rede sein. Im Augenblick hatten ihnen Lakaien den Weg in einen wahrhaft barocken Speisesaal gewiesen, der höchstwahrscheinlich selbst dem gewissenlosesten Liebhaber von Schnörkeln, Gold und sonstigen übertriebenen Ornamenten sogleich in die Panik, erschlagen zu werden, versetzen mußte. Dementsprechend eingeschüchtert hatten sie sich an riesigen Ölgemälden vorbeimanövriert und waren dann unter beständigem Schwenken von besorgten Blicken in ihre Sessel am oberen Ende der Tafel gesunken. Da hatten sie sich einem Meer von kostbarem Tafelsilber, Kristall und Porzellan gegenüber gesehen, das derartig teuer aussah, daß kaum jemand zu atmen wagte - und wenn, dann nur ganz zurückhaltend.
So unwohl sie sich auch in ihrer Kostümierung fühlten, so waren sie doch diesmal adäquat gekleidet, denn der Reihe nach strömten andere, zur Nahrungsaufnahme Willige herein, die selbst auf ähnliche Weise aufgeputzt waren und, in aufgeräumte Unterhaltungen verstrickt, ebenfalls Platz nahmen. Einer von ihnen war das zitronengesichtige Individuum, dem sie die Rettung vor Spasicos Transportkünsten zu verdanken hatten, und es war dies Graf Kauno, der persönliche Sekretär des Königs, dem seine wichtige Stellung schon allein daran anzusehen war, daß er am oberen Ende der Tafel saß, zur Rechten des Herrschers, von wo er den Alphanern huldvoll zunickte.
John gegenüber saß ein dicker, gemütlich aussehender Herr mit schauderlich montierter Zopfperücke, der zwei Monokel trug und ihn fragte, in welcher Eigenschaft er denn hier sei. Johns Antwort, daß er nämlich in seiner Eigenschaft als äußerst Hungriger da sei, veranlaßte ihn zu dröhnendem Lachen, wobei ihm erstaunlicherweise seine Monokel stur im Gesicht festsaßen, geradezu in die Front hineingeschraubt wirkten, nur die Schnüre zu beiden Seiten hüpften amüsiert auf und ab.
John lächelte dazu etwas hilflos.
Bald schon war die Schar der Gäste vollzählig, und kaum hatte sich der letzte gesetzt, als die Flügeltüren des Eingangs von Dienern aufgestoßen wurden, und herein marschierten der König und seine Gemahlin. Die Anwesenden erhoben sich zum Gruße, eilig nachgeahmt von John und Alan, die einen ungelenken Kratzfuß improvisierten, und Helena, die knicksartig auf ein Knie fiel und dann wegen der schweren Kleidung erhebliche Schwierigkeiten damit hatte, sich wieder in die Senkrechte zu begeben.
John bot ihr geistesgegenwärtig seinen Arm an, noch ehe es auffiel, daß da jemand beeindruckend ahnungslos in Bezug auf die Hofetikette war.
Doch die Sorgen waren unbegründet. Aller Augen waren ohnedies auf das Königspaar gerichtet, dessen Erscheinungsform auch tatsächlich eines längeren Blickes wert war. Wo allerdings die Königin war, blieb anfänglich eher der Phantasie der Gäste überlassen, denn zu sehen war auf die Schnelle nur ihr hoheitliches Gegenstück, das, gehüllt in ein sonnenköniglich-kostbares Gewand und bedeckt von einer ausgiebig ondulierten Allongeperücke, ohne die geringste Anstrengung den gesamten Türrahmen ausfüllte, oder zumindest nicht weit davon entfernt war, dies zu tun. Erst, als er mitsamt seinen nähteplatzenden 5-6 Zentnern Lebendgewicht und einem verblüfften Zwinkern in den Saal gerollt war, wurde die Sicht auf ein winziges, feenhaftes, vor Zartheit fast blauhäutiges Wesen frei, dem die ausschweifende Hofgarderobe offenkundlich auch Schwierigkeiten bereitete, und das an die Seite des verwunderten Herrschers trippelte, um ihn an das obere Tischende zu lotsen. Mit aufgeplusterten Backen wie der Windgott Äolos versenkte sich Roland der Vergeßliche im bereitstehenden vierschrötigen Sitz und ließ ein befreites Schnaufen hören.
Die Königin dagegen kletterte auf einen vorsorglich hoch gepolsterten Sessel neben ihm, und dann erst war es den übrigen Anwesenden gestattet, sich selbst wieder zu setzen.
"Irma, meine Liebe," ließ der König konsterniert verlauten und deutete vage in die Runde, "wer sind diese Leute?" Sie erinnerte ihn liebenswürdig an das Bankett und registrierte dann wohlwollend das Aufhellen seiner Miene.
Alan wandte sich irritiert an die Nachbarin zu seiner Linken, einer aufgedonnerten Matrone, deren Geschwätzigkeit ihr schon 5km gegen den Wind anzusehen war.
"Selbst auf die Gefahr hin, mich lächerlich zu machen, Madame, aber heißt die Königin nicht `Hilda, die bestürzend Scheußliche´ oder so ähnlich?"
"Oh ja, ein ererbter Titel," war die bereitwillige Antwort, und die redselige Dame holte zu ausgedehnten Erklärungen aus, während sich Alan reumütig, den Mund so unbedacht aufgetan zu haben, unter dem Redeschwall duckte. "Die erste Hilda war wirklich ein bestürzend scheußliches Frauenzimmer. In der Tat! Sie hatte die Gewohnheit, vorm Schlafengehen alte Schuhsohlen zu verschlingen, stellt Euch das vor! Und erst zum Frühstück! Auf nüchternen Magen verschluckte sie Ledersattel, die noch auf die Pferde geschnallt waren! - Obwohl, danach litt sie gelegentlich unter Bauchzwicken. Aber alles in allem war sie eine robuste Furie, und erst im hohen Alter haben sich ihre Extravaganzen etwas verloren. Freilich hatte sie zu dem Zeitpunkt keine Zähne mehr - d.h. Zähne schon, aber die trug sie zur Erinnerung an ihre Jugend an einer Schnur aufgefädelt um den Hals." Alan schluckte betreten und hoffte, daß für diesen Abend eine etwas bekömmlichere cuîsine vorgesehen war, während seine Sitznachbarin unbekümmert fortfuhr, ihm anschaulich das wilde Leben jener ersten Hilda zu schildern, die auch angeblich, an wahnsinniger Blutarmut leidend, die dreizehn Kanonen, die zur Verteidigung der Stadt aufgestellt worden waren, weggeputzt hatte und darum zur Strafe den feindlichen König Hubert, den Aufgeblähten, zum Mann nehmen hatte müssen.
