Déjà Vu

  

Zeitrahmen dieser Geschichte ist die erste Staffel

 

... für alle AlphanerInnen, die auch wissen, wie unzuverlässig die Muse sein kann...   :-)


 

Wenn es auch Menschen gab, die einen sogenannten "grünen Daumen" hatten, so gehörte John Koenig ganz gewiß nicht dazu. Er saß auf einem Dreibeinschemel in der Botanischen Abteilung, hatte das Kinn auf eine Hand gestützt und betrachtete nachdenklich die kümmerlichen Reste seiner ehemals hoffnungsvollen Radieschenzucht.

"Ungeziefer, Commander?", fragte ihn Alan Carter, der in seiner Eigenschaft als Aushilfsarbeiter mit einer Trage üppig sprießender Tomatenschößlinge vorbeiging, grinsend. John trat mit dem Fuß nach einer kleinen Harke, mit der er zuvor halbherzig zwischen den welken Pflänzchen herumgekratzt hatte. Eine der wenigen Schwierigkeiten, mit denen man hier ganz sicher nicht zu kämpfen hatte, war Ungeziefer!

Mathias hatte ihm, nachdem sein Blutdruck die ärztliche Stirn ein paar Mal dazu veranlaßt hatte, sich in Falten zu legen, zu einem geruhsamen Hobby geraten. Die Möglichkeiten auf Alpha waren begrenzt, und was ihn anging, wenig ermunternd, doch auch Helena hatte ihm einen scharfen Blick zugeworfen und erklärt, daß es an der Zeit sei, seiner Unruhe und Nervosität zu Leibe zu rücken, falls er nicht vorhätte, bald Unmengen von Tabletten schlucken zu müssen.
Völlig unentschlossen hatte er Victor in seinem Quartier aufgesucht, und der hatte die Brauen gehoben, nachdenklich mit dem Finger zwischen das Chaos auf seinen Tisch geklopft und schließlich gemeint, er solle doch den Botanikern, die ein stark unterbesetztes Völkchen waren, ein wenig zur Hand gehen. Voller düsterer Vorahnungen - und nur, weil er wußte, daß man dort tatsächlich auf Hilfe angewiesen war - hatte er sich dazu durchgerungen, Victors Rat zu beherzigen.

Sein Ruf als Topfpflanzenkiller war ihm jedoch vorausgeeilt, und man hatte ihm vorerst nur probeweise - und mit detaillierten Anweisungen präpariert - ein winziges Beet anvertraut, mit dem er nach Belieben verfahren sollte. Seine Arbeit in der Kommandozentrale hatte ihn jedoch in letzter Zeit stark in Anspruch genommen, und so hatten die Radieschen das Nachsehen gehabt. Er seufzte. Seine Gärtnerkarriere war von denkbar kurzer Dauer gewesen.
Die junge Shermeen Williams näherte sich ihm und blickte mitleidig auf das Desaster.

"Wenn Sie wollen, Commander, dann sehe ich mal, ob ich noch was retten kann", sagte sie schüchtern. John erhob sich, dankte ihr erleichtert und ergriff die Flucht in sicheres Gelände, eine Kommandokonferenz nämlich, wo er nach Herzenslust auf und ab gehen konnte, wenn ihm der Sinn danach stand, und wo er nicht Zwiegespräche mit seinen grünen Pflanzenfreunden führen mußte.

Die Konferenz war nur eines der wöchentlichen Routine-Meetings in seinem Büro, wo mit keinen aufregenden Meldungen zu rechnen war; sie wurde aber von den Mitgliedern des Kommandostabs mit großer Ernsthaftigkeit besucht, denn sie war nicht zuletzt Grundlage und Spiegel einer guten interdisziplinären Zusammenarbeit.
Umso verwunderlicher war es, daß die Chefärztin als einzige so spät auftauchte, daß sie fast die ganze Sitzung versäumte. Sie ließ sich ohne ein Wort der Entschuldigung auf einen freien Platz fallen, während sich in ihr Gesicht ein gequälter Ausdruck stahl. Als sich herausstellte, daß sie auch noch die Hälfte ihrer Unterlagen vergessen oder verloren hatte, wies John sie zurecht und forderte sie auf, ihren Bericht, soweit sie auswendig dazu in der Lage sei, vorzutragen. Ihr Gesicht erstarrte in Professionalität, während sie einen kurzen Umriß von den Vorkommnissen der letzten Woche abgab. John fing einen Blick von Victor auf, der sie stirnrunzelnd und offensichtlich besorgt beobachtete.

