Nacht |
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Die Muse macht was sie will und begibt sich entweder monatelang auf Urlaub oder liefert, wie hier, gleichzeitig zum selben Thema zwei Varianten...
Helena Russell kontrollierte die letzten Befunde im Computer und sorgte für einen Transfer der Daten in die jeweilige Patientenakte. Sie war nicht ganz bei der Sache sondern abgelenkt von einem, wie man gemeinhin sagt, leichten Herzen und einem Frohsinn, der sie selbst erstaunte. Der Tag war anstrengend gewesen, die zahllosen Mitglieder der Expedition zum Planeten Retha hatte man auf körperliche Unversehrtheit überprüfen müssen, und sie selbst stellte da keine Ausnahme dar. Auch sie hatte dem Team angehört, und medizinische Check-ups am eigenen Leib waren üblicherweise etwas, das ihr alles andere als ein selbstzufriedenes Lächeln ins Gesicht zauberte. Doch diesmal hatten ihr weder die viele Arbeit, die langen Stunden ohne Zeit für einen Schluck Wasser noch ihr eigenes Auftreten in der Rolle eines Patienten etwas anhaben können, und nach wie vor spürte sie ein Hochgefühl, dem sie keinen rechten Grund zuordnen konnte.
Sie wusste, eigentlich zeugte es nicht gerade von Klugheit, nach der Ursache für ihre frohsinnige Seele zu suchen, eigentlich sollte sie dieses Gefühl bedingungslos genießen, denn es war nicht gerade ein häufiger Gast in ihrem Innenleben. Nur noch ferne Erinnerungen an Leichtherzigkeit existierten in ihrem Herzen, die so weit zurücklagen, dass sie kein Leben auf dem Mond kannten, keine Zeit in der Schwärze des Alls.
Sie saß versonnen in ihren Sessel zurückgelehnt und musterte den Bildschirm, ohne darauf auch etwas wahrzunehmen. Mit einem Ruck zwang sie sich wieder in die Gegenwart, denn die Gedanken an eine frohe Vergangenheit brachten Schatten, die sie jetzt nicht zulassen wollte. Es gab Dinge, die abgeschlossen und für immer vorbei waren, damit hatte sie sich schon lange abgefunden.
Sie fuhr den Computer herunter und ordnete das Chaos auf ihrem Schreibtisch, ehe sie den Dienst an Dr. Mathias übergab, um sich in ihr Quartier zurückzuziehen. Als sie auf den Korridor trat, meldete sich vehement ihr Magen und teilte ihr mit lautem Knurren mit, dass er an diesem Tag noch stark unterbeschäftigt gewesen war und nun, da der Stress vorbei war, nach seinem Recht verlangte. Sie bog umgehend in den nächsten Gang Richtung Erholungszentrum ab und betrat die Nachtbar. Die Kantine war schon vor vielen Stunden geschlossen worden, aber sie hatte eine stillschweigende Übereinkunft mit Artie, dem Barkeeper, der sie für gewöhnlich bis spät nachts mit Essbarem versorgte, wenn sie es endlich geschafft hatte, ihre Arbeit sich selbst zu überlassen bzw. in die bewährten Hände einer ihrer Kollegen zu legen.
Die Bar war fast leer, für alle war ein anstrengender Tag gewesen, da auch großräumige Qualitätskontrollen in verschiedenen Basisbereichen gelaufen waren, für deren Gelingen die Stationen ordentlich geschuftet hatten.
"Hi Artie", begrüßte sie den dicken Barkeeper schon vom Eingang aus, und der hob winkend die Hand. Sie setzte sich an die Theke.
"Hallo Doc, Sie sehen heute richtig gut aus", ließ er sie wissen, was Helena aufhorchen ließ. Normalerweise erntete sie um die Uhrzeit ein Kommentar, das eine Vogelscheuche zum Erblassen gebracht hätte und sie üblicherweise darüber nachdenken ließ, wie sie ungesehen in ihre Unterkunft flüchten konnte. Arties herbe Kommentare aber waren nicht böse gemeint, sie waren lediglich seine Art auszudrücken, dass sie ein wenig besser auf sich aufpassen sollte.