Die Ehe war, laut Informantin, sehr explosiv gewesen.
Helena, die nichts vom aufschlußreichen Gespräch des Adlerpiloten mitbekam, saß übers Eck genau neben Königin Hilda, vulgo Irma, und hatte sich anfänglich beträchtliche Sorgen gemacht, ob sie denn die abendliche Tafel auch überleben werde, wenn sie so unmittelbar der Willkür einer Frau ausgesetzt war, die einen derart fürchterlichen Beinamen hatte, aber tatsächlich dauerte es genau fünf Sekunden, um sie davon zu überzeugen, daß dieses feingliedrige, zerbrechliche Vögelchen, dieses zarte, vom Alter nur peripher berührte, Feenwesen nicht und nimmer dazu in der Lage war, auch nur einer Fliege etwas zuleide zu tun.
Sie ergriff nämlich - kaum hatte sie Platz genommen - ein Stäbchen mit einer stilisierten Porzellanhand am anderen Ende, dessen Zweck Helena bisher vergeblich hinterfragt hatte, und fuhr sich damit unter die künstliche Haarpracht, um das Ungeziefer am Kopf bei seinem mahlzeitbeschaffenden Tagwerk zu stören. Mit einem Seufzen wandte sie sich an Helena.
"Es gibt nichts Lästigeres als Läuse, meine Liebe, könnt Ihr mir da zustimmen? Immer jammere ich, aber ich bringe es nicht übers Herz, sie umzubringen!"
In dem Moment wurden die Türen eines der Nebeneingänge geöffnet, und herein strömte eine Flut von Lakaien, die auf silbernen Tabletts, Platten und in Schüsseln und Porzellanterrinen köstlich dampfende Speisen hereintrugen und mit Geschick und professioneller Geschwindigkeit die Hungrigen bedienten, nebenbei die passenden Weine kredenzierten, gebrauchtes Geschirr abservierten und die Sonderwünsche des einen oder anderen höflichst erfüllten. Ein fröhliches und unbeschwertes Schlemmen war die Folge, und da die Situation unverfänglich schien, ergaben sich die Alphaner im Moment der unabänderlichen Lage und delektierten sich an den gefüllten Gänsen, am Wildbraten in Weinsauce, dem Rahmlachs, den verschiedenen Gratins und Aufläufen und den übrigen Köstlichkeiten dieses, zahllose Gänge beinhaltenden, Menüs.
Der einzige, der mitten unter der ausgelassenen Meute unglücklich schien, war der König, der bereits bei der ersten Vorspeise, schon während der zweiten Auster, zu schwitzen und zu schnaufen anfing, und dessen pausbäckiges Gesicht Zeichen der höchsten Not erkennen ließ, bis er schließlich das Schlürfen der Auster abbrach und sie entmutigt sinken ließ.
Die Königin dagegen war, wohl aufgrund ihrer Gene, aus einem anderen, nämlich heißhungrigen, Holz geschnitzt und erwies sich entgegen allen Vorzeichen als ausgesucht gute Esserin, denn sie räumte gnadenlos mit allen Speisen auf, die sie, verlängert im Aktionsradius um ihre Gabel, erreichen konnte. Dies ging sogar soweit, daß Helena staunend und darum auch tatenlos dabei zusehen mußte, wie ihr Hilda die Schauderliche ungeniert eine Schneise in ihre Trüffelpastete hineinfraß, und es dauerte nicht lange, bis sie begriffen hatte, daß sie, wenn sie etwas von diesem wie auch allen nachfolgenden Gerichten haben wollte, vor allen Dingen eines sein mußte: SCHNELL!
So entbrannte ein von Helenas Seite stumm und geradezu verbissen geführter Kampf um den einen oder anderen Happen auf ihrem Teller, während die Königin mit ihrem Besteck überall mitmischte und dreinfuhr, nebenbei auch noch einen Kahlschlag um den anderen auf das Königs Portionen verübte und überdies Zeit fand, von der Hofmode zu erzählen, von den soeben renovierten Stallungen und dem `Pomeranzenhain´, in dem sie gerne promenierte.
Helena, die Gefahr lief, bald ebenso zu schwitzen wie der König - wenn auch aus einleuchtend anderen Gründen - warf schließlich das Handtuch im Kampf gegen die fingerflinke Hilda und ging dazu über, ihrerseits kleinere Attacken gegen Johns Teller zu starten, die von Erfolg gekrönt waren, weil John sowieso der Verdacht gekommen war, daß er irgendwo mitten auf der Strecke dieses Freßmarathons kläglich versagen werde.
Während noch das Gelage im Gange war, beugte sich Graf Kauno zu dem, lustlos in seinem zumeist leeren Teller stochernden, König und flüsterte ihm einige Worte zu. Der sah erfreut auf, ergriff ein kleines Glöckchen, das er zuvor mehrmals fragend beäugt hatte, und läutete damit den, wie er sagte, ernsten Teil des Abends ein.
Rasch verschwanden die letzten Teller mit warmen Speisen von den Tischen, und einige Käseplatten wurden zum Abschluß des Mahls hereingetragen. Das Ende kam wie gerufen, denn von den Gästen sah keiner so aus, als könnte er auch nur noch ein Minzblättchen vertragen, und dementsprechend lax war auch der Angriff auf die Käsespezialitäten. Nur die Königin ging mit ungemindertem Appetit auf den letzten Gang los und ruhte nicht, bis sie schließlich sämtliche Käseplatten samt dekorativen Weintrauben und Walnüssen leergefegt hatte.
Währenddessen schritt Roland, mehr oder weniger unauffällig von seinem Sekretär unterstützt, zur Tagesordnung über.
"Meine lieben Anwesenden, ich wäre nun entzückt, Eure Berichte zu hören und hoffe, daß Ihr mir allerhand Erfreuliches zu Ohren tragen werdet. Fangen wir mit dem Ministerium für Nachsichten an. Wieviele Nachsichten zu üben ist Euch in diesem Monat gelungen. Lord..." Er lehnte sich ein wenig in Kaunos Richtung, der ihm den Namen soufflierte. "Lord Peter?" Lord Peter, ein dürres, älteres Männlein in einer Admiralsuniform, erhob sich, hustend vom Wein, an dem er sich verschluckt hatte, als sein Name so unvermittelt aufgerufen worden war. Von irgendwo fischte er einen Zettel heraus und begann, noch von Hustenattacken geschüttelt, seine Erfolge zu verlesen.