Die Kommandokonferenz nahm darauf ein rasches Ende, John, ein wenig zerknirscht über seinen rauhen Ton, komplimentierte die Leute aus seinem Büro hinaus und hielt Helena zurück. Widerwillig blieb sie stehen.

"Was ist los, Helena?" Sie studierte eingehend die fehlende erste Seite ihres Berichtes und rang sich schließlich zu einer Antwort durch.

"Entschuldige, John, ich war nicht ganz bei der Sache." Er schüttelte den Kopf.

"Nein, Helena, ich kenne dich gut genug, um zu wissen, daß du nicht nur unkonzentriert warst." Sie wich zurück und ließ dann, als sie die Sorge in seiner Miene sah, die Arme sinken.

"Ein wenig Kopfschmerzen, das ist alles, ein wenig Übermüdung. Ich werde einfach heute früher schlafen gehen, dann gibt sich das wieder." Sie war die schlechteste Lügnerin, die er kannte, doch er ließ sie ziehen, weil ihm klar war, daß er im Augenblick keine Chance hatte, mehr zu erfahren. Sie wußte natürlich, daß er wußte, und schenkte ihm beim Hinausgehen ein dankbares Lächeln.
Er betrat die Kommandozentrale durch die Verbindungstür und winkte Victor zu sich, der gerade mit David Kano um Rechnerressourcen feilschte, die er für ein Gravitationsexperiment brauchte.

"Eine Lebensaufgabe, ihm ein paar Gigabyte abzuschwatzen!", sagte Victor, als er bei John war.

"Du sagst, wir könnten mit dem Projekt ca. 30% des Energieverbrauchs unserer Schwerkraftgeneratoren einsparen?"

"Mindestens!"

"Nun ja, wozu bin ich denn der Commander? Ich werde ein gutes Wort für dich einlegen." Victor nickte, lenkte aber gleich auf das Thema, von dem er annahm, daß es John im Augenblick mehr beschäftigte.

"Helena?" Der Commander bestätigte nachdenklich.

"Sie sagt Kopfschmerzen." Victor faßte sich an die Stirn.

"Die hat sie oft in letzter Zeit."

"Und warum weiß ich nichts davon?" Sein Freund hob beide Hände und blieb ihm die Antwort schuldig.
Eben deshalb. John wußte auch so Bescheid.
"Ich rede später noch einmal mit ihr", meinte er abschließend, und der Wissenschaftler zog sich wieder in sein Labor zurück.

Den Rest des Nachmittags verbrachte John mit seinen Kollegen in der Zentrale, zeichnete Berichte ab, befaßte sich mit einem Fall von Insubordination unter dem Küchenpersonal und diskutierte mit Paul und Sandra sowie den Chefs der Wartung und Reinigung über die mittlerweile häufigen Ausfälle der Wäschetransportanlage, einem Ärgernis, das auch ihn anging, weil er einmal geschlagene 4 Tage auf eine saubere Uniform hatte warten müssen. Normaler Alltag, was ihn betraf, und als er gegen Abend seinen Posten verließ, um einen Happen zu essen, war er rechtschaffen müde.
Doch er machte einen Abstecher ins Medizinische Zentrum, wo er hoffte, die Chefärztin vorzufinden.
Als er kam, hatte sie in der Notaufnahme zu tun, wo sie eine heftig blutende Wunde am Kopf eines Technikers nähte. Der zappelte während der Versorgung auf der Liege herum und versuchte sich gerade an einer Rolle rückwärts, als John eintrat und ihm noch im letzten Moment die Füße festhielt, ehe er sie Helena um die Ohren schleudern konnte. Sie blickte auf und nuschelte hinter der Maske ihren Dank.

"Bin gleich fertig. - Sue, lassen Sie ihn hier ausnüchtern und kontrollieren Sie regelmäßig Druck, Puls und Pupillen." Die assistierende Schwester ließ resolut verlauten, daß er ihr schon keine Probleme machen werde, weil sie in dem betreffenden Fall sehr geeignete und für ihn wenig angenehme Mittel zur Verfügung hätte.

"Betrunken im Dienst?" wollte John wissen.

"Aber nein", erwiderte Helena lachend, "Geburtstagsfeier nach Feierabend. Irgendein Teufelszeug, das die Chemiker wieder heimlich an den Qualitätskontrollen vorbei geschleust haben!" Sie nahm Plastikschürze, Handschuhe und Maske, die rot besprenkelt waren, ab und warf sie in den Abfallbehälter. "Hunger?"

"Wie ein Bär."

