Moira |
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Öfters fragt man sich, was denn zwischen
erster und zweiter Staffel mit den Alphanern so Geheimnisvolles geschehen ist,
dass man als Zuschauer kein Sterbenswörtchen davon erfahren darf. Hierzu
gibt es bereits mehrere Fanfiction-Geschichten.
Mindestens ebenso interessant
finde ich aber die Frage, was eigentlich nach der ersten Folge passiert ist! Da wird
der Mond so mirnixdirnix mit Mann und Maus auf eine Fernreise durch die
Galaxis geschickt, die Menschen sind mit schweren Schäden auf der Basis
und einem nagelneuen Kommandanten konfrontiert, ganz zu schweigen von ihrer
ungewissen Zukunft - und in der zweiten Folge ist kein Mucks mehr von den Schwierigkeiten,
die es anfangs zweifellos gegeben haben muss, zu hören! Da hat man sich
nicht nur mit den Gegebenheiten bereitwillig abgefunden, sondern muss sich
sogar schon mit den Eigenheiten eines fremden Planeten abgeben. Zwischen
"Die Katastrophe" und "Rückkehr der Toten" passt eine
ganze Batterie von Geschichten; dies ist mein Versuch, manche der losen Enden
zu verknüpfen.
Wie immer, über Feedback würde ich mich freuen!
Viel Spaß!
Dank gebührt wie immer meinem lieben Testleser-Team Barbara & Barbara!
Ein Blick aus dem Fenster, und mir ist klar, dass sich meine
Welt verändert hat. Es wird für immer Nacht bleiben.
Seltsam, wie es mir
vorkommt, dass ich noch vor einem Augenblick in Manarola in den Cinque Terre
auf einer mit verwitterten Schiefer-Steinplatten ausgelegten Terrasse saß und
bei einer Flasche Rotwein den alten Männern beim Schwatzen zusah.
Die Sonne scheint mir ins Gesicht, und die Sonnenbrille liegt wie immer, wenn
ich sie brauche, in meinem
Koffer... wie hätte ich ahnen können, dass ich kaum zehn Stunden später nie
wieder eine Sonnenbrille brauchen würde!
Ein Anruf kam für mich. Es ist mir ein Rätsel, wie man mich aufgespürt hatte, denn ich hatte mein Mobiltelefon zu Hause in New York gelassen und niemandem gesagt, wohin ich fliegen würde. Der Wirt kam aus der Taverna, wischte sich umständlich die Hände in seine längst nicht mehr weiße Schürze, die er sich vor den umfangreichen Bauch gebunden hatte, und rief lautstark nach mir:
"Signore Konig! Iste Telefone fir Sie!" Einen kurzen Moment hatte ich daran gedacht, einfach nicht dranzugehen, aber die Neugier überwog. Und tatsächlich! Der altmodische, schwarze Bakelit-Telefonhörer, zu dem noch eine richtig vorsintflutliche Wählscheibe gehörte, fiel mir fast aus der Hand. Meine kühnsten Träume wurden wahr, als man mir ohne viel Federlesens mitteilte, dass man mich zum Kommandanten der Mondbasis Alpha gemacht hatte, um die finanzträchtige Meta-Sonde ins All zu befördern!
Aber was für ein Debakel war daraus geworden, was für eine Katastrophe! Jetzt ist der gesamte Mond eine Meta-Sonde, die sich von Minute zu Minute weiter von der Erde wegbewegt und einen ungewissen Kurs ins All eingeschlagen hat!
So unfassbar die Explosionen sind, die uns aus der Umlaufbahn der Erde entfernt haben, so tragisch die Auswirkungen auf der Erde, ich kann nicht behaupten, dass ich verstehe, was die jüngsten Ereignisse bedeuten, die hinter uns liegen. Ich bin versucht, ihnen eine tiefere Bedeutung zuzuordnen, aber ich habe das Gefühl, nur das eine lose Ende des Handlungsfadens zu kennen. Wer weiß, ob sich je der Kreis schließen wird?
Die Geschichte nahm ihren Lauf nur wenige Tage, nachdem wir unsere Heimat verloren hatten. Wir waren mit Reparaturen beschäftigt, Aufräumarbeiten, und mit der bangen Kalkulation, ob es für uns überhaupt ein Leben auf diesem herumstreunenden Mond geben könnte.
Ich war dem Trubel entflohen und betrat endlich mein Quartier. Mein
Quartier! Was für eine Ironie.. mein Traum hatte sich in einen Albtraum verwandelt.
Seit Tagen war ich nun schon auf Alpha und hatte dieses Quartier kaum von innen
gesehen. Mein gesamtes Gepäck stand noch fast unberührt neben dem Couchtisch.
Ich ließ mich mit einem Aufatmen auf das Sofa fallen und bemerkte, dass da gegenüber
an der Wand direkt in meinem Blickfeld zwei Taschen aus Gorskis Besitz standen,
die er wohl auf seiner überstürzten Abreise vergessen hatte.
Ich rieb mir
mit beiden Händen über die Augen, die brannten, als hätten sie in den letzten
Tagen zu viel gesehen. Ich war hundemüde, hatte das Gefühl für die Zeit verloren,
und seit Jahrzehnten, wie es mir schien, hatte ich kein Auge mehr zugetan. Zwei-
oder dreimal war ich in den letzten Tagen auf mein Bett gefallen und dann entweder
gestört oder von Schlaflosigkeit heimgesucht worden. Jetzt, endlich, war die
erste quälende Unsicherheit vorbei, denn ich hatte vor wenigen Minuten erfahren,
dass die Lebenserhaltungssysteme so weit stabil waren, dass man damit rechnen
konnte, sie auf Dauer in Gang zu halten. Wir waren weit davon entfernt, in Sicherheit
zu sein, aber es war immerhin ein Anfang.
Als Commander hatte ich versucht, omnipräsent zu sein, überall, wo Entscheidungen notwendig waren, Für und Wider abzuwägen und den besten Weg zu wählen. Ich hatte zugepackt, wo Hände gebraucht wurden, selbst auf der Med. Station, wo ich mich nicht sonderlich wohl fühlte, und ich hatte das Gefühl, meine Aufgabe unter den gegebenen Umständen leidlich gut erfüllt zu haben. Krisensitzungen, zu denen ich die betroffenen Sektionsleiter, Fachleute und das Kommandoteam eingeladen hatte, waren von besonderem Nutzen gewesen, und ich hatte mir vorgenommen, solche Konferenzen zum festen Bestandteil unseres zukünftigen Arbeitsalltages zu machen. Nicht nur anlässlich brenzliger Situationen. Ich fühlte so etwas wie eine bescheidene Zufriedenheit, die erste Spur von Ruhe schickte sich an, meine strapazierten Nervenstränge zu umgarnen.
Wirklich ruhig war ich dennoch längst nicht, die großen Veränderungen,
die stattgefunden hatten, die Auswirkungen, die das Ereignis auf die Menschen
am Mond haben würde, darüber konnte noch kein Resümee gezogen werden -
zu stark saß noch der Schock in den Knochen, zu wenig Zeit hatten wir zum Nachdenken
gehabt. Ich zumindest hatte nur funktioniert, wie mechanisch hatte ich ums Überleben
gekämpft und das Notwendige getan. Es hatte keinen Augenblick der inneren Einkehr
gegeben, nur Entscheidungen und Handlungen, Aktion und Reaktion. Der Katzenjammer
wartete noch auf uns.
Ich starrte auf Gorskis Taschen und fragte mich, was
er wohl vermissen würde. Kein späterer Transport konnte ihm sein Eigentum bringen.
Unwillkürlich musste ich seufzen und dachte daran, wie notwendig eine Portion
Schlaf wäre, auch wenn ich merkte, wie sich die Furcht wie plätscherndes Wasser
zwischen die Polster meiner aufgesetzten Ruhe nach oben drängte und mir wieder
den Schlaf wegnahm.
Als ich das nächste Mal auf die Uhr blickte, waren fast fünf
Stunden vergangen.
Alles tat mir weh, und mein Körper war steif wie ein Brett,
als wäre ich soeben von den Toten wiederauferstanden. Ich stöhnte wie ein altes
Waschweib, als ich versuchte, mich zu erheben und war nur froh, dass mich niemand
bei diesem erniedrigenden Schauspiel beobachtete. Gorskis Sachen standen nach
wie vor neben der Stehlampe, und unversehens wurden sie für mich zu einem Sinnbild
dessen, dass es kein Zurück gab. Weder für die Taschen noch für mich. Immer
noch ächzend schlurfte ich hinüber und zog den Reißverschluss einer alten, fast
beutelartigen Tasche im schottischen Karomuster auf. Ein kunterbuntes Durcheinander
aus Dingen, die wohl zuletzt noch schnell mitgenommen werden sollten, blickte
mich aus dem Inneren vorwurfsvoll an. Ein elektrischer Rasierapparat, ein Block
mit zahllosen, undefinierbaren Kritzeleien, altmodische, karierte Hausschuhe, die
ineinander gesteckt waren, ein zerlesenes Buch von JF Cooper mit haltlos vielen
Eselsohren und eines von EA Poe in ähnlich bemitleidenswerter Verfassung, ein
paar einzelne Socken, eine Penthouse-Ausgabe, auf der alle halbnackten Mädchen
mit astronomischen Oberweiten versehen worden waren und viele, viele Papierbeutel mit Pflanzensamen.
Sieh da, Commander Gorski war wohl ein Blumenfreund. Hatte ich ihm gar
nicht zugetraut. Mit einem Kopfschütteln
stopfte ich die ganzen Schätze zurück in die Tasche und verabschiedete mich
ins Badezimmer, um mich wieder in einen Menschen zu verwandeln.
Eine halbe Stunde später hatte mein Commlock noch immer nicht
aufbegehrt, und ich fragte mich langsam, ob ich mir deswegen Sorgen machen musste.
Nach einer kurzen heißen Dusche fühlte ich mich wie neu geboren, und einmal
Zähneputzen tat sein Übriges für eine beträchtliche Steigerung meines Wohlbefindens.
Ich fand sogar eine frische Uniform mit meinem Namen im Schrank und trat, so
ausgestattet, kurze Zeit später auf den Korridor hinaus. Dort umfing mich eine
unheimliche Ruhe, die mich fast taub machte. Ich konnte mich nicht erinnern,
dass es, seit ich den Fuß wieder auf den Mond gesetzt hatte, je so leise gewesen
war. Ich beschloss, dies als gutes Zeichen zu nehmen, denn es war sieben am
Morgen, und die Tatsache, dass kein Chaos herrschte, konnte nur bedeuten, dass
die Mannschaft die Lage so weit im Griff hatte, dass sie sich wie ich eine kurze
Ruhepause gegönnt hatte.
Auch die Kommandozentrale wirkte geradezu schläfrig
auf mich, als ich eintrat, und Paul Morrow, der Hauptdienst versah, lehnte gemütlich
in seinem Drehstuhl und musterte gelangweilt ein sich wiederholendes Muster
blinkender Lämpchen auf seiner Konsole. Er blickte erfreut auf, als ich eintrat.
"Guten Morgen, Commander", hieß er mich willkommen. "Hatten Sie Gelegenheit, sich ein wenig auf Vordermann zu bringen?"
"Ja, das war auch allerhöchste Zeit", gab ich zur Antwort. "Was gibt es Neues?"
"Nichts Wesentliches!", vernahm ich eine Stimme, die aus dem Hintergrund kam. Ich drehte mich um und entdeckte Commissioner Simmonds, der an der Computerwand lehnte und mit vor der Brust verschränkten Armen sprach. Er hatte ein Pflaster an der rechten Stirn und schien etwas indigniert über die lange Abwesenheit des Commanders im Hauptquartier.
"Commissioner", erwiderte ich deswegen etwas spitz, "haben Sie sich gut erholt von Ihren Blessuren?" Simmonds war aus dem ihm zugewiesenen Quartier erst wieder aufgetaucht, als der allererste vernichtende Schrecken vorbei gewesen war, und hatte sich bisher bei den Aufräumungsarbeiten nicht eben nützlich gemacht.
"Commander, wie planen Sie weiter vorzugehen?" Ich fühlte keine Notwendigkeit, Simmonds über meine Vorhaben auf dem Laufenden zu halten, denn er hatte meiner Meinung nach mit dem Wegbrechen des Mondes aus seiner Umlaufbahn jegliche Autorität eingebüßt.
"Sie werden es zu gegebener Zeit erfahren, Commissioner", ließ ich ihn kühl wissen. "Paul, ich brauche die letzten Berichte aus den diversen Abteilungen, insbesondere aus der Energiezentrale und von den Reparaturmannschaften. Falls schon ein Bericht über die Adlerflotte vorliegt, hätte ich den auch gerne."
"Captain Carter war eben hier"; informierte mich Paul Morrow, "er wird seinen Rapport demnächst abgeben. Die übrigen befinden sich schon auf Ihrem Schreibtisch." Sein Blick schweifte zu Simmonds, wo er bedeutungsschwer haften blieb. Ich fragte sich, was dies zu bedeuten hatte, eilte aber, statt zu fragen, in mein Büro, dessen Verbindungstür zum Kontrollraum sperrangelweit offen stand. Beim Schreibtisch angekommen, sah ich, dass die Berichte offen da lagen, als hätte sich jemand daran zu schaffen gemacht. Mein Verdacht fiel augenblicklich auf den Commissioner. Der war mir bereits im gemächlichen Tempo gefolgt, und baute sich mit provokanter Miene vor mir auf.
"Simmonds, was soll das? Ich kann mich nicht erinnern, Ihnen Zugriff auf meine Unterlagen gestattet zu haben!"
"Ich brauche keine Erlaubnis", erwiderte der Commissioner barsch, "lesen Sie in den Statuten nach. Sie können froh sein, wenn ich Ihnen das Kommando über Alpha nicht entziehe!" Einen Augenblick lang blieb mir der Mund offen stehen, und ich starrte mein Gegenüber entgeistert an.
"Mit welcher Begründung?"
"Ihr Vertrag besagt eindeutig, dass Sie die Verpflichtung eingehen, die Meta-Sonde zu starten, und weiters, dass Sie bei Nichterfüllung Ihres Postens enthoben werden können!" Ich glaubte, ich hörte nicht recht!
"Und, befindet sich die Meta-Sonde etwa noch im Raumdock?", fragte ich patzig zurück.
"Keine Sonde und auch kein Raumdock mehr. Kein Mond in der Umlaufbahn und schwerwiegende Katastrophen auf der Erde. Es ist kaum möglich, einen Vertrag so was von nicht zu erfüllen, wie es Ihnen gelungen ist!" Mir platzte die Hutschnur.
"Ich erkläre hiermit den Vertrag für null und nichtig", ließ ich ihn wissen.
"Diese Antwort wird sich nicht gut in Ihrer Personalakte machen." Was war er für ein arroganter Kerl!
"Ich pfeife auf die Personalakte, Sie werden in Ihrem Leben keine Gelegenheit mehr haben, diese zu ergänzen!" Simmonds lächelte dünn.
"Ich bin vom Gegenteil überzeugt, Commander Koenig." Ich bekam den Verdacht, dass seine Kopfwunde deutlich mehr Spuren hinterlassen hatte als nur die sichtbaren, oberflächlichen, und hoffte, dass man mir meine Gedanken nicht ansehen konnte.
"Und was verleitet Sie zu dieser Überzeugung, für die ich, nebenbei gesagt, nicht den geringsten Anhaltspunkt habe?"
"Wir müssen eben einen Weg suchen", war die knappe Antwort, die für mich wahrlich alles andere als überzeugend war. Was führte der Kerl im Schild? Oder hatte er nur zu lange dem Nichtstun gehuldigt?
"Nun, dann wäre ich Ihnen dankbar für brauchbare Vorschläge!" Simmonds warf mir einen indignierten, herablassenden Blick zu.
"Mir ist durchaus bewusst, dass hier im Augenblick andere Dinge Priorität haben. Und wo wir gerade so schön darüber reden: Mir ist aufgefallen, dass Sie der Zustand des Mondes nicht eben zu bekümmern scheint. Wir haben keinerlei Daten von den Außenstationen mehr empfangen, und Prof. Bergman wird Ihnen bestätigen, dass die Mondoberfläche durchaus auch durch die Explosionen an Stabilität verloren haben könnte. Mondbeben wären für die Basis eine Katastrophe, und ich frage mich, wieso Sie nicht auf die Idee kommen, sich zum jetzigen Zeitpunkt zumindest ein Bild davon zu machen?" Ich musterte ihn argwöhnisch, diese Informationen standen ihm wohl nur zur Verfügung, weil er unerlaubt in meinen Berichten herumgeschnüffelt hatte.
"Nun, dann schlage ich vor, Sie kümmern sich darum", sagte ich ungehalten. Simmonds schien einen Augenblick perplex und antwortete dann mit falscher Unterwürfigkeit:
"Wie Sie wünschen. Commander!" Er machte auf dem Absatz kehrt und eilte aus der Kommandozentrale. Ich atmete auf. Simmonds war mir von jeher unsympathisch gewesen, und es lag nicht ausschließlich daran, dass er ein Politiker war, der es stets geschafft hatte, sich durch die mannigfaltigen Untiefen seiner Profession mit dem nötigen Opportunismus zu lotsen.
"Paul, sorgen Sie dafür, dass Simmonds ein Team bekommt." Ich blickte ihm irritiert nach. "Nicht mehr als drei Leute." Der Controller zog seine rechte Augenbraue halb nach oben in die Stirn und murmelte halblaut:
"Gute Idee, ihn zu beschäftigen. Dann steht er wenigstens nicht dauernd hier im Hauptquartier herum. Je weiter weg, umso besser."
"Was haben Sie gesagt?", fragte ich scharf, obwohl ich genau verstanden hatte.
"Ich meinte, es ist eine gute Idee, wenn die auswärtigen
Sensoren wieder in Gang gesetzt werden." Ich musste mir ein Grinsen verkneifen,
was mir nicht vollkommen gelang, weswegen ich den Kopf über die Berichte
senkte, die auf mich warteten. Insgesamt schien langsam Stabilität einzukehren. Es gab noch endlos
viel zu reparieren, aber einerseits war die unmittelbare Gefahr für Alpha gebannt,
und andererseits zeigten vorsichtige Kalkulationen, dass mit den vorhandenen
Mitteln nicht nur grundlegende Bedürfnisse gedeckt werden konnten, sondern auch,
dass ein Fortbestand der Mondsiedlung so gut wie sicher war.
Als neuer Kommandant kannte ich meine Mannschaft zwar noch nicht, aber mir war
aus meiner Zeit als Astronaut der übliche Jargon geläufig, mit dem man praktisch
vorhandene Tatsachen als nur mit guter Wahrscheinlichkeit vorliegend beschrieb,
um nicht als Optimist gesteinigt zu werden. Optimismus war im All nicht angebracht.
Allerdings,
diesen Standpunkt würde man überdenken müssen, ging es mir durch den Kopf. Es
war nicht nur eine Brise Optimismus notwendig sondern ganze Schiffsladungen davon,
zahllose Bruttoregistertonnen, sollten die Menschen in diesem feindlichen Umfeld überleben und nicht verzweifeln
wollen.
Ich hatte mich durch die Berichte gearbeitet, und als ich am Ende angekommen war, fiel mir auf, dass von Victor Bergman nur eine kurze handschriftliche Notiz dabei gewesen war. Mit seiner akribischen, gestochen scharfen Schrift, die ich aus Tausenden von anderen erkannt hätte, hatte er nur eine lakonische Anmerkung zu den potenziellen Mondbeben gemacht:
"Sensorenausfall", stand da zu lesen, "Mondbeben nicht auszuschließen." Ich war schon dabei, meinen Commlock zu zücken, um ihn näher dazu zu befragen, überlegte es mir dann jedoch anders. Ich wollte den Wissenschaftler lieber persönlich aufsuchen. Seit ich wieder auf Alpha war, hatte ich kaum eine Gelegenheit gehabt, mit meinem alten Freund und Mentor ein paar Worte zu wechseln. Es hatte so gut getan, ihn wieder zu sehen, hier in seinem Element, und ich glaube, von allen Menschen, die auf dem herumirrenden Mond gestrandet sind, macht es Victor am wenigsten etwas aus, dass er hier festsitzt. Er ist überall zu Hause, wo er nur forschen und tüfteln kann. Es ist mir ein großer Trost, ihn an meiner Seite zu wissen, denn in ihm habe ich so etwas wie einen väterlichen Freund gefunden. Victor ist ein brillanter Wissenschaftler und dabei ein so einfacher Mensch. Ein Humanist. Mein Fall.
Ich verließ mein Büro durch die Kommandozentrale, gerade als die ersten Diensthabenden der Tagesschicht eintrudelten. David Kano unterhielt sich lautstark mit einer blassen und zerzaust wirkenden Sandra Benes, die die halbe Nacht mit Systemanalysen und -diagnosen zugebracht hatte, ehe sie wohl doch schlafen gegangen war. Diese Leute würden mein Team werden, unter erschwerten Bedingungen. Ich hätte es ihnen gerne erspart, und es würde wohl nicht so einfach werden, aber wahrscheinlich würde ihnen - und mir - nichts anderes übrigbleiben, als uns zusammenzuraufen.
Ich eilte hinaus auf den Gang und nahm zum ersten Mal wahr, wie kahl und lieblos diese Korridorgestaltung wirkte. Was einst bei der Planung funktionell und praktisch erschienen war, wirkte trist und leer, wenn man wusste, dass man diese Umgebung möglicherweise nie wieder verlassen konnte. Vielleicht würden wir uns eines Tages Gedanken über eine Umgestaltung machen müssen. Victors Labor dagegen erweckte nicht den Eindruck von kalter Funktionalität. Es war ein Ort voller Geräte, deren Zweck nicht so ohne Weiteres ersichtlich war, ein Ort voller Gedanken und Taten, die ihren Niederschlag in einem frohen Überschwang turbulenter Geschäftigkeit fanden. Der Wissenschaftler stand, in der einen Hand einen Becher Kaffee, über eine große Reißbrettzeichnung gebeugt, während er sorgfältig kleine Zahlen- und Formelkolonnen niederschriftelte, ohne sich von dem Umstand aufhalten zu lassen, dass ich hereingekommen war.
"Guten Morgen, John!", begrüßte er mich nuschelnd und machte einen Strich unter seine letzten Zahlen. Dann stellte er den Becher mitten auf seinen Ausführungen ab und schaute auf. Trotz seiner offensichtlich aufgeräumten Laune schien er mir seit der Katastrophe um Jahre gealtert, der graue Haarkranz seiner unmodischen Frisur spross in unordentlichen Bögen um sein Haupt, und die zerknitterte Uniform hing ihm an den Rippen, als wäre er selbst geschrumpft. Rund um ihn waren hunderte Notizen verstreut, und ein beträchtlicher Anteil lag zerknüllt im und neben dem Papierkorb.
"Victor, mir scheint, dass dir etwas Kopfzerbrechen macht", sagte ich und deutete auf das Chaos. Er nickte.
"Ja, das kannst du mal annehmen", gab er bedächtig zur Antwort. "Weißt du, John, mit diesem Planeten stimmt was nicht."
"Du meinst Meta?"
"Ja, ja.. Meta!" Er hob ein paar Bögen Papier auf, die vollkommen mit Zahlen vollgeschrieben waren. "Das Signal, das wir von Meta bekommen, hat sich verändert, seit der Mond aus der Umlaufbahn der Erde gebrochen ist." Ich war überrascht.
"Du meinst, Meta hat bemerkt, dass in unserem Planetensystem etwas passiert ist?" Victor schaute mich verblüfft an.
"Nein", erwiderte er und hob einen Finger nachdenklich an die Stirn. "Nichts dergleichen. Ich habe festgestellt, dass wir zuvor ein gestörtes Signal empfangen haben. Seit wir die Umlaufbahn der Erde verlassen haben, befinden wir uns nicht mehr in der Reichweite der Störungsquelle und hören nun das unverfälschte Signal. Es muss sich um einen Frequenzfilter gehandelt haben, der zwischen Meta und Erde stationiert war." Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Diese Nachricht war ungeheuerlich! Ehe ich es bemerkte, hatte ich damit begonnen, in dem kleinen Raum auf- und abzulaufen.
"Dann wollte wohl jemand nicht, dass da einer das echte Signal empfing."
"Nicht einer, nein. Kein X-Beliebiger. Einer, der dazu in der Lage war, die Komplexizität des Signals zu erkennen. Einer, der technische Mittel besaß. Systemressourcen. Computerkapazitäten. Spezielles Equipment. Einer, der auch darauf aufmerksam machen konnte. Jemand auf Alpha."
"Jemand wie du." Victor begegnete meinem Blick.
"Richtig."
"Und was war es, das da verborgen werden sollte?"
"Frequenzen", war die Antwort, und ich zog verwundert eine Augenbraue hoch.
"Frequenzen?"
"Die unter der oberflächlichen liegen, wie wir sie zu hören bekommen. Codes, die entschlüsselt werden können, wenn man entsprechende ExTER-Decodierungsalgorithmen in Verwendung nimmt."
"Also genau das, was Carl Sagan vorausgesagt hat?"
"Der Mann hatte eine sehr genaue und logische Vorstellung dessen, wie ein Kontakt mit Außerirdischen zustande kommen könnte." Ich überlegte.
"Heißt das, du kannst herausfinden, was uns die Wesen vom Planeten Meta mitteilen wollen?"
"Unwahrscheinlich", erwiderte Victor mit zerknitterter Miene. "Es gab leider keinerlei Kooperation mit dem ExTER-Projekt, obwohl ich von Anfang an und wiederholt versucht habe, die Leute vom Center auf den Mond zu bekommen. Jetzt wird mir klar, warum das nicht geschehen ist. Man wollte verhindern, dass wir hier erleuchtet werden." Ich begann zu verstehen und nickte. ExTER war eine Abkürzung für extra terram, und so nannte sich eine Organisation, die seit Jahren auf der Suche nach außerirdischem Leben war. Ich wusste, dass es sich um ein weltweites Netzwerk handelte, nach außen hin ein aufgeschlossenes Zentrum, das den Weltraum beforschte und seine Projekte nicht nur mit öffentlichen sondern auch horrenden Summen aus privater Hand betrieb. Es hatte vor einiger Zeit einen Skandal um veruntreute Gelder gegeben, aber ein Prozess war niedergeschlagen worden, und die Organisation hatte sich seither sehr darum bemüht, der Welt ihre weiße Weste zu zeigen.
"Finanzielle Interessen", spann ich den Faden weiter, "auf Alpha wird zum Nutzen der gesamten Menschheit geforscht, und Projekte, die auf der Basis laufen, werden aus einem internationalen Fond finanziert und sind gemeinnützig. Wer ein eigenes Süppchen kochen will, kann das hier nicht tun."
"Konnte", korrigierte mich Victor mit mangelndem Feingefühl. Die Erinnerung hatte mich jäh wieder, und ich musste den Blick senken. Es dauerte etwas, bis ich mich wieder gesammelt hatte, und so war es gut, dass mir einfiel, weswegen ich eigentlich gekommen war.
"Victor, du hast einen Überblick über die technischen Gegebenheiten hier. Die Gesamtheit der Berichte von den Stationen ist vorsichtig optimistisch."
"Gut", sagte Victor aufschauend. "Das ist sehr gut."
"Was sind deine Einschätzungen, werden wir auf die Dauer überleben können?" Victor beugte sich wieder über seine Formeln.
"Das lässt sich momentan nicht mit Bestimmtheit sagen. Wir haben die Voraussetzungen dafür, aber wer weiß, welche unvorhergesehenen Ereignisse unsere Prognosen zunichtemachen könnten."
"Was ist mit den Mondbeben, die du in deiner Notiz erwähnt hast? Können sie uns gefährlich werden?" Victor unterbrach wieder seine Arbeit und nahm den Becher auf. Auf dem Papier darunter zeichnete sich ein brauner, durchbrochener ringförmiger Kaffeefleck ab, den er ignorierte.
"Der Mond ist noch nicht vollständig stabil nach dem schwerwiegenden Ereignis", gab er zu, "ich weiß nicht, inwieweit uns Mondbeben gefährlich werden können. Meine Seismographen hier auf Alpha zeigen mir im Augenblick keine Gefahr an. Allerdings sind sie nicht besonders zuverlässig, weil sie von allen möglichen Reparaturmaßnahmen gestört werden." Mir fiel ein Stein vom Herzen.
"Simmonds hat die Berichte gelesen, die auf meinem Schreibtisch liegen und meinte, du würdest mir bestätigen, dass der unstabile Mondboden eine Gefahr darstellt, die uns zum Verhängnis werden könnte."
"Nun ja. Dasselbe könnten Raumkörper, die uns auf den Kopf fallen. Auf jeden Fall könnte es nicht schaden, wenn die externen Messstationen beizeiten wieder in Gang gebracht würden."
"Ich habe Simmonds damit beauftragt", erwiderte ich mit galliger Genugtuung. "Er scheint zu glauben, dass er immer noch die Macht eines Commissioners besitzt." Victor wandte sich mir zu und setzte einen besorgten Gesichtsausdruck auf. Ich kannte ihn. Er bedeutete, dass ich gut daran tat, die folgenden Worte nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.
"Du solltest vorsichtig sein", riet er mir. "Er ist ein Mensch, der weiß, was er will und der es gewohnt ist, seinen Willen durchzusetzen."
"Ich bin der Kommandant der Basis, er Vertreter der Space Commission. Ich wüsste nicht, mit welchem Recht er Ansprüche geltend machen könnte."
"Ich kann mich nur wiederholen, John: Unterschätze ihn nicht." Ich nickte langsam. Vermutlich hatte mein Freund Recht. Bei Menschen wie Simmonds war es gut, immer auf der Hut zu sein. Es war mir durchaus klar, dass mir kein leichtes Spiel bevorstand. Die Situation, in der wir uns befanden, war eine denkbar schlechte, und hinzu kam, dass ich mich als Commander noch längst nicht etabliert hatte. Ich würde mich erst beweisen müssen, das Vertrauen der Mannschaft erarbeiten. Ich dachte darüber nach, ob ich schon etwas dafür getan hatte."Victor, es wäre gut, die Signale von Meta zu dechiffrieren. Der Mond steuert auf die Signalquelle zu. Wenn es auch noch dauern wird, bis wir sie erreichen, so wäre es dennoch von großem Vorteil zu wissen, was man uns mitteilen wollte." Der Wissenschaftler neigte den Kopf.
"Ich bin alles andere als ein Code-Knacker", gab er zu bedenken. "Aber selbstverständlich versuche ich mein Bestes."
"Danke Victor." Ich ließ meinen Freund wieder allein.
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Meine Großmutter hatte zu leben aufgehört, lange bevor ich
geboren war. Nicht, dass sie gestorben war, sie existierte, mehr aber nicht.
Sie war ein weißes mit schwarzer Trauer gewandetes Wesen aus papierener
Haut und erloschenen Augen, das wie ein Schatten in den Zwischenräumen unseres
häuslichen Lebens vegetierte und dem ich als Kind nur wenig mehr Aufmerksamkeit
widmete als einem x-beliebigen Möbelstück. Ich wusste damals nicht, welche Grauen
sie überlebt hatte, was es hieß, todbringenden, braunen Häschern zu entkommen,
mit nichts als dem eigenen Leben und qualvollen Bildern, eingebrannt in
die Seele und sorgsam versperrt hinter der Banalität des Alltags.
Der Grund,
warum mir meine Großmutter bei dieser Gelegenheit einfällt, ist der, dass sie
kaum sprach, und wenn sie es tat, waren es leise gehauchte Kommentare zum Geschehen
in Form von Sprichwörtern, Zitaten oder Aphorismen, die ihre Meinung zum
Ausdruck bringen sollten. Ich höre noch ihre Worte, die sie zitternd wie
Spinnweben in einer Brise vorbrachte:
"Man soll nicht den Tag vor dem Abend loben."
Dies war eines ihrer beliebtesten Meldungen zum Alltag, und mir ist, als stünde sie wie ein Gespenst hinter mir und blickte mir über die Schultern mit ihrem fernen Blick, ein flüsternder Widerhall meiner eigenen Vergangenheit. Ich schaudere und versuche, geistig wieder in der Gegenwart Fuß zu fassen. Und doch hätte sie Recht gehabt. Der Tag, der mit dem vorsichtigen Aufatmen einer zutiefst erschütterten Gemeinschaft begonnen hatte, brachte einen Rückschlag um den anderen.
Zuerst brach ein Hauptwasserrohr und überschwemmte eine ganze
Sektion. Dabei wurde das EDV-System der Chemiefaserherstellung lahmgelegt. Letzteres
war insofern ein unmittelbares Problem, als nicht klar war, wie lange die Reparatur
dauern würde und ob die gelagerten Vorräte ausreichen würden, um die akuten
Anforderungen ausreichend bedienen zu können. Der Bruch des Wasserrohrs führte
natürlich nicht zum bedrohlichen Wassermangel, weil die Basis ein vollkommen
geschlossenes System ist und damit am Ende kein Tropfen verloren gehen kann.
Das Wiederaufbereitungssystem der Atemluft arbeitete auf Hochtouren, und die
Mannschaftsmitglieder, die in diesem Areal zu arbeiten hatten, klagten schwitzend
über das tropische Raumklima und jammerten über Fehlfunktionen anderer Geräte
und Verfahren, die für eine so hohe Feuchtigkeit nicht ausgerichtet waren. Und
eines kam noch hinzu: Schweren Herzens musste ich eine duschfreie Woche ausrufen;
im Bereich des Möglichen waren bis auf Weiteres nur Katzenwäsche & Co.
Eine der allerletzten Annehmlichkeiten war uns damit genommen worden.
Das
Wasserproblem war eine Sache, mit der man umgehen konnte, aber unglücklicherweise
war dies nicht alles, was an diesem unheilvollen Tag an Katastrophen über uns
hereinbrach.
Im Adlerhangar hielt eine Aufhängung für die Fluggeräte der Belastung nicht stand, und es kam im Stahl zu einem Biegungsbruch mit dem Erfolg, dass Adler 23 kopfüber in die Tiefe stürzte und einen Totalschaden erlitt. Erschwerend kam hinzu, dass zu dem Zeitpunkt ein Reparaturteam mit der Wiederherstellung des Rampenaufzug-Mechanismus' beschäftigt war und zwei Männer schwere Verletzungen davontrugen. Wir waren vier endlose Stunden mit den Bergungsarbeiten beschäftigt und mussten ständig fürchten, dass sich an irgendeiner Stelle ein Leck bildete und Sauerstoff in größeren Mengen verloren ging. Dies traf zum Glück nicht ein, aber die beiden Männer waren übel dran. Das medizinische Team brauchte ebenfalls Stunden, sie zu stabilisieren. Ich war froh, als dies gelang, aber wie ein Damoklesschwert hing der Gedanke über mir, dass die Bilanz der Verletzten und eingeschränkt einsetzbaren Leute wieder zu unseren Ungunsten verschoben worden war.