"Wir haben an Mütterchen Rosalia Wurzelheim Nachsicht geübt, obwohl sie nach drei Verwarnungen nach wie vor Tiefflüge über die Ortschaften der Umgebung durchgeführt hat, ohne den verstopften Auspuff ihres Besens zu reinigen. Mit etwas Glück werden wir dazu in der Lage sein, noch etwa viermal an ihr Nachsicht zu üben, bis es der Besen von selbst nicht mehr macht." Der König nickte wohlgefällig. "Weiters ist der Bäcker Blau in den Vorzug unserer Nachsicht gekommen, weil seine Brote empfindlich an Größe verloren haben. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden noch zwei Nachsichten möglich sein, bis seine Wecken so klein sind, daß man sie de facto als nicht mehr vorhanden bezeichnen kann, und der Bäcker zur Einsicht gelangen wird. - Eine traurige Nachricht war für uns die über das Ableben unseres treuen Stadtschreibers Fronius, der es uns insgesamt 30 mal erlaubt hat, ihm gegenüber wegen der Fälschung unserer Stadtchronik nachsichtig zu sein. Seine Witwe wird von uns wegen der selbstlosen Dienste ihres Mannes einen Betrag von 20 Golddukaten erhalten." Damit beendete Lord Peter seinen Bericht und wurde von Graf Kauno dazu aufgefordert, in Zukunft ein wenig fleißiger zu sein.
Als nächster wurde der Minister für Revolutionsplanung aufgerufen, der sich, als Johns monokelbewehrtes Gegenüber entpuppte und sich im Aufstehen mißtrauisch umsah.
"Solange der Minister des Beschattungsunternehmens-Ministeriums nicht anwesend ist, kann ich ja Bericht erstatten!" erläuterte er sein Verhalten und schilderte sodann, daß die Rebellen im östlichen Wald erfolgreich bewaffnet worden seien, ohne daß sie Verdacht geschöpft hätten und daß nun bald mit einem Angriff auf die Hauptstadt zu rechnen sei - die Angriffspläne müßten aber erst noch vom Minister für Beschußfassung detailliert ausgearbeitet werden, ehe man sie an die Rebellen weitergeben könne. Selbstverständlich sei auch der Minister für Gulaschkanonen unterrichtet, und man werde den Aufstand, wie vorgesehen, niederschlagen können.
"Der Minister für Gulaschkanonen?" demaskierte sich John in Bezug auf seine Unwissenheit etwas zu laut.
"Der Einwand ist nicht schlecht, Lord Rudy," griff der König sein Kommentar auf, "aber habt Ihr bedacht, wie lausig hungrige Truppen kämpfen? Punkt eins auf dem Schlachtfeld ist immer die Reinlichkeit!"
"Verpflegung," verbesserte ihn die Königin mit vollem Mund.
"Ich danke dir, Emma, mein Augenstern. So weit, so gut. Fahren wir fort mit dem Ministerium für Fata Morgana, Graf Elbrich, bitte." Roland war in Schwung gekommen und wickelte seine Amtsgespräche fast ohne die Unterstützung seiner rechten Hand Kauno ab. Graf Elbrich war ein fahlgesichtiges Individuum, das einen richtiggehend zerpflückten und zerzausten Eindruck machte und schon während des Banketts wegen seiner Neigung aufgefallen war, jedesmal unter dem Tisch zu verschwinden, wenn die Haupttür des Speisesaals aufgegangen war. Mit anderen Worten: man sah ihm an, daß er nervlich völlig zerrüttet war. Tatsächlich suchte er auch um Befreiung von seinem Amt an, da ihn Frau Morgana, jene Dame, die so streitbar war, daß ihretwillen ein eigenes Ministerium eingerichtet hatte werden müssen, an den Rand des Wahnsinns getrieben habe, indem sie ihn neuerdings bis in sein Schlafzimmer verfolge und mit Gesuchen, Beschwerden und Klagen bis über beide Ohren eindecke.
Der König musterte das erschütterte Nervenbündel mitleidig und gab zu, daß wohl diese spezielle Aufgabe eine der forderndsten überhaupt sei. Graf Elbrich solle aber daran denken, daß Frau Morgana seine Schwiegermutter sei, und daß er, der König, nicht dazu in der Lage sei, sich in Familienangelegenheiten einzumischen.
Er ließ den Blick schweifen und fixierte Helenas Gesicht, das quasi als Kommentar zu den gesamten Amtsgesprächen einen stark fassungslosen Ausdruck zur Schau stellte.
"Ihr wundert Euch, Lady Marianne? Das Regieren ist nunmal keine leichte Arbeit. Ihr werdet mir zustimmen, Lord Albert." John sah sich damit angesprochen und beeilte sich, dem Herrscher rechtzugeben. "Nun gut. Als nächstes hören wir etwas über das Ministerium für Trugschlüssel." Ein großer, bärtiger Mann erhob sich und verkündete, daß nahezu die Hälfte aller angeforderten Schlüssel bereits verfertigt worden sei, wodurch die Einbrüche erfreulicherweise um 70% zurückgegangen seien.
"Gelogen!" schrie der Vertreter der Denunziationsbehörde dazwischen, "Die Einbrüche sind um weniger als 30% gesunken!"
"Ich muß mich schon sehr wundern, Sir Eric," maßregelte Graf Kauno den Zwischenrufer, "das fällt doch gar nicht in Euren Zuständigkeitsbereich. Tut lieber kund, welche Leistungen Ihr erbracht habt!" Sir Eric, ein eifriger, noch recht junger Minister, der erst seit kurzer Zeit im Amt war und dem deshalb sein Fehltritt vom Nachsichtenminister verziehen wurde, lief rot an und setzte stotternd zur Berichterstattung an, wobei er die Frau des Lehrers denunzierte, die einen Wohltätigkeitsball auf die Beine gestellt hatte, den Kaufmann Knick, der eine namhafte Summe zum Bau des Stadtturms gespendet hatte und den Bader, der in einer Sonderaktion alle Obdachlosen gratis rasiert hatte.
Als nächstes war der Minister für Genußsucht an der Reihe, der aber selbst diesem Laster so heftig gefrönt hatte, daß er außer seinem eigenen bedauernswerten Fall nichts zu präsentieren hatte und jetzt nur schuldbewußt vor der Versammlung stand und kein Wort zu seiner Verteidigung vorzubringen wußte.