 

Während des Essens herrschte eine entspannte Atmosphäre, und nichts an Helenas Wesen erinnerte mehr an ihren seltsamen Auftritt bei der Konferenz. Bis zum Nachtisch sprachen sie lediglich über belanglose Themen und zogen sich dann ins Café zurück, wo es gemütlicher war als im eher unpersönlichen Ambiente der Kantine.

Die Kaffeetasse noch in der Hand balancierend, nahm John Platz und erkundigte sich ohne Umschweife, was denn nun am Nachmittag los gewesen sei. Ihr schien das Thema unangenehm zu sein, doch sie antwortete mit einem Seufzen.

"Ich habe seit längerem Anfälle von Kopfschmerzen." Dann blickte sie auf. "Und das weißt du sicher auch schon, denn ich gehe jede Wette ein, daß du Victor ausgehorcht hast." John grinste ertappt.

"Es fing vor einigen Wochen an", fuhr sie fort, "dauert immer eine, eineinhalb Stunden und verschwindet danach spurlos. Es beginnt mit klopfenden Kopfschmerzen, doch die sind nicht das Problem, glaub mir, denn sie lassen sich mit Schmerztabletten gut behandeln. Es steckt mehr dahinter, und es spielt sich nicht nur im Kopf ab." Sie suchte nach Worten. "Es kommt mir dann so vor, als fiele ich in ein schwarzes, bodenloses Loch, und ein sehr bedrückendes Gefühl ergreift von mir Besitz, so, als wäre ich ganz allein auf der Welt. Sehr düster und erschütternd und kalt." Ihre Miene überschattete sich in Gedanken daran, und sie gab sich einen Ruck. "Und bevor du fragst, Bob hat mich bereits auf die Streckbank gezwungen und überprüft, ob es dafür eine Ursache gibt." John mußte trotz seiner Betroffenheit lächeln, denn er konnte sich lebhaft vorstellen, was ihr Kollege alles angestellt haben mußte, bis sie einer Untersuchung zugestimmt hatte. Sie deutete seinen Gesichtsausdruck richtig.

"Ich war gerade wehrlos vor Schmerzen!", meinte sie empört.

"Und?" Sie schüttelte den Kopf.

"Die Befunde waren alle normal."

"Wie oft hast du es?"

"Alle paar Tage. Aber es dauert jetzt länger als anfangs und hat auch an Intensität zugenommen." John war außer sich. Helena war längst zu einem wichtigen Bestandteil seines Lebens geworden, ein sicheres Zuhause in einem unruhigen, manchmal chaotischen Dasein, und der Gedanke daran, daß sie nicht eine unantastbare Konstante im Lauf der Welt war, bestürzte ihn einigermaßen.

"Hast du denn eine Erklärung?"

"Keine", gab sie zu, "es sei denn, es handelt sich um ein psycho-pathologisches Phänomen."

"Du meinst, daß du verrückt wirst?" Sie mußte lachen, und die Anspannung fiel dabei von ihr ab.

"Nicht sehr schmeichelhaft, wie du das sagst", meinte sie, "aber an Ähnliches hatte ich gedacht. Mathias ließ mich einige Tests in diese Richtung machen, doch er fand keinen Hinweis für psychische Abweichungen."

"Hattest du früher schon einmal solche Symptome?"

"Nicht, daß ich wüßte."

"Könnte es von außerhalb kommen, irgendwelche Raumverzerrungen, die sich auf dich auswirken, oder was auch immer?" Sie wußte es nicht, und John gab sofort via Commlock die Order, den Weltraum mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu überprüfen, auf Anomalien und fremde Körper, insbesondere Raumschiffe, und überhaupt alles abzusuchen, von dem er annahm, daß es für das Phänomen verantwortlich sein konnte.

"Du übertreibst", ließ sie ihn kopfschüttelnd wissen. Sein Gesicht nahm einen grimmigen Ausdruck an.

"Ich will kein Risiko eingehen, Helena. Jede potentielle Gefahr für Alpha muß rechtzeitig erkannt werden!" Sie lehnte sich vor und nahm lächelnd seine Hand.

"Für Alpha? John, ich weiß deine Fürsorge zu schätzen, aber ich glaube, du machst aus einer Mücke einen Elefanten." Er erwiderte, daß er das sehr hoffe.

 

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Der Weltraum indessen war friedlich. Der Mond befand sich schon lange in einer sternlosen Leere, die sich wie schwarzer Samt um den kleinen Himmelskörper legte und die Menschen manchmal daran zweifeln ließ, daß sie je wieder in die Nähe eines Sonnensystems gelangen konnten.