Viele weitere kleinere Missgeschicke, Defekte und Ärgernisse suchten uns im Verlauf des Tages heim, und es war, als hätte sich das Schicksal gegen uns verschworen, als hätte es sich mit dem Material, aus dem Alpha bestand, vergangenen Fehlern und Misskalkulationen, und nicht zuletzt mit unserer menschlichen Schwäche verbündet, um uns mittels zahlloser Nadelstiche und ein paar richtig heftiger Kinnhaken auf unseren Platz zu verweisen und sich wie nebenbei an unserem verzweifelten Kampf zu weiden. Als wollte es uns klar machen, dass es eine Vermessenheit war, auch nur in Erwägung zu ziehen, dass wir bestehen und überleben könnten!
Als ich gerade zur Überzeugung gelangt war, dass Schlimmeres nun kaum mehr geschehen konnte, schrillte die Alarmsirene erneut. Ich war gerade dabei, eines der Käse-Sandwiches zu vertilgen, die Jeannette aus der Kantine, mit einem Teewagen bewaffnet, in der Kommandozentrale verteilt hatte, und der Bissen blieb mir im Halse stecken. Es war ein Feuer-Alarm. Wie sich später herausstellte, war im Chemie-Labor eine O2-Gasleitung undicht geworden, aus unerklärlichen Gründen war es zu einem Funkenschlag im Raum gekommen, was zu einer Explosion geführt hatte, die einen Teil des Medikamentenlagers pulversierte. Giftige Dämpfe traten aus, und ich musste die Abteilung komplett evakuieren. Die mit schwerem Atemschutz versehene Rettungsmannschaft löschte das Feuer und suchte die in Mitleidenschaft gezogenen Räumlichkeiten nach Verletzten ab. Am Ende ging für uns dieses dramatische Vorkommnis glimpflich ab, denn es mussten nur ein Chemiker und zwei Frauen von der Wartung mit leichter Rauchgasvergiftung im Med. Zentrum behandelt werden. Neue Filter wurden ins Umluftsystem eingesetzt, um die Verunreinigungen schnell zu entfernen. Eine massenspektrometrische Analyse zeigte, dass die Elimination der Giftstoffe ausreichend funktionierte.
Es war schon spät am Abend als wir uns zu einer Sitzung im
Kommandobüro zusammenfanden, kurz nach einem kleinen Alarm in einem Generatorenraum,
der uns einen Schrecken eingejagt hatte, dessen Ursache sich aber im Vergleich
zu sonstigen Ereignissen, mit denen wir den Tag zugebracht hatten, geradezu
als von harmloser Natur erwies.
Die Stimmung unter den Anwesenden war wie
bei einem Weltuntergang. Die Erschöpfung hockte wie eine Horde von kleinen Teufeln
auf unseren Schultern, und sie sangen uns leise Lieder der Verzweiflung ins
Ohr, flüsterten uns ein, dass es nottat, aufzugeben und das sinnlose Leben sein
zu lassen. Ich sah es jedem Einzelnen an und konnte erkennen, dass sie alle
dasselbe spürten wie ich, in dasselbe schwarze Loch gefallen waren, das drohte,
uns zu verschlingen.
Doch im Gegensatz zu ihnen war ich der Commander, und
ich wusste, dass ich mir solche Gedanken nicht erlauben konnte, ein Nachgeben
in die zweifelhaften Verlockungen von Mutlosigkeit und Resignation kam für mich
nicht in Frage.
"Der Tag heute", begann ich, "hat mit vielen faulen Tricks gegen uns gearbeitet. Es sind einige nahezu katastrophale Dinge passiert, Unfälle, Defekte... Rückschläge. Aber wir sollten sie nicht überbewerten, denn gleichzeitig haben unsere Leute auch hervorragende Leistungen erbracht." Ich zückte eine handschriftliche Liste mit Stichwörtern. Ein halber Seitenblick zu Victor zeigte mir meinen Freund, wie er, ein in sich gekehrtes Lächeln im Gesicht, in den Raum starrte. Ich konnte mir gut vorstellen, was er dachte, nämlich, dass ich mir eine seiner Lektionen hinter die Ohren geschrieben hatte: "Fang immer mit etwas Positivem an." Ich hatte meine Zweifel, dass dieser weise Spruch auch an einem Tag wie dem aktuellen wirksam sein konnte, aber ich hatte sonst nichts anzubieten. Und so zählte ich einige Erfolge auf, von denen ich Kenntnis hatte: Das hydroponische System arbeitete hervorragend, die Energieversorgung war gesichert, auch wenn nicht mehr auf Sonnenenergie zurückgegriffen werden konnte, eine Bestandsaufnahme der gelagerten Ersatzteile für die lebenswichtigen Maschinen hatte gezeigt, dass in absehbarer Zeit jegliche Funktionsstörung repariert werden konnte, es gab nach wie vor keine Lecks und undichten Stellen, durch die wir Luft verloren, und die Vorortüberprüfung der prognostizierten Schwachstellen hatte ergeben, dass Dichtungen und sonstiges Material den Ausbruch des Mondes aus der Erdumlaufbahn unbeschadet überstanden hatten.
Ich hatte Glück mit meiner Taktik und merkte, wie sich bei
meinen einleitenden Worten die dunklen Wolken über den Köpfen der Anwesenden
etwas zu lichten begannen. Ich forderte die Abteilungsleiter auf, kurze Berichte
über den aktuellen Stand in ihren Fachgebieten zu erstatten, und irgendwie schien
es jeder verstanden zu haben. Erfreuliches ging ihnen wesentlich leichter über
die Lippen, während größere Probleme zwar angesprochen, aber nicht breitgetreten
wurden. Ich brauchte kaum einzugreifen, und zum ersten Mal, seit ich auf Alpha
das Kommando übernommen hatte, bekam ich das Gefühl, dass uns das Schicksal
trotz aller Bosheiten, mit denen es uns überhäuft hatte, immerhin so
viel
Einsicht und Gnade entgegen brachte, uns mit dem richtigen Werkzeug, mit den
richtigen Menschen, auf die Reise zu schicken.
Mein Blick schweifte mehrfach
durch den Raum, und jedes Mal, wenn ich nach links blickte, durchfuhr mich wie
ein kleiner elektrischer Impuls ein Stechen irgendwo in den unbewussten Niederungen
meines Gehirns. Es dauerte eine Weile, bis ich es überhaupt registrierte, und
mindestens nochmal so lange, bis ich mir sicher war, woran es lag.
Der Grund war Dr. Russell, die Chefärztin der Basis. Sie beobachtete mich, distanziert und ohne äußere Regung, und es kam mir vor, als schaute sie aus einer anderen Dimension zu mir herüber. Ich glaubte fast, dass es mir unmöglich war, sie auf einer persönlichen Ebene zu erreichen. Sie beunruhigte mich, weil ich nicht schlau wurde aus ihr. Ich hatte noch ihren Gesichtsausdruck bei unserer ersten Begegnung lebhaft in Erinnerung. Positiv, nahezu arglos war sie mir entgegen getreten, fast heiter und in freundlicher Erwartung. Ich war mir nicht sicher, was den Ausschlag für das unzugängliche Verhalten gegeben hatte, mit dem sie mich seither bedachte. Vielleicht war es mein aus ihrer Sicht unverantwortliches Benehmen gewesen, das zu dem Adlerabsturz geführt hatte. Ihre Worte waren unmissverständlich gewesen, und ich war, gelinde gesagt, verblüfft darüber gewesen, wie unverblümt und harsch sie mich als ihren Vorgesetzten zurechtgewiesen hatte. Meine Antwort hatte mich selbst überrascht, sie war alles andere als professionell gewesen, aber irgendwie schien ich damit einen Nerv getroffen zu haben. Unsere Gespräche hatten sich seither lediglich auf sachlicher Ebene abgespielt, unterkühlt, aber nicht unkonstruktiv, und dennoch war ich nicht wirklich zufrieden damit. Ich fragte mich wirklich, ob ich dazu in der Lage war, etwas daran zu ändern.
Ich war nicht besonders froh gewesen, sie in meinem Team zu
wissen, als man mich zum Kommandanten der Basis gemacht hatte. Ihr Ruf bei der
Space Commission und speziell unter den Astronauten war ein denkbar schlechter.
Es hieß, dass sie schwierig war, eine Quertreiberin, die auf dem hoch dotierten
Posten, den sie innegehabt hatte, nichts als Ärger gemacht hatte. In ihrer Glanzzeit
als zuständige Arbeitsmedizinerin war es ihr fast gelungen, das gesamte weltweite
Raumforschungsprogramm zu kippen, als sie, ohne jemals selbst im Weltraum gewesen
zu sein, für den Aufenthalt der Astronauten im All derart strenge Auflagen
forderte, dass die bemannte Weltraumforschung nicht mehr zu finanzieren gewesen
wäre. Zu der Zeit hatte sie auch persönliche Probleme, ich erinnerte mich vage
daran, dass wohl ihr Ehemann eines der Opfer der fehlgeschlagenen Astro7-
Mission gewesen war, und die Verantwortlichen hatten in der Folge
Russells Wehrlosigkeit genutzt, um sie hinaufzuloben, buchstäblich hinauf,
auf Mondbasis Alpha. Seitdem war von ihr nichts mehr zu hören gewesen, bis zu
dem Punkt, als mich Simmonds über ihre angebliche Inkompetenz, was die erkrankten
Astronauten der Meta-Mission anging, aufgeklärt hatte.
Ich hatte schon viel
früher gelernt, dass es immer verschiedene Sichtweisen für alle Gegebenheiten
gab, und nicht zuletzt hatte mich auch die Tatsache, dass Victor Bergman etwas
von ihr zu halten schien, überzeugt, ihr nicht von vorneherein mit Ressentiments
zu begegnen. Eine Entscheidung, die sich bezahlt gemacht hatte, wiewohl ich auch
nicht wusste, wie sich dieses Dienstverhältnis weiter gestalten würde. Sie war
ein Mensch, der mir zu kontrolliert vorkam, in sich verschlossen, mich beunruhigte,
weil ich nicht abschätzen konnte, was in ihr vorging. Aber vielleicht
musste ich es auch nur lernen, in ihr zu lesen, vielleicht musste ich nur meinen Blick schärfen, um mehr zu sehen.
Ich ärgerte mich, dass sie grundlos dazu in der Lage war, mich von der mir wichtigen Besprechung abzulenken, und pickte mir deswegen Simmonds heraus, den ich aufforderte, Bericht über seine "Expedition" hinaus auf die Mondoberfläche zu erstatten. Tatsächlich brachte mich seine blasierte Arroganz dazu, mich wieder vollständig auf die Situation zu konzentrieren. Er hatte das Team aufgeteilt, einen Techniker mit Alan Carter zu den kleineren Außenposten weitergeschickt und war selbst mit dem zweiten Techniker auf Beta1 geblieben, die wichtigste der auswärtigen Stationen, wo sich die Schaltzentrale, Computeranbindungen, diverse Messinstrumente, ein Gerätelager und eine kleine Forschungsstation befanden, ein Stützpunkt, der von den Geologen und auch anderen Wissenschaftern genutzt wurde, wenn sie nicht sofort auf die Basis zurückkehren konnten. Mit der ersten Explosion im Bereich des alten Atommüll-Lagerplatzes hatte ich das Labor evakuieren lassen. Simmonds' Auftreten war eine Geduldsprobe für mich, und ständig fühlte ich mich von ihm mittels unterschwelliger Provokationen gereizt. Ich hatte jedoch nicht vor, die akzeptable Stimmung unter den Anwesenden zu ruinieren und ignorierte daher seine Geringschätzung der gemeinsamen Besprechung und seinen Versuch, meine Anstrengungen ins Lächerliche zu ziehen. Immerhin waren wieder genug Seismographen in Gang gesetzt worden, um eine zuverlässige Aussage über relevante Mondbeben tätigen zu können. Für mich war damit fürs erste die Notwendigkeit, Personal für Aufgaben weiter entfernt von Alpha einzusetzen, erschöpft, und als Simmonds mir widersprach, schnitt ich ihm kurzerhand das Wort ab.
"Ich wünsche, dass die Überreste der ehemaligen Atommüll-Lagerplätze genauestens überprüft werden!", fiel er mir seinerseits ins Wort. "Wir haben keine Ahnung, welche weitere Bedrohung davon ausgeht! Commander!"
"Die erste Inspektion hat keinerlei Aktivitäten im Bereich von Depot I ergeben. Depot II ist ohnehin nicht mehr vorhanden. Das muss zunächst einmal reichen. Keine Frage, wir werden uns um diese Angelegenheit kümmern, aber solange ich lebensbedrohliche Situationen auf der Basis habe, werde ich sicherlich keine weiteren Teams mehr auf die Mondoberfläche schicken. Wir müssen Prioritäten setzen. Commissioner!" Mein Suffix "Commissioner!" triefte gleichermaßen vor Sarkasmus wie sein "Commander!". Simmonds sah sich hilfesuchend in der Runde um. Es war einen Herzschlag lang totenstill, bis Victor glücklicherweise für mich in die Bresche sprang.
"Commander Koenig hat Recht", ließ er die übrigen wissen. "Ich habe mir die Daten vom aktuellen Überflug angesehen, und die Überreste der beiden Lagerplätze sind jetzt völlig inert. Ich sehe keinen Grund, im Augenblick kostbare Ressourcen zu verschwenden." Auch wenn er mit seinem zerrauften Haarkranz zerstreut und vielleicht nicht ganz zurechnungsfähig wirkte, tat er mir einen großen Gefallen, sich öffentlich auf meine Seite zu stellen. Simmonds blickte überrascht auf.
"Von welchem aktuellen Überflug?", wollte er wissen. Alan Carter hob die Hand.
"Wir haben auf unserem Rundflug zu den kleinen Außenstationen auch einen Blick auf die Ablagerungsplätze geworfen. Da ist Sendepause. Die sind so tot wie die Steinzeit." Simmonds kniff die Augen zusammen.
"Dazu waren Sie nicht autorisiert, Carter!" Der Pilot schob ein schiefes Grinsen in sein Gesicht.
"Ist am Weg gelegen, Sir", erwiderte er, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich zwang mich, weiterhin einen ernsten Eindruck zu vermitteln. Alan Carter war als gleichermaßen unkomplizierter wie unkonventioneller Mensch bekannt, und er hatte offensichtlich noch ein Hühnchen zu rupfen mit der Autorität, die ihm als Captain einer Raummission den wahren Zustand seiner Crew verschwiegen hatte. Ich kannte Carter flüchtig von diversen Veranstaltungen und Empfängen der Astronautenzunft, und unter seinen Kollegen galt er als ein loyaler, verlässlicher Mann. Seine Loyalität musste ich mir erst noch verdienen, aber ich hatte bereits gemerkt, dass ich einen guten Draht zu ihm hatte, was mir jetzt auch die Gelegenheit gab, einen ersten Grundstein für seine Gefolgschaft zu legen.
"Gut, damit ist ja in der Hinsicht alles gesagt",
schloss ich das unleidliche Thema ab. "Captain Carter, ich möchte,
dass Sie die Leitung über die Adlerflotte und die Piloten übernehmen. Es werden
noch einige andere Aufgabengebiete dazukommen wie die Bildung eines Teams zur
Überprüfung von Radioaktivität sowie eines für Aufklärungsflüge, aber die Details möchte
ich später mit Ihnen klären." Simmonds schwieg nun verbissen, auch wenn
ich das Gefühl hatte, dass sich noch einiges in ihm aufstaute, während Alan
Carter die Zuweisung seiner Verantwortlichkeiten mit einem Nicken zur Kenntnis
nahm, als hätte er gar nichts anderes erwartet. Was vermutlich auch zutraf.
Ich
spürte, wie ein quälendes Ziehen vom Nacken nach vorne in meine Schläfen
heraufstieg, als zöge und zerrte irgendwer an empfindlichen Nervensträngen,
die sich mit peinigenden Schmerzkaskaden zur Wehr setzten. Ich ging dennoch
zum nächsten
Punkt über und spürte wieder Helena Russells Blick auf mir, wie er unerbittlich
durch meine Augen und die Sehnerven zu den Geheimnissen meines Gehirns vordrang.
Diesmal vermeinte ich, Missbilligung in ihrer kühlen Miene zu erkennen. Dem wollte ich ein Ende
machen.
"Dr. Russell, haben Sie etwas zu unserer Besprechung beizutragen?", sprach ich sie scharf an. Statt überrascht den Rückzug anzutreten, unterzog sie mich jetzt einer ganz unverhohlenen, öffentlichen Musterung, und ein vages Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie neigte den Kopf.
"Nein, Commander, im Augenblick habe ich keinen konstruktiven
Beitrag anzubieten." Ich wusste auch so, was sie sagen wollte. Meine mangelnde
Diplomatie in Sachen Simmonds hatte ihr Missfallen erregt, und im Gegenteil
zu mir besaß sie eine solche, weswegen sie das Thema nicht coram publico ansprach.
Der Gedanke war wie ein Blitz über mich gekommen, als hätte sie ihn per Blick
in mein Bewusstsein transferiert, und die Verblüffung darüber war mir wohl anzusehen,
denn ihr Lächeln verwandelte sich in eine Art Genugtuung, für die ich sie am
liebsten des Raumes verwiesen hätte.
Ich beendete die Sitzung daraufhin unter
dem Vorwand, dass es schon spät war, sehr rasch und war mir unsicherer denn
je, was ich von der Chefärztin halten sollte.
+++++++++++++
Die Nacht war wider Erwarten ruhig, und trotzdem lag ich stundenlang wach in meinem Bett, umgeben von der bläulichen Dämmerung der künstlichen Nacht und dachte unentwegt über Helena Russell nach. Sie war zu stark und zu wichtig, um sie zu ignorieren, das hatte ich bei unserem ersten Gespräch begriffen. Auch bei der Sitzung. Sie hatte eine kleine Schlacht gewonnen, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Und sie wusste über ihren Sieg Bescheid, mit zufriedener Miene war sie nach Auflösung der Besprechung vondannen gezogen, während ich ihr verdattert nachgeblickt hatte. Diese Art, mit Blicken zu kämpfen, war ich nicht gewohnt. Ich habe keine Schwierigkeiten im Umgang mit Menschen, normalerweise ist es für beide Seiten innerhalb von Sekunden klar, ob wir miteinander auskommen werden. Ich bin für Offenheit, ich mag Heimtücke nicht und die nach vorne hin aalglatten Mitbürger, die einem, wenn man ihnen den Rücken zukehrt, bedenkenlos ihre frisch gewetzten Messer in den Rücken rammen. Ich sage, was ich meine, auch wenn mir das schon öfters Schwierigkeiten bereitet - sogar meine Karriere ruiniert - hat. Ich brauche die offene Diskussion, was sollte ich mit einer Mitarbeiterin, die mit ihren Blicken meine Gehirnwindungen verknotete - und dann mit Absicht die Knoten nicht mehr löste!!
In dieser Nacht habe ich mir alles mögliche über Helena Russell
eingeredet, und einiges an verworrenen Gedanken über sie gewälzt, ohne auf einen
grünen Zweig zu kommen. Schließlich sank ich in einen REM-Schlaf, in dem mein
Wälzen von Problemen in Form von Träumen weitergeführt wurde, nur hier verwandelte
sie sich in eine Sirene, die in meinen Armen lag, was mich beträchtlich vom
Fortführen meiner komplizierten Gedankengänge ablenkte und sie schließlich überhaupt
in einem Reigen schauerlich schöner Empfindungen verschwinden ließ.
Als ich
erwachte, war ich mehr als verblüfft über die Deutlichkeit meiner verwunderlichen
Träume, erlaubte mir aber dennoch fast verschämt, dieses seltene Gefühl von vollkommenem
Glück, das der Traum in mir hinterlassen hatte, noch einen Moment lang
auszukosten, ehe ich mich wieder der Realität des Tages stellte. Es begann damit,
dass es kein Wasser für eine Dusche gab und ich mich zähneknirschend mit einer
Minimalreinigung zufrieden geben musste. Das nächste Ärgernis war die Uhr, die
mir mit ihrer stoischen digitalen Anzeige mitteilte, das es zum Frühstücken
zu spät war, und mich dazu brachte, mit einem Salzcracker in der Hand in Richtung
Kommandozentrale zu eilen, wo ich zu spät ankam. Ich merkte sofort, dass etwas
nicht stimmte, die Atmosphäre war unruhig, unsicher, und gleich vermutete ich,
dass Simmonds dahintersteckte, indem er seine giftige Saat unter die Leute gestreut
hatte. Doch er war nirgends zu sehen. Ich wandte mich an David Kano, der etwas
übernächtig aussah und gerade indigniert die Tastatur an der Computerwand bearbeitete.
"Kano, was ist hier los?" Er drehte sich um und machte einen richtig sauren Eindruck. Sandra Benes, die an ihrem Platz saß, beobachtete mich mit sorgenvoller Miene.
"Meine Ablöse taucht nicht auf", erwiderte Kano ungnädig und fuhr fort, in die Tasten zu klopfen. Ehe ich mich erkundigen konnte, um wen es sich handelte, informierte mich Sandra.
"Ben Ouma", sagte sie. "Er meldet sich nicht, sein Commlock ist ausgeschaltet, und in seinem Quartier ist er auch nicht."
"Er kann ja nicht weg sein", sagte ich etwas beunruhigt. "Es hätte einen Alarm gegeben."
"Da war kein Alarm", bestätigte Sandra, "in der Kantine ist er nicht, und auf der Med. Station ist er genauso wenig erschienen."
"Die basisinternen Sensoren und die Überwachung funktionieren noch nicht", ließ mich Kano ungehalten wissen. Ich überlegte.
"War er gestern hier in der Kommandozentrale eingeteilt, und wenn ja, war etwas an ihm auffällig?" Ich fragte, obwohl ich mir ziemlich sicher war, ihn am Vortag hier nicht zu Gesicht bekommen zu haben. Sandra beugte sich über ihren Stoß von Papieren.
"Gestern war er dem Reserve-Reparaturteam zugeteilt, aber ich habe leider keine Aufzeichnungen darüber, wo er dann tatsächlich gearbeitet hat. Die Datenerfassungs-Software macht immer noch Probleme." Kano, der das offensichtlich als bösen Seitenhieb verstand, schnaubte nur wie ein Walross und fuhr bei seinem Versuch fort, den Computer mit Eingaben gefügig zu machen, bis sich die Computerstimme mit einer gefühllosen Äußerung an ihn wandte.
"Für diesen Vorgang verfügen Sie nicht über die notwendigen Rechte. Wenden Sie sich an den Administrator."
"Ich bin der Administrator", knirschte Kano und rollte mit wildem Blick seine blutunterlaufenen Augen, ehe er wutentbrannt in Richtung Computerzentrale abdampfte. Ich sah ihm einen Moment lang nach und wandte mich dann an die verbliebenen Anwesenden.
"Gut, dann müssen wir ihn eben suchen. Sandra, rufen
Sie ihn aus und teilen Sie der Mannschaft mit, dass er nicht auffindbar ist.
Vielleicht weiß jemand, wo er ist, oder hat ihn zumindest gesehen. Lassen Sie
mich wissen, wenn Sie etwas Neues hören." Ich eilte in mein Büro und schloss
die Verbindungstür zur Kommandozentrale. Ich wertete Oumas Nichterscheinen im
Augenblick noch als eine Nachlässigkeit, denn ich war der Meinung, dass ich,
wenn etwas
Gröberes passiert wäre, auf die eine oder andere Weise davon erfahren hätte.
Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, dass es mir egal war, wenn jemand säumig
war und zu spät zum Dienst erschien, ohne sich vorher entschuldigt zu haben,
deswegen hatte ich die Suche gestartet. Es schien mir angebracht, ein Exempel
zu statuieren, damit die Mannschaft von Anfang an wusste, dass ich nicht alle
Vernachlässigungen zu dulden bereit war.
Im Büro erwartete mich ein neuer
Stapel von Berichten, und glücklicherweise waren die Sektionsleiter dazu übergegangen,
kurze Zusammenfassungen auf das jeweilige Deckblatt zu schreiben, damit ich
nicht alle Protokolle bis ins letzte Detail durchsehen musste. Die Serie der
schweren Zwischenfälle schien abgebrochen zu sein, alles, was sich auf meinem
Schreibtisch befand, waren Kleinigkeiten, störend, ärgerlich, verzichtbar - und
nichts im Vergleich zu dem, was wir schon alles hinter uns hatten. Ich hatte
gerade die letzte Information abgezeichnet, als mich Paul Morrow aus der Kommandozentrale
anpiepste.
"Ja, Paul?" Er machte ein Gesicht, das nichts Gutes verhieß.
"Commander, Ben Ouma wurde gerade gefunden. Sie sollten schnell ins Chemielabor gehen."
"Chemielabor?", wunderte ich mich, "Was macht er denn dort?" Im Vertrauen, Paul würde die rhetorische Natur meiner Frage erkennen, wartete ich seine Antwort nicht ab, sondern machte mich gleich durch den rückwärtigen Ausgang meines Büros auf den Weg. Während ich durch die farblosen Korridore eilte, fiel mir ein, dass das Labor nach dem Brand vom Vortag eigentlich abgeriegelt und versperrt war, und konnte mir keinen Reim darauf machen, was Ouma dort gewollt hatte. Er war Computerspezialist, mindestens genauso qualifiziert wie David Kano, nur ruhiger und zurückhaltender. Ein wenig auffälliger Mensch, der leicht übersehen wurde, weil er wie ein Schatten war. Ein Fragment aus seiner Personalakte kam mir wieder ins Gedächtnis. Er war im Krieg ein Mitarbeiter des Nachrichtendienstes gewesen. Ich hatte mir diese Information gemerkt, weil ich mir, wahrscheinlich naiv, vorgestellt hatte, dass jemand, der so unsichtbar sein konnte wie Ben, auch bestimmt gut als Spion und Geheimagent zu gebrauchen war. Aber so etwas gab es nun nicht mehr. Keine Geheimdienste mehr, und hoffentlich auch keine Kriege. Ich hatte mehr als genug davon.
Schon ehe ich um die letzte Ecke bog, roch ich verschmortes
Plastik, angekokelte Leitungen und einen undefinierbaren, beißenden Gestank
von Chemikalien. Ein Sicherheitsteam hatte Ouma aus dem abgeriegelten Bezirk
herausgeholt, und eben wurde er von Sanitätern auf eine Bahre gelegt. Es war,
als hätte sich die Nachricht durch ein imaginäres alphanisches Radio mit Top-Nachrichten
verbreitet, denn wie von Geisterhand war der Korridor plötzlich übersät von
Mannschaftsmitgliedern, die wissen wollten, was genau passiert war.
Dr.
Russell war zusammen mit den Rettungsleuten gekommen und beugte sich bereits
zu einer ersten Untersuchung über Ouma. Ich konnte sehen, dass er bewusstlos
war, das milchkaffeefarbene Braun seiner Haut war einem bleiernen Grau
gewichen, das mir sagte, dass der Mann in keiner guten Verfassung war.
Die Ärztin arbeitete schnell und hatte mit wenigen Handgriffen bereits
die wichtigsten Lebensfunktionen überprüft.
"Puls und Atmung sind in Ordnung", sagte sie mit hörbarer Erleichterung, "aber er ist unterkühlt. Ich weiß nicht, wie lange er schon dort liegt und was mit ihm passiert ist." Sie instruierte die Männer vom Rettungsdienst, die eilfertig ihre Anweisungen befolgten und mit Ouma in Richtung Med. Zentrum davonliefen.
"Sind die giftigen chemikalischen Dämpfe aus dem Labor für seinen Zustand verantwortlich?", hörte ich jemanden hinter mir fragen, und erst, als ich mich umdrehte, bemerkte ich, dass es sich um Gerard Simmonds handelte, der mit schneidender Stimme und völlig unangebrachter Autorität gesprochen hatte und nun seltsamerweise mich mit eisiger Miene musterte. Helena Russell, die schon im Gehen begriffen war, blieb stehen und drehte sich zu uns um. Ihre Miene war für mich einmal mehr unleserlich.
"Das weiß ich nicht", erwiderte sie, "ich brauche ein bisschen mehr Information, um so eine Aussage machen zu können!" Simmonds stemmte die Hände in die Hüften, was mich ärgerte, denn er hielt sie davon ab, ihren Patienten zu behandeln.
"Aber Sie schließen es nicht aus!"
"Wie könnte ich?", entgegnete sie, "Commissioner, Sie werden mich jetzt entschuldigen, ich habe zu tun."
"Gar nichts haben Sie", sagte er im Befehlston, "delegieren Sie die Sache an Dr. Mathias. Ich erwarte jetzt einige Auskünfte von Ihnen!" Ihr Mund klappte auf, doch ich kam ihr zuvor.
"Dr. Russell, kümmern Sie sich um Ihren Patienten." Sie nickte und verschwand, ehe Simmonds reagieren konnte. "Simmonds, finden Sie nicht, dass Sie Ihre Befugnisse hier etwas überschreiten?", raunte ich ihm zu. Er senkte die Stimme.
"Koenig, ich werde Ihnen nicht mehr lange dabei zusehen,
wie Sie mich übergehen!" Ich war nahe dran, die Augen zu verdrehen, doch
trotzdem hinderte mich ein sehr bedrohliches Gefühl in der Magengegend
davon ab, meine wahren Gedanken einem ganzen Publikum zu zeigen. Was veranlasste
diesen Mann, mir derartig vermessen und anmaßend gegenüber zu treten? Ich
erinnerte mich daran, dass er offensichtlich daran glaubte, bald wieder auf
die Erde zurückzukehren. Was gab ihm die Sicherheit?
Man konnte Simmonds
alle möglichen üblen Charaktereigenschaften anlasten, aber ich hatte nie gehört,
dass auch Realitätsverweigerung darunter war. Ich musste aufpassen, denn ich
war mir sicher, dass er etwas im Schilde führte.
"Simmonds, ich sehe keinen Grund, Dr. Russell jetzt davon abzuhalten, ihren Patienten zu betreuen. Sie wird ohnehin erst nach einer genauen Untersuchung und diversen Analysen aufschlussreichere Informationen für uns haben."
"Das mag sein, Koenig, dann sprechen wir jetzt eben über die mangelhaften Sicherheitsvorkehrungen, die es einem Mann hier erlauben, so ohne Weiteres einen abgesperrten Bereich zu betreten! Wo war der Sicherheitsalarm? Und wo das Überwachungsteam? Ich garantiere Ihnen, dass Sie sich hierfür verantworten müssen!" Er lenkte ab, und das ärgerte mich umso mehr, als ich bemerkte, dass ihm einige der anwesenden Mannschaftsmitglieder mittels gefälligem Murmeln rechtzugeben schienen.
"Seien Sie versichert, dass ich alles zur Klärung dieser
Situation tun werde", sagte ich, und ich fürchte, dass sich meine Worte
ironisch und sarkastisch anhörten, obwohl ich es in Wirklichkeit ernst meinte.
Es wunderte mich allerdings nicht, dass so etwas passiert war, ich wusste, dass
viele Alarme und Überwachungsanlagen nicht mehr funktionierten, und hinzu kam,
dass die Mannschaft, müde und desperat, all ihre Energien in die Erhaltung der
unmittelbar lebensnotwendigen Systeme gesteckt hatte, natürlich mit meinem Wissen,
mit meiner ausdrücklichen Zustimmung. Hätte ich sie nicht gewährt und verlangt,
dass sie sich mit Alarmen und Türschlössern beschäftigten, hätte man
mich wohl sofort mit der Zwangsjacke abführen müssen.
Es schien mir sicherer,
die Versammlung aufzulösen, widerwillig, wie mir schien, gehorchten mir die Leute
und zerstreuten sich. Ich fragte mich, was das zu bedeuten hatte. Bisher hatte
ich nicht allzu sehr darüber nachgedacht, ob ich Schwierigkeiten mit der Mannschaft
haben würde, das System hatte sich selbst erhalten, aber ich fragte mich, wohin
mich das am Ende führen würde.
Ich hatte niemals zuvor die Leitung über so viele Menschen
gleichzeitig gehabt. Als Astronaut war ich einige Male Teamleiter gewesen, Captain
eines Schiffes, und da war es, abgesehen von den üblichen kleineren Unstimmigkeiten,
zu keinen Schwierigkeiten gekommen. Manchen Crews war ich mehrfach als Captain
vorgestanden, was nur geschah, wenn so eine Truppe auch ordnungsgemäß funktionierte.
Allerdings bestanden da viele, viele - und gar nicht unbedeutende - Unterschiede
zu der Situation, in der wir uns jetzt befanden. Als Team waren wir damals gemeinsam
auf unsere Flüge vorbereitet worden, wir hatten zumeist gewusst, was uns erwartete,
und eine ganze Horde von Coaches stand uns zur Verfügung, wenn es Probleme auf
persönlicher Ebene gab. Immer waren wir davon ausgegangen, wieder nach Hause
zu kommen.
Ich hatte auf dem Flug zum Mond keinen einzigen Gedanken daran
verschwendet, dass mir vielleicht Führungsfähigkeiten fehlten, ich war absorbiert
gewesen von der Idee, meine Aufgabe gut zu erfüllen, das Meta-Raumschiff auf seine Reise zu
schicken, mich damit zu beweisen
und wieder auf der Bildfläche der bemannten Raumfahrt aufzutauchen. Ich war
meinen Posten auf der Erde so satt gewesen, die ewig gleichen Seminare,
die ich halten musste, die stumpfen Bonzen aus Politik und Wirtschaft, denen
es das Geld aus den Säcken zu ziehen galt, die mühsamen Geschäftsessen, die
langweilige Pressearbeit. Mit einem Mal hatte ich meine Chance gesehen, dem
allen zu entkommen.
Weit hatten mich meine Wünsche gebracht.
Zu weit.
Eine Stunde später wurde ich von Dr. Mathias ins Med. Zentrum gebeten. Ihn kannte ich noch weniger als seine Chefin, und er verhielt sich mir gegenüber sehr reserviert, auch wenn ich nicht behaupten konnte, dass er mir unsympathisch war. Er entschuldigte Dr. Russell, die bei einem anderen Patienten war und ließ mich wissen, dass sich Ben Ouma offensichtlich in einem Zustand befand, der dem eines Wachkomas nahe kam. Er führte mich an dessen Bett und ließ mich den Computertechniker betrachten. Seine Hautfarbe sah mittlerweile wieder besser aus, er bekam Sauerstoff, und eine farblose Flüssigkeit tropfte über einen Zugang in seine Venen. Seine dunklen Augen aber waren geöffnet und leer, und ein dünner Speichelfaden rann ihm aus dem linken Mundwinkel. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und öffneten sich abwechselnd, als wäre er zornig über irgendein Ereignis, das nicht zu seiner Zufriedenheit abgelaufen war. Der Anblick erschütterte mich sehr, und ich merkte erst spät, dass jemand hinzugekommen war. Es handelte sich um Alan Carter, der sich ebenso fassungslos wie ich am Fußende des Bettes hinstellte.