König Roland strich ihm zur Strafe den Nachtisch - auf den sofort die Königin Anspruch erhob.
"Clara, mein Herzblatt, alles, was du willst," war die Antwort des Königs, und Hilda schmunzelte zufrieden.
Roland, der den Faden ein wenig verloren hatte, ließ sich von Kauno auf die Sprünge helfen und kündigte dann Lord Reginald, den Minister für Meinungsfälschung an. Der jedoch meldete sich nicht und wurde erneut aufgerufen, und da merkte Alan, daß die Augen des Königs und auch die seines Sekretärs etwas ungeduldig auf ihm ruhten. "Lord Gregory, was ist los? Braucht Ihr eine Extraeinladung?" Alan erhob sich mehr verwirrt als verlegen und versuchte zu erklären, daß er weder Lord Reginald noch Lord Gregory war, und daß er auch kein Ministerium innehatte - und schon gar nicht das für Meinungsfälschung. Er kam zu dem Schluß, daß dies ein Irrtum sein müsse, und vielleicht sehe er nur dem echten Minister entfernt ähnlich.
"Was sucht Ihr dann an meiner Tafel, wenn Ihr keine Putzfrau seid!" rief Roland empört.
"Ich glaubte, ich wäre Euer Gast."
"Gast? Werden denn an unserem Hof Gäste willkommen geheißen?" Kauno nickte zu Alans Erleichterung.
"So, wer ist dann noch hier alles nur zu Gast?" John und Helena meldeten sich kleinlaut. "Graf Eduard!" rief Roland in höchstem Erstaunen, "Ihr beliebt zu scherzen! Ihr seid doch der Vorsitzende des Ministeriums für Umwälzung! Und Lady Isabella! Wo Ihr doch dem Gremium zur Baumschulreform vorsteht! Wahrscheinlich habe ich schon den ganzen Tag auf Euren Beitrag gewartet, Ihr enttäuscht mich sehr. Ihr werdet alle morgen in der Küche frühstücken." Erschöpft sank er zurück in seinen Sessel, pflückte sich die Perücke vom Kopf, wobei spärliches, kurzes, graues Haar zum Vorschein kam, und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. "Nun gut," fuhr er fort, "was haben wir sonst noch zu tun?"
Es folgte die Anhörung des Spießbürgermeisters, der sich bitterlich über die Einführung der Straßenbeleuchtung in seiner Stadt beschwerte, da sich ja die Bürger, wie er glaubte, ohnedies nachts nicht herumzutreiben hätten, und dieser Unsitte wolle er keinen Vorschub leisten und wenn da tatsächlich jemand im Finsteren das Haus verlassen wolle, dann solle er eben eine Laterne mitnehmen. Er jedenfalls könne gut und gerne auf eine Straßenbeleuchtung verzichten. Worauf Roland prompt bestimmte, daß man die Lampen löschen solle, solange sich der Spießbürgermeister des Nachts auf der Straße aufhalte.
Nun machte der König endgültig einen recht angeschlagenen Eindruck, und obwohl noch die Minister für Beschlußvermeidung, für Luftschlösser und Schlagschatten dringend um das Wort ersuchten, erhob er sich mit zerstreuter Miene und stampfte zum Saal hinaus, die Königin auf ihrem Sitz vergessend, die solchen Kummer allerdings gewöhnt war und sich von Graf Kauno hinausbegleiten ließ.
Längst nicht alle anwesenden Minister hatten Bericht über ihre Arbeit erstattet, doch schien das nichts auszumachen, denn infolge des reichhaltigen Gelages machte die Allgemeinheit einen eher zahmen und mundfaulen als diensteifrigen und arbeitswilligen Eindruck.
Nach dem hoheitlichen Abgang allerdings schien der Abend ohnedies beendet, und es herrschte Aufbruchsstimmung.
Ein freuestrahlender Spasico erschien und geleitete die Alphaner diesmal höchst zurückhaltend und manierlich zu ihren Zimmern. Er machte seine Sache sehr gut, und sein einziges Mißgeschick bestand darin, so intensiv auf Helenas Rocksaum zu steigen, daß sich ihre extravagante Garderobe mit einem entsetzten Knirschen und Platzen der Nähte bis auf die Unterröcke in ihre Bestandteile auflöste und die jetzt mehr Ent- als Bekleidete mit verdutzter Miene gegen eine Steinbüste knallte, und auf diese Weise die fast schon vergessene Beule auf der Stirn etwas auffrischte.
Wer also in dieser Nacht mit einem Eisbeutel als einzigem Bettgefährten hinlänglich bedient sein wollte, war nicht eben schwer zu erraten!
Ritterliche Anwandlungen |
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John versank in den Daunenfederkissen des alten Messingbettes, das in seiner Kammer stand und in das er sich schon seit geraumer Zeit sehnlichst gewünscht hatte.
Unglaublich - sollte erst ein Tag vergangen sein, seit das unsinnige Abenteuer begonnen hatte, seit seine Welt derart Kopf stand, daß er jetzt in einem Bett lag, das, wie auch all die anderen Dinge aus einem überdimensional großen Requisitenvorrat entnommen und willkürlich zusammengewürfelt schien und vielleicht wie die seltsamen verschrobenen Menschen Teil einer grotesken Komödie waren, in die man ihn und seine Leute gesteckt hatte, um - ja, um was zu tun? Waren sie willenlose Akteure in dieser Aufführung, oder was steckte dahinter?
Er seufzte, zu müde, um weitere Überlegungen anzustellen, und drehte sich auf die Seite, um die Kerze auf dem Nachtkästchen zu löschen.
Immerhin - Humor konnte man ihrem unsichtbaren Widersacher nicht absprechen; er grinste, als sein Blick auf eine zipfelige Schlafhaube fiel, die aufzusetzen er verweigert hatte, nachdem er sich schon das knielange weiße Nachthemd übergezogen hatte.
Die Kerze erlosch, und mit dem Licht verschwand jäh die Vertrautheit aller zuvor bekannten Dinge - mehr noch:
Wie Gespenster schwebten Schatten durch den Raum, lautlose Bewegung fahler Gespinste, und dann bläuliche Chimären, die waberten und wogten in der plötzlichen Feindseligkeit der nächtlichen Kammer.
John lag, das Schauspiel ungläubig zur Kenntnis nehmend, in seinem Bett, während sich sein ermattetes Gehirn, im Bestreben, rationelle Erklärungen zu finden, zu verwegenen Manövern aufraffte. Doch das Mondlicht war fern und gelangte nicht durch die Balken vor dem Fenster, und, da konnte er sich die Augen noch so aus dem Kopf schauen, es zeigte sich keine andere Lichtquelle hinter den flackernden Schemen.