Seit John seine Anordnung gegeben hatte, das All genauestens zu überwachen, hatte die Mannschaft der Kommandozentrale diese Befürchtung auch überdeutlich vor Augen.
Dennoch tat dies Sandras guter Laune keinen Abbruch, denn dies bedeutete wenigstens, daß sie beschäftigt war, und nichts mochte sie weniger, als untätig an ihrem Arbeitsplatz zu warten und ihre Schicht abzusitzen. Paul führte ein strenges Regiment und erlaubte auch in ereignislosen Zeiten nur kurze Abwesenheiten vom Dienst. Der Commander dagegen war nachsichtiger und entließ auch mal den einen oder anderen in Rufbereitschaft, wenn gerade nichts zu tun war - worüber sich Paul regelmäßig ärgerte, denn Dienst war schließlich Dienst und keine Freizeit!

Jetzt jedenfalls konnte keiner über Langeweile klagen, denn die neuen telemetrischen Daten schneiten herein und mußten ausgewertet werden.

Alan Carter kam von seinem Routinekontrollflug zu den Atommüllagerungsplätzen zurück und knallte eine Datenbox auf Kanos Arbeitstisch. Er war gut aufgelegt und ignorierte den mürrischen Kommentar des Computerexperten, der dem Piloten einen beachtlichen Mangel an Feingefühl, was das elektronische Medium anging, unterstellte. Stattdessen begann Alan ein Schwätzchen mit Sandra und erkundigte sich nach Neuigkeiten.

"Bis jetzt haben wir nichts Aufregendes gefunden", antwortete sie bereitwillig und nützte die Gelegenheit zu einer kleinen Pause.

"Ja, ich frage mich, warum wir hier überhaupt Daten sammeln! Seit vier Tagen tun wir nichts anderes, als den Weltraum nach irgendwelchen ominösen Veränderungen abzusuchen! Ohne ein brauchbares Ergebnis wohlgemerkt!"

"Immer mit der Ruhe", grinste Alan, für den Pauls Einwand nicht unerwartet kam, "der Commander wird schon seine Gründe dafür haben."

"Ich finde das nicht witzig! Monatelang bemühen wir uns, mit Energie- und Materialverbrauch im grünen Bereich zu bleiben, und dann kommt aus heiterem Himmel ein Befehl, der uns, wenn das so weitergeht, meilenweit im Plan zurückwerfen wird! Ich würde wenigstens gerne wissen, warum wir hier arbeiten. Und wenn der Commander eine Gefahr vermutet, dann haben wir das Recht, davon zu erfahren." Alan, der gar nie vorgehabt hatte, an dieser Stelle eine Grundsatzdiskussion vom Zaun zu brechen, hob die Schultern.

"Ich für meinen Teil habe keinen Grund, John Koenig zu mißtrauen." Paul beugte sich murmelnd über seine Arbeit, denn mit einem Ignoranten zu streiten, brachte ihm keine Befriedigung.

Plötzlich ging durch die ganze Kommandozentrale ein starker Ruck, dem ein heftiges Beben folgte. Gleichzeitig fiel die Stromversorgung aus, und während es rumpelte und der Boden rüttelte und alles, was nicht fixiert war, durcheinander schüttelte, versank die Umgebung in pechschwarzer Nacht. Das Notstromaggregat sprang jedoch nach wenigen Sekunden an, und die ganze Szenerie wurde in ein gespenstisches düsterrotes Licht getaucht. In den Halbschatten stolperten die Anwesenden über ihre eigenen Füße und fielen zu Boden, während sie versuchten, unter den Arbeitstischen in Deckung zu gehen, denn vereinzelt lösten sich die Deckenverblendungen und fielen krachend herab. Zu allem Überfluß aktivierte sich der Feueralarm und machte die Mannschaft durchdringend auf einen Brandherd aufmerksam.
So plötzlich, wie die Erschütterung begonnen hatte, war sie auch wieder zu Ende. Im Halbdunkel der Notbeleuchtung fanden sich die Anwesenden inmitten eines Durcheinanders, in dem es nach Elektrizität und verschmorten Kabeln roch, wieder. Der Alarm war durchdringend, und erst nach einer geraumen Weile hatten sich die Anwesenden wieder gesammelt und adjustiert.

"Sandra, wo kommt der Feueralarm her?", rief Paul, während er versuchte, seinen Arbeitsplatz notdürftig von Trümmern zu befreien.

"Das System funktioniert nicht, ich habe Schwierigkeiten, die Meldung zuzuordnen!"