"Tatsächlich?", fragte sie und nahm ihren Teller mit einer undefinierbaren Pasta sowie ein Glas kohlensäurehaltiges Mineralwasser mit Eis entgegen. Artie lehnte sich über den Tresen und musterte sie mit einem scharfen Blick aus seinen schwarzen Augen.
"Ich würde fast sagen, Doc, Sie sehen glücklich aus." Sie machte sich nachdenklich über ihr Essen her.
"Nicht, wenn mir so ein Zeug als Nachtmahl vorgesetzt
wird", rettete sie sich in einen Scherz. Er begann, auf altmodische Weise
händisch die Gläser abzutrocknen,
und seine Miene sagte, dass er auf ihre Scherze nicht hereinfiel.
Arties
richtiger Name war Quentin Shelton, und er war
ein Überbleibsel aus der Vergangenheit, ein alter schwarzer Mann, der das Pech
gehabt hatte zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, der Gewinner einer Besichtigungstour
auf Alpha, der in seiner unerschütterlichen, meist verdrießlichen Grundlaune eine
Nische für sich auf der Basis gefunden hatte, alle möglichen Reparaturen an
Geräten durchführte, die so unwichtig waren, dass sie weit hinten auf den Auftragslisten
der entsprechenden Fachleute standen, und abends den Club '99 in Schwung hielt.
Helena mochte ihn, denn er behandelte sie wie jeden anderen auf Alpha und erinnerte
sie an ihren Großvater, einen muffigen kleinen Griesgram mit weichem Kern, an
dem sie mit aller kindlichen Liebe gehangen war.
"Ist da ein anderes Gewürz im Essen als sonst?", fragte sie, "Heute schmeckt es viel besser."
"Immer dasselbe, Doc, immer dasselbe", gab Artie zur Antwort, "tagein, tagaus. Ich frage mich schon, wann die ersten Leute mit gezückten Tellern hinter Billy und seiner Truppe her sein werden, um ihnen das Zeug um die Ohren zu schmeißen." Helena lächelte bei der Vorstellung um einen alphanischen Mob, der Pasta verschoss und Sojalaibchen durch die Gegend katapultierte.
"Nicht umsonst ist die Küche ein hermetisch abgeriegelter Bezirk - oder hat man Sie schon mal hineingelassen?" Artie schüttelte den Kopf.
"Sicherer als Fort Knox. Sogar eine außerirdische Invasion würde sich an den Sicherheitsvorkehrungen die Zähne ausbeißen, sage ich Ihnen." Sie grinste und aß mit unvermindertem Appetit weiter. Die Redensart, dass Hunger der beste Koch war, schien sich in Gestalt ihres fade aussehenden Abendessens zu bewahrheiten.
Artie warf einen Blick auf eine große alte Küchenuhr mit
Zeigern, die über der Bar hing und schob sich hinter der Theke hervor, um die
leeren Tische, die im Halbdunklen lagen, ordentlich zu säubern. Helena ließ
sich nicht stören, denn sie wusste, dass der Club nie vor halb vier am Morgen
geschlossen wurde, egal, ob Gäste vorhanden waren oder nicht.
Sie mochte
diese altertümliche Atmosphäre, hier war es nicht schwer, sich vorzustellen,
dass man mit zwei Schritten auf eine kühle, nächtlich leere Straße hinaustreten
konnte, Artie und sein Club hatten etwas Heimatliches, Irdisches anhaften, und nichts und
niemand konnte das Flair zerstören, das mit dem Lokal quasi symbiotisch verwoben
war. Es zogen noch Rauchschwaden durch die Luft, auch wenn es unendlich
lange her war, da die letzte Zigarette hier ausgedämpft worden war.
Eine lachende Gruppe von Chemikern, die gepokert hatte, entschloss
sich zum Aufbruch und verschwand lärmend nach draußen in die Realität.