"Dabei war er gestern noch ganz in Ordnung", sagte er flüsternd. Ich horchte auf.
"Sie haben ihn gestern gesehen?" Alan fuhr sich mit einer Hand übers Kinn, ein kratzendes Geräusch rauschte in meinen Ohren, ausgelöst von seinem hellen, rasurdefizienten Dreitagesbart.
"Ja, er war mit uns zur Reparatur der Seismographen eingeteilt. Ich habe vorm Abflug ein paar Worte mit ihm gewechselt, da wirkte er völlig normal."
"Worüber haben Sie gesprochen?" Der Pilot dachte nach.
"Nichts Besonderes, dass wir nicht sicher waren, die Seismographen auch wieder in Gang setzen zu können. Dass es eine Schande ist, nicht mehr duschen zu können." Er grinste mich verlegen an, wohl, weil ihm zu spät eingefallen war, dass die rigorose Wasserrestriktion auf meinem Mist gewachsen war.
"Es ist wirklich eine Schande, nicht mehr duschen zu können", entgegnete ich mit bedächtigem Kopfnicken, "ich werde mich bei Gelegenheit bei mir wegen dieses üblen Einfalls beschweren!"
"Entschuldigung", sagte er mit einem Grinsen, und ich nickte. Die Tür öffnete sich hinter uns lautlos, und herein kam Dr. Russell, Simmonds im Schlepptau. Sie wirkte genervt, als sie Carter und mich sah, und atmete seufzend durch.
"Ich kann Ihnen nicht allzu viele Neuigkeiten mitteilen", ließ sie uns wissen, "Ouma ist nicht in Lebensgefahr, aber ich habe keine Ahnung, was mit seinem Verstand passiert ist. EEG und PET-Scan sind nicht sonderlich ermunternd, er ist nicht gerade hirntot, aber es spricht nicht viel dafür, dass er sich ohne gravierende bleibende Schäden erholen wird."
"Was könnte diese Erkrankung ausgelöst haben?", wollte ich wissen, "Ich meine, haben Sie Anhaltspunkte für irgendwelche Krankheitserreger?" Sie schüttelte den Kopf.
"Was ist mit den Chemikalien?", insistierte Simmonds, die Arme vor der Brust verschränkt, ehe sie Gelegenheit hatte, ihre Antwort mit Worten auszuführen. Sie fuhr sich müde mit einer Hand über die Stirn.
"Dafür werde ich noch Zeit brauchen", sagte sie, "die Analysen laufen noch. Die Chemiker halten es jedenfalls für unwahrscheinlich, dass die Substanzen, die bis jetzt aus der Luft gefiltert wurden, eine solche Wirkung ausüben können."
"Aber sie wissen es nicht mit Sicherheit!", sagte ich schärfer als beabsichtigt. Sie blickte mich an und ich sah, dass sie glaubte, ich hätte sie ungerechtfertigt angegriffen.
"Nein, Commander!", war ihre Antwort, "Wir wissen gar nichts mit Sicherheit. Nicht einmal, ob es überhaupt etwas bringt, uns hier zu Tode zu schuften." Ich sagte nichts. Sie gab mir die Schuld dafür, dass auf der Basis nach wie vor alles drunter und drüber ging, vielleicht sogar dafür, dass so viele Menschen umgekommen waren, weil ich an der Konstruktion und dem Bau dieses unsicheren Gebäudekomplexes beteiligt gewesen war. Ich bemerkte, dass Simmonds uns beobachtete, ein sattes, befriedigtes Glitzern in seinen Augen, als weidete er sich an dem hilflosen Unvermögen zweier Menschen, wertfrei zu kommunizieren, aus ihrer Erschöpfung heraus und aus ihrer Angst vor einer ungewissen, bedrohlichen Zukunft.
Ich floh schließlich mit einem schnittigen "Dr. Russell, wir brauchen Antworten, denn ich möchte nicht, dass es der gesamten Mannschaft so geht wie Ouma!"
Ich war verärgert, aber mein Zorn richtete sich nicht gegen
die Ärztin. Ihre Worte machten mich betroffen, weil ich mich fragte, ob ich
tatsächlich schuld an der Situation sein konnte. Ich zog es in Betracht und
spürte mit einem Mal eine viel schlimmere Verantwortung, als ohnehin schon auf meinen Schultern
lastete.
Was, wenn ich wirklich mein Scherflein dazu beigetragen hatte, dass wir alle
nun hier saßen, verloren in einem schwarzen, unbekannten All herumtreibend wie
Schiffbrüchige, die auf dem besten Weg dahin waren zu verhungern und zu verdursten?
Wie sollte ich damit leben?
Ich rannte durch die Gänge, ziellos, und merkte
erst nach einer Weile, dass sich meine Gedanken wie ein Mühlrad im Kreis drehten,
drehten und drehten und nirgendwo ankamen. Es gab keine Lösung auf die Frage,
zumindest im Moment nicht, was ich als ebenso unbefriedigend wie bedrohlich
empfand, aber immerhin war diese Erkenntnis so etwas wie ein Schalter der Vernunft,
der umgelegt wurde und mich wieder zu mir brachte.
Ich spritzte mir eiskaltes Wasser ins Gesicht, aber als
ich in den Spiegel sah, blickte mich das Gesicht eines völlig hoffnungslosen
Verlierers an, der wusste, dass das Schicksal mit ihm und Seinesgleichen ein finale
grande plante und fröhlich fiedelnd Mann und Maus in den Untergang
führte. Das war nicht gut, das war gar nicht gut. Ich musste Zuversicht ausstrahlen,
Selbstsicherheit, Autorität, damit man mir glaubte, damit die Mannschaft an
sich selbst glaubte und an ihre Fähigkeiten, Mondbasis Alpha zu erhalten.
Ich
pflanzte dem traurigen Loser ein gewinnendes Lächeln ins Gesicht, das mich fast
noch mehr erschreckte als seine verbitterte und verzweifelte Miene. Ich
war müde. Ausgelaugt und erledigt. Gar nicht dazu in der Lage, Überleben zu
verkaufen. Am liebsten hätte ich mich verkrochen, ins Bett gelegt und eine Woche
lang nicht mehr vor die Tür meines Quartiers geschaut, aber natürlich stand
das nicht zur Diskussion. Ich fühlte mich lächerlich und dabei so niedergeschlagen
und flügellahm. Wenn es den anderen auch nur halb so niederschmetternd ging wie mir, dann
grenzte es an ein Wunder, dass hier überhaupt noch etwas funktionierte! Der
Gedanke schaffte es seltsamerweise, mich endlich aus meinem Quartier zu treiben,
und ich rannte in die Kommandozentrale, aus Angst, wie mir vorkam, dass meine
Unterkunft mich wieder zurückholte und ich dem Sumpf des Schwermuts gar nicht
mehr entkommen konnte.
Zum Glück ließ sich die Schwäche zurückdrängen, war vielleicht in meinem Badezimmer zurückgeblieben und saß nun im Spiegel, wo sie auf meine Rückkehr wartete, um mich, wenn ich gerade nicht auf der Hut war, von Neuem zu quälen. Es gab viel Arbeit, jede Menge Entscheidungen, die mir allerdings nicht schwer fielen, zahllose Kleinigkeiten, die sich über alle Bereiche der Basis erstreckten, angefangen vom Kanalisationssystem bis hin zur Frage von Sterilitätsprüfungen in diversen Herstellungsbereichen. Die Stunden zerliefen wie Tinte in einem Glas voll Wasser, es war ein Kommen und Gehen von namenlosen Gestalten, und ich war auf der Hut, wartete auf den heimtückischen Schlag aus dem Hinterhalt. Er kam nicht, stattdessen wurde ich unleidlich und reizbar. Banalitäten hielten mich auf, nervten mich über Gebühr.
Mir wurde bewusst, dass ich die Leute nicht kannte, Mannschaftsmitglieder verwechselte und immer öfters die Geduld verlor. Langsam merkte ich, wie mir die Situation entglitt, und wirklich bestürzt war ich, als ich feststellte, dass ich nicht mehr wusste, in welchem Bereich von Alpha ich mich befand. Meine Basis, die ich wie meine Westentasche kannte, an deren Plänen ich von Anfang an mitgearbeitet hatte - und da stand ich wie ein verlorenes Schaf und starrte in den anonymen Korridor ohne Hinweis, wo ich war. Als ich mich umdrehte, sah ich einen Commpost, und darüber Hinweistafeln, die in die Richtung der Quartiere und der Kantine wiesen. Auf meine Unterkunft war ich beileibe nicht neugierig, und die Idee, etwas essen zu gehen, erschien mir im Vergleich dazu wie ein genialer Einfall. Die Entscheidung, wohin ich gehen musste, wurde quasi ohne mein Zutun gefällt.
Ich betrat die Kantine und wusste sogleich, dass mein Entschluss
herzukommen, richtig gewesen war. Hier herrschte eine gute Atmosphäre, ich sah
Leben, mehr, als mir in der gesamten letzten Woche begegnet war.
Die Ebene, in
der sich das Erholungszentrum und auch die Kantine befanden, hatte unter den
zerstörerischen Kräften der Explosion seltsamerweise kaum gelitten, aber dennoch
hatten sich die Räumlichkeiten hier gegenüber früher stark verändert. Wo in der Zeit meines ersten
Aufenthaltes auf dem Mond eine klinisch kühle, geradezu antiseptisch anmutende
Einheit zu finden gewesen war, hatten sich mittlerweile zahllose Tröge mit kultivierten
Pflanzen hineinverirrt. Überall sprossen Ficus-Bäumchen, Philodendren, Tieffenbachien,
wucherten Palmen und Gummibäume, die mit ihren saftig-grünen Blättern frisch
ins Licht strebten und die Tische von einander trennten, sodass die Kantine,
vormals ein Ort kalter und unbequemer "Abspeisung", nun fast einen
heimeligen Eindruck machte.
Es war nicht eben wenig los, ein wuselndes Treiben
von hungrigen Menschen, klirrende Gläser, klapperndes Besteck, und über allem lag ein emsiges
Summen aus zahllosen Gesprächsfetzen. Es war unwirklich, als sei ich vom
luftleeren Raum mitten in das pralle Leben gefallen, und mir kam der Verdacht,
dass ich allein es war, der in einem finsteren Kerker aus Ausweglosigkeit lebte,
in dieselbe trostlose Existenz gewechselt hätte, die schon meiner Großmutter eine
aussichtslose Zuflucht gewesen war.
Der Lärm wusch mich hinein in das Treiben, und sofort fühlte
ich, wie es mir besser ging, das rege Leben war die Wirklichkeit und ein Heilbalsam
für meinen verquerten Kopf. Mein Puls erwachte aus seinem komatösen Zustand, Luft strömte
in meine leeren Lungenflügel, und Hunger grummelte wie ein Gewitter in meinen
Eingeweiden. Mein Kopf wurde wolkig leicht.
Fast alle Anwesenden hatten es eilig, doch um ein
kultiviertes Anstellen an der Speisenausgabe führte kein Weg vorbei,
ich ließ mich im Strom treiben und fand mich am Ende der Schlange wieder. Ich
musste aber nicht lange warten,
bis ich an der Reihe war, und ließ mir ein Steak geben, Ofenkartoffeln und
grünen Salat. Die üppige Dame hinter der Theke grinste mich
an:
"Genießen Sie das Fleisch, Commander, wer weiß, wann wir es wieder anbieten können!" Ich lächelte pflichtschuldigst mit einer Portion Wehmut. Mondbasis Alpha war autark, keine Frage, aber viele Dinge, die das Leben leichter machten, und natürlich jeglicher Luxus mussten von der Erde eingeführt werden. So auch etliche Nahrungsmittel. Jetzt war es mir aber, gelinde gesagt, egal. Der Augenblick zählte. Während ich den Prozess der Ausspeisung durchlief, merkte ich, wie ich wieder langsam in einen Zustand von Normalität hineinglitt, das komische luftige Gefühl in meinem Kopf löste sich auf, nur Appetit blieb und eine Freude darüber, etwas Einfaches wie ein Essen genießen zu dürfen.
Ich schaute mich nach einem leeren Platz um und entdeckte Dr. Russell, die allein an einem kleinen Tisch saß und in ihren Teller blickte, während sie langsam und fast widerwillig aß. Auf dem Stuhl zu ihrer Rechten stapelte sich ein Berg von Papier, der andere jedoch war frei. Sie wirkte seltsam erschüttert und verloren im Treiben um sie herum, als säße sie in einem Vakuum aus Einsamkeit, und sie tat mir irgendwie leid. In ihrer Ausstrahlung erkannte ich mich wieder, wie ich kurz zuvor selbst noch gewesen war, müde, verlassen, und sehr allein. Ich wusste noch immer nicht, wie ich zu ihr stand, ob ich sie verwünschen sollte für ihre Reserviertheit, ihr nicht einzuschätzendes Wesen, für ihre Weigerung, es mir mit ihr leicht machen zu können, oder ob ich mich genau von diesem Anderssein widerwillig faszinieren ließ und dabei war, in eine Falle zu tappen, die so alt war wie die Menschheit selbst. Doch im Augenblick, entschied ich, waren meine persönlichen Anliegen und Sichtweisen zweitrangig, ich würde, falls sich meine Wünsche für die Zukunft erfüllten, lange Zeit mit ihr auskommen müssen. Vielleicht ein Leben lang. Und so nahm ich mich zusammen und trat, das Tablett vor mir her balancierend, an ihren Tisch.
"Dr. Russell?", sprach ich sie an, "Haben Sie
etwas dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?" Sie blickte irritiert auf,
war es offensichtlich nicht gewohnt, beim Essen gestört zu werden,
Frost umnebelte mich, und kletterte fast sichtbar an meinen Armen herauf, um
mir den Hals zusammenzuschnüren.
Sofort bereute ich meinen leichtfertigen Vorstoß und hätte gern den Rückzug angetreten,
aber da bedeutete sie mir schon, Platz zu nehmen. Ich stellte, innerlich seufzend,
mein Tablett ab und setzte mich. Ein halbes Lächeln stahl sich in ihre glatten
Züge, und der Frost fiel von mir ab. Sie musterte mich neugierig, und es erschien
mir lächerlich, ihrem Blick auszuweichen. Daher erwiderte ich ihn, und da war
irgendetwas an ihr, etwas Persönliches und Intimes, das eine geheime Kammer
in mir erreichte, ein verborgenes Versteck, von dem die Welt der Professionalität
nichts wusste, das der offizielle John Koenig niemals erwähnte, ein Schatzkästchen,
das ich verloren zu haben geglaubt hatte. Ich fühlte mich entblößt, entsetzt
fast, weil ich nicht und nimmer damit gerechnet hatte, je wieder so an der Substanz
gefasst zu werden, und mein erster Gedanke war Flucht.
Der menschliche Verstand
ist ein verblüffendes Instrumentarium, denn er findet Auswege, wo keine sind.
Mein Verstand entschloss sich, wenn körperliches Fliehen außer Frage stand,
zu den hilfreichen Mitteln von Ignoranz und Verdrängung zu greifen, fest
darauf vertrauend, dass, was nicht wahrgehabt wurde, auch nicht existierte.
Die Rechnung schien aufzugehen, und ich konnte ohne nennenswerte Auffälligkeiten
in meinem Erscheinungsbild mein Steak anschneiden.
Nie werde ich den
Geschmack dieses meines letzten Stücks Fleisch vergessen, das ich je gegessen
habe, bittersüß und rauchig, pfeffrig und verheißungsvoll und gleichzeitig von
Verzicht geprägt, von Verlust und davon, das alles verloren zu haben.
Ein jegliches Wort
blieb mir im Halse stecken.
"Commander, Sie wollen sicher wissen, wie es um Ouma
steht", begann Helena Russell nach einer Weile hochnotpeinlichen Schweigens,
das ich mit dem Vorwand eines vollen Mundes wortlos zu entschuldigen versucht
hatte.
Nein! Nein!!
Nichts
kam mir im Moment abwegiger vor als ein Gespräch über Ben Ouma und seinen
Zustand!
"Natürlich", bestätigte ich deshalb ihre Vermutungen und beschäftigte mich ausschweifend damit, Butterflocken auf meinen Kartoffeln zu deponieren. Sie berichtete mir in kurzen, sachlichen Worten von den Erkenntnissen, die auf biochemischer Ebene gewonnen worden waren. Ich musste mich anstrengen, ihren Worten folgen zu können und war froh, die Essenz ihrer Mitteilung verstanden zu haben, wonach es in der Tat bisher keinen Hinweis dafür gab, dass chemische Dämpfe Oumas Zustand hervorgerufen hatten. Ich kämpfte währenddessen gegen mich selbst, um meine Macht über mich selbst, und jedes Mittel war mir recht, sie wieder bei mir zu wissen.
"Commander", unterbrach sie sich plötzlich selbst mitten im Satz. "Bitte entschuldigen Sie meine Neugier, aber wie kommen Sie mit der Mannschaft zurecht?" Ich horchte auf. Ihr Ton barg etwas, das mich in Alarm versetzte, etwas, das mich sofort auf die Palme brachte. Es erinnerte mich an die Töne, die sie nach meinem Adler-Crash im Med. Zentrum angeschlagen hatte, und sofort fühlte ich mich bedrängt und in Verteidigungsposition. Was ging es sie an, wie ich mit den Leuten zurecht kam? Was wollte sie? Darauf war ich nicht eingerichtet. Sie sollte ihr Programm abspulen, auf das ich eingestellt war, ihr Essen verputzen und dann wieder ihrer Wege gehen. Und ich wollte nicht Rede und Antwort zu Themen stehen, die mir selbst wie sengende Feuer in der Brust loderten, Themen, zu denen ich selbst keine Antwort kannte. Oder auf die ich die Antwort fürchtete..
"Gut", sagte ich daher abweisend. "Sie müssen wissen, dass ich einen Teil des Personals schon von meinem früheren Aufenthalt her kenne." Der Ärger, der in mir aufkeimte, tat meiner Konzentration gut, wie ich merkte.
"Zwanzig Prozent", korrigierte sie mich ungerührt. "Ein Großteil der Dienstposten wurde in den letzten Jahren neu besetzt." Ich legte mein Besteck auf den Teller und nahm sie abschätzend ins Visier.
"Was bezwecken Sie eigentlich mit Ihrer Frage, Dr. Russell?", erkundigte ich mich. Ich war schon immer dafür gewesen, die Dinge klar anzusprechen, mich deutlich zu formulieren, Positionen darzustellen und zu klären. Ein offenes Wort hatte schon so manches Missverständnis aus dem Weg geräumt. Ihre Miene war eine kühle Fassade aus Professionalität, und ich konnte nichts von ihrem Wesen dahinter sehen. Sie schob ihren Teller von sich, obwohl sie nicht einmal die Hälfte ihres Mahls gegessen hatte. Wie ich an Schlaflosigkeit, schien sie an Appetitlosigkeit zu leiden.
"Commander, Sie haben seit..." Sie blickte auf die Datumsanzeige ihres Commlocks, "... seit knappen sieben Tagen das Kommando über die Basis. Unter normalen Bedingungen ist es nicht eben einfach, sich Respekt unter einem Haufen von Individualisten, wie sie hier leben, zu verschaffen." Ich hörte ihr hellhörig zu. Ihr Blick lag kristallisch klar auf mir, und ich fühlte mich davon wie aufgespießt. Weg waren die Synapsenfehlschaltungen in meinem Gehirn. "Und ich muss Sie nicht daran erinnern, dass Ihr Start hier unter enorm erschwerten Bedingungen verlief. Sie haben ein auseinander brechendes Chaos von Gorski geerbt, ein Grauen, das durch nichts zu beeinflussen war. Sie wissen es, ich weiß es, und der gesamte Kommandostab weiß es ebenso gut. Aber ich kann Ihnen versichern, dass viele Basismitglieder nicht verstehen, wieso das Unheil nicht abgewendet werden konnte. Und was noch hinzukommt, Commander - Ihre Entscheidung, nach dem Wegbrechen des Mondes gar nicht erst zu versuchen, wieder zur Erde zurückzukehren, ist extrem unpopulär." Ich hatte nichts dergleichen vernommen, und abgesehen davon war dieser Entschluss unausweichlich gewesen. Die Analysedaten des Hauptcomputers hatten mir nicht die geringste Wahl gelassen. Ich fühlte mich plötzlich sehr klar in meinem Kopf
"Sie wissen, dass ich keine andere Möglichkeit hatte, Dr. Russell", war daher meine kalte Replik. Der letzte Rest von Appetit war mir vergangen. Sie nickte frostig.
"Natürlich weiß ich es. Aber für die Mannschaft ist
Ihre Entscheidungsfindung im besten Fall undurchsichtig." Ihre Motive waren
mir nicht verständlich. Worauf wollte sie hinaus? Wollte sie mir klar machen, dass ich als Leiter der Basis
keine Zukunft hatte? Hatte sie selbst Ambitionen?
Sie holte zum nächsten
Schlag aus. "Commander, denken Sie daran, dass die Mannschaft hier auf
Alpha mehr denn je die Kommunikation braucht. Es ist gut, wenn ihr gesagt wird,
was zu tun ist, sie muss aber auch wissen warum. Mehr noch, gehen Sie und sprechen
Sie mit ihnen. Nicht mit den Sektions-Chefs, die wissen, was los ist, ich meine
die Leute, die die ganze Arbeit machen."
"Zerbrechen Sie sich nicht meinen Kopf", entfuhr es mir ärgerlich. Über meinen Umgang mit anderen hatte sich noch nie jemand beschwert - ganz im Gegensatz zu dem, was ich über sie gehört hatte. "Ich habe, seit ich meinen Fuß auf Alpha gesetzt habe, nichts anderes getan, als mich um die Mannschaft zu kümmern, um ihr Überleben und darum, dass die Basis wieder funktioniert!", erklärte ich ihr ziemlich aufgebracht. Sie seufzte, ohne jedoch aus dem Konzept zu geraten.
"Ja, das ist auch Ihre Aufgabe. Aber es gehört mehr dazu, ein respektierter Leiter einer Organisation zu sein!"
"Das sagen ausgerechnet Sie?", konterte ich undiplomatisch. Touché! Sie wurde blass, doch nur einen Moment, dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle.
"Ich habe in meiner Vergangenheit Fehler gemacht", sagte sie leise, "höhere Interessen nicht bedacht oder sogar bewusst ignoriert. Jeder macht Fehler, doch meine geschahen aus denselben Motiven, die auch Sie zweifellos haben, nämlich das Beste für diejenigen zu wollen, für die man verantwortlich ist." Ich hatte nicht gedacht, ihr in irgendeiner Weise nahe treten zu können, und ich war betroffen. Mein Ärger löste sich in Luft auf, und meine Worte taten mir leid.
"Verzeihen Sie", sagte ich deswegen, "das war nicht fair." Sie neigte den Kopf in Kenntnisnahme meiner Entschuldigung.
"Was ist schon fair?" Sie langte zur Seite und
zog aus dem Haufen Papier, der auf dem Sessel neben ihr lag, einen beschrifteten
Bogen hervor. "Was ich damit sagen will, Commander, ist, dass Sie sich
vorsehen müssen. Sie haben Tag und Nacht gearbeitet, wie die meisten von uns,
Sie haben Anweisungen gegeben und zugepackt, wo es notwendig war, aber Sie
haben sich nicht mit den Menschen befasst."
Ich merkte, wie ich überrascht
und geräuschvoll Luft in meine Lungen zog. Ihre Behauptung war schlicht und
einfach nicht richtig. Sie aber warf mir einen Blick von durchdringendem, hellem
Blau zu, der mir den Mund verschloss, und zeigte mir das Blatt Papier.
Die
Liste war zum Glück nur kurz, und mit etwas schlechtem Gewissen erinnerte ich
mich daran, dass ich sie, nachdem sie mir ausgehändigt worden war, lediglich
flüchtig überflogen hatte, um erleichtert zur Kenntnis zu nehmen, dass niemand
darauf stand, den ich persönlich gekannt hatte.
Sie deutete auf den ersten
Namen.
"Krzysztof Gudalovic, 43 Jahre, genannt Mrs Wonderful. Durch ein Leck ins Vakuum gezogen. Er war unser.. unser Barbier." Ein schmales Lächeln kam in ihr Gesicht, als sie das ungewöhnliche Wort wählte. "Ein Exzentriker, der einmal allen Ernstes versuchte, seinen lebendigen zwei Meter langen Alligator auf die Basis einzuschleusen. Commander Gorksi fiel fast in Ohnmacht vor Empörung. Ein erhebender Moment!" Ihr Finger wanderte zum nächsten Namen. "Patricia Weiss, 30, New Yorkerin. Sie wurde von einem umgestürzten Gefrierschrank eingeklemmt und ist ihren inneren Verletzungen erlegen, ehe wir ihr helfen konnten. Sie war ein unscheinbares, blasses Mäuschen aus der Wartung, aber sie zeichnete in ihrer Freizeit Mangas, die ihr von der Allgemeinheit aus den Händen gerissen wurden." Beim nächsten Namen stockte sie. Ich blickte auf und sah in ihr ein brechendes Herz, für einen kurzen Augenblick nur, ehe sich wieder die glatte Fassade vor meinen Blick schob. "Benji Brooks. Er starb an einer Rauchgasvergiftung bei einem Feuer in seinem Schlafzimmer. Er war hier auf Besuch, zwei Wochen lang nur, doch war es ihm nicht schwer gefallen, uns alle sofort um den kleinen Finger zu wickeln. Benji war nur fünf Jahre alt." Sie pausierte hilflos. Unversehens glitt meine Hand auf den Tisch und legte sich sanft auf die Ihre. Sie war kalt, und offensichtlich fehlte ihr die Energie, sie mir zu entziehen. Nach dem Verlauf des Gesprächs hätte ich nicht gedacht, dass ich sie berühren würde, nicht gedacht, dass ich einen Blick in ihr Herz erhaschen würde.
"Tun Sie das nicht", riet ich ihr leise, "ich habe verstanden, was Sie mir sagen wollen."
"Ich bin nicht Ihr Feind, Commander", sagte sie.
"Ich möchte, dass wir hier eine stabile Gesellschaft aufbauen können, und
dazu gehört ein starker, akzeptierter Anführer." Sie hatte mich kalt
erwischt. Ich hatte in meiner Arroganz, meiner Selbstbezogenheit und mit
meinem beleidigten Ego keine Sekunde in Betracht gezogen, dass sie nur eines
tun wollte: mir beizustehen. Ich hatte mich vollkommen zum Idioten gemacht und
wie ein Blindgänger um mich geschlagen, wertvollen Rückhalt riskiert und absichtlich
jemanden verletzt, der auf meiner Seite war.
Ich schwieg, weil ich merkte,
dass es kein Wort gab, das meine Dummheit relativieren konnte. Sie schien zu
verstehen, was in mir vorging, denn sie lächelte milde inmitten ihrer Trauer
um die toten Menschen auf Alpha.
"Commander, ich weiß, dass es nicht leicht ist." Ich war so ein Idiot!
"Ich..." Ich stockte. Wie sollte ich mein Verhalten wiedergutmachen? "Ich kann also mit Ihrer Hilfe rechnen?", fragte ich kleinlaut.
"Aus keinem anderen Grund habe ich dieses unerfreuliche Gespräch begonnen", erwiderte sie, ohne zu zögern. "Es ist nicht immer angenehm, was ich zu sagen weiß, aber Sie werden stets meine ehrliche Meinung zu hören bekommen."
"Ich möchte, dass Sie mir das versprechen, Dr. Russell. Die Aufrichtigkeit ist häufig ein ungeliebtes Stiefkind in menschlichen Beziehungen", sagte ich ernst. Sie nickte ebenso ernsthaft.
"Weil sie den Menschen mitunter dazu zwingt, sich mit etwas anderem als seinem eigenen Innenleben, seinen eigenen Vorstellungen und Wünschen, zu beschäftigen. Ich verspreche es Ihnen, Commander." Ich nickte. Ich hatte verstanden, dass sie ein kostbarer Mensch war.
"Darf ich fragen, wieso Sie mir helfen?" Sie dachte nach.
"Weil es notwendig ist", antwortete sie schließlich. "Und weil Sie mich ernst genommen haben, Commander. Ich hatte eine abwegige Theorie, und Sie haben mich nicht ignoriert und meine Ergebnisse lächerlich gemacht, obwohl ich weiß, dass Gorski und nicht zuletzt Simmonds eifrig das Feuer gegen mich geschürt und meine Reputation untergraben haben."
"Wie kommt es, dass Sie sich bei den beiden so unbeliebt gemacht haben?" Zwischen ihren Augen erschien kurz eine steile Falte.
"Eine höchst unprofessionelle, persönliche Sache", gab sie knapp zur Antwort. Ich nickte. Also stimmten die Gerüchte, die ich gehört hatte, dass Gorski versucht hatte, sie in sein Bett zu bekommen und dass sie ihm die kalte Schulter gezeigt hatte. Er hatte ihr dann, auch mit Hilfe seines guten Freundes Simmonds, das Leben schwer gemacht. "Würden Sie mich jetzt bitte entschuldigen." Sie erhob sich, nahm mit einer Hand ihr Tablett, mit der anderen ihre Papiere und nickte mir förmlich zu. Sie war mir wieder so fern wie am Anfang.
"Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit."
"Sie werden mir nicht immer dafür danken", antwortete sie ohne ein Lächeln und entschwand in der Menge. Ich zog nachdenklich wieder meinen Teller zu mir. Jetzt war mir endlich klar, dass ich mein Herz an sie verloren hatte. Weniger klar war mir allerdings, wie ich damit umgehen sollte.
+++++++++++++
Das Nächste, an das ich mich erinnere, ist, dass ich glaubte
zu schweben. Ich fühlte mich eigenartig leicht, körperlos, als wäre ich ein
Gedanke ohne dazugehörende Substanz, die ihn hervorbrachte, und es war sehr
seltsam, weil ich mir einen Augenblick lang vorstellte, geradewegs aus dem Nichts
gekommen zu sein. Es war hell um mich herum, weißes Licht, und wie wattiert waren
die
Geräusche, die ich nicht zuordnen konnte. Dann merkte ich, dass die Helligkeit
nur eine scheinbare war, weil meine Augen geschlossen waren, dass
die Geräusche dagegen tatsächlich existierten. Ich bewegte beide Hände und musste
feststellen, dass die Idee von der Körperlosigkeit ebenso eine Einbildung
gewesen war, besonders, als ich den Kopf etwas aus der Mittellage drehte. Da
fuhr mir ein unrühmlicher Schmerz durch alle Nerven, die ich besaß, so, als wäre
ich soeben von einer Autopresse in ein kompaktes Stück Abfall von gerade
zehn Kubikzentimeter Rauminhalt zusammengequetscht worden. Ein unangenehmes, raues und gequältes Geräusch
bohrte sich durch mein Trommelfell, und schlagartig riss ich die Augen auf.
Das Geräusch machte ich selbst, und es war zum Fürchten, jammernd
hohl drang mir ein Geheul wie von qualvoll Sterbenden aus dem Mund,
ohne dass ich etwas dagegen machen konnte. Ich sah, dass es tatsächlich hell
war, blickte in die klinische saubere Helligkeit eines Krankenhauses; die von
der Sorte, in der inspiziert, begutachtet, befunden und beurteilt wurde.
Mein
Jammern schien Anwesende herbeizulocken, die sich um mich scharten und in wirrem
Durcheinander miteinander sprachen.
"Gottseidank, er ist wach", hörte ich, und "Gehen Sie zwei Teilstriche rauf auf drei Komma vier." Ich versuchte herauszufinden, was los war, und meine Ambitionen, mich mitzuteilen, wurden von den Umstehenden als Unruhe gewertet.
"Commander, es ist ok. Sie haben ordentlich eins aufs Dach bekommen, und wir sind gerade dabei, Sie wieder auf Vordermann zu bringen."
"Aber wie... was...?" Meine Kräfte reichten nicht einmal aus, eine einfache Frage zu stellen. Ich glitt übergangslos in tiefe Verzweiflung. Sofort begann irgendwo ein Gerät laut zu piepsen.
"Er regt sich auf", hörte ich aus dem Abseits,
als käme der Sprecher gerade aus einem anderen Raum herein, "alle
außer Dr. Mathias und Paula verlassen den Raum! Sie sehen, dass er nicht an
derselben Erkrankung wie Ouma leidet, und alles andere können wir später klären!"
Die Stimme war scharf, aber nicht unangenehm, weiblich, und irgendwo in mir
klingelte es. Das Piepsen hörte nicht auf. Ich merkte ja selbst, wie mein Herz raste, wie
der Schreck mir in den Gliedern saß, und ich versuchte, mich nicht zu rühren, damit der
Schmerz in mir nicht tobte und zubiss wie eine wütende Kobra.
Die Inhaberin
der Stimme beugte sich über mich, und ich blickte in ein blasses, schönes Gesicht
mit hellen, wachen Augen und besorgter Miene. Wieder klingelte es in mir, ganz
nah war die Erinnerung, so, als müsse ich nur zum Knauf greifen, ihn drehen und
die Tür öffnen, um sie dahinter zu finden.
Ich spürte die Hand der Frau auf meiner Wange und sah ein sachtes Lächeln, das die Panik
in mir löschte.
"Alles in Ordnung?", keuchte ich ungläubig und starrte sie an. Ihr Lächeln blieb; nur ihre Hand wich zurück.
"Nichts ist in Ordnung", gab sie zur Antwort, "ein Loch im Kopf und kein Gedächtnis, wie ich sehe!"
"Ich verstehe nicht, was hier vorgeht! Wer sind Sie?"
"Dr. Russell."
"Dr. Russell??" Der Name sagte mir nichts.
"Machen Sie sich keine Sorgen, Commander, Ihre Ganglien wurden bei dem Unfall etwas durcheinander geschüttelt. Ihr Gedächtnis wird früher zurückkommen, als Ihnen lieb ist." Dass sie mich auf später vertröstete, war mir gar nicht recht. Mein Gefühl, körperlos umhergeschwebt zu sein, kam mir jetzt überhaupt nicht mehr abwegig vor. Ist nicht das Gedächtnis der Körper, die Substanz, des Verstandes, und kommt das Gefühl, kein Gedächtnis zu besitzen, der Hilflosigkeit eines vom Hals abwärts Gelähmten nicht recht nahe? Sie beide sind der wesentlichsten Bestandteile des Menschseins beschnitten, auf Rettung angewiesen, auf die Gnade der ihn umgebenden sozialen Strukturen. Was, wenn sich ihre Prophezeiung nicht erfüllte und ich ewig ohne Gedächtnis leben musste? Alles immer wieder aufs Neue verlor und vergaß?