"Ich arbeite schon daran!", kam es aus dem Hintergrund, wo Kano, aus der Nase blutend und mit einer Schramme an der Wange versehen, bereits die Verkleidung des Hauptcomputers herunter gerissen hatte und, von der Ferne nicht näher definierbare, qualmende Einzelkomponenten aus den Eingeweiden des Rechners austauschte.
Die Verbindungstür zum Kommandantenbüro wurde mit Mühe von Hand geöffnet, und John trat in Gefolge eines zerzausten Victors in die Zentrale.

"Was zum Henker ist da passiert? Paul, Bericht!"

"Schwierig, Commander, es dürfte sich um ein Mondbeben gehandelt haben, das unsere Systeme lahmgelegt hat. Bisher wissen wir noch nichts Näheres."

"Sind alle hier in Ordnung?" Ein zustimmendes Murmeln erhob sich, und tatsächlich war jeder wieder fieberhaft bei der Arbeit.

"Das Feuer ist in einem Quartier ausgebrochen", ließ Sandra wissen, "es ist zum Glück unter Kontrolle. Weiteren Commlock-Meldungen zufolge wurde bislang keine Dekompression beobachtet."

"Was ist mit dem Computer?"

"Die Basisfunktionen sollten in Kürze wiederhergestellt sein", meldete Kano schwitzend, nachdem er mit seinen Kollegen in der Computerzentrale gesprochen hatte. In der Tat setzte gleich darauf das gewohnte Summen wieder ein, und diverse Warnlichter begannen zu blinken. Normale Lichtverhältnisse stellten sich ein, und der Feuermelder erstarb mit einem Heulen. Offensichtlich war es gelungen, den Brand zu löschen. Ein erstes Aufatmen war die Folge.
Endlich kamen auch andere Mitarbeiter des Hauptquartiers herein, die von steckengebliebenen Aufzügen und geschlossenen Türen aufgehalten worden waren, und eilten ihren Kollegen zu Hilfe.

 

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Einmal mehr fand ein Treffen in Johns Büro statt. Diesmal aber war es deutlich ersichtlich, daß es sich nicht um ein beliebiges Meeting handelte, alle hatten vor Müdigkeit blaue Ringe unter den Augen, zerraufte Haare oder wurden sogar von Pflaster und Verbänden verunziert.
John selbst war, wie häufig in ähnlichen Situationen, zu nervös zum Sitzen und zwang sich dazu, wenigstens an einer Stelle stehen zu bleiben, während er sich die Berichte des Kommandostabs anhörte.

Insgesamt schien der Vorfall noch glimpflich verlaufen zu sein. Kein lebensnotwendiges System war ernsthaft beschädigt worden, viele Bereiche waren sogar völlig verschont geblieben. Nur wenige Mannschaftsmitglieder hatten sich ernsthaft verletzt, und mit Ausnahme eines Oberschenkelhalsbruches nach einem Leitersturz waren lediglich kleinchirurgische Eingriffe vonnöten gewesen.
Einige Rampenschlitten und zwei Adlerlandungsplätze waren blockiert, einer der Gravitationsgeneratoren funktionierte nicht, und sämtliche Außensensoren waren ausgefallen. Insgesamt war aber damit zu rechnen, daß in Stunden - spätestens in wenigen Tagen - die Schäden wieder behoben waren.
John merkte, wie der Druck hinter seinem Brustbein nachließ.

"Alle haben gut und effizient gearbeitet. Ich möchte, daß sich diejenigen, die schon die zweite oder gar dritte Schicht durcharbeiten, unverzüglich außer Dienst begeben. Besetzungsprobleme bitte ich, wie üblich, durch die Abteilungsleiter zu lösen." Damit war die Besprechung zu Ende.

Zurück blieben John, Victor und Helena. Der Commander nahm nun doch auf der Couch Platz, und die beiden gesellten sich zu ihm. Alle drei waren müde, denn jeder von ihnen war durchgehend auf seinem Posten gewesen, und besonders Victor merkte man es an, daß er zwar ein unschlagbares Herz hatte - aber einen Körper, der solche Anstrengungen nicht mehr klaglos tolerierte.

"Geht schlafen", riet John ihnen.

"Deine Anordnung gilt wohl für dich nicht, oder wie?"

"Helena, mit dir will ich mich jetzt wirklich nicht streiten. Ich habe vor, mir auch ein paar Stunden Schlaf zu genehmigen."

"Aber?" John schaute auf und bemerkte, wie Victors Blick beobachtend auf ihm lag.