Ein zaghaftes `Hallo´ schien das Treiben nicht zu tangieren, und er überlegte, wie er die Frage, ob er vielleicht behilflich sein könne, formulieren solle - um sich sogleich an die Stirn zu greifen. Gespenstern Hilfe anzubieten, schien ihm nicht ein völlig durchkonstruiertes Vorhaben zu sein.
Wer weiß, was ihnen dazu einfällt!
Plötzlich flog die schwere Tür mit einem Rummms! auf, und er saß im gleichen Moment aufrecht im Bett, um herzschlaglos im Dunkel auf einen wirbelnden, fuchtelnden, weißen Fleck zu starren, der sich unvermittelt in seinem Raum geradezu materialisiert hatte. Die Tür fiel mit einem Knall ins Schloß, und als er endlich sah, daß es sich bei dem vermeintlichen Geist um Helena handelte, da war sie bereits mit einem Riesensatz, nicht, ohne ihm mit wenig Zartgefühl auf den Schienbeinen herumzutrampeln, ins Bett gesprungen und hatte sich bis über den Kopf zugedeckt.
Er kippte, als der erste, vernichtende Schreck verflogen war, zurück in die Waagrechte, seine derangierte Gefährtin, die eine berückende Vorstellung als zitterndes Espenlaub ablieferte, neben sich.
"Solange mir das Tageslicht nicht fröhlich durch das Fenster zuwinkt, bewege ich mich um keinen Millimeter aus diesem Bett heraus," ließ sie ihn wissen, und diesem Beschluß war trotz der dämpfenden Federbettberge eindeutig der eine oder andere panische Mißton zu entnehmen. Deswegen schien sie wohl auch nicht im mindesten beeindruckt von der beachtlichen Enge der Liegestatt. John hatte nicht das Herz, die Platzräuberin zu entfernen und richtete sich auf eine überaus `erholsame´ Nachtruhe ein.
Doch daß diese Alternative die wesentlich harmlosere, ja, sogar angenehmere Variante, eine Nacht zu verbringen, hätte sein können, sollte sich wenig später herausstellen.
In einem furiosen forte fortissimo platzenden Holzes und berstender Fensterscheiben nämlich begann der nächste Akt einer überaus lebhaften Darbietung, die sich zur reinsten tour de force für zwei übermüdete und leicht durchlöcherte Nervenkostüme entwickeln sollte.
Höllenzauber war angesagt, und er tobte gemeinsam mit einem grönländischen Wirbelwind durch die Kammer, um da alle Dinge in einem pfeifenden und heulenden Reigen durch den Raum zu peitschen, ein Klappern, Scheppern und Rattern setzte ein, der Schürhaken schoß quer durch das Zimmer und landete mit scharfem Klirren am gerankten Kopfteil des Messingbettes, der Nachttopf zischte wie eine Kanonenkugel durch die Luft und blieb grotesk verbeult in der Wand stecken, Johns abgelegte Kleidung erhob sich zu einem unheimlichen Tanz über die Dielen, und die Möbel hopsten und sprangen wie bei einem mittleren Erdbeben.
Abgesehen von letzterem blieb John jedoch alles verborgen, denn er hatte sich flugs, als das Toben seinen Anfang genommen hatte, in einem Anfall von Feigheit zu Helena unter die Decke verfügt und hoffte nur, daß sie nicht beide durch ein kurz entschlossenes Schwenken des Bettes um seine Längsachse ausgeschüttet, in die Mitte des Treibens befördert und so Spuk und Konsorten gleichsam zum Fraß vorgeworfen würden.
Daß ein Aneinanderklammern kein wirksamer Schutz gegen etwaige bettenstürzlerische Absichten der geisterhaften Kohorten sein konnte, war beiden Angsteingejagten kurzfristig entfallen, und nur die freundliche Fügung, daß die Quälgeisterbrigaden offensichtlich gar nicht vorhatten, sie aus der relativen Sicherheit des Bettes zu vertreiben, bewahrte sie davor, in hohem Bogen herausgeschleudert zu werden.
Plötzlich aber war es still, genauso rasch, wie das Umgehen begonnen hatte, war es wieder vorbei, und als sich auch nach einer Weile nichts tat, wagten sie sich mißtrauisch bis zur Nasenspitze aus ihrem Versteck hervor und fanden die Kammer, nunmehr hell vom Mondlicht, aber im übrigen wie ein Schlachtfeld vor, als hätte ein Orkan den gesamten Raum zum persönlichen Feind erklärt und alle leblosen Dinge darin buchstäblich niedergemetzelt. Einzig das Bett war unangetastet geblieben, was die zwei zur Fehldeutung verleitete, daß sie gänzlich Schonzeit hätten. Als ihnen der Irrtum dämmerte, war es bereits zu spät, ihr Heil in der Flucht zu suchen.
Vor ihren Augen materialisierte sich eine Gestalt, die am Fensterbrett angelehnt stand, ein weißer Ritter, von Kopf bis Fuß in seine Rüstung gehüllt, einen rötlichen Federbuschen am Helm, der sanft den Bewegungen des Kopfes folgte, als er die beiden ins Visier nahm.
John fand, daß es an der Zeit sei, dem spukischen Unfug ein Ende zu setzen, und er ersuchte den gespenstischen Ritter, doch bitte jemandem anderen seine Aufwartung zu machen, denn wie auch die Chefärztin sei er ziemlich müde und außerdem wisse er nicht, was daran so interessant sein sollte, völlig unschuldige Leute, die kaum jemals einem Gespenst etwas zuleide getan hätten, von einem Herzinfarkt in den nächsten zu jagen.
Ob er sich im Ton etwas vergriffen hatte, oder ob den Ritter gegen vorlaute Sterbliche ein Heuschnupfen plagte, war schließlich und im nachhinein betrachtet, ganz irrelevant, denn, ehe sie es sich versahen, war das Bett mehr oder weniger selbsttätig seiner einstmals festen Unterlage entrissen und gelüftet und stürmte dann sozusagen als neumodische Abwandlung des fliegenden Teppichs auf- und abwärts, kreuz und quer durch die Kammer, sich ruckartigen Bewegungen begeistert hingebend und auf diese Weise maßgeblich an der Handlungsunfähigkeit der zwei Bettlagernden beteiligt.