"Commander, versuchen Sie, vorsichtig den Kopf zu bewegen", vernahm ich eine Stimme von irgendwo am Kopfende meines Bettes. Ich tat wie geheißen, und seltsamerweise war kein Schmerz mehr da. Von außerhalb rückte der Besitzer der Stimme in mein Sichtfeld. Es war ein schlanker, dunkelhäutiger Mann mit Schnurrbart und zufriedenem Gesichtsausdruck. "Wir können Schmerz bildlich darstellen und gezielt die entsprechenden Neuronen blockieren. Es dauert nicht lange, dann sind Sie wieder wie neu." Von solchen Versprechen hielt ich gar nichts, nicht, solange ich so demonstrativ weit weg davon war, "wie neu" zu sein.
"Mathias, holen Sie mir Professor Bergman herein." Klingelingeling!! Es war da - und gleichzeitig ebenso weit weg wie ein anderer Planet! Schlüssel verlegt. Ärgerlich und sehr beängstigend!
Wenig später spazierte ein dünner älterer Mann mit unschöner Dreiviertelglatze und derselben beigen Bekleidung, wie auch die übrigen sie trugen, in den Raum. Er setzte sich ungeniert an den Rand meines Bettes und wandte sich mir zu.
"Na, John", ließ er salopp verlauten, "ich habe gehört, dass du dir neuerdings Kisten auf den Kopf fallen lässt."
"Tatsächlich?"
"Ja, den Gerüchten zufolge treibst du dich in Lagerräumen herum, wo Regale ihre Lasten abwerfen und dich unter sich begraben." Er hätte mir irgendetwas erzählen können, ich erinnerte mich nicht. Aber trotzdem flackerte ein Bild durch meinen Geist, wie ein Blitz; ich blickte in einen kleinen muffigen Seminarraum mit dunkler hölzerner Vertäfelung, Reihen von leeren am Boden fixierten Sitzplätzen für Studenten, vorne eine schwarze Tafel, die schlecht gewischt war, und es roch durchdringend nach Kreidestaub, nassen Schwämmen und Prüfungsangst. Er saß halb am Tisch vorne, ein Bein pendelte locker herunter, während das andere am Boden stand und ihm Halt verlieh. Er war viel jünger als heute, mit dunklem Haar und prominenten Geheimratsecken, aber doch erinnere ich mich, dass er mir damals schon alt vorkam. Alt aber unkonventionell, vom Rest der Professoren auf der Akademie misstrauisch und ungnädig gemustert, jedoch geduldet aufgrund seines Rufes, seiner Fähigkeiten und der Tatsache, dass er sich aus jeglicher Politik heraushielt und sämtlichen Streitereien und Animositäten, die unter dem Lehrpersonal an der Tagesordnung waren, heraushielt. Er war der vielseitigste Mensch, den ich kannte, schrieb mit beiden Händen Formeln und Lösungen zu allen mathematischen, physikalischen und philosophischen Problemen nieder, und sie purzelten ihm förmlich aus seinen Ärmeln, als wäre das alles gar nichts. Und dann wanderte er zerstreut durch den Korridor, als könnte er nicht bis drei zählen, ein skurriles Bild der Lächerlichkeit. Nur gab es niemanden, der über ihn lachte.
Ich war erst im zweiten Jahr, als er sich, aus meiner Sicht grundlos, entschied, mich zu seinem Assistenten zu machen. Ich weiß bis jetzt nicht wieso, denn ich war weder besonders eifrig in seinen Fächern, noch sonderlich klug, auch hatte ich ihm nicht, wie so manch einer von uns, in der Hoffnung, seine Aufmerksamkeit zu erregen, mit besonderer Zuvorkommenheit und Diensteifrigkeit nachgestellt. Die Arbeit bei ihm fiel mir gar nicht leicht, und mehr als einmal verzweifelte ich wegen der Schwierigkeit der Aufgaben, die er mir stellte, mehr als einmal war ich knapp davor, alles hinzuwerfen, meine Pläne zu begraben und hinzugehen, woher ich gekommen war. Nie war mir klar, was er von mir wollte. Und da war dann diese Szene, die mir nun durch den Kopf wehte, als der Professor die Arme neben sich auf die Tischplatte stützte und mich mit scharfem Blick ansah. "Weißt du, früher dachte ich auch, dass es das Wichtigste ist, die Lösungen zu finden. Das stimmt aber nicht. Wichtiger ist es noch, das Problem zu finden. Deine Lösung, der Ansatz und die Qualität der Antwort hängen ganz wesentlich davon ab, ob du das Problem auch treffend formuliert und differenziert definiert hast." Damals begann ich zu lernen, nach Zusammenhängen zu suchen, sie zu begreifen, und ich habe erkannt, dass diese Aufgabe keinen Anfang hat und kein Ende.
"Victor!", rief ich.
"Derselbe!", erwiderte er schmunzelnd. "Es braucht wohl mehr als einen Schlag auf den Kopf, um mich zu vergessen."
"Das will ich wohl meinen." Ich wusste wieder, wer ich war, auch wo ich mich befand, und alle Umstände trudelten so nach und nach wieder in meinem Verstand ein. 'Früher, als Ihnen lieb ist', hatte die Ärztin gesagt. Sie hatte ein wahres Wort gesprochen, doch so niederschmetternd das Wissen auch war, schlimmer noch erschien mir diese kurze Zeit ohne Vergangenheit. Ich schickte ein Stoßgebet gegen den Himmel, dass ich in meinem Leben nie wieder ohne mein Gedächtnis auskommen müsse.
Mein Kurzzeitgedächtnis allerdings ließ mich nachhaltig im Stich. Es war nicht zu eruieren, was ich in dem Lager mit Geräteersatzteilen zu suchen gehabt hatte. Zuvor hatte man mich auf der Wartungsebene angetroffen, wo ich nach dem Rechten gesehen und ein paar Worte mit dem Personal gewechselt hatte. Auf dem Weg in die Flugzentrale, wo ich mich angekündigt hatte, war ich verschwunden, und erst, als ich auf mehrmalige Aufforderungen der Kommandozentrale, mich zu melden, nicht reagierte, stöberte mich Paul Morrow mittels Commlock-Ortung auf. Man zerrte mich unter einem Berg voller Metallkisten hervor, ohne Bewusstsein und mit einer blutenden Wunde am Hinterkopf. Die Basis-Sensoren funktionierten nach wie vor nicht, und es gab nur eine Aufzeichnung aus einem Lift, auf der ich friedlich und ohne sonderliche Gemütsbewegung abwartete, die richtige Etage zu erreichen. Dass der Lagerraum in unmittelbarer Nähe des gesperrten Chemiebezirks lag, sorgte für Aufruhr und beträchtliche Besorgnis davor, dass mit mir dasselbe wie mit dem unglücklichen Ben Ouma geschehen sein konnte, und das Gerücht, dass sich Commander Koenigs Kopf in eine Musbirne verwandelt hatte, ging wie ein Lauffeuer durch die gesamte Basis. Die Dementi aus dem Med. Zentrum verpufften wirkungslos im Nichts, umso mehr, als die medizinische Leitung sich vehement dagegen aussprach, mich mittels medikamentöser Mittel wieder zu Bewusstsein zu bringen.
"Wann bin ich so weit wiederhergestellt, dass ich zur Arbeit zurückkehren kann?", erkundigte ich mich bei Dr. Mathias. Der schüttelte bedauernd den Kopf.
"Commander, das wird auf jeden Fall noch ein wenig dauern. Sie müssen noch überwacht werden, denn auch, wenn es Ihnen jetzt unter Therapie relativ gut geht, bedeutet das nicht, dass es keine Schwierigkeiten geben könnte, die lebensbedrohlich sein könnten." Da ich mich in Wirklichkeit ziemlich matt und angeschlagen fühlte, wenn auch im Augenblick schmerzfrei, hatte ich ein Einsehen.
"Kann ich mir dann wenigstens ein paar Berichte bringen lassen, die könnte ich ja unter medizinischer Aufsicht durchgehen."
"Nein, Commander", war die wenig zufriedenstellende Antwort. "Auch wenn es sich wie ein Klischee anhört, Sie brauchen jetzt wirklich Ruhe. Sie sollten gar nichts lesen, am besten schlafen und sich ausruhen."
Natürlich missachtete ich das Leseverbot. Im Nachtkästchen neben dem Krankenbett fand ich eine Mappe mit persönlichen Unterlagen, die ich wohl unterwegs bei mir gehabt hatte. Und selbstverständlich erwischte mich die Chefärztin dabei. Nicht nur, dass mich zur Belohnung für mein Ungehorsam eine neue Salve von peinigenden Schmerzattacken heimsuchte, musterte sie mich auch noch mit Gewitterwolken im Gesicht, während ich den ebenso erfolglosen wie lächerlichen Versuch unternahm, die Mappe unauffällig verschwinden zu lassen. Sie stand in der Tür mit vor der Brust verschränkten Armen und starrte mich wortlos an. Ich setzte eine zerknirschte Miene auf.
"Wissen Sie, es ist nicht leicht, krank zu sein, wenn man es sich nicht leisten kann", sagte ich zur Entschuldigung. Sie entspannte sich und kam herein. Dann nickte sie.
"Ich weiß, wovon Sie reden. Sie sollten es aber trotzdem nicht übertreiben, Commander."
"Sie haben Recht, mein Kopf ist schon wieder dabei zu explodieren. Ich muss eben darauf vertrauen, dass Paul Morrow mich würdig vertritt. Er ist ein fähiger Mann." Sie schaute betreten auf, und sofort wusste ich, dass etwas nicht in Ordnung war.
"Commander, Paul Morrow vertritt Sie nicht", sagte sie. Ihre Worte verwirrten mich, denn der Controller war ganz offiziell die Vertretung des Kommandanten, das war nichts Neues, und war selbst zu Gorskis Zeiten gelegentlich zur Anwendung gekommen. Ein schlimmer Verdacht beschlich mich.
"Aber bitte sagen Sie mir nicht, dass Simmonds jetzt in meinem Büro sitzt!" Zing! Tausend Messer stachen auf meinen Kopf ein, noch ehe sie nickte.
"Er beruft sich auf einen Paragraphen in der Dienstordnung, wonach der ranghöchste Anwesende im Falle des plötzlichen Ausfalls des Kommandanten die Leitung übernehmen kann."
"Aber diesem Passus kommt doch keinerlei Bedeutung mehr zu! Jetzt und hier!!", regte ich mich auf. Es ärgerte mich maßlos, dass er sich nicht an das Protokoll hielt und Paragraphen aus einer nunmehr anderen, vergangenen Welt verbog, um seiner Selbstsucht Rechnung zu tragen! "Warum sagt mir niemand etwas davon?"
"Weil Sie nichts daran ändern können, Commander. - Und außerdem habe ich selbst erst vorhin davon erfahren." Mir wurde ganz anders, wenn ich daran dachte, was Simmonds gerade ausheckte.
"Dr. Russell, Sie werden verstehen, dass ich ihm das nicht durchgehen lassen kann!" Sie zog die Augenbrauen fragend hoch.
"Ich verstehe nicht..", begann sie, aber ich schnitt ihr unhöflich das Wort ab.
"Ich muss sofort meinen Posten wieder einnehmen!", verkündete ich ihr. Je kürzer Simmonds meinen Sessel anwärmte, umso weniger Möglichkeit hatte er, sich darauf heimisch zu fühlen und womöglich auf unzumutbare Gedanken zu kommen. Die Ärztin machte einen wenig einverstandenen Eindruck.
"Commander, davon muss ich Ihnen dringend abraten",
sagte sie ablehnend, was mich verärgerte, weil sie offensichtlich nicht zu begreifen
schien, was Simmonds alles anstellen konnte, solange er die alphanischen
Drähte in den Händen hielt.
Wenigstens nahm sie meinen Unwillen zur Kenntnis,
denn sie seufzte vernehmlich. "Ich kann Ihnen nichts verbieten, aber als
behandelnder Arzt kann ich Ihnen im Interesse Ihrer eigenen Gesundheit nur dringend
ans Herz legen, dass Sie wenigstens noch bis morgen hier zur Überwachung bleiben.
Mit Kopfverletzungen darf man es sich nicht zu leicht machen."
"Dr. Russell, ich möchte auf keinen Fall, dass Simmonds eine müde Minute länger hier den Chef spielt!" Gleichzeitig schwang ich meine Beine über den Bettrand und erhob mich.
Alles drehte sich, wie ein Karussell in wehendem Reigen und rauschendem Wirbel zog der Raum rund um mich herum, umkreiste mich, als zöge es mich in einen riesengroßen Wasserabfluss hinein, und dann verschwand die rotierende Welt in einer alles verschlingenden Schwärze - und ich mit ihr.
+++++++++++++
Das nächste Erwachen war das verheißungsvollste seit langem.
Ich fühlte mich wie auf Urlaub, erholt und entspannt, und fast glaubte ich,
den unvergleichlichen Duft des starken italienischen Espressos in der Nase
zu haben, den die Signora Bonetti, meine Wirtsfrau, zubereitete, um die Langschläfer
aus den Federn zu jagen. Fast schon glaubte ich, Meeresrauschen zu hören, draußen
vor dem Fenster, und ich fühlte mich fit und tatendurstig. Doch ich wusste,
dass ich auf Mondbasis Alpha war, weiter weg von Signora Bonetti und ihrem frischen
Gebäck als tausend Meere, weiter weg als tausend Gebirge. Unerreichbar
weit.
Ich
öffnete die Augen und sah um mich das Med. Zentrum, Geräte und Utensilien, aber
außer mir war in dem Raum kein Patient. Eine Schwester war damit beschäftigt,
von mir abgewandt Tabletten einzuschachteln, doch als ich mich bewegte, drehte
sie sich um und kam zu mir. Es war eine zarte asiatische junge Frau mit Mandelblick
und zurückhaltendem aber freundlichen Lächeln. Auf ihrem Namensschild las ich
den Namen Anna.
"Fein, dass Sie wach sind", sagte sie zur Begrüßung mit starkem Südstaatenakzent, und ich schloss daraus, dass sie Amerikanerin mindestens zweiter Generation war. "Sie sehen richtig erholt aus."
"Ja, ich fühle mich auch so", gab ich zur Antwort und freute mich, dass mich keine Schmerzen mehr bissen. "Wie lange habe ich denn geschlafen?" Sie zögerte einen Moment.
"Etwa drei Tage." Ich glaubte, mich verhört zu haben.
"Wie bitte?? Drei Tage? Soll das ein Scherz sein?" Sie schüttelte etwas betreten den Kopf.
"Dr. Russell hielt das für nötig."
"Ich möchte Dr. Russell auf der Stelle sprechen!", verlangte ich aufgebracht. Ich konnte es kaum glauben, dass mich die Chefärztin von Alpha tatsächlich mehrere Tage lang ausgeschaltet hatte, obwohl sie wusste, dass ich so bald als möglich wieder auf meinem Posten sein wollte. Die Schwester nickte.
"Ja, sie hat gesagt, dass wir sie holen sollen, wenn Sie aufwachen." Sie verließ den Raum, und ich setzte mich verstört in meinem Krankenbett auf. Drei Tage! Ich war ganze drei Tage völlig außer Gefecht gewesen, ohne die Möglichkeit, über Simmonds' Entscheidungen zu befinden, ohne Handhabe, ohne Bewusstsein. Ich fragte mich, ob ich mich nicht darüber wundern sollte, dass die Basis überhaupt noch existierte, aber mir war klar, dass ich Simmonds damit Unrecht tat. Ich hatte eine Aversion gegen den Mann, aber das bedeutete nicht automatisch, dass er Alpha innerhalb von zweiundsiebzig Stunden auch zwangsläufig in den Untergang führen musste. Mir stieg der Schweiß auf die Stirn, als mich diese Gedanken so gar nicht beruhigen wollten, denn irgendwie hatte ich das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Ich vergaß, darüber nachzudenken, ob es von ärztlicher Seite her überhaupt gestattet war, dass ich das Bett verließ, und als Dr. Russell eintrat, fand sie mich bloßfüßig vor dem Bett stehend in einem basisüblichen blauen Pyjama vor.
Sie sah aus, als wäre sie gerade aus dem Bett geholt worden,
ihr helles Haar nur flüchtig frisiert, und eine fürwitzige Strähne fiel ihr
über ihr rechtes Auge. Ihr müder Blick fixierte mich, und irgendwie hatte ich
das Gefühl, als sähe mich eine Ertrinkende an, ihr hilfloser stummer Schrei
traf mich wie ein Blitz, und ich stutzte, denn ihre Miene war glatt, unbewegt
fast. Gelähmt. Die Wahrheit lag in den Augen. Das Gesicht war nur Schein.
Ich
war wie vom Donner gerührt und vergaß, dass ich sie zur Rechenschaft ziehen
wollte.
"Commander, wie fühlen Sie sich?", fragte sie und trat einen Schritt näher. Vielleicht hatte ich mich getäuscht, denn jetzt sah ich nur die distanzierte Frau vor mir, keine Verzweiflung, niemanden, der am Ende seiner Kraft war, keinen, der um Hilfe flehte. Ich war durcheinander. Sie machte mich durcheinander.
"Dr. Russell, was geht hier vor? Sie schicken mich für drei Tage ins Nirwana, obwohl Sie wissen, wie dringend ich das Med. Zentrum wieder verlassen möchte?" Sie holte fast unmerklich Luft und wirkte plötzlich ätherisch vor lauter Erschöpfung. Ich glaubte, eine Chimäre zu betrachten, ein Vexierspiel, das von einem Augenblick auf den nächsten sein Aussehen ändern konnte, selbst sein Wesen und mit ihm alle Emotionen und Reaktionen, die es in seinem Gegenüber auslöste. Sie verwirrte mich immer mehr, weil ich nicht wusste, ob ich zornig sein sollte oder vor Mitgefühl überfließen, ob ich sie anherrschen sollte oder überfälligen Trost spenden...
"Es war leider nötig, Sie in den Tiefschlaf zu versetzen", sagte sie ruhig. "Es gab Komplikationen, und wir mussten eine Blutung stillen. Dies war die sicherste und schnellste Möglichkeit, Sie wieder gesund zu machen."
"Aber drei Tage, Dr. Russell!! Bitte sagen Sie mir, dass die Basis noch steht." In ihren erschöpften Zügen flackerte der Anflug eines Lächelns.
"Alpha gibt es noch. Und glücklicherweise geht es Ihnen jetzt auch wieder gut."
"Und was macht ... er?", wollte ich wissen.
"Meinen Sie Commissioner Simmonds?" Ich nickte.
"Er lässt das Sicherheitssystem ausbauen", antwortete sie. "Er sorgt dafür, dass auf der Basis niemand mehr ungesehen von Kisten auf den Kopf getroffen werden kann." In ihrer Stimme vermeinte ich einen Hauch von Sarkasmus zu hören. Statt ihre Einstellung über größere Sicherheit auf Alpha zu bemäkeln, merkte ich, dass ich mich darüber freute.
"Und Ouma?" Sie seufzte.
"Wir sind nicht viel weiter gekommen", gab sie zu. "Wir wenden ein neues Verfahren an, indem wir versuchen - salopp gesagt - seine Synapsenschaltungen zu reaktivieren. Er wird nie wieder der Alte sein, selbst wenn wir erfolgreich sein sollten." Ich sah sie gespannt an. Es war verblüffend, was die Medizin schon alles zuwege brachte.
"Ich wünsche es ihm. Gibt es Neuigkeiten darüber, was ihm passiert ist?" Sie schüttelte bedauernd den Kopf.
"So weit ich weiß, wurden mit großer Sicherheit Einwirkungen von außerhalb der Basis ausgeschlossen. Ich meine damit fremde Einflüsse, das Eingreifen einer außerirdischen Intelligenz." Auch ohne die neuen Ermittlungsergebnisse zu kennen, war ich mir nicht so sicher.
"Was wissen wir vom Universum?", gab ich zu bedenken und setzte mich wieder aufs Bett. Sie fuhr sich mit einer Hand über die Stirn und schob damit die freche Locke nach hinten. Ihre Erschöpfung war greifbar, offensichtlich, und ich bekam ein schlechtes Gewissen, weil ich - gemütlich ausgeschlafen und fit wie ein Turnschuh - sie ihrem verdienten Schlaf entrissen und herbeizitiert hatte. Ich wollte mich entschuldigen, doch im selben Moment glitt die Tür zum Krankenzimmer auf, und Simmonds eilte im Stechschritt herein.
"Wer hat Sie denn alarmiert?", entfuhr es der Chefärztin unfreundlich, und ich musste mir ein Grinsen verkneifen. Simmonds' Mund verwandelte sich in einen schmalen Strich, während er sie eisig musterte und dann mit einer scheinbar lockeren Geste an die Decke zeigte. Wir blickten beide nach oben. Dort war eine Kamera zu sehen, die uns mit ihrer Optik beäugte.
"Den neuen Überwachungsmaßnahmen entgeht nichts", ließ er uns triumphierend wissen. "Koenig, ich sehe, Sie sind wiederhergestellt."
"Sie sehen richtig, Simmonds", antwortete ich kühl, "und ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass ich Ihnen ab sofort wieder die Last, mich vertreten zu müssen, abnehmen werde." Er ignorierte mich und wandte sich stattdessen an Dr. Russell.
"Ist er tatsächlich wieder gesund und kann die Krankenstation verlassen?" Sie neigte den Kopf.
"Das kann ich bestätigen, Commissioner."
"In diesem Fall.." Er zückte seinen Commlock mit der rechten Hand, während er die linke überlegen in seiner Hüfte abstützte. "Kommen Sie herein", bellte er jemanden am anderen Ende der Leitung an. Die Türe öffnete sich erneut, und drei Männer vom Sicherheitsdienst traten ein. "Bringen Sie ihn auf sein Quartier. Koenig, Sie befinden sich ab sofort im Arrest, bis die gesamte unerfreuliche Situation geklärt ist!" Ich war wie vor den Kopf gestoßen und starrte ihn an.
"Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen!"
"Ich habe Ihnen gesagt, dass Sie sich für Ihr fahrlässiges Handeln verantworten müssen. Durch Ihre Schuld haben wir einen fähigen Mann verloren, und Sie selbst haben fast ins Gras gebissen!"
"Ich habe was?", entfuhr es mir, und ich warf der Ärztin einen hilfesuchenden Blick zu.
"Es gab Komplikationen, und wir mussten eine Blutung stillen", zitierte Simmonds Dr. Russell und gab seiner Stimme durch Verstellen einen verunglückten, fast parodistischen, weiblichen Einschlag. "Sie verdanken es der Medizin und dem fähigen Team im Medizinischen Zentrum, dass Sie hier jetzt wie der Ochs' vorm neuen Scheunentor stehen und mich angaffen können, als käme ich von einem anderen Stern. Ich konnte nicht umhin zu hören, dass unsere geschätzte Frau Doktor Ihnen lediglich die Sparvariante der tatsächlichen Geschehnisse berichtet hat." Viel mehr als das störte mich der Umstand, dass Simmonds offensichtlich an einem Bildschirm gesessen war und unser Gespräch belauscht hatte.
"Sind Sie nicht bei Trost? Was fällt Ihnen ein, Big Brother zu spielen?", herrschte ich ihn an. Ich hielt ihn für übergeschnappt. Die Macht war ihm in den wenigen Tagen offensichtlich endgültig zu Kopfe gestiegen.
"Koenig, Ihre Karriere als Kommandant von Mondbasis Alpha war eine denkbar kurze. Sie haben alle Fehler gemacht, die überhaupt möglich sind. Weder haben Sie versucht, die Basis rechtzeitig nach dem Ausbruch des Mondes aus der Erdumlaufbahn zu evakuieren, noch sind Sie in der Folge Ihrer Aufgabe nachgekommen, für ausreichende Sicherheit zu sorgen. Ein Mann hat seinen Verstand verloren, ein zweiter, Sie selbst, sind ebenfalls fast umgekommen. Ganz zu schweigen von allen anderen, die durch die Sicherheitsmängel hier auf Alpha zu Schaden gekommen sind. Seien Sie versichert, ich werde zu jeder Angelegenheit eine penible Untersuchung durchführen lassen, und bis zu diesem Zeitpunkt werden Sie Ihr Quartier nicht verlassen. Kontakt außer mit von mir autorisierten Personen ist nicht gestattet." Er wandte sich an die Leute vom Sicherheitsdienst. "Führen Sie ihn ab!" Die Männer kamen mit gezogenen Waffen auf mich zu, und ich sah, dass ich keine Chance hatte, mich zu wehren. Ich musste gehorchen und wandte mich Richtung Ausgang. Simmonds ging voran, und als ich an der Chefärztin vorbeikam, flüsterte sie mir geschockt zu:
"Ich wusste nicht, was er vorhat!" Ich nickte und trat auf den Korridor, ihr getroffenes Gesicht vor Augen, das Entsetzen über sein Vorgehen, und hinter allem Sorge und Mitgefühl.
+++++++++++++
Ich wanderte in meiner zur Zelle mutierten Unterkunft auf und ab und gab mich grübelnden Überlegungen hin. Warum nur hatte ich Simmonds nicht ernst genommen? Warum war ich so selbstsicher gewesen und hatte keine Sekunde vermutet, dass er inmitten all diesen Chaos', mitten im Ringen um unser schieres Leben sein eigenes perfides Süppchen kochte? Victor hatte mich gewarnt, aber nein, mir war es nicht eingefallen, ein Auge auf diesen nutzlosen Commissioner zu werfen!
Er war korrekt vorgegangen, zumindest entsprach sein Handeln so weit den Vorschriften, dass die Mannschaft ihn als rechtmäßig akzeptieren musste. Ihr konnte ich keinen Vorwurf machen, und ich wusste, dass ihr, genauso wie mir, die Hände gebunden waren. Ich hatte es zwar läuten hören, dass er sich bei den Frauen und Männern angebiedert hatte, aber er hatte von einer Rückkehr zur Erde geschwafelt zu einem Zeitpunkt, an dem alles andere nur nicht das zur Diskussion gestanden war, und so war ich davon ausgegangen, dass seine Erfolge, sich einzuschmeicheln, endenwollend gewesen waren. Aber vielleicht hatte es gereicht, den einen oder anderen mit Versprechungen auf seine Seite zu ziehen.
Mich hatte jedenfalls sein taktiererisches und offensichtlich wohldurchdachtes Vorgehen in eine überaus missliche Lage versetzt. Nicht nur, dass ich mir Sorgen darum machte, was nun mit Alpha passieren werde, fühlte ich mich selbst betrogen, aufs Schändlichste hintergangen, hereingelegt und von allen verlassen. Simmonds hatte mir angekündigt, dass ein Kontakt zu niemandem außer von ihm autorisierten Personen stattfinden dürfe, und ich merkte bald, dass er genau niemanden autorisiert hatte. Selbst das Mädchen, das mir das Essen brachte und die Kleidung für die Reinigung holte, hielt sich an den Befehl. Es war eine junge Frau aus der Wartung, die man offensichtlich derartig eingeschüchtert hatte, dass ihr nicht mal ein "Guten Morgen" über die zusammengepressten Lippen kam. Ich sah, dass sie Angst hatte und versuchte nicht erst, sie in ein Gespräch zu verwickeln.
Zu sehen, dass die Menschen nun offensichtlich nicht nur
in Furcht leben mussten vor den unbekannten Umständen und Schicksalsschlägen
sondern auch voreinander, vor Ihresgleichen, dass ihnen gedroht wurde und man
sie bespitzelte, brachte mich endlos auf die Palme. Ich war so wütend, dass
ich mit bloßen Händen auf die Wand einschlug und schrie wie ein Berserker, tobte
in meinen geduldigen, anonymen vier Wänden. In schierem Frust schmiss ich Gorskis
Taschen, die mich nach wie vor wie höhnische Zeugnisse einer unwiederbringlichen
Vergangenheit behäbig anstarrten, quer durch den Raum, und der gesamte Inhalt
verstreute sich bis an die gegenüber liegende Wand am Boden. Papier, persönliche
Gegenstände, ein wenig Hausrat und Briefchen mit lateinischen Namen von Pflanzen,
die mir nichts sagten, lagen ausgebreitet vor mir. Ich war ein Stadtkind, aufgewachsen
in grauen Häuserschluchten, zwischen blechernen Mülltonnen und Unrat. Mit Grünzeug
hatte ich nichts am Hut, und meine Beziehung zu Pflanzen erschöpfte sich im
jährlichen Blumenstrauß zum Muttertag - und einigen anderen Gelegenheiten. Aber
trotzdem rührte mich der Anblick der vielen bunten Papiertütchen mit den Aufdrucken
von einfachen bis exotischen Blüten und Sträuchern. Ich stellte mir vor, wie
sie auf Alpha gediehen und wuchsen, Albizia julibrissin, der Seidenbaum,
Paulownia tomentosa, der Chinesische Glockenbaum, Caesalpinia pulcherrima,
der Pfauenstrauch, Punica granatum, der Granatapfelbaum. Der Granatapfel,
schon Jahrtausende bekannt, ist ein Symbol für die Fruchtbarkeit und das Leben.
Ich hielt das Papierbeutelchen in der Hand und starrte auf das Bild mit roten,
vielblättrigen Blüten und der jungen, grünen Frucht, die mir ihr glänzendes
frisches Antlitz zeigte. Ich bekam das Gefühl, dass wir, alle, wie wir hier
saßen, wie Samen waren, die darauf warteten, gepflanzt und gegossen zu werden
und unseren Auftrag zu erfüllen, unser Schicksal, das seinen Lauf genommen hatte,
als die explodierenden Atommüll-Lagerungsplätze uns in unsere Zukunft geschossen
hatten.
Die Erde war die Vergangenheit, unser Blick sollte sich nach vorne
richten, wir sollten annehmen, was uns angeboten wurde und nicht krampfhaft
danach suchen, die alten Muster aufrecht zu erhalten, alte Werte, alte Fehler.
Simmonds war ein Mann der Vergangenheit, er symbolisierte für mich alles, was
ich in einer neuen Gesellschaft nicht wiederfinden wollte, und es war bezeichnend,
dass er an nichts dachte, als daran, wieder zur Erde zurückzukehren.
Es erstaunte mich, dass ich gerade in dieser für mich so
aussichtslosen Situation das erste Mal das Gefühl hatte, dass vielleicht ein
Sinn hinter allem lag, was uns widerfahren war, und dass unser Überlebenskampf
mehr war als ein blindwütiges Umsichschlagen einer todgeweihten Gemeinschaft.
Waren die Rückschläge und Probleme, die Schwierigkeiten, auf die wir trafen,
eine Schule, in der wir lernten, uns zu behaupten? Waren die täglichen Dramen
Herausforderungen, die sich uns stellten, damit wir daran wachsen konnten? Über
uns hinauswachsen konnten? Es machte es leichter, die Lage aus dieser
Sicht zu betrachten, weil es auf diese Weise irgendwo fern am Horizont Hoffnung
gab. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich nach diesem Motto leben konnte. Was
ich mir wünschte, war ein Zeichen, dass diese Vorstellung eines sinnhaften Daseins
kein bloßes Wunschdenken war, aber mir war klar, dass ich diese Antwort nicht
bekommen würde. Vielleicht bis an mein Lebensende nicht.
Ich räumte das Durcheinander
auf, das ich verursacht hatte, beschämt, weil ich mich nicht in der Gewalt gehabt
hatte. Es spielte keine Rolle, dass ich allein war, dasselbe wäre mir
passiert, hätte ich Zuschauer gehabt. Ich nahm auf meiner Couch Platz und
überlegte, was ich nun tun konnte.
Zunächst versuchte ich, mich vorzubereiten auf die Vorwürfe, mit denen mich Simmonds konfrontieren würde. Ich machte mir keine Sorgen, was die abstrusen Vorhaltungen anging, wonach ich keinen Versuch gewagt hatte, die Mannschaft nach der Katastrophe noch rechtzeitig zur Erde zurückzubringen. Ich konnte belegen, dass zu dem Zeitpunkt, als wir die erste Gelegenheit gehabt hatten, auch nur daran zu denken, die Basis zu evakuieren, kein Adler auch nur eine irdische Außenstation mehr hätte erreichen können. Ich verstand nicht, wieso Simmonds annehmen konnte, dass ich so dumm gewesen war, daran nicht zu denken. Glaubte er vielleicht, es machte mir Spaß, von allem getrennt, was mir vertraut war, mein Dasein zu fristen?
Was die anderen Anschuldigungen anging, verhielt sich die Sache aus meiner Sicht ebenfalls glasklar. Wichtiges zuerst, war mein Leitspruch in unübersichtlichen Situationen, und wo Leben unmittelbar gefährdet war, musste zuerst Hand angelegt werden. Es erschien mir lächerlich, trotz der Vorkommnisse um Ouma und meinen Unfall, die Installation und Überprüfung von Sensoren und Kameras für bedeutsamer zu halten, als die Energieversorgung, das Recycling-System, Menschenleben. Die Basis würde damit leben können, wenn ich außer Gefecht gesetzt war und sie konnte es auch, so schlimm es war, ohne den unglücklichen Ouma, oder die anderen Mannschaftsmitglieder, die als Opfer unseren Weg säumten, aber sie würde nicht leben ohne Luft, ohne Wärme und ohne Wasser und Nahrung. Für mich gab es darüber nichts zu diskutieren, aber ich war mir sicher, dass so ein redegewandter Mensch wie Simmonds es verstand, den Sachverhalt aus einer solchen Sichtweise darzustellen, dass ich mit meinen Entscheidungen wie ein Verbrecher dastand.
Ich erwartete die Konfrontation mit Simmonds rasch, denn ich ging davon aus, dass er die Anschuldigungen gegen mich so weit fundiert formuliert haben musste, dass sie zumindest einer oberflächlichen Betrachtung standhielten, doch als nichts dergleichen geschah, fing ich an, mir Sorgen zu machen. Ich gelangte zur Überzeugung, dass sie nur ein Manöver gewesen waren, um mich relativ unauffällig aus dem Weg zu räumen. Schließlich hätte Simmonds die Verantwortlichkeiten nach meiner Genesung wieder an mich übergeben müssen. Was wollte er?
Ich versuchte, den Faden weiterzuspinnen.
Meinte er es
ehrlich und war davon überzeugt, dass ich ein rettungsloser, gefährlicher Dilettant
war, der die Mannschaft unnötig in Gefahr brachte, dann sollte ihm daran gelegen
sein, die Situation möglichst rasch aufzuklären. Dann müsste er versuchen, mir
regelrecht und entsprechend der alphanischen Statuten meine Schuld zu beweisen
und mich dann offiziell meines Postens zu entheben. Stattdessen ließ er
mich ohne Abklärung und rechtlich erforderlicher öffentlicher Untersuchung in
meinem Quartier versauern.