Artie
kam mit den benutzten Gläsern zurück zur Theke, um sie in den Spüler zu
stellen.
"Und wie war es in der Steinzeit?", wollte er wissen.
"Hart", rutschte es ihr heraus, und der Barkeeper brach in ein lautes Lachen aus. "Nein, im Ernst", korrigierte sie sich, "ich habe keine Ahnung, wie es war. Keine Erinnerung."
"Manchmal ist es besser, keine Erinnerung mehr zu haben", tröstete er sie. Sie nickte und legte die Gabel auf den mittlerweile leeren Teller.
"Ich setze mich rüber", meinte sie und deutete in eine Nische mit bequemer Couch, Tisch und Stühlen.
"Ich bringe noch ein Wasser." Sie dankte ihm und kletterte vom Barhocker, um es sich etwas gemütlicher zu machen. Die Couch stand in einer Ecke des Lokals und erlaubte einen schönen Überblick auf das Geschehen - wenn dies auch keine Rolle spielte, mit Ausnahme von zwei Paaren war sonst niemand mehr da, und Helena stand ohnehin der Sinn nicht danach, ihre Mitmenschen zu beobachten.
Retha ließ sie nicht mehr los. Es war ein unheimlicher Gedanke, dass Erlebtes, ein ganzer Abschnitt des Lebens, so einfach aus dem Gedächtnis gelöscht werden konnte - so, als wäre er niemals geschehen. Ihre Erinnerung setzte vage zu dem Zeitpunkt ein, als sie mit den anderen wieder aus dem verwandelnden Nebel getreten war, wo John auf sie gewartet und sie in die Arme geschlossen hatte. Es war ein überaus herzliches, positives Gefühl, das von dieser Situation übriggeblieben war, wie sie merkte, auch wenn sich die Ereignisse, die dem guten Ende vorausgegangen waren, als alles andere als erbaulich herausgestellt hatten. Nie war Helena sich so bewusst gewesen, dass im Kern des Menschen Rohheit war, und auch in ihr war sie, bereit hervorzukommen, wenn die Schranken der Gesellschaft fielen und die willkürliche Definition von Gut und Böse nicht mehr galt. Sie fand es erschreckend, dass da ein wildes Tier in ihr schlummerte, das die Macht hatte, all ihre Prinzipien und sozialen Grundlagen zu ignorieren, um rein nach instinktivem und emotionellem Gutdünken gesteuert zu agieren. John hatte ihre Bedenken geschickt relativiert, indem er sie gefragt hatte, wie oft ihr denn schon die Kontrolle über sich auf diese Weise abhanden gekommen sei. Da war ihr nichts anderes übrig geblieben, als zu lachen.
Plötzlich merkte sie, dass ihre frohsinnige Laune mit John
zusammenhing.
Mit seiner extrovertierten, geradlinigen und begeisternden Art
war er in ihr beschauliches, unspektakuläres, von zahlreichen selbst eingerichteten
und darum auch unüberwindbaren Barrieren umgrenztes Leben marschiert und hatte
sie fortgerissen von den gesicherten Ufern, auf denen sie es sich so eingerichtet
hatte, dass sie niemals befürchten musste, wieder den Boden unter den Füßen
zu verlieren. John war ihr zum Freund geworden, der sie mit seinem ganzen
Wesen daran erinnert hatte, dass es noch eine andere Art gab, den Menschen gegenüber
zu treten, als die der omnipräsenten, besorgten Chefärztin, die sich um alle
kümmerte - außer um sich selbst.
Sie mochte seine zaghaften Avancen, ohne je in Betracht gezogen zu haben, ihnen nachzugeben, weil sie in einem Fahrwasser lebte, das Liebe, Hingabe und die ultimative Nähe zu einem speziellen Menschen nicht mehr vorsah. Sie war in diese Falle gegangen, früher einmal, und sie hatte dafür bezahlt. Einmal diese Erfahrung machen zu müssen, war mehr als genug.