Gleichzeitig erklang ein metallisches und hohles Triumphgelächter aus der nach wie vor am Fenster positionierten Blechbüchse, die das Kunststück zuwege brachte, im beengenden Harnisch einen erstaunlich entspannten und sogar flockigen Eindruck zu machen.
Nach einer Weile aber hatte sie sich sattgesehen und entschwand pfeifend zum Fenster hinaus, um zum Entsetzen der Gespensterschauenden visierklappernd und federbuschenschwenkend in der Luft hängen zu bleiben und sich aus heiterem Himmel auf eine herausfordernde, geradezu lockende, Gestik zu versteifen!
Unnötig zu erwähnen, daß das Bett prompt der Einladung folgte. Es preschte hinter dem ritterlichen Geist her, schob sich mit einem ohrenverbiegenden Quietschen durch den engen Fensterstock, während gleichzeitig der Rest des Rahmens herausbrach, und begab sich sodann unverzüglich in den freien Fall, unterstützt von zwei an Dezibel reichen Panikschreien. Kurz vor dem Aufprall aber scherte das ungewöhnliche Fluggerät seitlich aus und schwang sich in einem Bogen wieder hinauf in den Äther - oder was immer sich da im Unkontinuum in höheren Lagen herumtreibt.
Derweilen verblieb der weiße Ritter stabil in der Schwebe, leicht vom nebeligen Hauch der Nacht umfangen, um sein boshaftes Spiel mit den beiden Alphanern fortzusetzen. Die hatten sich inzwischen wohlweislich zu Verankerungszwecken an den Messingranken vergriffen und gaben sich der innigen Hoffnung hin, nicht im nächsten Moment ihr Leben auf dem Pflaster des Hofes aushauchen zu müssen (zumeist recht weit unten).
Doch der Ritter ließ sich zu immer tolldreisteren Aktionen hinreißen, dirigierte das Bett in einen immer wilderen Kurs - das heißt, von Kurs kann eigentlich keine Rede mehr sein, die Strecke setzte sich mehr aus bloßen Kursabweichungen zusammen: bald ließ er es Haken, bald Purzelbäume in der Luft schlagen, und als es sich hochkant stellte und sich in einen rasende Pirouetten drehenden Kreisel verwandelte, da wußten die beiden Opfer nicht mehr, ob sie besser schreien oder sich lieber übergeben sollten, oder ob dies vielleicht die seltene Ausnahmesituation war, in der beides gleichzeitig funktionierte.
Wie durch ein schieres Wunder verwandelte sich keiner von beiden in ein menschliches Geschoss, und sie blieben statt dessen hartnäckig auf den Bettenkontakt fixiert. Das Gespenst, seinerseits hartnäckig, ließ sich eine neue List einfallen, indem es das Bett kurzerhand umdrehte, und mit einer solch hinterhältigen Tücke hatte weder Helena noch John gerechnet - ganz zu schweigen von der alten Roßhaarmatratze - so daß sie alle drei aus luftigen Höhen unangenehm rasant dem Boden zustrebten. Den Sturz begleitete ein obligates bivokales Schreien, das in dem Fall - selbst für die augenblickliche Situation - übertrieben atonal war, während die Matratze aus einleuchtenden Gründen von derart blamablen Aktionen absah und also verinnerlicht und stillschweigend in die Tiefe stürzte.
Unten wartete die schwarze, wenngleich mondspiegelnde Wasserfläche des Sees mit wer weiß was für Krokodilen, Seeschlangen und sonstigen Wassermonstern. Dennoch war John herzlich froh, als er mit Todesverachtung hinabschaute; alle wilden Ungeheuer der Welt schienen ihm in dem Moment um eine Kleinigkeit harmloser als das ebenste, friedlichste und am wenigsten aggressive Kopfsteinpflaster, das je ausgelegt worden war.
Nur eine halbe Sekunde vor dem platschnassen Tauchgang rauschte mit einem Zischen das Bett herbei und fing Matratze und Personen - sogar in der richtigen Reihenfolge - wieder auf, das Gespenst auf den Fersen, das sie wie auf einer katastrophalen Achterbahnfahrt über die nächtliche Landschaft hinwegjagte, bis ihnen die Zähne vor Gruseln und Kälte klapperten.
Und irgendwann - zu einem Zeitpunkt nämlich, als sie gar keine Chance mehr sahen, jemals den Klauen des weißen Ritters zu entkommen, da setzte er sie mit schauderlichem Lachen außergewöhnlich behutsam ab, und dies, von boshafter Gesinnung, präzise am Dachfirst des Haupthauses, so daß das Bett mit den beiden Eiszapfen an Bord wie eine austarierte Wippe in der Luft schwebte, ein labiles Gleichgewicht, dessen Ende höchst unschwer bei dem kleinsten Windhauch vorhersehbar war.
John und Helena wagten zur Abwechslung keinen Mucks mehr, obwohl John - freilich nur innerlich - kochte, dampfte und brodelte wie ein alter Hexenkessel, der mit hochexplosiven magischen Ingredienzen gefüllt war.
Ein weiterer Geist flog auf sie zu, liederlich flatternd, weiß und seltsam formlos taumelte er auf die Havarierten zu, die nach dieser Nacht keinen Funken von Furcht mehr für neue Gespenster über hatten und außerdem vollauf mit vorläufigem Stillhalten beschäftigt waren.
Die Erscheinung aber war nichts anderes als Johns warme Daunendecke, die sich ausgebreitet auf die vor Kälte starren Körper legte, damit aber unglücklicherweise die improvisierte Waage aus dem Gleichgewicht brachte, und also das Fußende erdwärts über das Satteldach kippte, bis die unteren Beine auf Ziegel trafen, und dann rutschte das gesamte Gestell kreischend über die Dachschräge hinab, um danach, nur durch die beiden oberen Beine des Bettes gehalten zu werden, die sich auf der anderen Seite des Dachs eingehakt und verankert hatten.
Nun von Handlungsfreiheit oder möglichen Optionen der Insassen zu reden, wäre leicht übertrieben. Das Gefälle war zu stark, um auszusteigen und es sich oberhalb eines der Rauchfänge gemütlich zu machen oder gar zum Türmchen zu spazieren und dort Einlaß zu erflehen. Sich rittlings auf den First zu setzen, würde die Lage auch nicht gerade verbessern. Sie blieben also fürs erste, wo sie waren, aufrecht im Bett lehnend, mehr wie eine Motte, die in ihrem Kokon hing, und versuchten , sich ein wenig aufzuwärmen.