War er einfach ein Despot und Tyrann, der staatsstreichartig
den Laden übernommen hatte, dann würde er die Rechnung ohne die Mannschaft machen.
Ich schätzte Simmonds als einen windigen Politiker ein, der es immer geschafft
hatte, seine Interessen durchzusetzen, und bestimmt verfügte er auch über genügend
Mittel, einige Menschen mit Versprechungen auf seine Seite zu ziehen, aber er
hatte nicht genug Charisma, einen inhomogenen Menschenschlag wie es die Wissenschaftler
auf Alpha waren, in seinen Bann zu schlagen. Dr. Russell hatte es klug formuliert.
Sie hatte gemeint, dass es sich um Individualisten handelte, und mich sollte
der Blitz treffen, wenn diese Leute sich von einem Egomanen, wie Simmonds
einer war, kontrollieren ließen, sich ihm bedingungslos anschlossen, ja, kritiklos
sein Wort als Gesetz achteten.
Ich glaubte nicht, dass er so vermessen war
anzunehmen, dass er Alpha mit einer Diktatur zusammenhalten konnte, nicht mit
diesen Menschen, nicht mit diesen Mitteln, und schon gar nicht unter diesen
Umständen. Nur, was wollte er dann? Ich konnte es mir beim besten Willen nicht
vorstellen, denn mir war klar, dass ich zu wenig Information hatte. In meiner augenblicklichen
Lage freilich standen die Chancen auch nicht zum Besten, an das nötige Wissen
zu gelangen.
Ich hatte keine Verbindung zum Computernetz auf Alpha, meine Commlock-Rechte
waren mir entzogen worden, und der einzige Mensch, den ich sah, war so verängstigt,
dass ich vorerst keinen Augenblick lang daran dachte, den Versuch einer Kontaktaufnahme
zu wagen. Fürs Erste wäre ich schon froh gewesen zu erfahren, was auf der Basis
geschah, denn ich fürchtete, dass Simmonds mit seinem Faible fürs Totalitäre
drauf und dran war, alles zu zerstören, was uns einst wichtig gewesen war, als
wir Mondbasis Alpha planten und aufbauten.
Ich überlegte, ob es eine Möglichkeit
gab, aus meinem Gefängnis auszubrechen, um mit Victor zu sprechen. Ich suchte
meine Unterkunft ab und fand wenigstens keine Überwachungskameras oder andere
Wanzen, aber auch keine Hintertür, die mir eine Flucht ermöglichen konnte. Ich
wusste, dass es keine externen Zugänge zu diesen Räumen gab, keine Lüftungsschächte,
durch die ich mich schlängeln konnte, jedenfalls keine, die groß genug waren.
Ich fand auch nichts, das mir einen Kontakt ermöglichen konnte, und meine Versuche,
mit den Wachmännern zu sprechen, scheiterten an ihrem ignoranten Schweigen.
Alles, was in meine Räumlichkeiten gelangte oder sie verließ, wurde peinlich
genau nach unerlaubten Notizen oder Nachrichten durchsucht.
Ich beobachtete
die Mondlandschaft vor den Fenstern meines Quartiers in der Hoffnung, dass jemand
draußen zu tun hatte, aber nicht ein einziger Moonbuggy fuhr vorbei. Ich sah
Adler abfliegen und heimkehren, und ich fragte mich, was es wohl da draußen
so Wichtiges zu erledigen gab.
Ich verbrachte Stunden damit, aus dem Fenster in die grau-schwarze
Landschaft zu starren, die nur sporadisch beleuchtet wurde. Sie wirkte gespenstisch
und geheimnisvoll. Früher war Sonnenlicht darauf gefallen, scharf abgeschnittene
Schatten hatten uns begleitet auf Schritt und Tritt, und wir waren lachend und
scherzend auf der Mondoberfläche herumgehüpft, nicht wissend, dass der Mond
eines Tages alles sein würde, was wir hatten.
Ich konnte nicht schlafen und
wälzte mich im Bett herum, bis ich mich in tausend Kreise gedacht hatte, die
alle keine Antwort kannten, und nur in tausend weitere Kreise führten. Im Halbschlaf
ereilte mich Erlebtes, ich sah, wie mich Simmonds mit einem perfiden Grinsen
in den Arrest verwies, ich sah Alan Carter, der neben mir stand und Ouma betroffen
musterte, sich offensichtlich fragend, wen es als nächstes erwischte. Ich sah
die Chefärztin, die in mir tausend Gefühle entfachte, aber mir keinen Hinweis
darauf gab, ob ich irgendwann wenigstens hoffen durfte, und dann Victor, meinen
guten Freund, dessen alleinige Anwesenheit mir den Antritt meiner Stelle als
Kommandant der Basis so sehr erleichtert hatte. Ich rutschte übergangslos in
die Traumgebilde der unkontrollierten Gedanken und fand mich in einem Aufzug
wieder. Mein Commlock summte und ich nahm das Gespräch entgegen. Mein Blick
war getrübt und ich konnte nicht erkennen, wer auf dem Bildschirm war, doch
die Stimme bestellte mich in die Chemie-Abteilung. Ich hatte gar nicht vor hinzugehen,
schon gar nicht, wenn Simmonds glaubte, mir mit seiner fordernden Arroganz Befehle
erteilen zu können, und ich drückte entschlossen auf den Knopf zu einem anderen
Stockwerk. Ich freute mich, diesem Kerl ein Schnippchen geschlagen zu haben,
doch als ich ausgestiegen war, bemerkte ich, dass ich dennoch in der Etage mit
der chemischen Abteilung gelandet war. Ich wollte umdrehen, aber die Lifttür
war bereits geschlossen, und ich fand keinen Knopf, den Aufzug wieder zu rufen.
Es ärgerte mich, dass ich mich trotzdem dort befand, wo mich Simmonds haben
wollte, aber mir fiel ein, dass ich das Stockwerk auch über die Nottreppe verlassen
konnte. Niemand begegnete mir auf dem Weg dorthin, überall hingen Warnungen
für Radioaktivität an den Wänden, und ich fragte mich, wer auf die Schnapsidee
gekommen war, sie hier anzubringen. Radioaktivität hat schließlich überhaupt
nichts mit Chemikalien zu tun! Ich riss zwei oder drei davon ab, doch je mehr
ich entfernte, desto mehr davon tauchten auf, was mich richtig zornig machte.
Es war mir ein Gräuel, dass nicht einmal nutzlose Aufkleber meinem Willen gehorchten,
und eilig rannte ich durch den Korridor. Ich riss die Tür mit der Aufschrift
"Treppe - Notausgang" auf, und fand mich statt in einem Stiegenhaus
in einem Lagerraum wieder. Auf den Regalen stapelten sich Kisten, so weit das
Auge reichte, mit der Aufschrift Punica granatum, und ich begann, mich
schwarz zu ärgern, dass Gorski mit seiner riesengroßen Saatsammlung ausgerechnet
die Lagerkapazitäten von Mondbasis Alpha belastete. Ich würde das ganze nutzlose
Zeug hinaus auf die Mondoberfläche schmeißen, dachte ich mir, raus damit, am
besten mit einem Adler in die radioaktiven Müll-Lager, wo sie uns nicht zur Last
fallen konnten. Ich dachte darüber nach, wie ich die dummen Pflanzensamen mit
möglichst geringem Aufwand hinausschaffen konnte, als ich ein Geräusch hörte.
Es war jemand zusammen mit mir im Raum, und ich drehte mich um und wollte lauthals
wissen, wer da sei. Das Geräusch war verstummt, aber ich hörte jemanden atmen,
ganz verhalten, und ich schlich auf Zehenspitzen zur nächsten Regalreihe. Ehe
ich sie erreichte, traf mich etwas am Kopf, und wie vom Schlag getroffen,
saß ich aufrecht und hellwach im Bett. Schweiß überströmte mich. Es war ein
Traum, sagte ich mir, nichts als ein Traum! Wirklich? Nur ein Traum? Nicht ein
Teil meines verlorenen Gedächtnisses, das versuchte, mir über den Umweg eines
Traumes etwas mitzuteilen? Ich versuchte, mir alle Details ins Bewusstsein zu
rufen, und jetzt, im nüchternen Licht der Nachtbeleuchtung, schien mir alles
so verworren und unrealistisch. Alles hatte mein schlafender Verstand vermischt
und durcheinander gebracht, Radioaktivität und Gorskis Granatäpfel, Aufzugrufknöpfe
und Treppenhäuser, die sich in Lagerhallen verwandelten. Ich versuchte zu erspüren,
ob irgendwelche Details der Wahrheit entsprachen, der Teil zumindest, bei dem
jemand mir auf den Kopf geschlagen hatte, doch ich war mir nicht sicher.
Trotzdem war die pure Möglichkeit, dass es jemand auf mich abgesehen haben könnte, überaus beunruhigend, umso mehr, als ich gar nicht darüber nachgedacht hatte. Nicht nur ich. Sonst augenscheinlich auch niemand. Meine Nachtruhe hatte sich soeben grußlos von mir verabschiedet.
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Ich kenne das Gefühl, ein Gefangener zu sein, nur zu gut.
Manchmal denke ich, dass ich in meinem Leben überhaupt noch nie frei gewesen
bin, immer ein Gefangener äußerer Umstände, gesellschaftlicher Konventionen,
meines eigenen eingeschränkten Geistes, der sich selbst die Grenzen schafft,
ohne die er wohl nicht existieren kann. Ich versuche, damit zu leben, eingesperrt
zu sein, denn im Grunde weiß ich, dass mein Kampf nach Freiheit nie enden
wird.
So sehr ich meine Fesseln gewohnt bin, so sind sie doch immer geistiger
Natur gewesen, nie hatte mich jemand körperlich weggesperrt, beseitigt,
von der Bildfläche getilgt, und ich merkte, dass mir nicht das Eingesperrtsein,
die körperliche Ausgrenzung am meisten zu schaffen machte, sondern das Wissen,
dass mir die Hände gebunden waren. Die Unfähigkeit einzugreifen, der Verantwortung,
die ich übernommen hatte, gerecht zu werden, diese Hilflosigkeit tropfte
mir wie geschmolzenes Blei in die Eingeweide und ließ mich vergessen, dass ich wohl gerade erst
Glück gehabt hatte, mit dem Leben davongekommen zu sein. Ich hatte auch keinen
Bezug dazu, kein "Erleben" der unmittelbaren Bedrohung für mein Leben,
und genau genommen, war ich froh darum. Auf meinem Kopf gab es je eine sternförmige
und eine längs verlaufende Verkrustung, die mich nicht schmerzten und, abgesehen
von gelegentlichem Juckreiz an den kahl geschorenen Stellen, kaum störten. In
Anbetracht meiner übrigen Situation gelang es mir hervorragend, mein unlängst
nachbarschaftliches Verhältnis zum Tod zu verdrängen. Im Gegenteil, ich suchte
verzweifelt nach einer Möglichkeit, wieder Kontakt mit dem Leben aufzunehmen,
meinem Quartier zu entfliehen, um wenigstens in Augenschein zu nehmen, was auf
Alpha geschah, was hinter den Alarmen steckte, die ich immer wieder hörte. Wohin
die Adler flogen. Was Simmonds mir zu sagen hatte.
Mein Entsetzen darüber,
dass ich keinen Weg hinaus fand, machte mich welk und schwach, und sehr bald
schon versuchte ich June zum Sprechen zu bringen. Ich sah, dass sie Angst hatte,
wenn sie das Tablett abstellte, wenn sie das nahezu unberührte, kalte Essen
wieder mitnahm, sah sie auf den Boden starren, schon wenn sie eintrat, und trotzdem
war nur sie da, zu der es sich lohnte, ein Wort zu sagen. Sie entschwand stumm
und furchtsam, und ich blieb zurück in Metall, Plastik und Beton. Alles schwieg
mich an, und ich gab mir redliche Mühe dabei zurückzuschweigen, mit mäßigem
Erfolg, und meine Schwäche wurde unterbrochen von Wutanfällen, wo ich auf
Türen und Wände einschlug, Dinge durch die Gegend warf und zerstörte. Ich wusste,
dass es keine Lösung war, wusste, dass dies die Wachen vor meiner Tür nicht
zum Weichwerden brachte, und ich merkte auch, dass mich dieser Zorn immer mehr
an Kraft kostete.
Ich hatte die Tage nicht gezählt, die ich so verbrachte,
jede Stunde erdreistete sich, zu Ewigkeiten zu werden, und nur mein mäßiger
Bartwuchs ließ mich vermuten, dass das subjektive Zeiterleben rein gar nichts
mit der Realität der verflossenen Stundenanzahl zu tun hatte. Aufgrund meiner
Nahrungsverweigerung war ich kraftlos und unkonzentriert und musste hinnehmen,
dass es mir zunehmend größere Schwierigkeiten bereitete, mich von meinem Bett
zu erheben. Als June mit meinem Essen kam, setzte ich mich dennoch auf, diesmal
kapitulierte ich und sprach sie nicht an.
Sie stellte das Tablett auf meinem
Nachtkästchen ab, und wie in Zeitlupe sah ich sie zögern. Sie drehte sich Richtung
Ausgang um, blieb doch stehen und wandte sich mir zaudernd und fast bebend zu.
Erstmals hob sich ihr Blick, ihre dunklen Augen trafen mich, und ein raues Flüstern,
fast zu leise, um es für real zu halten, traf mich.
"Guten Appetit", sagte sie und entfloh im selben
Moment. Ich starrte ihr nach, verwundert zuerst, dann zunehmend aufgeregt, und
schließlich spürte ich den tobenden Herzschlag eines Kindes in meiner Brust.
Etwas war in Gang gebracht worden, irgendetwas geschah, das verheißungsvoll
war. Ich hatte es ihren furchtsamen Augen angesehen, einem Wissen darin, das
sie vergeblich zu verbergen suchte.
Ich erhob mich und trug das Tablett zum
Tisch. Ich fand eine Schüssel mit cremiger Gemüsesuppe vor, daneben ein Glas
Apfelsaft und zwei Kanten weißes Brot. Ich nahm seufzend Platz und dachte mir,
dass dieses Essen wohl keinen Gourmetführer zu einem Freudentaumel hinrisse,
aber seltsamerweise schmeckte es mir besser als so manches mehrgängige Menü
in einem Haubenrestaurant.
Als ich fertig gegessen hatte, und mich vom Tisch erhob,
merkte ich, dass mir übel wurde und vermutete, dass ich zu schnell gegessen
hätte. In meinem Magen rumorte es plötzlich, als tobte darin ein Guerilla-Krieg,
und gleichzeitig war mir schwindlig wie auf hoher See. Ich taumelte Richtung
Badezimmer, während sich gleichzeitig der Raum um mich in Doppelbildern auflöste.
Irgendwie geriet ich ins Bad, gerade noch rechtzeitig, ehe sich mein Essen wieder
von mir trennte, auf dem völlig falschen Weg freilich, und ich in Krämpfen und
mit gummiartig weichen Gliedern auf dem Fußboden zu liegen kam. Mein Herz begann
zu stolpern wie ein alter Motor, der in Ruhestand treten wollte, und meine Eingeweide
bäumten sich in mir auf wie eine Horde von Speikobras. Ich erstickte fast vor
Übelkeit, obwohl ich war wie ein entleerter Weinschlauch, und um mich herum
wankte das gesamte Bad und verschwamm im hellen, beigen nichtssagenden Nicht-Braun
und Nicht-Weiß der Einrichtung.
Inmitten aller Misslichkeit, in der ich unterzugehen
drohte, fand ein ungeheuerlicher Gedanke seinen Weg zu mir, zuckte mir wie ein
Blitz durchs Gehirn. Starr vor Schreck konnte ich an nichts anderes mehr denken,
als daran, dass mich jemand vergiftet hatte. Ich sah mich verenden, hier auf
dem Fußboden, hilflos und allein, wie Ungeziefer von unsichtbaren Feinden niedergestreckt.
Alles
drehte sich um mich, torkelte durch mein Gesichtsfeld, und mit zitternden Gliedern,
schneidenden Eingeweiden und Salto tanzendem Herz kroch ich auf allen Vieren
hinaus in den Wohnraum. Ich brauchte Hilfe, irgendjemand sollte kommen und mich
befreien von den Vergiftungserscheinungen und von mordlüsternem Gesindel,
das mir erst den Kopf einschlug und dann auch noch versuchte, mich heimtückisch
zu ermorden!
Ich wusste, dass ich es zur Tür nicht schaffen würde, und mir
war auch klar, dass die Wachen auf ein ersterbendes Klopfen an der Tür nicht
einmal mit einem Wimpernschlag reagieren würden, waren sie doch anderes gewohnt,
und hatte sie selbst der gezielte Wurf eines Drehstuhls nicht dazu gebracht,
auch nur ihre Nase in mein Gefängnis zu stecken.
Das Bett aber konnte ich erreichen und damit das Nachtkästchen. Ich hatte mir in zornigem Trotz und der Überwachung überdrüssig, gleich als erste Handlung, da ich in diese Räume verbannt worden war, den life checker vom Leib gerissen, als eigensinnige Reaktion gegen Simmonds' Kontrollwahn, als mein einzig mögliches Zeichen der Verweigerung. Jetzt riss ich das Gerät aus der Schublade und fand in seinem scheinbaren Gewirr den Knopf zum Einschalten nicht. Ich sah ihn nicht, denn mein Blick war wirr und getrübt, viele Hände und tausend Finger zitterten und bebten an meinen Augen vorüber und mittendrin eine Vielzahl von Sensoren und Kabeln, glänzende Metallteile, stumpfes Plastik. Ein rötliches, vielfaches Aufflackern aber zeigte mir schließlich, dass es mir offensichtlich geglückt war, den life checker einzuschalten. Verzweifelt drückte ich die Sensoren an meinen Brustkorb und hoffte inständig, dass das Signal auch im Med. Zentrum ankam, dass es jemand bemerkte. Ja, dass es überhaupt ein Signal gab. Wenn niemand käme, wusste ich, hatte mein letztes Stündlein geschlagen.
+++++++++++++
Als die Rettung endlich eintraf, merkte ich es zunächst nicht.
Einen erbärmlichen Eindruck muss ich erweckt haben, wie ein Drogentoter
mit verrenkten Gliedern auf dem Boden liegend, säuerlich nach Erbrochenem riechend
und schwach, benommen - nicht Herr meiner Sinne. Als ich Stimmen hörte, schlug
ich die Augen auf; wie schwer mir die Lider waren, aus Blei, und zusätzlich auch
noch mit Gewichten
behängt! Schemenhaft wogten Gestalten um mich herum, bis sich mein Blick endlich
bequemte, mir Konkreteres zu zeigen.
Wie froh war ich, sie, wenn auch verschoben
und verworren in vielfachen Bildern, zu sehen! Sie kniete neben mir, hielt
meinen Kopf und wischte mir mit Zellstoff den Mund ab.
"Dr. Russell... jemand... will... jemand hat... mich vergiftet!", stammelte ich und versuchte, in die Richtung des Tisches zu deuten, wo noch die Reste des Mahls standen.
"Was hat er gesagt?", kam eine schneidende Stimme von rechts, und sie fuhr mir wie der Tod ins Gebein. Ich wollte nicht, dass Simmonds mir beim Sterben zusah, wollte nicht, dass er mich überhaupt in dieser erbärmlichen Verfassung sehen durfte, ein Schemen nur, ein Schatten meiner Selbst!
"Nicht anstrengen", flüsterte sie, und ich vermeinte, tausendfach bis an den Grund ihrer Seele zu sehen. "Es wird alles gut werden." Ich glaubte ihr, ungläubig, griff nach ihrer Hand und ließ sie nicht mehr los. Sie ließ mich gewähren und ich spürte Halt und Wärme, die in mich einströmten.
"Bringen Sie ihn schnell ins Med. Zentrum", hörte ich sie befehlen, "hier kann ich nichts für ihn tun."
"Was ist mit ihm?" Wie geschliffene Säbel schnitten mir Simmonds' Worte durchs Trommelfell.
"Hellsehen, Commissioner, kann ich leider noch nicht!" Jawohl! Gib's ihm! dachte ich mir mit Genugtuung, während ich spürte, wie mich kräftige Hände hochhoben, auf eine Liege platzierten und mich endlich - endlich! - aus dem verhassten Gefängnis hinausbrachten. Mein Herz schlug Kapriolen, und ich zitterte am ganzen Körper, aber ich war mir nicht mehr so sicher, dass das allein die Wirkung des Giftes war.
Rund um mich herum erkannte ich nun auch verschwommen einen ganzen Tross von besorgten Gesichtern, Victor war darunter, auch Alan Carter, Bob Mathias und Paul Morrow. Sie schienen aufgeregt, aufgebracht und trotzdem irgendwie erleichtert, als sie hinter Simmonds und Dr. Russell herliefen, und sie ließen sich vorm Lift willig vom Commissioner verscheuchen, der sie mit rüdem Ton an ihre angeblichen Aufgaben erinnerte.
Wie aus weiter Ferne drang plötzlicher Rotalarm an mein Ohr, knallig rotes Signallicht pulsierte über meinem Kopf an der Wand des Aufzugs, und über Lautsprecher hörte ich Sandra Benes' Stimme:
"Feueralarm in Hangar fünf! Hangar fünf: Feueralarm! Bitte sofort ein Löschteam in Hangar fünf!" Ich spürte, wie Adrenalin durch meinen Körper strömte, und ich versuchte, mich aufzusetzen. Gleich drehte sich alles wieder um mich wie ein wild gewordenes Karussell, und die Übelkeit tobte in mir, als wollte sie mein Innerstes nach außen kehren.
"Bleiben Sie liegen, Commander", ermahnte mich Helena Russell und drückte mich sanft auf die Liege zurück. "Commissioner Simmonds wird sich darum kümmern!"
"Nein, nein!" Ich versuchte, mich zu wehren, doch die Lifttür öffnete sich, und ich wurde hinausgeschoben. Simmonds hielt die Chefärztin an.
"Ich bin gleich wieder da", sagte er zu ihr. "Diagnostizieren Sie, woran er leidet, und therapieren Sie ihn! Ich wünsche aber keinerlei Kontakt zu anderen Mannschaftsmitgliedern, solange die Ermittlungen gegen ihn noch nicht abgeschlossen sind!" Ermittlungen, dachte ich, Ermittlungen... aber ich war nicht dazu in der Verfassung, einen zusammenhängenden Gedanken zu produzieren.
"Commissioner, ich glaube nicht, dass er im Augenblick
dazu in der Lage ist, zu irgendjemandem Kontakt zu unterhalten",
ließ sie ihn kühl wissen und schob mich zusammen mit den Männern vom Rettungsdienst
an Simmonds vorbei. Ich krümmte mich in Krämpfen - vielleicht um eine Spur plastischer,
als mir wirklich zumute war. Simmonds blieb hinter uns zurück, wo er eine Sekunde
stehen blieb, sich dann umdrehte und davoneilte.
Mit dem Kopfende der Trage
voran glitten
wir ins Med. Zentrum, wo helle Aufregung herrschte. Ein weiteres Rettungsteam
schoss mit Liegen, Sauerstoff und Notversorgungskoffern an uns vorbei, zweifellos
auf dem Weg in den Adlerhangar. Mathias, der mit uns hereingekommen war, machte
auf dem Absatz kehrt und rief seiner Chefin zu, dass er sich dem Team anschließen
wolle. Sie bedeutete ihr Einverständnis und bat die beiden Männer, die
meine Liege schoben, mich in die Erstaufnahme zu bringen. Um mich drehte sich
alles, als ich in dem kleinen, mit Instrumenten vollgestopften Raum zu stehen
kam. Ich blieb allein zurück, und die plötzliche Stille der Umgebung hallte
mir wie Theaterdonner in den Ohren. Rund um mich hörte ich es aber bald summen und piepsen, als
wären die Geräte eifrig in ein Gespräch miteinander vertieft, diskutierten die Neuigkeiten,
die ihnen die Computer erzählt hatten. Wieso ließ man
mich hier allein zurück, fragte ich mich, statt schnell herauszufinden, welches
Gift sich durch meinen Körper fraß. Statt mich schnell zu behandeln?
Da glitt
jedoch schon die Tür auf, und die Chefärztin trat ein. In der Hand trug sie
eine Transdermalspritze, mit der sie auf mich zukam.
"Geben Sie mir Ihren Arm, Commander", bat sie mich, und ich streckte ihr verwirrt die linke Hand entgegen. "Es dauert nur einen Augenblick, dann geht es Ihnen wieder gut."
"Was ist.. mit dem Gift?", stieß ich mühsam hervor. Ich spürte ein Ziehen, das von meinem Arm aus hinaufstieg zur Schulter und sich von dort in meinen Kopf hinaufschraubte, während es gleichzeitig in den Brustkorb sank und mein Herz umklammerte. Mir brach der kalte Schweiß aus.
"Es tut mir leid", sagte sie. "Ich hatte keine andere Möglichkeit, als Sie zu vergiften."
"SIE?" Mein Entsetzen war alles andere als gespielt. Unwillkürlich hatte ich mich aufgesetzt und merkte, wie mir die Luft wegblieb, eine lähmende Atemlosigkeit in meinen Lungen stahl mir ein jedes weitere Wort, und meine Eingeweide verknüpften sich zu unlösbaren Seemannsknoten. Ein beißender Schmerz endloser Enttäuschung streckte mich zurück auf die Liege. Ich hatte ihr vertraut! "Wie konnten Sie das tun?" Sie sagte nichts, fuhr nur fort, mich zu beobachten. Unwillkürlich drängte sich mir das Bild einer Schlange auf, die dem Kaninchen dabei zusah, wie es langsam an ihrem giftigen Biss starb. "Was haben Sie mir da gespritzt?"
"Ein Gegenmittel", erwiderte sie gelassen, und da erst dämmerte es mir. Gleichzeitig merkte ich, wie die Übelkeit von mir wich, wie sich die Teufelsknoten in meinen Gedärmen auflösten, das Zittern und Beben zurückging, und langsam aber sicher auch meine Sicht wieder normal wurde. Die Doppelbilder schoben sich zusammen, bis ich ein einziges reelles Bild von der Wirklichkeit vor mir hatte. "Wie geht es Ihnen jetzt?", fragte sie sanft und nahm meine Hand, um nach dem Puls zu fühlen.
"Besser. Was war das für ein Zeug?"
"Es tut mir leid", wiederholte sie sich. "Es musste echt aussehen."
"Es war auch echt", erwiderte ich. " Sie nickte.
"Ein künstlicher Bruder des Schierlings", sagte sie, "bei weitem nicht so gefährlich aber eindrucksvoll in seiner Symptomatik."
"Ja, das kann ich bestätigen."
"Es war die einzige Möglichkeit, Sie aus Ihrem Gefängnis rauszuholen." Ich fuhr mir mit beiden Händen übers Gesicht und war nur froh, dass ich noch lebte. Die Tür öffnete sich, und herein traten Victor Bergman und Alan Carter.
"Ho, Commander!", begrüßte mich der Pilot freudestrahlend, "Gratulation, so todkrank wie Sie hat schon lange keiner mehr ausgesehen!"
"Ist das auf eurem Mist gewachsen?", erkundigte ich mich bei Victor. Er nickte mit, wie mir schien, einem Hauch von schlechtem Gewissen.
"Eine Kooperation von mehreren Mannschaftsmitgliedern, die sich nicht länger von Simmonds an der Nase herumführen lassen wollen."
"Was treibt der Kerl hier auf Alpha?"
"Er vernachlässigt die Basis - abgesehen von penibelsten Überwachungsmaßnahmen scheint ihn hier nichts zu interessieren", antwortete mir Alan Carter. "Eine hydroponische Anlage hat bereits den Geist aufgegeben, und Simmonds verweigert die Arbeitskräfte und Ressourcen, die notwendig sind, sie wiederherzustellen."
"Er verschleppt und verhindert die Aufklärung zu Oumas Erkrankung", fuhr Victor fort, "und verzögert damit auch die Untersuchung zu den Vorwürfen, die er gegen dich erhebt."
"Außerdem hat er eine Handvoll von, wie soll man sagen, Getreuen.. - Geköderten?? - um sich geschart, mit denen er Adlerausflüge unternimmt. Kein Mensch weiß, was er da draußen auf der Mondoberfläche eigentlich treibt."
"Ich habe die Adler gesehen", bestätigte ich nachdenklich. "Aber warum lässt sich die Mannschaft von ihm alles so ohne Weiteres gefallen?"
"Weil er den Leuten in die Hand versprochen hat, dass sie bald wieder auf der Erde sein werden!"
"Das ist nicht dein Ernst!"
"Leider schon", sagte mein Freund bedauernd. "Hast du ihm einmal zugehört? Er besitzt Potenzial als Redner, kann seine Zuhörer fesseln und sie begeistern, ohne etwas Handfestes dafür zu tun. Ein Politiker, wie er im Buche steht."
"Captain Carter, was ist da im Hangar los?" Der Pilot begegnete mir mit einem Blick aus strahlender Unschuld.
"In welchem Hangar?"
"War da nicht gerade ein Rotalarm?", wollte ich argwöhnisch wissen.
"Ach so", erwiderte Carter grinsend. "Leeiiiiider handelt es sich um einen Fehlalarm." Ich musterte ihn mit scharfem Blick, und langsam sickerte mir die Erkenntnis in die grauen Zellen.
"Ihr habt Simmonds weggelockt." Victor machte ein betretenes Gesicht.
"Unglücklicherweise wird er jetzt aufgrund eines defekten Rampenschlittens einige Stunden lang in der Transportröhre festsitzen."
"Alles völlig legal", beeilte sich Carter hinzuzufügen. "Naja, zumindest fast völlig. Der Schlitten steckt mitten in der Röhre, und bis die notwendigen Ersatzteile gefunden und ausgetauscht sind, wird es einige Stunden dauern. Es handelt sich selbstverständlich um einen Verschleißbruch an einer Klemmplatte. Dank der guten Überwachung in den Tunnelanlagen wurde dies rechtzeitig an die Zentrale gemeldet und der Wagen kam zum Stillstand, ehe etwas passieren konnte."
"Ihr schlagt ihn mit seinen eigenen Mitteln", stellte ich befriedigt fest. "Ohne die medizinische Überwachung hätte man mich auch nicht befreien können."
"Er führt etwas im Schilde", meinte Victor nachdenklich. "Irgendetwas befindet sich auf Beta 1, der Außenstation, von dem wir keine Kenntnis haben sollen. John, wir müssen wissen, ob du von der Space Commission eingeweiht wurdest, als du deinen Posten hier übernommen hast!" Ich starrte Victor an. "Es ist notwendig zu erfahren, ob du über Informationen verfügst, die uns in der Sache behilflich sein können!", verdeutlichte Victor seine Worte.
"Ihr habt mich aber nicht nur herausgeholt, um mal nachzufragen, ob ich die ganze Zeit über ein falsches Spiel gespielt habe?", wollte ich, plötzlich zornig, wissen. "Und vielleicht sperrt ihr mich wieder ein, sobald ich euch gesagt habe, was ihr wissen wollt!" Victor schüttelte den Kopf und machte mit den Händen besänftigende Gesten.
"So ist es ganz und gar nicht", gab er zur Antwort. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihm glauben konnte.
"Wie wollt ihr eure Aktion vor Simmonds rechtfertigen?", explodierte ich. "Ihr könnt ihn ja nicht ewig im Rampenschlitten festhalten!" Die beiden Männer schauten mich entgeistert an.
"Commander", meldete sich Dr. Russell zu Wort. Sie stand etwas im Abseits, noch damit beschäftigt, diverse Parameter, die Messungen von mir verarbeiteten, an einer Computer-Konsole zu überprüfen. "Wir haben einen weiteren Fall, der dem von Ben Ouma sehr ähnlich ist. Und dieser Vorfall geschah nicht während Ihrer Verantwortlichkeit, sondern während der von Commissioner Simmonds. Und außerdem kann ich nur sagen, dass wir an Ouma Ungereimtheiten gefunden haben, die gar nichts mit einem Unfall in der Chemieabteilung zu tun haben können." Ich schaute auf und bemerkte, dass sie mich kühl und missbilligend anschaute. Mir war der Grund dafür klar, und erstaunlicherweise verspürte ich einen Stich.
"Wer ist es?", wollte ich wissen.
"Joshua Krane", antwortete sie. "Er ist Elektrotechniker. Wir wissen nicht, wo er sich aufgehalten hat, als er erkrankte, aber wir glauben, dass er in den Kreis von Simmonds' Gefolgschaft gehört."
"Und was fehlt ihm?"
"Er hat einen Gedächtnisverlust", unterrichtete sie mich, "wenn er auch nicht so gravierend ist wie beim armen Ouma. Er wird sich erholen und, so weit ich es beurteilen kann, einen Großteil seines Wissens wiederfinden."
"Aber an die Ereignisse, die dazu geführt haben, dass er sein Gedächtnis verloren hat, kann er sich nicht erinnern?" Sie schüttelte den Kopf.
"Und von welchen Ungereimtheiten an Ouma haben Sie gesprochen?", wollte ich wissen. Sie warf mir einen abschätzenden Blick zu.
"Wie geht es Ihnen jetzt?"
"Ich könnte Bäume ausreißen", erwiderte ich grimmig. "Und Simmonds' Kopf!" Tatsächlich war von meiner miserablen Verfassung nichts mehr zu spüren, im Gegenteil, ich fühlte mich fit und zornig, unternehmungslustig und gar nicht mehr schwach, weswegen ich flugs von der Liege hüpfte.
"Vorsicht", ermahnte sie mich, "es könnte sein, dass Sie noch die eine oder andere Schwindelattacke haben, wenn Sie sich zu schnell bewegen."
"Schwindlig wird mir jetzt nur noch, wenn ich daran denke, was Simmonds hier auf Alpha alles treibt!", erwiderte ich großspurig und ungeachtet der Tatsache, dass ihre Vorhersage zutraf, und das Krankenzimmer vor meinen Augen hin- und herzuwanken begonnen hatte. Die Chefärztin runzelte die Stirn.