"Nennt mich paranoid, aber irgendwas stimmt da nicht." Er rieb sich die Augen und ärgerte sich sofort, weil er wieder einmal seine unausgegorenen Bedenken hinausposaunt hatte.

"In welche Richtung denkst du?"

"Ich weiß es nicht, nur eine Ahnung. - Was machen deine Kopfschmerzen, Helena?"

"Besser", erwiderte sie, "heute bin ich verschont geblieben, und die Schmerzen haben auch generell nachgelassen. Wenn diese Anfälle jetzt kommen, ist es wie ein Überfall einer Leere, so, als hätte mein Gedächtnis es darauf angelegt, sich auszuschalten." Es war schlimmer als nur eine Leere, aber im Moment hatte sie nicht vor, John auch noch zusätzlich eine schlaflose Nacht zu bescheren. Sie sah ihm an, daß er schon zu müde war, die subtilen Zwischentöne ihrer Worte herauszuhören - und war dankbar dafür. John fuhr sich wieder mit der Hand über die Augen.

"Na, vielleicht sieht alles nach einer Mütze voll Schlaf ganz anders aus. - Nun geht schon. Wir sehen uns später." Helena und Victor folgten der Aufforderung, und er blieb noch sitzen, in Gedanken darüber versunken, ob er denn irgendwelche Zusammenhänge erkennen konnte, die die Ursache für sein Mißtrauen waren. In der Kommandozentrale nebenan war es ruhig, und die Ruhe betäubte ihn dermaßen, daß er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Schließlich gab er auf und zog sich in sein Quartier zurück.

 

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Wenige Stunden später war John wieder auf den Beinen. Der Schlaf, obschon kurz, hatte ihm gut getan, und er war wieder voll neuer Energien.
Vor der Kantine traf er auf Victor, der ein Tablett mit einer Thermoskanne und zwei Muffins vor sich her balancierte.

"Ich dachte, du frühstückst nie?"

"Oh, ich hatte heute Nacht einen Gast", antwortete er, "als Helena und ich dein Büro verließen, sagte sie, daß sie wieder diese Kopfbeschwerden spüre und wollte verständlicherweise nicht allein sein. Sie kam auf einen Tee zu mir ins Quartier, und dort gelang es mir offensichtlich, sie mit Ravels Bolero zu Tode zu langweilen, denn sie schlief im Handumdrehen am Sofa ein. - Vielleicht kannst du mich aber ein Stück begleiten, denn ich habe mir einige Gedanken zu unserer Lage gemacht." John stimmte zu, und sie gelangten bald zur Unterkunft des Wissenschaftlers, der eintrat und im Halbdunkel des Wohnbereichs das Tablett auf den Couchtisch abstellte.
Helena schlief noch, das blonde Haar wirr über das Gesicht und sie selbst fast zur Gänze unter einer Decke im grellbunten Karomuster versteckt. Nur am unteren Sofaende schaute ein Stiefelpaar hervor.

"Ich bitte dich, Victor, du hättest ihr wirklich die Schuhe ausziehen können!", flüsterte John amüsiert.

"Was erwartest du von mir!", erwiderte sein Freund überfordert, "Für so was fühle ich mich nicht zuständig!" Helena rührte sich nicht, und leise verließen sie die Unterkunft wieder.

"John, ich habe soeben Erkundigungen eingezogen, was dieses Mondbeben angeht."

"Ja?"

"Wenn man den geologischen Daten, die wir vom Mond haben, glauben darf, dann ist ein Beben solcher Stärke nicht möglich."

"Was folgerst du daraus?" Victor nickte bloß mit bedeutsamer Miene und bestätigte damit Johns düstere Vorahnungen.

"Also muß es eine Kraft sein, die von außerhalb auf uns eingewirkt hat."

"Leider sind die Raumsensoren noch nicht in Ordnung. Also wissen wir nicht, was draußen los ist." Sie waren mittlerweile in der Kommandozentrale angelangt, und das diensthabende Team machte bereits einen etwas angeschlagenen Eindruck. Daß keine helle Aufregung herrschte, beruhigte John einigermaßen, und er ließ sich von Winters, der Pauls Stelle eingenommen hatte, einen Statusbericht geben.

Die Wiederherstellungsarbeiten waren in den vergangenen Stunden etwas schleppend vorangegangen, doch immerhin hatte man die schwerwiegendsten Probleme inzwischen behoben, und selbst die Scanner waren seit wenigen Minuten wieder in Ordnung.