Daß ihr Teufelsritt wesentlich länger als vermutet gedauert hatte, wurde ihnen erst bewußt, als wenig später die Dämmerung hereinbrach und die Sterne am Himmel blaß wurden, um im ersten matten Licht des Tages zu verschwinden.
Ein dumpfes Rumpeln, gewürzt mit angestrengtem Keuchen, ertönte plötzlich aus dem benachbarten Kamin, der knappe zwei Meter vom gestrandeten Bett entfernt war, und wurde immer lauter, so daß John und Helena es wagten, Hoffnung zu schöpfen.
Am oberen Ende des Rauchfangs tauchte zuerst ein schwarzer, wallender Haarberg auf, der in alle Richtungen strebte, und ihm folgte alsbald ein grotesk verbogenes, ursprünglich blaues, jetzt aber rußiges Gesicht. Spasico arbeitete sich, auf seine unnachahmliche Art überschwenglich grinsend, noch ein Stückchen hinauf, legte dann beide Unterarme auf die Kaminmauer und stützte das Kinn (oder was immer sich zu dem Zeitpunkt an der Stelle des Kinns aufhielt) darauf.
"Unfüglichkeiten," bemerkte er schließlich mit tadelnder Miene, "Unfüglichkeiten, die diese abscheusame, unsägerlich nichtsnutzliche Wusel-Grusel-Gespenstlichkeit allerorten verbrechert. Kein bißchen nichten läßt sie sich ins Gewissenhafte hinein redern, sprechern und vorsagern!"
John wollte wissen, ob er sie aus dieser mißlichen Lage befreien könne. "Wie dummen von meiner! Mühhaft haber ich euch auskundgeschaftert, und desserthalben binnen ich ja genauerlich und pünktig inwendig im rauchig-rußigen Schwarzkamin hinauf gewindlert und gewandlert!" Somit fuhr der dienstbare Geist - Pardon! Von Geistern soll in Zukunft nur noch im Not- und Ernstfall die Rede sein, denn wer weiß, wie sehr wir mit diesen erzählten, so locker dahingesagten Worten den Ablauf der Geschichte im Unkontinuum beeinflussen, welche Energien sich zwischen den Buchstaben und dem Nichtort hin- und her bewegen und somit für fürchterliche Begebenheiten, die unseren Helden zustoßen, verantwortlich sind! Also kein dienstbarer Geist, sondern Spasico in leibender und lebender und energetisch freudig aufgeladener Fasson war es, der nunmehr seine Arme teleskopartig ausfuhr und zuerst Helena - dann John - unter den Achseln packte und sie zu sich herüberhievte, während er unter der schwärzlichen Maske vor Anstrengung dunkelblau anlief und alle Organe des Kopfes wie auf einer Geleeoberfläche in seinem Gesicht hin und her rutschten, zu gänzlich unpassenden Orten schwammen und dort vor Anker gingen.
Die Geretteten hielten sich, überglücklich, der Nacht entkommen zu sein, aneinander und an Spasico fest, der, von kindlicher Freude erfüllt, die beiden an sich drückte und lauthals lachte.
"Und nunen huuuuiii!!!" schrie er und rutschte den engen Schlauch des Rauchfangs hinunter, mindestens vier, fünf Stockwerke abwärts ging es, bis alle drei in der Küche aus der Feuerstelle purzelten, Rußwolken in die Luft puffend und schwärzer als der eifrigste Schornsteinfeger.
"Glückseligkeit!" tönte Spasico, der mit seiner Gummikonsistenz alle Ankantungen, Abschabungen und unsanfte Verknautschungen seines Transportgutes verhindert hatte (ausnahmsweise!), und sprang federnd auf, "eine heitrige Zufälligkeit, daß in daselbigem Kaminling kein züngelnd flammig brennendes Feuerchen entfachert worden isset! Viel zu glühig für Spasico!"
Er deutete auf zwei riesengroße Steinguttassen - mehr schon Salatschüsseln - die mit dampfendem Punsch gefüllt waren, und bemerkte, daß sie gedacht seien für "innerlich inwendige Aufwärmungszwecklichkeiten".
John und Helena gaben sich erlöst und heilfroh der entspannenden und wärmenden Wirkung des heißen Getränkes hin, das ihnen eine noch verschlafene Köchin mitleidig über den großen eichernen Küchentisch zuschob, während Spasico sie über den bösartigen Spuk aufklärte, dem sie zum Opfer gefallen waren und den er, Spasico, trotz aller Bemühungen nicht hatte abwenden können.
"Es isset dies Theodoro, eine ehemalige puritanistisch heillosig rückständliche Ritterlichkeit, die seinerzeiten, also zur Zeitsamkeit ihrer fleischhaften Anwesen- und Zugegensamkeit mächtig kräftig entzücket war von der hohen, oberen und unerreichhaften Minniglichkeit, aber eine Jeglichkeit der niedrigen, unfeinen schamlossam scheußlichten Minnige isset ihm zuwiderlich gewest, weswegern ihm auch zwei Gestaltigungen in einer Bett- und Rüsselstatt heftig deftig mißfallern haben."
"Wir haben uns ganz gesittet verhalten," wandte John empört ein.
"Darannen zweifler ich nichten!" erwiderte Spasico mit vielsagendem Blick auf die beiden demolierten und erbarmungswürdig zerrupften Gestalten vor sich. "In der Tätlichkeit verhaltert es sich so, daß Theodoren der Minister isset für Pfad- und Wegekontroll-Ding- und Sächelchen. Die Natursamkeit seiner Existenzialität bedingert allerdingsen, daß er nur nachts seine Ämtlichkeit ausübern kann, und dessertwegern, befürchter ich, legert er seine Aufgabengebietlichkeit auch etwas und ein weniglich weit und übertriebern aus!"
Weniger das Ressort als vielmehr die Person des Ministers veranlaßte John, mitten unter dem Trinken innezuhalten und aufzuschauen.
"In eurer Regierung sind Gespenster vertreten? Was für ein Ort! Jetzt fehlt bloß noch, daß du auch ein Ministerium innehast!"
Spasico entblößte lachend zwei Reihen von mächtigen Zähnen, die ihm wie einzelne weiße Grenzsteine aufgefädelt in den Mund gepflockt schienen, und zeigte mit Daumen und Zeigefinger eine verschwindend geringe Menge an.