"Wie Sie meinen", sagte sie und bedeutete dann Alan Carter hinter meinem Rücken, an meine Seite zu eilen, was er auch sofort tat, um mich mit gekünstelter Nicht-Hilfe in den Nebenraum zu geleiten. Dort vergaß ich sofort, dass ich gute Lust hatte, die Bevormundung der beiden zu kritisieren, als mein Augenmerk auf Ben Ouma fiel. Sein Anblick rief in mir nichts als Erschütterung hervor, denn ich sah hier nur noch die graue Hülle eines einst lebendigen Wesens, das seine Seele verloren hatte, unbeweglich, die ausdruckslose Miene eine wächserne Maske, die umso unwirklicher wurde, als man Ouma offensichtlich in den letzten Tagen nicht mehr rasiert hatte. Ein Bart wuchs ihm wie ein schwarzer Schatten in seinem Gesicht und war, wie das Leben in seinen Atemzügen, nichts als ein Trugbild, beseelt vom törichten Glauben des Betrachters, dass alles, was nach außen hin intakt scheint, dies auch zu sein hat. Er war nicht mehr nur ein Kranker, ein Leidender, sondern er schien mir auf eine seltsame Art vergangen zu sein. Entrückt und so fern und verloren wie all jene, die noch auf eine würdevolle Verabschiedung warteten.
Zögernd trat ich näher und folgte damit meinen Kollegen, die bereits an das Krankenbett getreten waren.
"Fällt dir etwas an ihm auf?", erkundigte sich
Victor, während er auf der anderen Seite des Bettes stand und mich musterte.
Ich betrachtete Ouma widerwillig. Ich hatte schon wirklich tote Menschen gesehen.
Ihr Anblick hatte viele verschiedene Empfindungen in mir ausgelöst, Trauer,
Unglauben, tiefe Verzweiflung, aber niemals dieses grundlegende... Entsetzen,
dessen Ursache in meinem Wissen darum lag, dass der Mann nicht tot war. Die
Piloten der Meta-Mission kamen mir wieder ins Gedächtnis. Ich hatte Ähnliches
empfunden, als Dr. Russell sie mir gezeigt hatte. Es schien mir Jahrhunderte
her.
Ich musste mich räuspern, um überhaupt ein Wort herauszubringen.
"Ich sehe an ihm nichts Auffälliges", gab ich Victor zur Antwort. Mein Freund beugte sich über Ouma und neigte dessen Kopf etwas nach hinten, indem er ihn am Kiefer leicht hob. An der Unterseite des Kinns wurde ein dreieckiger, scharf begrenzter bartfreier Fleck sichtbar. Ich besah mir die Stelle und blickte dann ratlos zu Victor auf.
"Sehen Sie sein linkes Handgelenk an", half mir Alan Carter weiter. Oumas Arme lagen seitlich am Körper an, außerhalb des blauen Lakens, vermutlich so, wie sie die Schwestern, die ihn versorgten, am Morgen positioniert hatten. Ich drehte mich zur Seite und nahm seine Hand in Augenschein. Auf der Rückseite des Handgelenks wuchs ein dreieckiger kleiner Haarteppich, der in etwa der Größe entsprach, die am Kinn fehlte.
"Was zum Teufel ist das?", entfuhr es mir. Die Ärztin kam näher.
"Das wissen wir nicht", sagte sie erwartungsgemäß. "Aber ich kann Ihnen garantieren, dass wir auf Alpha keinerlei Apparatur, keinerlei Verfahren haben, das in der Lage wäre, auch nur annähernd ähnliche Effekte zu verursachen. Ich kann nur sagen, dass Ouma diese.. Anomalie nicht hatte, als er vor kurzem zu einem Gesundheitscheck bei mir war."
"Vielleicht hatte er sich rasiert", mutmaßte ich mit rauer Stimme. Die Sache wurde immer geheimnisvoller, was mich sehr aufregte, weil ich solche Mystery-Spiele nicht leiden kann. Ich will, dass alles klar, verständlich und einleuchtend ist, keine Rätsel, nichts, das sich nicht erklären lässt, weil das bedeutet, dass ich die Kontrolle über die Situation verloren habe.
"Das haben wir in Betracht gezogen", erwiderte sie, ohne mich erkennen zu lassen, ob sie meine Äußerung für überflüssig hielt. "Wir haben Fotos und Scans, die in unseren Dateien von ihm existieren, kontrolliert. Er trug vor nicht allzu langer Zeit einen Schnauz- und Kinnbart, und selbst, wenn er sich das Haar am Handgelenk wegrasiert hätte, hätte man einen Schatten sehen müssen, was nicht der Fall war. Außerdem entsprechen die Größe und die Grenzen der beiden Flecken einander auf den Millimeter." Sie hob Oumas Hand hoch und legte die behaarte Stelle so ans Kinn, dass sich die beiden Flecken genau deckten.
"Es passt zusammen", sagte ich, und sie nickte.
"Als hätte er mit dem Handgelenk sein Kinn berührt, worauf es zum Austausch der beiden Hautstellen gekommen ist." Ich starrte sie ungläubig an und merkte, dass mir doch schwindliger war, als ich die ganze Zeit über geglaubt hatte.
"Gehen wir in mein Büro", meinte sie glücklicherweise und lotste mich aus dem Krankenzimmer hinaus. Victor und Alan folgten uns. Angekommen, sank ich aufatmend auf ein gemütlich aussehendes Sofa, das an der Wand stand und schüttete das Glas Wasser, das sie mir anbot, in einem Zug hinunter.
"O Mannomann", entfuhr es mir nicht gerade intelligent, und ich sah dabei zu, wie die übrigen ebenfalls Platz nahmen. "Was soll das alles bedeuten?" Ich fühlte mich groggy, ob von den Nachwirkungen meiner Vergiftung oder den Neuigkeiten, ließ sich nicht so recht eruieren. "Wisst ihr, wir haben schon genug um die Ohren! Das kann ja nicht sein, dass wir uns auch noch mit unerklärlichen Phänomenen herumärgern müssen!"
"Ja, das meinen wir auch", gab mir Victor recht, "und deswegen haben wir die Sache in die Hand genommen."
"Nun gut, aber ehe wir weitermachen", unterbrach ich ihn, "möchte ich nur wissen, wie es Alpha geht. Ich meine, abgesehen von der defekten hydroponischen Anlage."
"Nun, man kann nicht sagen, dass sich Simmonds überhaupt nicht um die Basis kümmert", erklärte mir Carter mit eindeutig indignierten Stirnfalten. "Er... wie soll ich sagen.. er erscheint, wenn es irgendwo Probleme gibt und schwingt Reden. Seltsamerweise genügt das den Leuten, und irgendwie scheinen sie nicht zu bemerken, dass er nur heiße Luft produziert. Wenn man an seiner heißen Luft einen Generator anhängen könnte, wäre unsere Energieversorgung für alle Zeiten gesichert!"
"Alan!", mahnte ihn Helena Russell. Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Der Pilot hob entschuldigend beide Hände.
"Tut mir leid", sagte er in ihre Richtung, "aber dummerweise stimmt es." Sie nickte.
"Trotzdem sollten wir sachlich bleiben."
"Wie sieht es also auf Alpha aus? Hat sich die Lage verschlechtert?", brachte ich meine Frage wieder in Erinnerung. Victor antwortete mir.
"Wir hatten einige gröbere Alarme. Einmal gab es ein Leck in der Biowerkstoffproduktion. Der Detektor funktionierte aber und bemerkte den Druckabfall sofort, woraufhin der Alarm ausgelöst wurde und die Schleusen sich schlossen. Mehrere Alphaner mussten aus einer isolierten Kammer befreit werden, aber diese Sache verlief glimpflich. Weniger Glück hatten vier Arbeiter aus der Recycling-Abteilung, als ein Druckbehälter in die Luft ging. Sie sind alle auf der Med. Abteilung, werden sich aber, so weit ich weiß, wieder erholen, nicht wahr, Helena?" Sie nickte.
"Sie haben Verbrennungen ersten und zweiten Grades, Rippenbrüche, Bein- und Armbrüche und Prellungen. Einer hat seine Vorderzähne verloren, aber auch das bekommen wir mit Titanimplantaten wieder auf die Reihe."
"Aus jetziger Sicht können wir also möglicherweise auf Dauer überleben?" Alle drei nickten, was mir einen Stein von der Größe des Mt. Rushmore vom Herzen fallen ließ. Ich hatte wesentlich Übleres vermutet. "Dann haben wir also noch zwei Probleme übrig", resümierte ich weiter, "einerseits Simmonds, der im Augenblick das Kommando - und wer weiß was noch im Schilde - führt, und andererseits Ouma und Krane, die an mysteriösen Erkrankungen leiden. Die Anschuldigungen gegen mich.."
"..sind haltlos", unterbrach mich Victor. "Mit welchem Argument sollte dich Simmonds noch festhalten können, wenn einerseits erwiesen ist, dass Ouma seine Krankheit nicht durch chemische Dämpfe bekommen hat - und damit deine angeblich mangelnden Sicherheitsvorkehrungen in dem Bereich nicht schuld daran sein können, und andererseits noch ein ähnlicher Fall aufgetreten ist, noch dazu, während Simmonds selbst für Alpha verantwortlich war! Man kann auch nicht behaupten, dass er die Aufklärung mit Nachdruck betrieben hat."
"Aber er hat die Alphaner auf seiner Seite", gab ich zu bedenken.
"Aber nicht die, auf die es in der Sache ankommt", erwiderte mir Victor lächelnd. "Wir haben uns die Unterstützung der gesamten Kommandozentrale gesichert, und die meisten Abteilungsleiter haben auch genug von der Überwachung und Simmonds' Geringschätzung lebenswichtiger Basisbelange."
"Wie konntet ihr sie so leicht gewinnen?"
"Es gibt keinerlei Besprechungen mehr, seit du weggesperrt wurdest. Simmonds entscheidet, ohne sich je die Argumente derjenigen anzuhören, die sich auskennen, ja, angeblich liest er noch nicht einmal die Berichte durch, die auf seinem Schreibtisch landen. Die Leute fühlen sich allein gelassen und ignoriert. Und was die Kommandozentrale angeht, so ist es kein Geheimnis, dass dort einige keinerlei Sympathien für den Commissioner haben. Was noch dazu kommt: Sie nehmen es ihm sehr übel, wie er den 'Fall' Ouma so kaltherzig und unbewegt abtut und nicht einmal Interesse daran zeigt, hinter die Ursache für dessen Zustand zu kommen. Ouma war einer der Ihren, ein Kollege, mit dem sie seit Jahren zusammengearbeitet haben!" Zum wiederholten Mal fühlte ich eine große Erleichterung in mir aufsteigen. Was so übel begonnen hatte mit der nahezu greifbaren Gewissheit, sterben zu müssen, hatte sich unversehens in einen Korb voller Lebensgeschenke für mich umgewandelt. Mein kurzes Wirken auf der Basis hatte doch positive Spuren hinterlassen, und es schien mehreren Menschen nicht verborgen geblieben zu sein, dass mir der Fortbestand von Alpha das Wichtigste war. Eine seltsame Rührung überkam mich, was mir peinlich war, und ich versuchte, sie mit einem neutralen Gesichtsausdruck zu überspielen. Paradoxerweise fühlte ich mich schwach und ausgelaugt, jetzt, da sich die Situation für mich zum Besseren gewandt hatte, und ich merkte, dass ich nahe daran war, irgendetwas furchtbar Dummes zu sagen, nur, um mich selbst von meinem mir zuwideren Befinden abzulenken.
"Dann schlage ich vor, dass wir Simmonds mit unseren Erkenntnissen konfrontieren", schloss Helena Russell und zog damit die Aufmerksamkeit aller auf sich, was mich davor bewahrte, mich lächerlich zu machen. "Bis er aus dem Rampenschlitten befreit ist, wird es noch etwas dauern, Commander, also haben Sie die Gelegenheit, sich ein wenig von meiner Giftattacke zu erholen." Victor und Alan, die ihr Einverständnis signalisierten, gingen sehr plötzlich, was mich, offensichtlich nicht ganz klar im Kopf, verwunderte.
"Dann würde ich gerne hier bleiben", sagte ich zur Chefärztin, "vielleicht verstehen Sie, dass mir im Augenblick nicht viel an meinem Quartier liegt." Sie lächelte.
"Das kann ich mir gut vorstellen. Und außerdem halte ich es auch für das Klügste, wenn Sie hier blieben, denn nicht alle Mannschaftsmitglieder sind davon unterrichtet, dass Commissioner Simmonds' Meinung nicht mehr unbedingt - äh - maßgeblich ist." Sie erhob sich und wandte sich zum Gehen. "Wenn es Ihnen recht ist, dann lasse ich Sie jetzt hier alleine. Ich muss noch mehrere Patienten visitieren, nachdem, wie ich gehört habe, Dr. Mathias zusammen mit Commissioner Simmonds im Rampenschlitten feststeckt."
"Ist er denn nicht eingeweiht?", wollte ich wissen. Sie blieb stehen und drehte sich um. Ihr amüsierter Gesichtsausdruck beruhigte mich.
"Aber ja", sagte sie. "Er hat mir mit dem Gift geholfen. Beim Alarm ist er nur mitgelaufen, damit es.."
"...echt aussieht", vervollständigte ich schmunzelnd zusammen mit ihr den Satz. "Dr. Russell, ich möchte mich bei Ihnen bedanken, für Ihr Vertrauen und Ihre Courage - und dafür, dass Sie mich nicht umgebracht haben." Sie musste wieder lächeln. Ich wurde davon wie berauscht und benebelt und fürchtete einmal mehr, dass es mir an der Nasenspitze anzusehen war. Ich hätte alles dafür gegeben zu wissen, ob sie auch irgendetwas, eine Winzigkeit nur, spürte, wenn sie mich ansah.
"Commander, danken Sie mir nicht so häufig und schon gar nicht für Dinge, die notwendigerweise getan werden mussten. Ich bin nur eine unter mehreren. Das zeugt wahrlich nicht von einem heldenhaften Herzen."
"Trotzdem."
"Dieses schlagkräftige Argument lasse ich natürlich gelten", meinte sie mit einer sanften, weichen und heiteren Note in ihrer Stimme, und ich zerschmolz zu einer kleinen Koenig-Pfütze. "Entspannen Sie sich ein wenig." Damit verschwand sie, und ich fühlte, wie ich mich immer unrettbarer in ihrem Charme und ihrem Zauber verstrickte.
+++++++++++++
Victor geleitete mich später in die Kommandozentrale. Für mich war es ein sehr seltsames Gefühl, durch die Korridore zu schreiten und nicht zu wissen, ob mich die Menschen, die uns begegneten, als Kommandant von Mondbasis Alpha akzeptierten. Niemand sagte etwas, ich erntete Blicke, die ich nicht interpretieren konnte, und meine Erleichterung war groß, als wir endlich in die Befehlszentrale traten. Hier merkte ich sofort, dass ich zu Hause war, denn die Anwesenden sprangen erfreut auf; Kano und Paul Morrow eilten mir sogar entgegen, um mir die Hand zu geben. Sandra Benes saß an ihrem Arbeitstisch und lächelte freundlich, während sie wie nebenbei eine Arbeit erledigte.
"Commander", sagte sie, "ich fürchte, dass Commissioner Simmonds soeben aus dem Rampenschlitten entkommt." Es war nur allzu deutlich, was sie von ihm hielt, und ich musste grinsen.
"Wenn wir nicht schon hier wären, müsste man ihn auf den Mond schießen", machte ich eine passende Bemerkung zu ihren Worten, und sie stimmte mir lachend zu. Es herrschte eine lockere Atmosphäre, die mir fast so leichtherzig schien wie an einem sonnigen Nachmittag am See. Seit ich am 9. September wieder meinen Fuß auf die Basis gesetzt hatte, hatte ich nicht ein einziges Mal ein so luftiges, erhebendes Gefühl verspürt wie in diesem Augenblick. Dabei wussten wir alle, dass uns eine Konfrontation mit Simmonds bevorstand.
Aus meinem Büro drangen hinter verschlossenen Türen dumpfe
Laute von Gesprächen in die Kommandozentrale herüber, und ich war froh, sie
zu hören, denn das bedeutete, dass doch einige Abteilungsleiter der Einladung
gefolgt waren, an einer Konferenz teilzunehmen. Ich öffnete mit meinem, wieder
für mich installierten, Commlock die Verbindungstür, deren Flügel zur Seite
hin wegglitt und begab mich im Gefolge der übrigen in den Nebenraum. Es war
eine Erleichterung zu sehen, dass immerhin die Bereichsleiter aus den wichtigsten
Ressorts gekommen waren.
Ich hatte in der Zeit, die ich in Helena Russells
Büro verbracht hatte, krampfhaft versucht, mir Worte zu überlegen, die ich an
die Alphaner richten wollte. Sie mussten überzeugend sein, hatte ich mir vorgestellt,
ohne dass sie anbiedernd wirken durften, mussten den Eindruck erwecken,
dass ich es ernst meinte mit Alpha und den Menschen hier. Das war nun nicht
mehr nur eine Mannschaft, ein Expertenteam, es war eine Gemeinschaft, Freunde,
die ihr Leben zusammen verbringen mussten, sich auf einander verlassen. Sie
würden nie wieder in ihrem Leben etwas anderes haben als das, was drohte,
ihnen nun zwischen den Fingern zu zerrinnen, als das, was sie mit ihren eigenen
Händen erhielten und schufen. Es gab kein Sicherheitsseil mehr und keine Hilfe
von außen. Sie selbst nur konnten sich helfen. Und ich musste die Voraussetzungen
dafür schaffen. Das alles hatte ich bedacht, als ich zurückgelehnt auf der chefärztlichen
Couch gesessen war und ein schwacher Parfumduft, mich gaukelnd umworben und
immer wieder fortgezogen hatte von diesen wichtigsten aller Dinge.
Ich
setzte mich in die Runde und blickte in so manches ernste, fragende und zweifelnde
Gesicht, und ich fühlte, wie mir der Boden unter den Füßen weggezogen wurde.
Zufällig sah ich in Victors Gesicht und traf da auf eine geradezu
unerschütterliche Zuversicht, so eminent, als sei es ein einziges fait accomplis,
eine bestehende, wie vor Urzeiten ausgemachte Tatsache, dass alles in bester
und schönster Ordnung war.
Ich warf all meine so sorgfältig ausgemalten Worte
über Bord und fragte ohne einleitende Worte danach, welche denn nach der Meinung der Allgemeinheit
die dringlichsten Probleme auf Alpha waren, die unbedingt rasch gelöst werden
mussten. Sofort löste sich die angespannte Stimmung in einem lebhaften Wortschwall
auf und organisierte sich in einer aufschlussreichen Diskussion über defekte
Systeme, über notwendige Reparaturen und über drohende Gefahren. Es war
viel leichter, als ich es mir vorgestellt hatte, die Frauen und Männer warteten
nur darauf, dass jemand Entscheidungen traf und sich ihrer Sorgen annahm.
Die Arbeitspläne erstellten sich quasi von selbst, und es war nicht zu übersehen, dass
die Motivation jäh wiederauferstand aus ihrem staubigen Grab, in das sie vom
Commissioner gesteckt worden war. Aus welchen Gründen auch immer.
Wir waren gerade dabei, die Arbeitskräfte entsprechend der zu bewältigenden Aufgaben zu verteilen, als plötzlich die rückwärtige Tür zum Büro aufging, und Simmonds zusammen mit zwei Männern vom Wachpersonal einmarschierte. Er blieb konsterniert stehen, als er den Auflauf im Raum sah.
"Was ist denn hier los?", wollte er ärgerlich wissen.
Es war ihm anzusehen, dass er erzürnt war über den unplanmäßigen, langen
Aufenthalt im Rampenschlitten. "Macht hier eigentlich jeder, was er will?
- Nicht nur, dass ich wegen eines Fehlalarms für Stunden in einer Röhre festsaß,
wird hier auch noch mein Büro ohne Genehmigung belagert! Verschwinden Sie hier,
ich habe zu arbeiten!" Ich merkte, wie sich die Köpfe aller mir zuwandten.
"Mein
Büro!", hatte er gesagt, so nebenbei und beiläufig, dass man annehmen konnte,
er hielt dies tatsächlich für seinen ureigensten Besitz! Der alte Zorn fing
an, wieder in mir zu kochen und zu brodeln, wie Lava stieg er in einem unsichtbaren
Schlot nach oben und schickte sich an, sich in einer ungehörigen Eruption Luft
zu machen. Ich erhob mich und verschränkte die Arme vor der Brust.
Einen
Moment sah es so aus, als erkannte er mich nicht, doch dann schob sich sein
verärgertes Gesicht in einer zitronensauren Maske verkniffenen Unmutes zusammen.
"Simmonds, Sie stören eine Arbeitsbesprechung in meinem Büro!", informierte ich ihn und versuchte dabei, die zorntobenden Teufel in meinem Inneren in Zaum zu halten.
"Koenig! Was tun Sie hier?"
"Arbeiten", erwiderte ich mit etwas gezwungener Gelassenheit. "All die Säumnisse nachholen, die von einem wahrhaft astronomischen Desinteresse zeugen, das Sie der Basis, unseren Mitteln, den Reserven und vor allem unseren Mitmenschen gegenüber zeigen. Sie behandeln Ihre Zukunft und die aller mit einem mangelnden Respekt, der Seinesgleichen sucht!"
"Zukunft! Pah!", stieß er geringschätzig hervor. "Sie wissen überhaupt nicht, wovon Sie reden! Was Sie für eine Zukunft halten, ist der sichere, unweigerliche Tod! Kein heroisches Fortschreiten in eine - haha! - bessere Welt, sondern ein langsames, qualvolles Sterben, das sich hier hereinschleicht und nach und nach erst seine Opfer fordert. Bis es eines Tages nicht mehr weitergeht. Wir werden hier davonsiechen, in den Tod hineinwelken und wegtrocknen, bis von uns nichts mehr übrig ist als dieses unnatürliche Plastik und ein wenig Metall. Das ist die Zukunft, die Sie Ihren Leuten bieten wollen! Dass ich nicht lache!" Seine pessimistische Vision ging mir ans Gemüt, weil mir diese Gedanken nicht fremd waren. Mehr als einmal hatte ich dieses trostlose Szenario vor meinem geistigen Auge heraufbeschworen und Angst davor bekommen, dass dies nicht die hilflose Vorstellung eines unerträglichen, durch nichts zu beeinflussenden Ablaufs war, sondern nur ein Schreckensgespenst, ein Albtraum, der dort blieb, wo er hingehörte, nämlich in seinen nächtlichen Gefilden. Im Gegensatz zu Simmonds hatte ich den Weg der Tat beschritten, hatte als einzige Möglichkeit, dem drohenden Damoklesschwert zu entkommen, die Handlung gewählt. Es war der beschwerlichere Weg, immer ohne Gewähr, aber aus meiner Sicht der einzig verantwortungsvolle, der mir zur Verfügung stand.
"Simmonds, ich freue mich, dass Sie so viele Alternativen zu bieten haben", konterte ich sarkastisch.
"In der Tat habe ich eine Alternative", sagte er forsch.
"Eine Heimkehr zur Erde?", erkundigte ich mich interessiert. Es war wie im Vakuum so still. Ich vermeinte, meinen eigenen Pulsschlag zu hören. Simmonds wirkte nicht im Mindesten verunsichert.
"In der Tat", sagte er.
"Und wie soll das funktionieren, wenn ich fragen darf? Haben Sie vielleicht ein Raumschiff, das die gesamte Mannschaft nach Hause bringen kann?"
"Ich bin Ihnen keine Rechenschaft schuldig!", ließ er mich wissen.
"Was verleitet Sie zu dieser kuriosen Annahme? Simmonds, Sie sind ab dem jetzigen Zeitpunkt nichts als ein einfaches Mannschaftsmitglied mit denselben Rechten und Pflichten wie jeder andere hier auch. Sie werden keinen Adler mehr zur Verfügung haben, der Sie nach Beta 1 fliegt. Sie werden meine Leute nicht mehr einschüchtern, und schon gar nicht werden hier Überwachungsmaßnahmen betrieben, die über das normale, auch bisher gepflegte Maß hinausgehen. Ist das so weit klar?" Ein verzogenes, strichernes Lächeln zeichnete sich um seinen Mund ab.
"Und Sie werden bei einem mickrigen Bürojob als Assistent des Assistenten eines der untersten Chargen verrotten", versprach er mir schmallippig.
Ich hielt ihn für einen Wahnsinnigen, der dabei war, sukzessive den Bezug zur Realität zu verlieren, nur so ist es mir erklärlich, wieso ich nicht einen Augenblick daran dachte, dass Simmonds tatsächlich irgendetwas in der Hand haben könnte, das ihn zu diesen überstiegenen Aussagen von einer baldigen Heimkehr zur Erde verleiten konnte. Alan Carter half mir glücklicherweise in die richtigen Bahnen.
"Was ist dort auf Beta 1 versteckt, Commissioner?", begehrte er zu wissen. "Was machen Sie dort? Gibt es tatsächlich ein Raumschiff irgendwo auf der Station?"
"Machen Sie sich nicht lächerlich", war die Antwort, "ein Raumschiff hätte auf der kleinen Station keinen Platz!"
"Was ist es dann?", schaltete sich nun auch Victor ins Gespräch ein. Mir war das nicht unrecht, denn je mehr Simmonds spürte, dass er gegen eine geschlossene Front anlief, umso leichter sollte es möglich sein, ihn in Griff zu bekommen. Er selbst schien denselben Gedankengang zu haben, denn er zögerte zu antworten.
"Nun gut", sagte er schließlich und trat einen
Schritt näher. "Ich verlange allerdings ein Gespräch unter vier Augen!"
Er war vermessen und abgebrüht! Seine Felle schwammen ihm davon, sein Selbstwertgefühl
schien davon jedoch nichts zu bemerken! Der einzige Grund, der mir dafür einfiel,
war, dass diese Überheblichkeit, die ihm so sehr zur zweiten Haut geworden
war, dass sie sich nicht mehr von seinem wirklichen, echten Wesen unterschied
- dieses vielleicht absorbiert und vernichtet hatte, dass diese Anmaßung, dieser
Hochmut nun das einzige Mittel war, das ihn vor einem Gesichtsverlust bewahrte.
Die
augenblickliche Sachlage jedoch konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Simmonds
kapituliert hatte, die Art, wie es geschah, nämlich das völlig fehlende Ansprechen
meiner Legitimation als Commander, sagte mir, dass er mit allen Handlungen,
die er gegen mich gesetzt hatte, nur gepokert hatte. Mich Kraft seines Amtes
einzusperren, und seine fadenscheinigen Begründungen waren tatsächlich
nichts gewesen als ein Mittel, mich aus dem Weg zu schaffen. Er hatte Handlungsfreiheit
gebraucht. Hier nun mit keinem Wort auf die Anschuldigungen einzugehen, bedeutete,
dass er den reellen Stand der Situation sehr wohl richtig einschätzen konnte.
Es blieb ihm nun nichts anderes übrig als ein Versuch, für sich den Schaden
zu begrenzen, gute Konditionen und Zugeständnisse herauszuschlagen.
Machte es einen Unterschied, ob er kooperierte oder nicht? Mir kam die Frage kurz in den Sinn, doch sogleich war mir bewusst, dass ich zu wenig wusste, um sie zu beantworten. Mir war bekannt, dass er einige Getreue hatte, die ihn wiederholt zur Station Beta 1 begleitet hatten, doch war ich mir nicht sicher, ob sie mir helfen würden, die Sache aufzuklären. Abgesehen davon lag Krane ohne Gedächtnis auf der Med. Abteilung - genauso wie Benjamin Ouma. Alan Carter hatte mir, wie ich mich erinnerte, davon erzählt, dass auch er auf der Außenstation gewesen war! Zum Teufel! Ich war wohl zu sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen, als dass mir dieser offensichtliche Zusammenhang aufgefallen wäre! Die Anschuldigungen gegen mich hätte ich zwar nicht abwenden können, doch jetzt gab mir die Erkenntnis das Mittel, auf Simmonds Druck auszuüben, in die Hand!
"Commissioner!", sagte ich einmal mehr in dem Ton,
der besagte, dass der Titel für mich nur eine Farce war. "Sie stellen
hier keinerlei Bedingungen!" Er schwieg, wenn auch mit missbilligend zusammengepressten
Lippen. Sein Schweigen war wie ein Zugeständnis seiner Schwäche, und ich rechnete
damit, Antworten von ihm zu bekommen. Ich konnte mir allerdings nicht so recht
vorstellen, was mich erwartete und wollte daher nur in kleinem Rahmen fortfahren.
"Setzen Sie sich, Simmonds. Wir haben ein Wörtchen miteinander zu reden!"
Ich wandte mich den übrigen zu. "Ich möchte die allgemeine Sitzung zum jetzigen Zeitpunkt
beenden. Ich erwarte, dass bisher besprochene Maßnahmen sofort eingeleitet bzw.
durchgeführt werden. Restliche Unklarheiten möchte ich mit den einzelnen betroffenen
Abteilungen diskutieren. Es wäre gut, wenn wir Labor- und Abteilungsbesprechungen
abhalten könnten. Daran sollten alle teilnehmen, die dort beschäftigt sind.
Deponieren Sie Ihre Wunschtermine bitte bei Sandra Benes. Wir haben gerade einen
großen Schritt nach vorwärts und in unsere Zukunft getan, und ich möchte mich
bei allen sehr für Ihre Mitarbeit bedanken. So stelle ich mir unseren weiteren
Umgang miteinander vor. Ich werde die Mannschaft über die aktuellen
Vorgänge auf dem Laufenden halten." Ich spürte eine sehr positive Ausstrahlung,
die von den Anwesenden ausging. Ein zufriedenes Stimmengewirr setzte ein, wenn
ich auch merkte, dass manche gerne geblieben wären. Für mich war es ein Test
zu sehen, ob sie meinen Anordnungen Folge leisteten oder sich gegen meinen Plan,
Simmonds ohne die Allgemeinheit zu vernehmen, auflehnten. Als kein Einwand kam,
sondern ein gemeinschaftlicher Aufbruch die Folge war, setzte ich noch nach:
"Paul, Sandra, David, Victor, Cpt. Carter und Dr. Russell, Sie möchte ich
bitten, hier zu bleiben!" Die Aufgerufenen machten kehrt oder blieben an
Ort und Stelle. Ich hatte nicht lange überlegt, wen ich zurückrufen sollte.
Es war eine Entscheidung aus dem Bauch, getragen von dem Wunsch, zentrales Wissen mit einer Möglichkeit, Beschlüsse rasch umsetzen zu können, zu vereinen.
Natürlicherweise war das Kommandoteam dafür essenziell, und auch Victor
als Wissenschaftler erschien mir unverzichtbar. Alan Carter hatte ich für mehrere
wichtige Aufgaben vorgesehen, bei der Nennung seines Namens aber dachte ich
nun nur daran, dass er zusammen mit Simmonds und seinen Leuten zumindest einen
Flug auf die Station Beta 1 unternommen hatte. Und Helena Russell wollte ich
um mich haben. Das war eine in Hinblick auf meine Professionalität wenig
akzeptable Entscheidung, doch der Bedarf nach einem Mediziner, um Simmonds'
Zurechnungsfähigkeit, die ich mitunter recht heftig anzweifelte, zu beurteilen,
schien mir dennoch einleuchtend. Ich habe mich inzwischen entschieden,
die Gruppe, mehr oder weniger in derselben Zusammensetzung, in Zukunft für alle
wichtigen Entscheidungen, die ich nicht ohne ein Feedback treffen möchte, zusammenzurufen.
Gespannte
Ruhe legte sich über mein Büro, als die Tür sich hinter der letzten Gruppe von
Männern und Frauen geschlossen hatte.
"Nun gut, Simmonds", sagte ich ruhig aber bestimmt, "ich empfehle Ihnen, reinen Tisch zu machen." Ein Aufflackern von unterdrücktem Zorn zeigte sich in seinen dunklen Augen.
"So geht das nicht!", erwiderte er mühsam beherrscht. "Ich erwarte mir von Ihnen Zugeständnisse, was meinen Status hier auf der Basis angeht! Ich bin nicht Hinz oder Kunz, Koenig, vergessen Sie nicht, mit wem Sie es zu tun haben!" Sein mangelnder Bezug zur realen Situation verblüffte mich; seine Unverfrorenheit und seine Herablassung war ich fast schon gewohnt, aber diese Ausbrüche, die mir sagten, dass er nicht begriffen hatte, wie wenig seine frühere Stellung als Commissioner, als einer der einflussreichsten Politiker in Sachen Raumfahrt, ihm nun nützte, wie wenig sie jetzt bedeutete, erstaunten mich über alle Maßen. Ich fragte mich, ob er eine schizophrene Ader hatte, die ihn einerseits so sehr genau begreifen ließ, wie die Dinge standen, und die ihn andererseits seines logischen Verstandes beraubte, wenn es ihr gerade einfiel. Unvorhersehbar und im raschen Wechsel. Ich nahm mir vor, Dr. Russell später über diese Vermutung zu befragen.
"Nun gut", antwortete ich, ohne auf seine Worte
einzugehen, "dann sprechen wir fürs Erste über den unglücklichen Ben Ouma
und über Joshua Krane, beziehungsweise über die Rolle, die Sie in dieser Angelegenheit
gespielt haben!" Sein Gesicht verlor alle Farbe und schimmerte fahl zwischen
dunklem Bart und Haupthaar hervor. Um seinen Mund zuckte es fast unmerklich.
Jetzt konnte er nicht mehr die Rolle des Fordernden spielen, im Gegenteil, ich
hatte ihn in die schwache Position gedrängt, wo es hieß, sich zu verteidigen.
Ich sah ihm die Erniedrigung an, und ich wusste, er würde mir nie verzeihen.
In seinen Augen stand geschrieben, dass ich es büßen würde, sollte er nur eine
Sekunde Oberwasser gewinnen. Mir war nicht klar, wie ich mit dieser Kampfesansage
umgehen sollte, doch ich schob den Gedanken von mir, denn im Augenblick saß
ich am längeren Ast, und die unausgesprochene Drohung lag irgendwo wie ein Gewitter
fern am Horizont. Ich würde mich damit beschäftigen, wenn es an der Zeit war.
In Simmonds' Gesicht arbeitete es, während ich auf seine Reaktion wartete.
"Ich weiß nicht, was Sie meinen", erwiderte er schließlich. Von allen Möglichkeiten, die ihm zur Verfügung standen, suchte er sich die mühsamste aus!
"Beleidigen Sie mich nicht", fuhr ich ihn an. Ich hatte keine Lust auf seine Spielchen. Sie hatten mich Tage meines Lebens gekostet und auf Alpha weiß ich was für Schäden verursacht. "Beide Männer, Ouma wie Krane, waren Ihre Gefolgsmänner, und beide befinden sich jetzt auf der Med. Station! Erzählen Sie mir nicht, dass es sich um einen Zufall handelt!" Ich merkte, wie mir Dr. Russell einen überraschten Blick zuwarf.
"Ich wusste es nicht!", entgegnete er heftig. Ich beugte mich zu ihm und musterte ihn scharf.
"Ganz schlechte Ausrede", sagte ich.