Und doch spürte sie noch seine Arme, wie er sie nach der
Verwandlung von der Cromagnon-Frau in ihr gewohntes, modernes und gezügeltes
Ich in Empfang genommen und ihr mit seiner Umarmung Halt gegeben hatte und die
Sicherheit, wieder ins rechte Dasein gefunden zu haben. Ihre Verwirrung hatte sich in Luft aufgelöst,
und sie hatte, sozusagen in seinen Schutzmantel gehüllt, wieder gewusst,
wohin sie gehörte.
Wohin gehörte sie??
Verwundert nahm sie zur Kenntnis,
dass ihr nur eine Antwort einfiel, die ihre Gefühle als akzeptabel hinnahmen:
an Johns Seite. Als Chefin der Medizinischen Einheit, als freundschaftliche Vertraute, zog sie ihr Resümee und
versuchte, auf andere Gedanken zu kommen.
Doch sie hatte sich schon unvorsichtigerweise aufs emotionelle Glatteis begeben, und ihr Bewusstsein spann munter an dem Thema weiter, ohne die geringste Notiz von den Gehirnarealen zu nehmen, die verbissen versuchten, sie von den Strudeln fernzuhalten, in die sie unweigerlich zu driften begann.
Was wollte er?
Seltsamerweise hatte sie nie darüber nachgedacht,
was in ihm vorging. Für sie war seine Anwesenheit zu einer Selbstverständlichkeit geworden,
so selbstverständlich, dass an Tagen, da sie ihn nicht sah, sein Fehlen sie
seltsam unrund machte, als hätte sie einen Teil von sich verlegt und fände ihn
nicht mehr. Für sie war es logisch gewesen, dass sie als Commander der Basis
und Chefärztin viel miteinander zu tun hatten, und sie hatte es für einen Glücksfall
gehalten, dass sie als Kollegen so gut harmonisierten.
Aber was wollte er?
Waren
seine Avancen mehr als das Geplänkel - als der running gag - ereignisloser
Tage?
Seine Blicke und Gesten?
Die Umarmung auf Retha?
Ein leichtherziger, freudiger Gruß?
Nein, entschied sie nach langem Nachdenken, auf Retha war mehr passiert, viel mehr als Freude und auch mehr als Schutz und Geborgenheit, sie hatte es gefühlt, es war wie eine magische Vereinigung ihrer beider Persönlichkeiten gewesen, direkt und unverfälscht, und sie hatte seine Sehnsucht gespürt, sein Verlangen nach ihr, und wie seine Arme sie nicht hatten freigeben wollen.
Plötzlich wusste sie, dass John sie liebte, schon seit langem liebte - nur sie hatte es vorgezogen, ihn nicht ernstzunehmen, und wo dies unmöglich war, zu ignorieren. Sie hatte eine erstaunliche Fähigkeit zur selektiven Blindheit, die ihr erlaubte, nur zu sehen, was ihr genehm war - und sehen wollte sie nur eine unverfängliche, eine unverbindliche Freundschaft zu John, die ihr gerade soviel Verbundenheit bescherte, dass sie nicht gänzlich vereinsamte auf diesem steinernen Treibgut, das der Mond war.
Und er hatte es hingenommen.
Er, der aus Gewohnheit explodierte,
wenn die Dinge nicht so liefen, wie er es sich wünschte! Er, der seine Gefühle
an einer Leine spazieren trug und von Geduld noch nie etwas gehört hatte! Der
nie ein Nein! akzeptierte, wenn er einen anderen Weg sah. Der keinerlei Schwierigkeiten
damit hatte, seinen
Willen durchzusetzen.
Er schwieg konsequent
zu ihrer Unnahbarkeit und war dennoch da, ohne je zu fragen...