"John, sieh dir das an!" Victor stand an der Fensterfront und blickte verblüfft in die schwarze Mondlandschaft hinaus. Nicht nur der Kommandant, sondern alle Anwesenden kamen der Aufforderung nach und sahen so über dem Horizont eine kleine milchig verwaschene, schwache Helligkeit ausstrahlende Kugel aufsteigen, die wie eine Sonne im Miniformat einen matten Schimmer weißlich-gelben Lichtes auf die Landschaft warf.
Rasch erhob sie sich in den schwarzen Himmel und positionierte sich weit über Alpha, wo sie zum Stillstand kam.

John, in Alarm versetzt, bellte Befehle an die Alphaner.

"Tanya! Alarm! Schließt alle Schleusen, fahrt die Schutzschilde hoch - und alles nicht notwendige Personal ab in die Schutzbunker! Piloten in die Kampfadler und abwarten auf mein Kommando. Medizinische Abteilung: Standby für Noteinsätze! - Ich will wissen, was das ist! Auf den Hauptbildschirm damit! Haben wir schon Daten?" Hektik kehrte in der Zentrale ein - und mit dem Ertönen des Alarms auch ohne Zweifel in der restlichen Basis.
Doch nur wenige Sekunden später verstummte der Alarm wieder. John eilte zu Sandras Arbeitsplatz, an dem Tanya nun saß und aufgebracht die Tastatur ihres Computerzugangs bearbeitete. Erfolglos allerdings.

"Die basisinterne Kommunikation funktioniert nicht!" Über dem Stimmengewirr erhob sich plötzlich ein statisches Rauschen und Krachen, das auf ganz Alpha zu hören war.

"Erdenmenschen! .......... Leistet keinen Widerstand!" Die von Störungen überlagerte Übertragung brach in einer Kaskade knackender und knisternder Geräusche ab und fuhr nach einer langen, atemlosen Pause schließlich fort: "Leistet keinen Widerstand! Ihr seid die Gefangenen des Planeten Triton!"

 

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Die Augen Tritons.
Sie waren eine Sonde gewesen, von ihrem Heimatplaneten ausgesandt, um die Informationen des ganzen Universums zusammenzutragen und sie an die Tritoner weiterzugeben. Es handelte sich um eine künstliche Intelligenz, einer entmenschlichten, technisierten Welt entsprungen, deren Wesen sich in der Rücksichtslosigkeit spiegelte, mit der sie sich Kenntnisse aneignete. Dabei hatte sie den Respekt für das individuelle Leben verloren und Wissen und Information ultimativ über die Rechte der Selbstbestimmung anderer Zivilisationen gestellt.
Die Alphaner hatten unfreiwillige Bekanntschaft mit diesen Augen Tritons gemacht und dabei zwei - fast drei - Mannschaftsmitglieder verloren, ehe es gelungen war, der Sonde klarzumachen, daß die Welt, für die sie all das Wissen zusammenraffte, nicht mehr existierte.
Sie hatte, nunmehr ohne Funktion, die einzige, ihr logische Konsequenz gezogen und sich in einer immensen Explosion zerstört.

Wie konnte sie jetzt also wieder da sein, wenn sich dieses riesengroße Sammelsurium an Daten vor den Augen der Menschen selbst vernichtet hatte? Es bestand jedoch kein Zweifel, daß sie es war, denn wieder hatte sie den Mond in ihren Orbit gesperrt, und wieder schützte sie sich mit einem Kraftfeld vor dem Zugriff der Menschen. John zerbrach sich den Kopf darüber, während er mit einem Becher Kaffee an seinem Schreibtisch saß und auf den nächsten Schritt der Sonde wartete.
Mittlerweile waren die Schäden behoben, die sie auf Alpha verursacht hatte. Alle Fenster der Basis waren verbarrikadiert worden; es sollte niemand mehr wie damals Ted Clifford in ihren Einfluß geraten und einen sinnlosen Tod sterben. Clifford war am Fenster von dem orangefarbenen Licht gefangen worden und hatte unter dem fremden Einfluß versucht, Informationen aus dem Computer an Tritons Handlanger weiterzugeben. Doch es hatte nicht funktioniert, Ted hatte den Eingriff in seinen Verstand nicht überlebt - und dann hatten sie sich als Ersatz Helena geholt.
John merkte, wie sein Herz einen Schlag aussetzte. Gab es einen Zusammenhang zwischen diesem Ereignis und Helenas immer häufigeren Beschwerden? Sie hatte von einem Gefühl der Leere gesprochen, und, auch wenn sie nie genauer erzählt hatte, was ihr die Sonde damals angetan hatte, schien ihm die Assoziation frappant genug, um sich darüber Sorgen zu machen.