"Ich hatte keine Ahnung!", wiederholte er sich laut. Ich stutzte. In der Schwärze seines Blickes flimmerte und bebte es, und ich war darüber so überrascht, dass ich es zuerst nicht zuordnen konnte. Doch mit seinem ganzen Gehabe versuchte er, es zu verbergen, und hinter der mühsam beherrschten, polierten und aufgesetzten Politikerfassade erblickte ich zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, den Funken des wahren und echten Gerard Simmonds, der, dem die Fäden aus den Händen entglitten, der nicht mehr über seine gesamte Existenz herrschte. Panik und Unsicherheit glommen in der Tiefe, und nicht seine Worte, sondern allein dieses furchtsame Flackern in den Augen überzeugte mich davon, dass er die Wahrheit sagte.
"Simmonds, Sie können sich nicht vorstellen, was ich mit Ihnen mache, wenn Sie nicht bald damit herausrücken, was Sie mit meinen Männern getan haben!" Ich konnte es mir nebenbei auch nicht vorstellen, aber es spielte keine Rolle, ob ich tatsächlich plante, ihn Höllenqualen ausstehen zu lassen. Die Drohung allein war mehr als genug, denn diese Sprache verstand er im Augenblick. Ein kurzes Lachen, verzerrt und unabsichtlich, verunglückt wie der Ton einer reißenden Saite, entrang sich seiner Kehle.
"Ihren Männer!", stieß er hervor. "Meinen Männer, Koenig! Meine Männer! Sie gehörten in mein Team, waren U-Boote, von ExTER auf Alpha eingeschleust, um eine Aufgabe zu lösen! Was glauben Sie, warum ich persönlich auf den Mond gekommen bin?" Er spie die Worte zornig aus. "Doch nicht wegen der toten Astronauten! Nicht wegen Meta! Der Flug nach Meta war bedeutungslos und begründete sich lediglich auf der sparsamen Information, die wir überhaupt durchgehen ließen. Die Leute, die die Meta-Mission organisierten, hatten nichts als die Angaben über die Meta-Koordinaten!"
"Es war ein astronomisch teures internationales Projekt!", widersprach ich aufgebracht. "Es war wie Mondbasis Alpha ein Symbol für unsere neue Zusammenarbeit, für ein gemeinschaftliches Erforschen des Weltraums."
"Es war gemeinnützig!", fuhr er mich an, als seien der mühsam errungene friedliche Zusammenhalt der Menschheit und der Wille zur Einheit ein Exkrement aus der Gosse der Zivilisation.
"Ich kann Ihnen nur Recht geben", entgegnete ich säuerlich, "ein wesentlich erfolgversprechenderes Unterfangen wäre es, wenn sich jeder auf sich gestellt abmüht, statt in einer Kooperation alle Mittel und alles Wissen zusammenzulegen."
"Was interessiert mich der Flug nach Meta!", rief er, "Natürlich war ich offiziell dazu angehalten, dessen Verwirklichung anzustreben - mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln anzutreiben, um genau zu sein. Denn Koenig, so verherrlichungswürdig, wie Sie glauben, waren diese gemeinnützigen Drahtzieher hinter der Meta-Angelegenheit wirklich nicht. Sie waren dazu bereit, über Leichen zu gehen, um die Raumsonde auf ihren Weg zu schicken, und haben es getan, aber diese Fraktion wusste nicht, was ExTER über Meta weiß!" Mit einem Mal fiel mir ein, was mir Victor - war es vor wenigen Tagen nur? - mitgeteilt hatte.
"Die gestörten Signale von Meta?" Simmonds lachte unfroh.
"Natürlich! Es überrascht mich nicht, dass der alte Fuchs sie inzwischen entdeckt hat!" Ich geriet etwas aus dem Konzept. Dass Victor ein schlauer alter Fuchs war, stand außer Frage, doch langsam schwante mir, dass die Dinge wesentlich komplexer waren, als ich angenommen hatte.
"Sie dienen also mehreren Herren, Simmonds?" Sein Mund verzog sich in einem abfälligen Bogen nach unten.
"Sie wären überrascht, wie viele Menschen dies tun!"
"Aus Eigennutz und Profit!"
"Aus Notwendigkeit!", korrigierte er mich. Er meinte es ernst. In Simmonds' Leben existierte nur der Kampf nach der Vorherrschaft, und den Sieg trug derjenige davon, der am besten log, betrog und jeden hinterging. Wenn es erforderlich war, sogar sich selbst. Wer nicht bereit war, sich diesen Regeln zu beugen, hatte von vorneherein keine Chance zu überleben. Ein schneller Blick in die Runde zeigte mir, dass die Anwesenden nicht glauben konnten, was sie hörten. Mit Ausnahme von Victor vielleicht, der offensichtlich nicht so genau zuhörte, was Simmonds über seine Motivation und seine Lebenseinstellung von sich gab, sondern im Geiste mit den übrigen Informationen über die geheimnisvollen, versteckten Signale von Meta beschäftigt war.
"ExTER hat die Signale entschlüsselt, um für sich einen Nutzen daraus zu ziehen!" Der Commissioner blickte mich an, als sei ich ein Kind, das noch nicht dazu in der Lage war, mit vielschichtigen Informationen umzugehen.
"Sie sind naïv, Koenig", antwortete er. "Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass wir derartig prekäre Informationen wie die über außerirdisches Leben einfach so über den Erdball verstreuen können! Was denken Sie, was das für einen Aufruhr gibt."
"Wir wissen bereits, dass es außerirdische Intelligenz gibt", tauchte Victor aus seinen Überlegungen auf.
"Falsch", erwiderte Simmonds. "Gab. Sie, Professor, haben nichts anderes bewiesen, als dass vor Urzeiten irgendwann mal Außerirdische auf der Erde eine Zwischenstation gemacht haben. Wir dagegen haben direkt an uns gerichtete Informationen von fremden Wesen, wir besitzen etwas aus außerirdischer Hand, das aus wesentlich mehr besteht als nur aus einer Handvoll Artefakte. Wie, glauben Sie, ginge die Weltöffentlichkeit damit um?"
"Ich denke, Commissioner, dass Sie die Weltöffentlichkeit für wesentlich dümmer halten, als sie es tatsächlich ist", gab ihm Victor gemächlich zur Antwort.
"Ja, das macht es leichter, eigene Interessen zu vertreten", führte Paul Morrow Victors Gedanken weiter.
"Nun, aber was auf der Erde hinter dem Rücken der Öffentlichkeit geschah, ist im Augenblick nur dann von Bedeutung, wenn es Auswirkungen auf unser Leben hier hat", gab Helena Russell zu bedenken. Ihre Worte zeigten, dass sie ein fokussierter Mensch war, der sich auf das Wesentliche konzentrieren konnte. "Und wenn ich Ihre spärlichen Anmerkungen richtig deute, dann befindet sich etwas aus der Hand von Außerirdischen auf Beta 1, das ExTER wichtig genug war, um alle Welt zu betrügen. Worum handelt es sich?" Simmonds schaute sie entgeistert an.
"Ein Tor", sagte er endlich. Er wirkte, als weiche
im selben Moment alle Luft aus seinem Körper. Auch wenn mir klar war, dass dies
nur eine Illusion sein konnte, so schien er mir zu schrumpfen wie eine vertrocknende
Rosine. Ich dachte, es läge vielleicht daran, dass er sich erstmals der Realität
stellte, und zwar nicht seiner eigenen sondern der der anderen Menschen hier
auf Alpha. Die Stille war greifbar und atemlos, selbst ein Lachen, das hinter
der verschlossenen Tür aus der Kommandozentrale zu uns hervordrang, wirkte,
als zwängte es sich aus dem Vakuum zu uns herein und zerknitterte zu steriler Leblosigkeit,
als es auf die elektrisierende Spannung im Raum traf.
Simmonds gab sich geschlagen.
"Die Meta-Signale wurden entschlüsselt und zeigten uns Koordinaten auf der Erde an", sagte er tonlos. "Sie befanden sich im Atlantik zwischen den Inseln San Salvador und Cat Island mitten im Meer."
"Die Bahamas", sagte ich mehr zu mir selbst. 'Das Bermuda-Dreieck', dachte ich. Simmonds ließ sich von meinen geographischen Kenntnissen nicht beeindrucken.
"Ein Suchschiff wurde ausgesandt mit Tauchrobotern an Bord. Man fand am Grund des Meeres eine Formation, die von Vegetation überwuchert und dadurch fast unsichtbar war. Es handelte sich um das Wrack eines außerirdischen Raumschiffs, das in mehrere Teile zerbrochen war. Es gab keinen Hinweis darauf, dass es je bemannt gewesen war. Wenn ja, lag es wohl schon viel zu lange dort unten, um Spuren von Lebewesen zu konservieren. Die Altersbestimmung ergab, dass das Wrack etwa 500 Jahre dort unten verbracht hatte. Es war nicht leicht, die Bruchstücke zu bergen, doch der große Aufwand lohnte sich. Wir fanden eine Vielzahl von Objekten, die uns in der verschlüsselten Nachricht von Meta angekündigt worden waren." Er hörte zu sprechen auf, wohl in der irrigen Meinung, dass sich der Bogen der Handlung nun geschlossen hatte.
"Was waren das für Objekte?", erkundigte sich Sandra Benes. Kano nickte bekräftigend, als wäre ihm dieselbe Frage auf der Zunge gelegen.
"Teile eines Tors", gab er unwillig Auskunft. "Zusammengebaut ergeben sie eine Tür zum Universum."
"Sie sprechen von einer Passage, die uns wieder auf die Erde bringen kann?", erkundigte sich Victor. Seine plötzliche Aufregung war nicht zu übersehen, aber er legte auch keinen Wert darauf, sie zu verbergen.
"In der Tat", schloss Simmonds kühl.
Diese Behauptung
musste erst verdaut werden. Stille.
Nach geraumer Zeit hörte ich, wie sich Helena Russell räusperte. Ich wandte den Blick in ihre Richtung. Sie wirkte, als hätte ihr jemand mitten ins Gesicht geschlagen. Ihre Erschütterung traf mich, umso mehr, als ich realisierte, dass ich keine Möglichkeit hatte, sie davon zu befreien.
"Commissioner", sagte sie einen Hauch zu leise, um anklagend zu wirken, " ich verstehe nicht. Wenn Sie über ein so einzigartiges Mittel verfügen, uns wieder nach Hause zu bringen, warum.. warum sagen Sie es niemandem, sondern arbeiten klammheimlich daran? Glauben Sie nicht, dass Sie von Commander Koenig alle Hilfe bekommen hätten, um diesem - diesem Albtraum hier ein Ende zu machen?" Simmonds sagte nichts. Er musterte sie nur mit diesem schwarzen Blick, der sich in ihr Wesen bohrte, um sie mürbe zu machen, zu erniedrigen und zu schwächen. Ich weiß nicht, ob dies reell war oder ob ich bloß Gespenster sah, der Zorn kroch mir trotzdem aus allen Poren. Es war mir zuwider, dass er diese Verwundbarkeit, die sie ausstrahlte, so ungeniert gegen sie ausnutzte, hier und jetzt, da wir am Rande unserer Existenz standen, am Rande unserer Macht, unserer Fähigkeiten, unserer Kräfte. Ich wusste, was sie dachte. Alan Carter jedoch sprach es aus.
"Sie wollten uns nicht mitnehmen!", rief er plötzlich und so laut, dass ich aus meinem eigenen Entsetzen schrak. "Nicht wahr, Simmonds, Sie wollten zusammen mit Ihren Männern einfach verschwinden und uns hier verrotten lassen! Wie konnten Sie das nur tun? Wie können Sie nur an sowas denken? Bastard!!" An Simmonds war keine Regung zu sehen.
"Geben Sie eine Antwort!", forderte Kano ihn mit scharfer Stimme auf.
"Das werde ich nicht tun", erwiderte er, "ich denke nicht daran, auf Ihre paranoiden Gehirngespinste einzugehen." Es war müßig, ich wusste, dass er sich über seine Beweggründe nicht auslassen würde. Ich bin mir auch jetzt nicht sicher, was ihn tatsächlich dazu gebracht hatte, heimlich vorzugehen. Hatte er aus alter ExTER-Gewohnheit Stillschweigen bewahrt? Hatte er vorgehabt, das Problem allein zu lösen, um später als Retter der Überlebenden auf dem Mond gefeiert werden zu können? Hatte er nur mir ein Schnippchen schlagen wollen? Oder hatte er wirklich nie vorgehabt, die Mannschaft auf die Erde mitzunehmen? Ich weiß es nicht. Es spielt auch keine Rolle mehr. Das Tor hat uns den ersehnten Dienst versagt, und wir werden uns weiter mit der Frage beschäftigen müssen, wie wir hier überleben sollen.
"Was ist mit dem Tor?", versuchte ich also, den Faden wieder aufzunehmen. "Funktioniert es?" Simmonds schüttelte andeutungsweise den Kopf.
"Wir können es nicht zusammenbauen. Ouma hat sämtliche Informationen entschlüsselt, die in dem Meta-Signal enthalten waren, aber wir haben keinerlei Angaben gefunden, wie man die Einzelteile zu einem Ganzen zusammenfügen kann." Ouma! Endlich ging mir ein Licht auf! Ben war im Krieg beim Nachrichtendienst gewesen, doch nicht als Spion sondern als Code-Knacker! Das ergab einen Sinn! Und offensichtlich hatte er seine Aufgaben so gut erledigt, dass ihn ExTER angeheuert hatte, ihnen bei der Entschlüsselung des außerirdischen Codes behilflich zu sein.
"Woraus bestehen die Teile, die da am Meeresgrund gefunden wurden?", erkundigte sich Victor. Er als einziger im Raum machte nicht den Eindruck, als wollte er Simmonds mit Haut und Haaren durch den Fleischwolf drehen. Seine Miene zeugte von Interesse, Spannung und einem unbändigen Rotieren der vielen Wissenschaftsrädchen in seinem Kopf.
"Ouma nannte sie 'nicht-orientierbare Flächen'", gab Simmonds mit indifferenter Miene Auskunft. Victors Augen begannen zu leuchten.
"Ah! Die Kleinsche Flasche!", rief er begeistert, während ich mich darüber nur wunderte.
"Was ist das für eine Flasche?", wollte Carter konsterniert wissen.
"Eine Flasche die nur eine Seite hat", sagte ich, "die Innenseite ist die Außenseite und umgekehrt. So ähnlich wie das Möbiusband, aber dreidimensional."
"Die Fundstücke bestehen nur aus solchen Strukturen, sie alle besitzen lediglich ein Innen oder Außen, wie man will, und irgendwie scheinen sie zusammenzupassen." Ich stutzte. Irgendwo hatte ich in letzter Zeit solche Figuren gesehen. Es wollte mir nicht einfallen.
"Blödsinn", sagte ich schließlich. "Wie sollte man Einheiten solcher Art zusammenstecken! Es ist unmöglich!"
"Ich weiß, dass es unmöglich ist!", herrschte Simmonds mich genervt an. "Glauben Sie vielleicht, dass Sie der Erste sind, der mir das sagt? Es haben sich zahllose ExTER-Kapazunder mit der Thematik beschäftigt, und trotzdem sage ich Ihnen, die Teilstücke machen nur Sinn, wenn man sie zu einem Ganzen zusammenbaut!"
"Sagt Simmonds, der Physiker?", erkundigte ich mich süffisant. Einen Moment sah es so aus, als wollte er mir an den Hals gehen. In letzter Sekunde jedoch besann er sich seines Status' und kniff die Lippen zusammen. Misstrauisch, feindselig, gefährlich. Innerlich nahm ich mich zusammen. Es war nicht gut, so sorglos mit dieser Gefahr zu spielen. Ich brauchte Antworten, keine eingeschlagenen Zähne.
"Es ist allein eine Frage der Unvermeidbarkeit", sagte er dann zwischen zusammengepressten Lippen. "Zwangsläufigkeit, Koenig, bestimmt das Schicksal dieses Puzzles!" Er wurde mir unheimlich. Ein dumpfes Funkeln fand den Weg aus seinen Augen, und es sagte mir, dass Simmonds längst kein normales Verhältnis mehr zu diesen Fundstücken unterhielt. Es war eine Obsession, etwas Besitzergreifendes, sich in die Persönlichkeit Verwebendes, etwas Vereinnahmendes. Es jagte mir einen Schrecken ein, und kurz musste ich mich von ihm abwenden. Ich blickte zu Dr. Russell und wusste, dass sie es auch gesehen hatte. Sie betrachtete mich mit erschrockenen Augen, den Mund leicht geöffnet, sprachlos, als wollte ihr die Stimme vor Befremden nicht über die Lippen kommen. Sie fasste sich jedoch schneller als ich, und ihre Lähmung wich einer besorgten, mitfühlenden Miene.
"Commissioner, was ist mit Ouma und Krane passiert?" Simmonds nahm sie in Augenschein, und es war offensichtlich, dass er drauf und dran war, sie schroff abzukanzeln, doch irgendetwas an ihr brachte ihn dazu, den Blick zu senken.
"Wir fanden heraus, dass die Objekte von einer durchsichtigen Schutzhülle umgeben sind", sagte er. "Das Material ist auf der Erde unbekannt, doch ist es wasser- und schmutzabweisend, unempfindlich gegenüber Erschütterung, Druck oder sonstige Gewalteinwirkung und Chemikalien. Wie aufgeblasene Plastikbeutel umgeben sie die Puzzleteile und ermöglichten es uns erst, sie am Meeresgrund vollständig zu finden und zu bergen. Die Teile wurden gleich auf den Mond gebracht, weil es hier einige ExTER-Spezialisten gab und außerdem auch Beta 1. Die Station ist besser ausgestattet, als Sie ahnen, Koenig, es ist eine vollständige Forschungseinheit mit einigen Geräten, die nicht einmal auf Alpha zu finden sind. Außerdem konnte unsere Entdeckung hier besser vor neugierigen Augen geschützt werden. Es gab Organisationen, die auf uns aufmerksam geworden waren und alles daran legten, uns unser Geheimnis abzujagen, um selbst Gewinn daraus schlagen zu können."
"..um selbst Gewinn daraus zu schlagen..." ExTER hatte auch nichts anderes vorgehabt. Es gab keine offiziellen Kriege mehr, das hieß aber nicht, dass sie nicht auf einer anderen Ebene fortgeführt wurden.
"Und Ouma und Krane?", erinnerte Helena Russell Simmonds mit sanftem Nachdruck an ihre Frage. Sie glaubte, den beiden Männern mit der Information, die sie von ihm bekam, irgendwie helfen zu können. Schon allein ihr zuliebe wünschte ich, dass dies zutreffend war.
"Ouma fand heraus, wie man die Schutzhülle von den Objekten entfernen konnte", antwortete er. "Er war unvorsichtig, ich weiß nicht, aus welchem Grund, aber er fasste das Teil mit bloßen Händen an. Ich sah aus ca. 5m Entfernung zu, wie ihn ein plötzlicher Blitz quer durch den ganzen Raum beförderte. Das Teil flog an die Decke und riss fast ein Leck, das uns ins Jenseits geschickt hätte, ehe es wieder zu Boden fiel." Er überlegte kurz. "Ouma stand auf, als sei nichts geschehen. Wir mussten die Arbeit aber abbrechen, weil Carter mit dem Adler andockte, um uns abzuholen. Ouma verpackte das Objekt wieder, ohne es direkt zu berühren, und wir verließen die Station. Als er am nächsten Morgen in der Chemieabteilung gefunden wurde, stellte ich zunächst keinen Zusammenhang zu den außerirdischen Fundstücken her. Ich glaubte tatsächlich, dass ihm dort etwas passiert war."
"Sie wollten es glauben!", mischte ich mich ärgerlich ein.
"Ich musste es glauben", entgegnete er pikiert, "weil ich nicht davon ausgehen konnte, dass uns die Schöpfer dieses Tors detailliert Anweisungen geschickt hatten, nur, um noch vor dem Zusammenbau die Leute, die daran arbeiteten, zu töten. Ich konnte keinen Sinn dahinter erkennen."
"Aber was geschah mit Krane?" Sandra Benes war wieder auf das Thema zurückgekommen.
"Krane konnte die Teile nicht mehr berühren", gab Simmonds zur Antwort. "Ich übrigens auch nicht, genauso wenig, wie die anderen Leute, die ich auf die Station mitbrachte. Es war, als hätten sie Antikörper gegen Menschen gebildet, nachdem sie in Kontakt mit Ouma gekommen waren. Solange sie in der Schutzhülle sind, kann man sie aufheben und herumtragen, aber außerhalb ist es, als hätten sie ein Eigenleben entwickelt. Sie weichen zurück, wenn man auch nur in ihre Nähe kommt! Krane hatte einige Objekte ausgepackt und bemerkt, dass sie aus seiner Nähe abhauten. So war er einen ganzen Nachmittag damit beschäftigt, sie wieder einzufangen."
"Er hat die Schutzhüllen zur Hilfe genommen", vermutete Victor interessiert, und Simmonds nickte.
"Irgendwie hatten die Puzzleteile trotzdem eine Auswirkung auf Krane. Jetzt liegen sie halb ausgepackt auf Beta 1, und wir können nichts damit anfangen. Wir haben versucht, computergenerierte Modelle davon zu erstellen, um zu sehen, wie man sie zusammenfügen kann, sind aber bisher auf keinen grünen Zweig gekommen. Sie passen nicht zusammen."
"Aber was veranlasst Sie zu glauben, dass es sich um ein Tor zur Erde handelt?" Er sah mich an.
"Es ist ein Tor mit jeglichem Ziel", sagte er. "Auch der Erde."
"Sie beantworten meine Frage nicht." Ein aus Stein gemeißelter Blick traf mich.
"Die Meta-Botschaft ließ daran keinen Zweifel."
"Aber vorher haben Sie gesagt, dass andere ExTER-Mitarbeiter Ihre Meinung nicht teilen", wies ihn Paul hellhörig auf Ungereimtheiten in seinen eigenen Worten hin. Er reagierte mit Zorn.
"Glauben Sie es mir einfach!", rief er. "Sie wissen nicht, wie lange ich mich schon mit dem Thema beschäftige. Ich weiß definitiv, dass es ein Portal ist!"
"Aber dann beweisen Sie es uns!", harkte nun auch Kano nach.
"Lasst gut sein", winkte ich ab, und die Männer gehorchten, wenn auch mit sichtlichem Widerwillen. Es wäre nicht gut gewesen, die Situation eskalieren zu lassen, denn ich war mir nicht sicher, wie stabil der Commissioner überhaupt noch war. Seine feste Überzeugung, es mit einem Tor zu tun zu haben, bekräftigte mich in meiner Vermutung, in ihm einen Besessenen sehen zu müssen. Vielleicht hatten auch die Schöpfer der außerirdischen Fragmente ihn auf irgendeine Weise beeinflusst. Die Luft in meinem Büro war zum Zerreißen gespannt, und ich überlegte, wie ich die beißende Elektrizität auslöschen konnte, ohne dass der ganze Raum explodierte.
"Warum sehen wir es uns nicht an?", erkundigte sich Victor mitten in die unerträgliche Spannung hinein. Ich muss ihn einigermaßen verblüfft angesehen haben, denn er hob beide Hände und die Augenbrauen. "Naja, wir können die Teile ja nicht für alle Zeiten dort herumliegen lassen. Und wer weiß, vielleicht hat Simmonds ja auch Recht?" Diese Alternative hatte ich wirklich noch nicht in Betracht gezogen. Der Commissioner hatte mit seinem einnehmenden Wesen stets dafür gesorgt, dass ich nicht anders konnte, als das genaue Gegenteil davon zu wollen, wonach ihm der Sinn stand. Ich sah in die Runde.
"Nun gut", sagte ich, "Captain Carter, Dr. Russell, ich möchte Sie bitten mich zu begleiten. Victor, du auch. Simmonds, kommen Sie!" Er war der Erste, der sich erhob.
"Mit dem größten Vergnügen", sagte er.
+++++++++++++
Alan Carter ließ den Adler sacht auf die kleine Landeplattform von Beta 1 niedergehen. Die Maschinen erstarben, und von außen kündigte sich mit einem metallischen Rumpeln die per Fernsteuerung aktivierte Andockschleuse an. Zischend fand der Druckausgleich statt, und die Schleusentür glitt zur Seite, um den Durchgang zur Station freizugeben. Es war kühl, und fröstelnd bedauerte ich, dass ich meine Jacke nicht mitgenommen hatte. Neben mir zog Dr. Russell ihre Schultern hoch, die Arme kreuzförmig vor die Brust gehoben, um sich mit beiden Händen die Oberarme zu reiben, und schenkte mir ein entschuldigendes Lächeln. Ich erwiderte es. Alan betrachtete versonnen das Nebelwölkchen, das beim Atmen vor seinem Mund entstand.
"Ja, also, Hitzeferien stehen uns heute wohl nicht zu",
teilte er uns scharfsinnig mit, und ich seufzte. Simmonds und Victor dagegen
schienen die Kälte nicht zu bemerken. Sie starrten beide auf die zweite
Schleusentür und warteten augenscheinlich darauf, dass sie sich endlich
öffnete.
Ich kann nicht sagen, was ich wirklich erwartete. Im Nachhinein
wundert es mich, dass ich niemanden vom Sicherheitsdienst mitgenommen habe.
Immerhin ging es um außerirdische Artefakte, deren Auswirkungen auf uns
ich bis heute nicht einschätzen kann. Ich war, vielleicht auch wie alle
anderen, bereits in ihren Bann geschlagen, und was wir für unseren freien
Willen hielten, war aus der Macht der Fundstücke heraus geschehen, die
uns dazu brachten, unsere Rolle in ihrem Stück zu spielen. Ich weiß
es nicht. Vielleicht ging aber auch alles mit rechten Dingen zu und ich allein
hatte meine Verantwortung vergessen, hatte nicht daran gedacht, dass ich für
die Sicherheit der Leute zuständig war.
Die Innenschleuse öffnete sich endlich, und der Raum
dahinter, zunächst noch in matten gelblichen Schatten gehüllt,
flackerte plötzlich in der Deckenbeleuchtung, die automatisch ansprang.
Weißes Neonlicht durchdrang alle Ritzen, und wir traten in den Vorraum.
Beta
1 besteht aus mehreren kleinen Laboratorien, winzigen Unterkünften für
die Mannschaft, einem Sozialraum, und verfügt weiters über sanitäre
Anlagen und ein eigenes Wasser-Recycling-System sowie eine große Lounge,
die für verschiedene Zwecke ge- oder missbraucht wurde, je nachdem. Der
Vorraum führt ins Zentrum des oktagonal angelegten Komplexes und war, als
wir ankamen, ein
trostloser, vollgestopfter beiger Bereich, in dem alles abgestellt worden war,
wofür es sonst keinen Platz gab. Immerhin existierten freie Schneisen, mit deren
Hilfe man manche der rundherum angelagerten Räumlichkeiten erreichen konnte.
Als ich einen umgestürzten Computer sah, auf dem quer ein Plotter lag,
wurde mir jäh klar, dass das Durcheinander noch von den Explosionen stammte
und von Simmonds und seinen Leuten offensichtlich nur notdürftig bereinigt
worden war. Wir folgten dem breitesten Weg, der uns in die Lounge führte,
ein ca. 40 Quadratmeter großer bogenförmiger Raum mit Panoramafenstern,
die nun blind in die Schwärze der lichtlosen Mondlandschaft blickten,
statt den Weg der prachtvollen Erde auf ihrer Himmelsbahn zu verfolgen. Wie
Dolchstiche spürte ich den Schmerz in meiner Brust, wenn ich an unsere
verlorene Welt dachte. Schnell wandte ich mich ab und ließ mich von der
Kälte durchschütteln, während die anderen sich hinter Simmonds
in die Richtung einer Regalwand drängten, von deren Ablagen ein elfenbeinerner
Schimmer ausging. Bewundernd blieben wir stehen, während Simmonds uns musterte,
stolz,
als zeigte er uns seine kostbare Gemäldesammlung Alter Meister. Die Fundstücke waren unförmig unter ihrer Schutzhülle, die sie wie geschmolzenes
Plastik umgab, fast handlich, ein weißlich-chamois schimmerndes Oszillieren
ging von ihnen aus, wie seltsame, glimmende Ballone,
die vergessen hatten, dass sie eigentlich eine kugelige Form hatten. Wir traten neugierig näher
heran, und die ganze Zeit wartete ich darauf, etwas zu spüren von dem Geist
derjenigen, die diese Teile erschaffen hatten, doch der Zauber ging allein aus
vom Inhalt des Regals. Ich merkte, wie ich hingezogen wurde von den Objekten,
als riefen sie meinen Namen, verlangten nach mir. Mir brach der Schweiß
aus und ich war verwirrt.
"Fühlt ihr das auch?", wollte ich unruhig von der Runde wissen. Gesichter, mit einem Male so fremd, als gehörten sie in eine andere, völlig exotische Wirklichkeit, wandten sich mir verständnislos zu.
"Was meinst du?" Mit Mühe konnte ich die Stimme Victor zuordnen. Victor...
"Diese.. Hitze.. Verlangen... sie rufen mich..." Ich war wie im Rausch, mein Streben, meine Wünsche, zogen mich zu den Artefakten, ich sah nur noch sie, wie sie zu zittern und zu beben begannen. Zu leben!
"Commander, nicht!" Wie ein Ertrinkender starrte ich sie an, als sie mir ihre Hand auf den Arm legte. Sie brannte wie Feuer, wie ein elektrischer Schlag, und ich schleuderte sie von mir.
"Schafft ihn hier raus!", hörte ich eine scharfe Stimme, die dennoch wie aus Watte sprach, "Schnell!" Doch es war zu spät. Im selben Moment stürzten die flimmernden Objekte von ihrer Ablage auf mich zu, Hunderte, die mich unter sich begruben. Die lauten, aufgeregten Stimmen meines Teams konnte ich nicht mehr zuordnen, weder wem sie gehörten, noch was sie sagten. Ich verstand diese Sprache nicht mehr. Ich lag unter den Teilen, atemlos, fasziniert und so aufgeregt, dass ich keinen klaren Gedanken fassen konnte. Sie umschmeichelten mich, drängten sich an mich und sprachen mit mir. Ich hatte keine Angst vor ihnen, im Gegenteil, das Gefühl, das sie in mir weckten, lässt sich nur sehr unzulänglich mit dem Wissen, der wahren Überzeugung, umschreiben, nun am einzig richtigen Ort im ganzen Universum zu sein. Als hätte das Schicksal, mein persönliches Schicksal, Äonen darauf hingearbeitet, mich genau zu dieser Stunde, an dieser Stelle mit den Erzeugnissen aus außerirdischer Hand zusammenzubringen. Mein Erleben schloss meine mir angestammte Welt aus, ich vergaß die Situation, die wir am Mond durchlebten, Simmonds, der mich zur Weißglut treiben konnte, ich vergaß meinen Freund Victor.. selbst Helena Russell entschwand aus meinen Sinnen und aus meinem Herzen. Ich lag regungslos unter den schillernden Teilen, ohne ihr Gewicht zu spüren. Sie hatten vielleicht keines, denn mir schien, als wogten sie zwischen den Realitäten, zwischen Sein und Schein, und konnten sich nicht entscheiden, in welche Welt, an welchen Ort sie wirklich gehörten. Ich beobachtete sie und sah, dass sie über mir schwebten, sich wandelnd und windend, kreiselnd und leise taumelnd in der still stehenden Welt. Ein Aufleuchten eines einzelnen Teils fesselte meine Aufmerksamkeit. Ich sah ihm zu, wie es in milchigem Gelb-Ocker sanft pulsierte, und entdeckte ein weiteres Objekt, das in ähnlicher Weise meine Blicke auf sich zog.
Da wusste ich, was sie von mir wollten. Ich griff nach dem ersten Teil, und während ich es zu mir zog, fiel fast von allein die Schutzhülle herab. Es lag kühl in meiner Hand, belebend in seinem leichten Vibrieren, das mir in die Finger stieg, in meinen Arm und von dort meinen ganzen Körper in einer Woge aus durchdringender Zufriedenheit überschüttete. Das zweite, pulsierende Objekt sprang mir förmlich in die freie Hand, und verschmolz, von seiner Hülle befreit, mit dem ersten Teil zu einer neuen Einheit zusammen. Kein Innen, kein Außen, oder nur Innen, nur Außen war es, das ich in der Hand hielt, ein skurriles, sich an mich schmiegendes, fast formloses Gebilde, das dennoch Form war, eine Gestalt hatte, aber nicht wirklich fassbar, fokussierbar. Eine Welt in der Welt. Ein weiteres der Objekte fiel mir in die Hand, und von da ging es in rasender Geschwindigkeit, da die Objekte wie lebende Wesen zu mir flogen, als fieberten sie ihrer Bestimmung entgegen, auf die sie seit Jahrhunderten, vielleicht auch Jahrtausenden, gewartet hatten.
Jetzt entsetzt es mich, wie manipulierbar ich bin, wie gefügig ich mich zum Werkzeug eines anderen Willens machen lasse, ohne auch nur im geringsten an meine Pflichten zu denken, an Gefahren nicht nur für mein Leben sondern auch für meine Mannschaft. Sie gibt mir zu denken, diese Kostprobe, die das kosmische Füllhorn über uns ausgeschüttet hat, und mir ist durchaus bewusst, dass Erfahrungen solcher Art nicht zwangsläufig so glimpflich ausgehen müssen wie in diesem Fall. Ich versuche, daraus zu lernen, ohne je die Garantie zu haben, dass ich in Zukunft auch immer die Gelegenheit dazu haben werde, richtig zu handeln. Ich habe verstanden, dass ich auf meine Intuition hören muss, aber diesmal hätte sie mir nicht helfen können. Es war ein abgekartetes Spiel. Von einer Macht inszeniert, die jenseits meines Begreifens liegt.
Es war wie der Flug eines Augenblickes, der mich durch das
Ereignis trug, durch die Magie, die die Fremdbestimmung aller Logik zuwider
auf mich ausübte, und mehr als einen Augenblick schien es mir auch nicht
zu dauern, bis ich alle fremden Objekte an ihren bestimmten Ort gesetzt hatte,
bis alle zu einem vollständigen Ganzen verschmolzen waren. Das letzte Artefakt
glitt an seinen Platz, und durch das gesamte, so entstandene, krause Gebilde
aus opalisierendem Elfenbein ging ein Klopfen und Pulsieren, gab den Takt einer
unhörbaren Melodie vor und begann, sich zu entknittern und entfalten, bis
es sich hoch über meinen Kopf erhoben hatte, ein gewobenes Gespinst wie
ein Baldachin aus Hoffnung und Sehnsucht. Das war es, was ich fühlte, ein
Zerren und Ziehen, ein Wunsch nach Hingabe und Erfüllung. Endlich
glitt ich wieder in die Realität und sah mein Team fassungslos am
Eingang zur Lounge stehen, selbst Hoffen und Verlangen in den Augen, Verheißung
und Glück. Als ein leises Sirren ertönte, trat ich zu ihnen, nicht
eine Sekunde lang an Flucht denkend, sondern das Wunder betrachtend, absorbiert
in der Einzigartigkeit dieses unbegreiflichen Schauspiels.