Helena stürzte das ganze Glas frischen Wassers hinunter und verschluckte sich, als Wasser und Kohlensäure, überrascht von der Abruptheit der unerwarteten Bewegung, schäumend überall hinrannen, wo sie nichts verloren hatten. Helena keuchte und hustete, nahm aber diesen Umstand kaum zur Kenntnis, da sie diese neue, unfassbare Einsicht schier an der Basis ihres Seins packte. Ihr Herz war getroffen, ein riesengroßer Pfeil hatte es gerade durchbohrt, weil ihr plötzlich klar geworden war, durch welche emotionellen Berg- und Talfahrten John ihretwegen schlittern musste, Wochen und Monate lang - und sie hatte es sich noch nicht einmal erlaubt, es wahrzunehmen!
Mit seinem Schweigen berührte er sie mehr, als mit jedem Wort, das er aussprechen hätte können, und sie merkte, wie ihr hoher Schutzwall zu bröckeln anfing, und wie die Mauern von Jericho mit einem unaussprechlichen Tosen in sich zusammenstürzte und dem Erdboden gleichgemacht wurde. Feuer brach aus, und hilflos brannte sie lichterloh in einem überbordenden Chaos aus den widersprüchlichsten Gefühlen, und immer noch geschüttelt von Atemnot und dem imperativen Drang, sich die Seele aus dem Leib zu husten.
Artie eilte herbei und drückte ihr einen Packen quietschgrüner Servietten in die Hände. Sie schnappte sie sich mit einem erstickten Dankeswort und hustete in alle Servietten gleichzeitig, während ihr Tränen über die Wangen hinunterliefen. Die Attacke ebbte erst nach geraumer Zeit ab, und unvermindert rannen ihre Augen, was aber mittlerweile nichts mehr mit dem Verschlucken zu tun hatte.
Der Barkeeper hatte auf dem Sessel ihr gegenüber Platz genommen und schaute ihr indiskret zu. Helena hielt eine der grünen Servietten in die Luft, ehe sie sie auseinander nahm, um sich hineinzuschnäuzen. Zwischen Tränen und Papier hindurch beäugte sie ihn.
"Eine schlimmere Farbe haben Sie nicht??"
"Grün!", erwiderte Artie gemütlich, "Die Farbe der Hoffnung! Was gibt es dagegen auszusetzen?"
"Nichts", gab sie heulend zu, "aber ich bin so ein Idiot!"
"Gehen Sie zu ihm", riet er ihr.
"Wieso wissen Sie... ?"
"Schätzchen, ich bin fast 80 Jahre alt und habe drei Ehefrauen begraben - ich weiß auf diesem Sektor bestens Bescheid!" Helena musste trotz allem lächeln. Nicht nur, dass Artie noch nicht mal 65 war, er hatte auch nur eine Ehefrau gehabt, seinen Augenstern Hemma, die ihn nach 35 Ehejahren wegen seiner Miesepetrigkeit aus dem Haus geworfen hatte, was für ihn wiederum kein Hinderungsgrund gewesen war, täglich vor ihrer Tür zu erscheinen - und auch gelegentlich das Glück zu haben, von ihr erhört und eingelassen zu werden.
"Außerdem sitzt er oft genug, von Schlaflosigkeit
geplagt, um vier Uhr morgens an meiner Bar, wenn ich gerne schließen möchte,
lässt schweigend ein Glas Wein vor sich verdunsten, und seine
Augen blinken 'Doc Russell' im Morse-Alphabet, während auf seiner Stirn eine
elektronische Leuchtreklame nichts als Ihren Namen zu verkünden weiß. Für mich
also nicht die schwierigste Aufgabe, die richtigen Schlüsse zu ziehen."
Sie
wusste, dass er maßlos übertrieb und nahm seine Worte dennoch für bare Münze.
"Gehen Sie Doc, die Runde geht aufs Haus", sagte
er aufmunternd. Alle Runden von Artie gingen aufs Haus. Er hatte seine Prinzipien. Do
ut des.*
Sie schaute zweifelnd auf die Uhr.
"Keine Angst, er geistert noch durchs Haus, Sie werden ihn finden."
"Danke, Artie." Er schaute ihr schmunzelnd hinterher.
"Nichts zu danken, Doc."