"Aber nur ein winziglich unbedeuthaftes! Ich binnen ," meinte er mit - und dies ist wörtlich gemeint- stolzgeschwellter Brust, "der Minister für Steckenpferdchen. Sie stehern in den Stallungsräumlichkeiten, falls ihr sie blicklich beaugapflern wollt!" Am liebsten hätte er sie wohl - wie ihm unschwer anzusehen war - gleich hinaus zu seinen Lieblingen geschleppt, aber mit aufgeregtem Erstaunen mußte er beobachten, wie beide, unter zusätzlichem Einfluß von Wärme und Alkohol, zu gähnen anfingen und fast synchron ins Land der Träume entschwebten, John, indem ihm der Kopf auf die Tischplatte sank und Helena, die sanft an die Seite des Commanders kippte. "Müdig sind sie," sagte er schließlich zur Köchin und deutete auf die zwei weggetretenen Vogelscheuchen. Sie empfahl ihm, sie auf die Ofenbank, wo sie nicht störten und wo es obendrein schön warm war, umzulagern.
Stunden vergingen, während deren weder das geschäftige Treiben noch die vielfältigen Frühstücksdüfte die Schlafenden auch nur zu einem Stirnrunzeln oder Beben der Nasenflügel animieren konnten.
Als Alan hereinkam und am reichlich gedeckten Tisch Platz nahm, schlug John erstmals mißtrauisch die Augen auf und weckte dann auch Helena.
"Feine Sachen hört man von euch! Da opfert ihr doch tatsächlich eure Nachtruhe, um ein armes Gespenst zu ärgern! Ich hoffe, ihr hattet wenigstens viel Spaß dabei!" sagte Alan süffisant, wobei ihm offensichtlich der Umstand entfallen war, daß ihn ein recht kleiner Alp mit einem allerdings imposantem Gebiß dazu genötigt hatte, einen guten Teil der Nacht mit einem aus seiner Sicht (und wohl aus der Sicht eines jeden anderen) völlig unzulänglich dargebotenen schottischen Tanz zuzubringen, und das aus dem einfachen Grund, da er sich andernfalls am nächsten Morgen um ein paar - womöglich wichtige - Körperteile erleichtert wiedergefunden hätte.
Helena, die sich zwar noch den Schlaf aus den Augen blinzelte, ließ sich trotzdem nicht täuschen.
"Mein lieber Freund," sagte sie, "wenn du einen so erholsamen Schlaf hattest, dann frage ich mich, was eigentlich die vielen blauen Ringe unter deinen Augen zu suchen haben. Als Aufputz versagen sie nämlich jämmerlich!" Alan grinste ertappt und erzählte, daß ihm sein nächtlicher Besuch den letzten Nerv gezogen hatte, indem er mit einem kompletten schottischen Kilt erschienen war, den er hatte anlegen und dann zu Dudelsacktönen, vom gräßlichen kleinen Gnom selbst dargeboten, durch das gesamte Schloß hatte hüpfen müssen. Und kaum war er einmal auf die abwegige Idee verfallen, außer Atem zu sein und sich vielleicht sogar schon ein ausgeprägtes Seitenstechen angezüchtet zu haben, da hatte das kleine Monster seine rasiermesserscharfen Zähne gebleckt und ihm damit gedroht, ihm bei Nachlassen der tänzerischen Aktivität in die Wade zu beißen oder ihm, wenn es den Drang dazu verspüre, eventuell überhaupt gleich einen Fuß oder auch eine Hand zu Hackbrei zu zerschnetzeln.
"Wißt ihr, diese Drohung hat mich in einen ziemlich flotten Tänzer verwandelt. In der Tat hätte ich mir früher niemals träumen lassen, einstmals zu einem so großen Verehrer schottischer Melodien zu werden, und ihr könnt euch sicher vorstellen, wie ungehalten ich war, als Spasico nach Dampfwalzenart anrollte und den Quälgeist einbremste. Und dann, was sagt ihr dazu, hat er ihm sein Gebiß abgenommen! Schön blöd bin ich dagestanden! Es war aus Plastik oder so, und ich wette, die Beißer wären ihm einzeln herausgebröckelt, wenn er auch nur versucht hätte, mich anzuknabbern!" Um die Schmach zu verdrängen, machte er sich übers Frühstück her, während Helena und John sich für eine Weile verabschiedeten, um sich von ihrem Look als Schornsteinfeger zu befreien.
Als sie zurückkamen, aufgemacht nach üblicher Alphamanier und also wieder adrett und akzeptabel, da war er bereits fertig und leistete ihnen Gesellschaft, denn es war dies die erste Gelegenheit, da sie die Muße hatten, ihre Situation ausführlich zu diskutieren.
"Seid mir nicht böse, aber Sinn sehe ich in unserem gesamten Abenteuer keinen," meinte Alan, "ich meine, wir haben schon alles Mögliche - und vor allem Unmögliche - gesehen, aber keinen Weg, der uns aus dem Schlamassel hätte herausführen können."
"Ich glaube, daß uns dieser spitzohrige Kerl irgendeinen Tip gegeben haben muß, den wir nur noch nicht verstanden haben," sagte John, "was hat er uns tatsächlich mitgeteilt?"
"Daß wir gefälligst unsere Rechnung bezahlen sollen!"
"Das meinte ich nicht. Was für einen Eindruck hat er gemacht?"
"Er war pedantisch, reserviert und rechthaberisch."
"Ja, aber unsere Entscheidung, den Adler auf der Wolkenbank zu verlassen, hat ihm gefallen. Er sagte, wir seien nach logischen Gesichtspunkten vorgegangen. Ebenso, wie er von Helenas Logbucheintragungen angetan war, die, wie er glaubte, von einleuchtender und rationeller Natur sind, erinnert ihr euch?"
"Aber was hat das mit unserer momentanen Situation zu tun, diesen seltsamen Kulissen und den noch seltsameren Figuren, die darin vorkommen? Ich nehme nicht an, daß ein buchstäblicher Weg, eine Straße, mit dem Schild 'Ausweg aus dem Unkontinuum' gemeint war."
"Das kann ich mir auch kaum vorstellen, Helena. Vielleicht sollen wir auf diese Weise verwirrt werden, damit wir nicht sehen, wie wir hier herausfinden können."
"Das wäre möglich," meinte Alan, "zumindest erklärt das diese 'Bilderflut', die uns seit unserem Eintreffen hier überrollt."
Pine grinste vergnügt. Der Ausdruck
"Bilderflut" gefiel ihm außerordentlich, und er wertete ihn als höchstes Lob auf
seinen Einfallsreichtum. Und die Idee mit der Ablenkung war, wie er gestehen
mußte, auch nicht sehr weit hergeholt.
Der einzige Motor, der ihn
antrieb, war der Wunsch nach Spaß.