Ein lauter Knall
folgte, der uns unvorbereitet traf. Ich fühlte mich am Arm gepackt, und
gleichzeitig entlud sich vor uns eine Eruption aus gleißendem Licht, so
hell, dass ich die Augen davor verschließen musste, und dabei dennoch
die Helligkeit in brennendem Rosa durch meine geschlossenen Lider wahrnehmen
konnte. Das Licht ebbte ab, und ich hörte, wie der Schall verschwand,
fühlte reflexionslose Leere um mich. Nach einer Weile öffnete ich
die Augen, noch geblendet vermeinte ich, mich in zwielichtigem Halbdunkel aufzuhalten.
Ich hielt es für einen Stromausfall. Meine Augen erholten sich
langsam, meine Empfindungen pendelten sich auf ihr gewohntes Normalmaß
ein, und ich merkte, dass sich Dr. Russell an meinen rechten Arm klammerte.
Sie schien sich ebenfalls wieder zu fassen, ihr Blick, der mich traf, war jedoch
voller Furcht. Sie ließ mich dennoch los.
"Es tut mir leid", sagte sie in einer fremden Stimme, über die sie selbst erschrak. "Ich hatte mich nicht ganz im Griff." Peinigende Stiche durchfuhren mich bei ihren Worten. Ich wollte nicht, dass sie sich bei mir entschuldigen musste, wenn sie mir nahe kam. Ich wollte sie nahe bei mir haben. So nah, wie es nur irgend ging. Sie war mit unsicherer Miene von mir abgerückt, doch ich trat wieder zu ihr und nahm wortlos ihre Hand. Ein aufatmendes Lächeln war ihr Dank.
Ehe ich mir weitere Gedanken um sie oder die Männer machen konnte, war es, als zöge uns jemand den Boden unter den Füßen weg. Die Dunkelheit wurde von einem grellbunten Durcheinander aus spiralenförmigen Farbmustern abgelöst, die sich um uns zu drehen begannen, und uns wie in einem Strudel nach unten zogen. Mir wurde schwindlig, als ich merkte, dass ich im Nichts hing, und wie aus einem Reflex heraus zog ich Helena an mich und hielt sie fest. In einem achterbahnartigen Tollhaus, einer wahnwitzigen tour de force, in einem unerträglichen Drunter und Drüber, rasten wir durch kreischenden Nichtraum, surrten durch entitätsloses, schreiendes, farbgewaltiges Toben einem Irgendwo entgegen, das ich mir nicht ausmalen konnte. Es war kein Gedanke darüber in mir, nicht die Frage, ob wir die Erde wiedersehen würden oder ein anderes Ziel in diesem Universum, ich war nur da, sah, empfand klopfenden Herzens, fühlte Helena in meinen Armen und gleichzeitig die Allmacht, das Unbegreifliche. Ich war zerrissen, zerwühlt, verwirrt und glücklich.
Die rasende Geschwindigkeit nahm zu, doch statt sich in flitzenden Linien aufzulösen, kam Struktur in die bunte Farbenwelt um uns. In den wahllosen Farbklecksen konnte ich auf einmal Gegenständliches entdecken, es schälten sich erkennbare Formen heraus, und wir schwebten plötzlich über Mondbasis Alpha. Helena löste sich aus meinem schraubzwingenartigen Griff, fuhr jedoch fort, sich an mir festzuhalten, und musterte, atemlos wie ich, die Welt unter uns. Wir sanken durch die Gemäuer und erblickten lebhafte Szenen mit Menschen darin. Die Basis sah verändert aus, wohnlicher, und das konnte nicht nur an der veränderten Kleidung liegen, die man trug. Dann sah ich, woran es lag. Es gab auch kleine Menschen auf Alpha, Kinder. Ich schüttelte den Kopf. Es war abwegig, Kindern eine solche Umgebung zuzumuten. Doch sie wirkten glücklich, für sie schien es Normalität zu sein. Helena Russell blickte fasziniert auf die Szene herab.
"Glauben Sie, dass das Wirklichkeit wird?", wollte sie wissen. "Glauben Sie, dass wir überleben werden?"
"Ja", sagte ich, nur aus dem Grund, weil sie es hören wollte. "Das glaube ich." Wir wurden weggesaugt, wie in einem gigantischen Wirbel zog es uns in einen kosmischen Zyklon, und da wurde mir Helena aus den Händen gerissen. Ich sehe sie noch, als sie von mir fortgetragen wurde, wie im lautlosen Gestöber ihr Haar in alle Richtungen flog, und sie beide Arme nach mir ausstreckte.
"John!" Ihr Rufen verklang, wurde verschluckt von der tobenden Stille, und mir war, als hätte man mir ein Loch in die Brust gerissen.
Ich streifte schwermütig durch eine Stadt aus hohen verstrebten Gebäuden, die bis in den Himmel reichten, voller Menschen, die eilig ihrer Tätigkeit nachgingen und mich nicht sahen, landete in einem sumpfig-morastigen Gelände, das von flimmernden Bahnen überzogen war und zu kuppelartigen Häusern führte, die in der Luft zu schweben schienen. Es ging turbulent zu, bunte Fahnen und Banner flogen über den Köpfen von feiernden Leuten, die grellbunte Kleidung trugen und offensichtlich Spaß an ihrem Dasein hatten. Eine andere Zivilisation hing in den Bäumen ihrer Welt, wieder eine lebte in und auf den Meeren ihres Planeten, eine weitere kämpfte gegen die Unwegsamkeit und Härte ihrer gebirgigen Heimatwelt, und überall, überall, gab es Menschen, wie wir es waren. Kleine und große, hellhäutige und eher dunkle, mehr oder weniger an die Erfordernisse ihrer Umwelt angepasst, aber eindeutig menschlichen Ursprungs. War es die Zukunft, wie Helena vermutete?
Ich war überfordert von den vielen Eindrücken, die über mich gekommen waren, erschöpft von allen Ereignissen, die hinter mir lagen, und sank schließlich in eine Dunkelheit, die der entsprach, in der wir begonnen hatten. Unter mir fühlte ich festen Boden und hoffte, wenn schon nicht auf der Erde, so wenigstens dort zu sein, wo die Reise begonnen hatte. Es war finster um mich herum, und kein Ton war zu hören. Ich sah mich um in der Hoffnung, Helena und die anderen wiederzufinden, doch ich war allein. Vorsichtig tastete ich mich vorwärts und merkte, dass der Boden völlig eben war. Geräuschlos machte ich einige Schritte und entdeckte plötzlich in der Ferne ein Licht. Ich ging darauf zu, nur, um zu entdecken, dass im Kegel des Lichts ein alter Spiegel stand. Art déco aus Nussholz, ein Standspiegel, für den ich in einem anderen Leben jeden Preis bezahlt hätte. Er hatte Stilelemente aus eingelegten Messingbändern, fließendes Ornament, stilisiertes Blattwerk, nicht zu viel, nicht überladen. Ich trat ins Licht und blieb, mich wundernd, davor stehen. Der Spiegel zeigte mir eine ermattete, abgekämpfte, erschöpfte Ausgabe meiner Selbst, die mich verwirrt betrachtete und sich zu fragen schien, was ihr denn da vor die Augen geraten war. Es war ein exaktes Ich, denn so fühlte ich mich auch. Ich sah mich um, sonst gab es hier nichts, trat hinter den Spiegel. Nichts.
Wieder musterte ich mein Spiegelbild, und plötzlich
sah ich, dass es sich verändert hatte, eine andere Uniform trug, eine
dunkelblaue Jacke, das Haar etwas länger, für meinen Geschmack wenig
ansprechend. Ich legte den Kopf schief, der John im Spiegel folgte meinen Bewegungen,
und ich sah an mir herab. Ich selbst hatte nach wie vor keine Jacke an und trug
auch eine andere Uniform. Ein nächster Blick, ein neuer John. Er war älter,
das Haar silbern durchwirkt, die Uniform war nun schnittiger, aus gutem Material,
figurgefällig, auch wenn ich sagen muss, dass er sich gut gehalten hatte.
Sorgenfalten standen auf seiner Stirn. Ein Blitz durchfuhr mich. Ich sah einen
Ehering an der linken Hand.
Ich selbst war nach wie vor unverändert.
Er betrachtete mich interessiert. Ich brachte kein Wort heraus, denn es war
klar, dass es keine bloße Reflexion war, die ich hier sah, es war ein
Blick in meine Zukunft! Vor meinen Augen veränderte er sich, wurde noch
älter, dürrer, die Kleidung eine bläuliche Kombination aus Hose
und Jackett, die noch immer offiziell aussah. Das Haar war fast weiß, aber
die Augen blieben hell und wach. Ich dachte, dass er sein Haar und seine Augenbrauen
trimmen sollte und nahm mir vor, käme ich je in dieses Alter, an die Episode
heute zu denken. Statt einer Bändigung seines Haarwuchses aber erschien
der nächste John mit weißem Dreitagesbart, der zum Glück jedoch
gepflegt wirkte. Der Mann dahinter war alt, selbst für meine Begriffe,
fast verhutzelt, das Gesicht von vielen Fältchen durchzogen, die Haut gebräunt,
als lebte er den ganzen Tag in der freien Natur. Er trug braune Kleidung, praktisch,
mit vielen Taschen und einem dunklen Gürtel, an dem ein Gerät hing,
vielleicht das Nachfolgemodell eines Commlocks. Verstohlen schielte ich
nach seiner linken Hand. Der Ring war noch immer da. Mir klopfte das Herz bis
in den Hals hinauf. Er bemerkte meinen Blick und hob die Hand. Ich räusperte
mich.
"Ist sie es?", wollte ich wissen. Meine Stimme war vor Aufregung heiser, hörte sich an wie ein Reibeisen außer Dienst. Er lächelte nur. Er würde es mir nicht verraten.
"Was tue ich hier in dieser Vision über meine Zukunft? Was tust du hier?"
"Es ist dein Schicksal, das dich hierher geführt hat", erwiderte er gemütlich. "Du hast es gewählt." Ich sah ihn fragend an. "Es war euch vorherbestimmt, und ihr habt euch dazu entschieden, eurer Bestimmung zu folgen. Alles, was geschehen ist, und Vieles von dem, was noch geschehen wird, ist Teil eines großen Planes, der notwendigerweise erfüllt werden muss."
"Wer sagt das? Wer bestimmt das?"
"Andere", erwiderte er. "Moira."
"Moira?"
"Die Vorsehung. Fatum. Die Göttin des Schicksals. Namen für ein- und dasselbe. Es ist ein Wort für das Geschick, das du in der Hand hast. Das ihr alle in der Hand habt."
"Aber was sollen wir hier? Ist das kein Portal ins Universum?"
"Es ist ein Portal ins Universum. Das Universum umfasst alles, auch dich und dein Innerstes. Dein Sehnen und Streben. Nach innen geht der geheimnisvolle Weg. Aus dem Inneren kommt die Stärke, aus der Stärke erwächst die Kraft, Moira zu begegnen, die wahre Bestimmung auszuwählen, die Vorsehung zu erfüllen."
"Wie kann ich mir mein Schicksal auswählen, wenn es mir ohnedies vorbestimmt ist?"
"Es liegt in deiner Hand, ob sich das Schicksal erfüllt. Du hast die Wahl." Es war mir zu hoch, was der Alte da von sich gab, und ich begann, daran zu zweifeln, dass ich selbst das sein konnte, der da zu mir in Rätseln sprach.
"Ich glaube nicht, dass deine Worte Sinn machen", sagte ich deswegen.
"Das spielt keine Rolle", erwiderte er mit einem Grinsen. "Immerhin bist du hier. Das sagt mir, dass du bisher die richtigen Entscheidungen getroffen hast, diejenigen, die die Vorsehung für dich bestimmt hat." Ich hatte einen Knopf im Gehirn und war mir nicht sicher, was er mir mitteilen wollte, aber dann dachte ich daran, dass er der John aus meiner Zukunft war und dass er mir helfen konnte, indem er mich mit Informationen versah, was unsere Zukunft anging... aber andererseits, wenn er der John aus meiner Zukunft war, dann wusste er bereits, wie ich mich in allen Dingen entschieden hatte. Warum war es nötig, hier nun auf mich einzureden? Meine Verwirrung wurde größer statt geringer! Ich schmiss ihm diese Bedenken an den Kopf, und wieder grinste er. Wenn ich wirklich ein so fieses Grienen im Gesicht haben kann, weiß ich wirklich nicht, wieso mir nicht schon längst jemand deshalb die feixende Fresse poliert hat!
"Ich bin ein Bild, John Koenig! Siehst du nicht, dass du mit einem Spiegel sprichst? Ich bin ein Bild von dir, eine Projektion aus einer möglichen Zukunft, aus der, die wünschenswert ist, die festgelegt ist - wenn du, ihr alle, euch dementsprechend entscheidet!"
"Aber was soll ich tun, um die richtige Wahl zu treffen?"
"Deiner Intuition folgen", war die Antwort.
"Der Ring?", fragte ich kleinlaut.
"Auch der Ring gehört dazu", erwiderte er. Ich blinzelte und sah nur noch mich, so, wie ich jetzt war, verwirrter, verlorener denn je. Das Licht verlosch, und ich stand in der vollkommenen Finsternis. Ein furchtbarer Knall schleuderte mich zusammen mit einer Druckwelle weit weg nach hinten auf den Boden. Ich schien einen Moment lang in einem Niemandsland gelandet zu sein, einer Welt ohne Welt, im Nirgends. Dann war mir, als schaltete jemand an einem Drehknopf die Lautstärke ein, und leises Summen umgab mich. Ich öffnete die Augen und merkte, dass ich unter gleißendem Neonlicht in der Lounge von Beta 1 lag. Neben mir hockte Victor, der verblüfft die Umgebung musterte, ein Stückchen weiter lagen Alan Carter und Helena Russell, die sich beide nicht regten. Simmonds saß mit offenem Mund an der Wand neben der Tür angelehnt und starrte ins Nichts. Ich erhob mich schwerfällig mit knirschenden Gelenken und tausend eingerissenen Muskelfasern am Leib, um zu Helena zu eilen. Sie kam zu sich, als ich sie erreichte, und schlug die Augen auf.
"John!" Ich half ihr auf.
"Alles in Ordnung?" Sie lächelte.
"Ja, danke." Ich fragte mich, ob sie auch einen Ring gesehen hatte. Alan kam von allein auf.
"Ho ho! Was für ein verflixt toller Teufelsritt!", rief er vergnügt. Dann blickte er sich um. "Wo ist das Tor?" Er hatte Recht. Es war verschwunden.
"Victor?"
"Ich habe Welten gesehen", erwiderte mein Freund versonnen, "aber nicht, wohin das Tor verschwunden ist."
"Es hat sich mit einem Knall in einen Regenbogen aus Konfetti aufgelöst", kam eine brüchige, leere Stimme aus dem Abseits. "Das Tor hat alle verschluckt, minutenlang, ehe es Sie wieder freigab. Dann verpuffte es."
"Haben Sie die Zukunft gesehen, Commissioner?", rief Alan aufgeregt, "Haben Sie gesehen, dass wir hier weiterleben können, wenn wir es nur wollen?" Simmonds' kaltes Gesicht wandte sich dem aufgekratzten Piloten zu.
"Ich habe nichts gesehen", sagte er. "Gar nichts." Einen Moment lang glaubte ich, dass er es nur nicht zugeben wollte, doch sein Gesicht wirkte fahl und verloren. Er hatte nichts gesehen.
+++++++++++++
Ich kann es immer noch nicht glauben, dass dieses Portal Jahrhunderte lang darauf gewartet haben soll, von mir zusammengebaut zu werden. Warum von mir? Warum nicht von Victor oder Alan - oder Helena? Warum nicht von Simmonds? Was, wenn ich damals in Manarola den Anruf nicht entgegen genommen hätte? Was wäre dann geschehen?
"Hast du aber", meinte Victor dazu pragmatisch, und damit war für ihn die Diskussion beendet. Für mich aber nicht, denn nach wie vor stellt sich die Frage, welche Bedeutung wirklich hinter den Geschehnissen steckt. Wollte uns da nur jemand Mut machen? Wozu? Damit wir die richtigen Entscheidungen treffen? Aber welche sind die richtigen Entscheidungen? Die, die meiner Intuition folgen. Heißt das, ich darf nicht mehr nachdenken und muss alles aus dem Bauch heraus entscheiden? Oder sollte es nur ein kleiner Anstoß sein, eine kosmische Hilfe, die uns vor dem Verzweifeln bewahrt? Ist das logisch? Einleuchtend?
War es die Wahrheit, die ich anlässlich der Verabschiedung unserer Toten gesagt habe, dass es trotz allem eine Zukunft gibt? War es nur irgendeine Wahrheit oder jene, die eintreffen wird?
Warum ist mit dem Verschwinden des Tores gleichzeitig auch das Meta-Signal verstummt? Gibt es kein Meta mehr? Hat es je existiert?
Was war mit Gorski? Dass er ein ExTER-Mitglied war, habe ich an den Skizzen auf dem Block in seiner Tasche erkannt. Über Seiten und Seiten hatte er mit hilflosen Strichzeichnungen, die von wenig Talent zeugten, versucht, die Objekte aneinander anzupassen. Wieso hatte er den Mond verlassen, wenn die wichtige Aufgabe, die Artefakte zusammenzubauen, noch nicht erledigt war? War ihm nichts anderes übrig geblieben? Hatte jemand das doppelgleisige Spiel entdeckt, das auf Alpha von so manchen betrieben worden war?
Welche Rolle war Simmonds in diesem seltsamen Spiel bestimmt? War er fremdbestimmt, so fremdbestimmt wie ich es war, als ich in die Nähe der gelben Objekte kam? Jetzt ist er zurückhaltend, ohne ein Zeichen der Reue, ein noch kälterer, noch einsamerer Mensch als zu seinen Zeiten als einflussreicher Politiker, der sich frostig in sein nun scheinbar unabwendbares Los fügt, der das Leben hier verweigert, und dem ich schlussendlich nichts nachweisen kann. Aber es fällt mir schwer zu akzeptieren, dass ich nicht sehen kann, wer dieser Mensch wirklich ist. Und ich weiß nicht, ob ihn die Artefakte zu dem gemacht haben, was er nun ist.
Meine Fragen werden nicht weniger, je mehr ich darüber nachdenke. Ich merke aber, dass es in mir wirklich einen kleinen Hoffnungsfunken gibt, kein Wissen über eine sichere Zukunft, aber den Hauch einer Zuversicht.
Victor scheint ohnehin nie daran gezweifelt zu haben, Alan
nimmt das Leben, wie es kommt, und Helena... Helena..
Ich habe lange gezögert,
ihr gegenüber unsere Erlebnisse anzusprechen. Ich fürchtete mich davor,
dass sie in eine Zukunft gesehen hat, die ohne mich stattfindet, ohne mich
an ihrer Seite. Als ich mit ihr sprach, hatte uns der Zufall, wenn man davon überhaupt sprechen kann,
zusammengeführt. Sie trat, das feuchte Haar
unter einem kecken, bunten Handtuchturban verborgen, aus dem kleinen Swimming-Pool-Areal
des Erholungszentrums, während ich, meine Ausrüstung unterm Arm, von
einer Kendo-Übungsstunde kam. Wir stießen im Gemeinschaftsraum beinahe
zusammen, und um ein Haar brachte ich sie mit meinem Shinai zu Fall.
"Dr. Russell!" Sie wich mir aus, und ihre Tasche mit den Schwimmsachen fiel ihr aus der Hand. Wir beugten uns gleichzeitig nach unten, mit dem Erfolg, dass mein Men, der Kopfschutz, ebenfalls zu Boden polterte. Aus vorgebeugter Position wandte sie mir den Kopf zu.
"Helena!", korrigierte sie mich lächelnd und griff nach ihrer Tasche, während ich mit meinen restlichen Utensilien zu kämpfen hatte, die nun auch drohten, sich selbständig zu machen.
"Haben Sie es schon eilig?", fragte ich sie. Sie schüttelte den Kopf.
"Keine neuen Notfälle auf der Station, keine Verletzungen, alles im Griff!" Es stimmte. Es war dies der erste Tag, seit ich wieder auf dem Mond war, da noch nichts Außergewöhnliches, Besorgniserregendes oder nur zu Beobachtendes passiert war. Mehr als eine Woche war vergangen nach dem Ereignis auf Beta 1, und ich hatte Helena seitdem nie ohne Gesellschaft gesehen. Auch hier waren wir nicht ganz allein, aber das war mir genaugenommen sogar recht.
"Haben Sie Lust, sich zu setzen?", fragte ich sie und deutete auf eine der freien Sitzgruppen. Sie nickte und nahm in der nächsten Ecke an einem der cremefarbenen Tische Platz.
"Es geht bergauf!", sagte sie zur Einleitung, wohl in der irrigen Meinung, dass ich über Allgemeines mit ihr sprechen wollte.
"Ja", erwiderte ich, "langsam, aber merklich. Heute am Vormittag konnte der letzte der defekten Generatoren wieder in Betrieb genommen werden!"
"Wunderbar!", freute sie sich. "Und ich habe gehört, dass alle Rampenschlitten funktionieren und auch die Hebebühnen für die Adler!"
"Es war ein langer Weg." Ihr Lächeln wurde wehmütig.
"Und dabei hat er gerade erst angefangen."
"Wie geht es Ouma?"
"Unverändert", sagte sie. "Wir geben aber nicht auf. Wir haben das Verfahren zur Reaktivierung seines Verstandes modifiziert und stützen uns jetzt auch auf die Funktion von RNA-Molekülen und die dendritische Proteinsynthese. Leider wissen wir immer noch so wenig über das Gehirn, über seine Funktionsweise, dass wir Vieles nur ausprobieren können. Aber Joshua Krane geht es mittlerweile wieder besser. Seine Erinnerung kommt stückweise zurück, man kann dabei zusehen, wie er sich erholt. Ich glaube nicht, dass er später Probleme haben wird."
"Das ist gut, sehr gut sogar. Aber finden Sie es nicht seltsam, dass ich überhaupt keinerlei Störungen hatte, obwohl ich jedes einzelne der Artefakte mit bloßer Hand angefasst habe." Sie neigte sich mir zu, als wollte sie mir ein Geheimnis verraten. Sie roch nach Orangenöl und einem Hauch Lotos und entführte meine Gefühle sofort in eine exotische Welt, in der es nichts als Schönheit gab.
"Commander, die Teile trugen Ihren Namen", sagte sie. Melodiös, eindringlich, wie aus einem wilden, blühenden mediterranen Hain sprechend, der nicht aus dieser Welt war. Ich verlor mich und blinzelte angestrengt, um wieder im Hier und Jetzt zu sein. "Sie waren für Sie bestimmt, John, und für sonst niemanden. Wie auch immer das geschehen sein mag, ich kann es nicht nachvollziehen, weil mein Verständnis von der Welt offensichtlich nicht ganz ausreicht für die Erfahrungen, die ich hier gemacht habe. Ich bin aber der festen Überzeugung, dass ein tieferer Sinn dahintersteckt. Wir werden ihn vielleicht nie erfahren, aber das heißt nicht, dass es ihn nicht gibt." Die Intimität zwischen uns bildete ich mir dagegen nicht ein, der Hauch von Magie, der zwischen uns schwebte, war real. Ich wollte mehr.
"Darf ich Sie etwas fragen?" Sie nickte, neugierig, aufmerksam, und es war ihr anzusehen, dass sie keine Ahnung hatte, was ich von ihr wissen wollte.
"Unser Erlebnis in dem Portal.." Der Mut verließ mich, weil ich nicht wusste, wie ich es anstellen sollte, sie zu fragen, ob ich je eine Chance bei ihr haben würde. Es war zu früh, sie brauchte Zeit. Ich durfte nicht alles zerstören.
"Commander, es tut mir leid, dass ich so..." Sie suchte nach dem richtigen Wort. "..so hasenfüßig war dort drinnen. Ich fürchte, ich bin Ihnen zu nahe getreten." Sie dachte, ich bedauerte es, ihr beigestanden zu sein!
"Nein!", sagte ich lauter als beabsichtigt. "Nein! Sie sind mir nicht zu nahe getreten! Im Gegenteil: Ich fürchte, ich bin Ihnen.."
"Nein", unterbrach sie mich, "Sie waren für mich da, als ich jemanden brauchte." Sie kramte umständlich in ihrer Tasche herum, fand nicht, was sie suchte, und blickte mich dann wieder an. Etwas an ihr hatte sich verändert. Sie wirkte angreifbar und verletzlich, wehrlos. "Ich kann Ihnen nicht sagen, wie lange es her ist, dass ich...." Sie blickte auf den Tisch, zögerte, "..dass ich Geborgenheit gespürt habe. Ich wusste nicht mehr, was das für ein Gefühl ist und wie... notwendig der Mensch es zum Leben braucht." Ich konnte nichts sagen, denn ich sah ihre Einsamkeit, die Verlorenheit und ihre Traurigkeit. Ein mattes Lächeln kam in ihr Gesicht. "Jetzt möchte zur Abwechslung ich Ihnen danken!" Mir war nicht zum Lachen zumute, aber sie schien die Ernsthaftigkeit des Augenblicks, die offensichtlich für sie überraschende Tatsache, dass sie mich teilhaben ließ an ihrem Innenleben, nicht ohne Weiteres aushalten zu können.
"Sie haben noch mehr bei mir gut!", erwiderte ich deswegen lockerer, als mir zumute war, doch ich fühlte, dass ich auf ihre Worte Bezug nehmen musste. "Dr. Russell, in der Kantine haben Sie mir Aufrichtigkeit versprochen und dass Sie mir bei den schweren Aufgaben, die mich hier als Commander erwarten, helfen werden. So etwas kann nicht nur auf Einseitigkeit beruhen. Vertrauen und Respekt erwachsen aus einem Miteinander, der gegenseitigen Sorge und einem Einfühlungsvermögen dem anderen gegenüber. Für mich ist Ihr Wohl als Mensch, Ihr individuelles Wohlergehen, mindestens so wichtig wie das Gemeinwohl." Im Geist übersetzte sie den holprigen Text.
"Sie bieten mir Ihre Freundschaft an?"
"Ja," erwiderte ich, "das tue ich." Es gab für mich nicht mehr zu sagen, auch wenn mir noch tausende Dinge schwer auf der Seele lagen. Sie lächelte, schirmte dann kurz ihre Augen mit der linken Hand ab. Ich fühlte ihre Bewegung, ihre Freude, und dass meine Worte für sie unerwartet waren.
"Es gibt nichts, das mir mehr bedeutet", sagte
sie schließlich leise und umfasste meine beiden Hände, die vor
mir auf dem Tisch lagen. Sie fühlte sich warm und sanft an. Ich fasste nach ihren Händen
und
hielt sie einen zeitlosen Moment lang fest. Zaudernd, langsam, entzog sie sie
mir und erhob sich, um ihre Sachen zu nehmen. Ich stand ebenfalls auf. Mein
Men fiel mir dabei wieder mit einem Knall auf den Boden. Ihr Lächeln
war liebevoll und mild, und ein inneres Strahlen blinzelte ihr aus den
Augen. Ich hatte sie nie zuvor glücklich gesehen.
Ich taumelte wie verloren hinter ihr aus
dem Erholungszentrum.
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Diese Geschichte habe ich nun erzählt, so weit ich sie erzählen kann. Weder glaube ich, dass sie zu Ende ist, noch, dass ich es je erfahren werde, wie sie ausgehen wird. Ich bin reicher daraus hervorgegangen, an Erfahrung, an Wissen, an Emotionen. Für mich habe ich Vielerlei gelernt, nicht nur, was die Unbegreiflichkeit des Geschehens im großen, uns umgebenden Universum angeht, auch, was die Unbegreiflichkeit des Geschehens im kleinen, inneren Universum betrifft. Für alles gilt eine Regel: den Mut zu behalten und die Hoffnung nicht aufzugeben. Ich werde sie nicht aufgeben, in keinem der Dinge, die mir am Herzen liegen.
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Sie stand in voller Montur, gepanzert und mit traditionellem Harnisch und Brustschild bekleidet, mitten im tobenden Wind und ließ ihre Peitsche in der Luft knallen. Ihr langes dunkles Haar wurde durch die Luft geschleudert, doch sie merkte es nicht. Vor ihr bäumte sich ein Sin-hak auf, ein gewaltiges Exemplar, mehrere Mann hoch, echsenartig und gefährlich in seiner Wildheit und Unberechenbarkeit. Bedrohlich mit seinen Klauen und messerscharfen Reißzähnen. Sie war dabei, es zu zähmen, denn Sin-haks waren groß und gefährlich, aber auch schnell und zutraulich, wenn sie einmal verstanden hatten, dass sie einen Meister hatten. Ideale Reittiere. Sie hatten nur wenig Verstand, darum waren sie auch schwer zu bändigen, denn wo nicht viel ist, kann auch nicht viel gefügig gemacht werden. Die wenigen Gedanken der Tiere zu erfassen, war mitunter schwierig, besonders, wenn sie noch wild und ungestüm waren, nicht gewohnt, einen anderen Willen als den eigenen zuzulassen.
Sie hatte den Sin-hak bereits an der Angel, aus grünen Monsteraugen fixierte er sie, und es dämmerte ihm langsam, dass da etwas anderes als seine eigenen einfachen Gedanken in seinem Kopf waren. Sie musste sich anstrengen, sich maximal auf ihn konzentrieren, denn sonst war die ganze Arbeit, der gesamte Vormittag, umsonst gewesen und sie konnte wieder von vorne anfangen. Der Sin-hak neigte den Kopf, musterte sie, erfasste, dass die kleine Gestalt vor ihr es war, die in seinen Verstand vorgedrungen war, und schnaubte verwundert. Sie ließ die Peitsche leicht schwingen.
Da hörte sie, wie jemand nach ihr rief, und verärgert versuchte sie, sich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen. Nur noch kurze Zeit, und der Sin-hak würde sie als Anführer akzeptiert haben!
"MyLady!", erscholl der atemlose Ruf vom Wald her, kam immer näher, hinüber zur eingezäunten Koppel, "MyLady!" Es war Bera, ihr alter Lehrer, der keuchend heranstolperte, das weiße Haar wogte ihm wie eine Federboa um den Kopf, der grün-braune Mantel flatterte enerviert im Wind. "Arra!"
"Was ist?", schrie sie wütend zurück, und in dem Moment hatte sie den Sin-hak verloren. Er schüttelte verdattert das vierkantige Haupt, ließ sich auf die beiden Vorderfüße fallen und grollte mit seinem heiseren Röhren gegen den pfeifenden Wind an. Dann drehte er sich jäh um und wischte Arra fast mit dem schuppigen Schwanz vom Erdboden, ehe er davongaloppierte. Sie schmiss ärgerlich die Peitsche zu Boden und hieb die linke Faust in die rechte Handfläche. Dann rannte sie zum Gatter und trat eben aus dem Gehege, als Bera schwitzend, nach Luft schnappend und prustend bei ihr ankam.
"Die Pforte wurde geöffnet!", keuchte er, "Die Pforte!" Von einem Augenblick auf den anderen verpuffte ihr Zorn.
"Die Pforte!", wiederholte sie aufgeregt. Sie rannte davon, ohne Weiteres zu erfragen, sprang über den Acker und den Bach, eilte durch den großen Obstgarten und stürzte, nachdem sie durch die Halle gepoltert war, atemlos und ohne weitere Ankündigung ins Arbeitszimmer ihres Vaters.
"Vater, Vater, habt Ihr gehört, dass die Pforte geöffnet wurde?" There, der König von Astheria, stand mit nachdenklichem Blick am Fenster und fuhr fort hinauszublicken, als gäbe es draußen im Hof irgendetwas Interessantes zu beobachten. Er war in Gedanken versunken.
"Ja", sagte er schließlich, während seine Tochter bereits ungeduldig von einem Fuß auf den anderen stieg, und wandte sich ihr zu. "Das Ende unserer Ära hat nun begonnen." Er war ein Hüter, seine Rasse so alt wie die Zeit. Sie hatten über das zeitlose Maß hinaus gedient, hatten eine Wissenschaft der tempi betrieben. Es war die Zeit, deren Meister sie waren, Meister und Untertanen. Andere würden folgen, denn sie hatten nun ausgedient und würden als Lohn diese Daseinsform verlassen. Das Portal war geöffnet worden und hatte den Prozess eingeleitet, und der Träger des Prozesses befand sich auf dem Weg zu ihnen.
"John Koenig!", rief Arra aufgeregt "Der Wandler!" Ihr Vater schmunzelte. Sie war noch jung, aufbrausend und verwegen, ebenso schnell entschlossen wie ungeduldig, und musste noch viel lernen über ihre Pflichten und die Funktion, für die sie ausgewählt worden war. Es blieb noch Arras Lebensspanne an Zeit, sich auf die Ereignisse vorzubereiten, und There wusste, dass er sie selbst nicht mehr erleben würde. Arra dagegen würde die schwere Pflicht zufallen, dem ahnungslosen John Koenig seinen Weg zu weisen. Jener war auch ein wohlbekannter Akteur im unergründlichen Ablauf des Universums, der einst sein Los gewählt hatte, auf eine andere Weise als die Wesen auf dieser Welt, mit einem anderen Lohn, aber dies zeichnete ihn aus für die Aufgabe, die er erfüllen musste. Er war eine alte Seele, die niemals in ihren Erscheinungsformen auf Astheria gewesen war, und nur als solche war es möglich, den Planeten und seine Einwohner in die andere Existenz zu heben. Das Werkzeug waren widrige Umstände und ein Feld aus Unglauben und Logik, gegen die Koenig ankämpfen musste, der Schlüssel aber waren Intuition und Vertrauen, und innerer Kampf sowie ein Sieg über den gesunden Menschenverstand lieferten die notwendige Energie, um den Akt der Transformation einzuleiten.
"Die Herausforderung ist groß, auf der Seite des
Wandlers ebenso wie auf unserer", sagte There,
und Besorgnis war aus seinen Worten herauszulesen. Er war sich nicht sicher,
ob seine unbeschwerte Tochter die Verwandlung in eine verantwortungsvolle Führerin,
in die Wegweiserin des Wandlers bewältigen und verkraften würde.
Sie
aber lachte ihn an.
"Er ist da!", sagte sie, "Ich werde auch da sein!"
Die Tiefen unseres Geistes kennen wir
nicht. |
Novalis, Blütenstaub |
-Ende-
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25.06.07