Helena machte einen kurzen Abstecher auf die Toilette, um
sich behelfsmäßig zu restaurieren.
Sie überlegte, ob sie John aufs
Geratewohl in seinem Quartier aufsuchen sollte, doch das schien ihr für den
Anfang etwas gewagt. Lieber wollte sie ihn auf neutralem Boden treffen und
entschloss sich, ihn trotz der späten Stunde per Commlock zu kontaktieren.
Er meldete sich sofort und schien noch wach gewesen zu sein, jedoch von einer traurigen Schwere, die sie an ihm nicht gewohnt war. Vielleicht war es aber auch nur die Nacht, die ihre dunklen Schatten in sein Gesicht malte.
"Helena! Du bist auch noch auf?" Sie nickte.
"Wo bist du?"
"In der Beobachtungswarte 2. Von hier hat man einen schönen Blick auf den dahinschwindenden Planeten Retha."
Er zögerte, ehe er fortfuhr. "Hast
du vielleicht Lust, mir Gesellschaft zu leisten?" Sie bejahte und machte sich mit
flauem Gefühl im Bauch auf den Weg.
Was wollte sie ihm sagen?
In ihr sah es nach einem alles überschwemmenden Seebeben
aus, sie schämte sich so für ihre Kälte und Gedankenlosigkeit, für diese Selbstsucht,
die ihr die Augen verschlossen hatte, während gleichzeitig ein Tornado in
ihrem Inneren wütete, der ihr sagte, dass sie sehr weit weg von ihren unverfänglichen,
sicheren Ufern war - wie konnte sie ihm jetzt gegenübertreten?
Sie merkte, wie ihr Verstand weggeschwappt wurde, und sie hasste es, keinen
klaren Gedanken fassen zu können. Aus der letzten rationalen Ecke in ihrem Kopf
kam der kapitulierende Rat, einfach zu tun, als sei nichts geschehen.
Es war ja nichts geschehen.
Abgesehen von dem Seebeben,
fünf Vulkanausbrüchen und einem verheerenden Meteoritenabsturz mitten
in ihre Seele.
Als sie die Beobachtungswarte via Rampenschlitten erreicht
hatte, fühlte sie sich mit namenloser
Panik erfüllt.
Sie hatte mit John gelacht, gestritten und ernste Worte gewechselt,
sie hatten harte Zeiten gemeinsam durchgemacht, und manchmal war sie zornig
auf ihn gewesen und hatte ihn nicht verstanden - aber niemals hatte sie sich
vor einer Begegnung mit ihm gefürchtet. Niemals hatte sie ihn gefürchtet!
Sie trat durch den Eingang auf den dämpfenden Teppich und schaute sich suchend im Halbdunkel um. Nachdem sich ihre Augen an die schlechten Lichtverhältnisse gewohnt hatten, nahm sie gegenüber eine Bewegung wahr. John, der auf einer Stufe zum Auditorium saß, winkte sie zu sich. Die Kuppel war zur Gänze geöffnet, und er blickte in den Himmel, wo in der Ferne Rethas Sonne zu sehen war und Retha selbst, der bläuliche Planet, der mitsamt seinem Geheimnis langsam in die Unsichtbarkeit hinwegglitt.
Die Beobachtungskuppel war erfüllt von anthrazitfarbenen, unruhigen Schatten, die inmitten der blässlichen Dämmerung der untergehenden Sonne wie Wechselbälger ihr Unwesen trieben. Helena schauderte, als sie zu John ging, der wie der Obergeist der Gespensterlegion zwischen der Dunkelheit hockte. Sie hätte schreien können vor Verzweiflung und durchquerte doch den Raum, um neben ihm auf dem Absatz Platz zu nehmen.
"Hier spukt es", sagte sie, qualvoll darauf bedacht, sich völlig normal anzuhören. "Richtig unheimlich."
"Nicht, wenn man ein Geist ist." Etwas an seiner Stimme ließ sie schmerzlich zusammenzucken.
"Haben wir sie denn mitgebracht von der Erde?"
"Oh ja. Ja... Sie existieren in uns und mit uns", war seine Antwort. Er fuhr fort, den Himmel zu betrachten. "Sie sind ziemlich nachtaktiv."
"Ja", erwiderte sie hilflos, "das haben Geister so an sich." Er sagte nichts.
"Ist es dir... ist es dir unangenehm, wenn ich hier bin?", fragte sie nach einer geraumen Weile. Er wandte sich ihr zu. Seine Miene war ein Meer von Gefühlen, denen sie nicht standhalten konnte, und sie blickte zu Boden. Unter ihren Händen fühlte sie den Teppich, faserig und rau.
"Hast du Angst?", fragte er, statt ihr zu antworten.
Sie merkte, wie sie mit den Tränen zu kämpfen begann und nickte nur. Sie wünschte
sich, ihm sagen zu können, was in ihr vorging, doch nichts als ein Hauch kam
über ihre Lippen.
Die Chimären tanzten vor ihren Augen einen bizarren Reigen,
und sie war nahe daran aufzugeben - aufzustehen und unverrichteter Dinge
wegzugehen.
Da spürte sie Johns Hand, wie sie sich sacht auf ihren rechten Arm legte, dankbar griff sie danach und hielt sie fest. Der Druck, den seine Finger erwiderten, war wie ein Band zwischen ihnen, und doch lag ihr im Mund nur bleierne Wortlosigkeit. Sie war gefangen und konnte weder vor noch zurück. Nach einer atemlosen Weile, als es schier unerträglich wurde, begann John zu sprechen. Seine Stimme war heiser, fast tonlos.
"Ich habe viele, viele schlaflose Nächte hier in dieser verlassenen Warte verbracht. Ich kann gut nachdenken, wenn ich in die Unendlichkeit blicke. Sie relativiert meine eigenen Sorgen und Kümmernisse." Er pausierte. Auch in der Dunkelheit merkte Helena, dass es ihm schwer fiel fortzufahren. "Aber manche Dinge kann man mit der Ewigkeit nicht bekämpfen, weil sie ein Teil dieser Ewigkeit sind... Helena, keine Nacht verging an diesem Ort, da ich mir nicht wünschte, dass du hier neben mir säßest.- Aber ich wusste, es war unmöglich - immer, wenn ich in deine Augen blickte, sah ich den Schmerz der Vergangenheit, der keinen Raum mehr ließ für jemanden wie mich. Ich sah deine Trauer und dein schweres Herz. Ich wollte dich so gerne fröhlich sehen, dir helfen, wieder glücklich zu sein, aber ich konnte es nicht." Er seufzte. "Wie soll ich es dir nur erklären, Helena, dass ich ohne dich nur eine Hälfte bin."
"Nein", sagte sie leise, berührt und getroffen
von seinen Worten - und endlich, endlich befreit, "jetzt nicht
mehr." Sie wandte sich ihm wieder zu und konnte nun in sein Antlitz sehen,
die Gefühle annehmen, die er ihr entgegenbrachte, und sie auch erwidern. Sie
nahm sein Gesicht in beide Hände und zog ihn zu sich herunter, bis sich ihre
Lippen trafen zu einem ersten, lange ausständigen, fordernden und aufwühlenden Kuss.
Seine Arme umschlossen sie, und sie fühlte sich absorbiert in seinem Wesen,
fühlte sich eins werden mit ihm und begriff plötzlich, was es hieß, wenn zwei
Hälften zu einem Ganzen wurden.
An diesem schaurigen Ort erlaubte sie ihm und sich selbst
alles - es war Sühne und ihr Geschenk an ihn. Ein Heilmittel für ihr eigenes,
kränkelndes Herz. Mehr als all dies, es war Liebe.
Und von der Ferne zwinkerte der Planet Retha ein letztes Mal, ehe er für immer hinter den Bergen des Mondes verschwand.
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Und meine Seele spannte |
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Mondnacht |
-ende-
*Lat.: Ich gebe damit du gibst.
Mai 2005