 

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Helena war von der Stimme der Sonde aus dem Schlaf gerissen worden. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie gemerkt hatte, daß es diesmal keiner jener schlechten Träume über Triton war, die ihr anfangs gehörige Angst eingejagt hatten und aus denen sie so kraftlos und ausgelaugt aufzuwachen pflegte, als wäre ihr das Leben aus den Knochen gesaugt worden.
Diese Stimme nun war real, und in ihrem Hinterkopf hatte sich jäh eine vage Erinnerung an bereits Erlebtes manifestiert, das sie aber nicht zuordnen konnte, weil es sich nicht um Bilder sondern nur um Gefühle handelte - merkwürdige Gefühle mit einem eindeutig bedrohlichen Charakter.
Zuerst hatte sie versucht, alle Gedanken, die im Zusammenhang mit Tritons Sonde standen, zu ignorieren, aber sie hatte schnell bemerkt, daß dies unmöglich war. Ihr Innerstes befand sich in einem wahren Aufruhr, weil sie fühlte, daß es eine Verbindung zwischen ihrer angeschlagenen Gesundheit und den wieder erschienenen Augen Tritons gab.

Und nicht nur sie sah die Zusammenhänge.

Der Commander hatte sie in ihrem Büro aufgesucht, wo sie sich vergeblich nach einer Ablenkung von ihrem aufgewühlten Gemüt umgesehen hatte. Sein Besuch war ihr nicht gerade willkommen gewesen, denn ein kurzer Blick in sein Gesicht hatte ihr die Gewissheit gegeben, daß er dieselben Schlüsse wie sie gezogen hatte und nun mit ihr darüber sprechen wollte.
Seine Fragen waren schwierig zu beantworten, denn sie drehten sich hauptsächlich um die Erlebnisse, die sie beim ersten Zusammentreffen mit der Sonde gehabt hatte. So direkt damit konfrontiert, war ihr jedoch bewußt geworden, daß sie das meiste davon vergessen hatte.
John war ein Mensch, der sich nicht leicht mit unbefriedigenden Antworten zufrieden gab, doch sie war mitten unter dem Gespräch in ein neues Vakuum gefallen, eine düstere, schwarze Finsternis, die es auf ihren Verstand abgesehen hatte und sie völlig betäubte. Ihr Versuch, sich schnell unauffällig zurückzuziehen, war fehlgeschlagen, und John hatte hilflos nach Mathias gerufen, der aber trotz der Autorität, mit der er auftrat und ihr Tabletten zum Einnehmen gab, in Wahrheit nicht minder hilflos als der Commander war.

Jetzt war sie rastlos und fühlte sich gleichermaßen machtlos wie zornig, weil sie merkte, daß der Feind langsam zu siegen begann, indem er sich in ihr Gedächtnis fraß und versuchte, ihr die Vergangenheit wegzunehmen.
Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, und wieder sah sie ihre erste Begegnung mit der Triton-Sonde vor ihrem geistigen Auge. Diese hatte die Alphaner in einen Hinterhalt gelockt und Helena entführt, um sie für ihre Zwecke zu adaptieren. Das Gespräch, das sie mit ihr geführt hatte, war das einzige, an das sie sich in diesem Zusammenhang noch relativ klar erinnern konnte. Sie hatte große Macht gespürt und sich dabei in eine starke Isolation gedrängt gefühlt. Die Konfrontation mit der körperlosen Stimme war unheimlich gewesen, auch Angst auslösend, aber keineswegs so traumatisierend, daß es notwendig war, alles weitere zu vergessen!

Tatsächlich aber konnte sie sich an die "Aktivierungen" gar nicht mehr erinnern, in deren Verlauf sie die Speicher des Alpha-Hauptcomputers auf die Datenbänke der Tritoner übertragen hatte. Nur eine umfassende Desorientierung und das Gefühl, verloren zu sein, waren untrennbar mit diesen Ereignissen verbunden und auch der Grund dafür, warum sie mit dem Auftauchen der Sonde sofort eine Parallele zu ihren, seit Wochen bestehenden, Beschwerden gezogen hatte.
Es schien ihr fast, als hätten die Augen Tritons nach ihr gesucht.

 

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Triton hielt sich bedeckt. Die blasse, gelbliche Kugel hing nach wie vor reglos über der Basis und lähmte das Leben auf Alpha, wo man sich nicht erklären konnte, was die Sonde denn noch von ihnen wollte, nachdem sie bereits im Besitz nahezu des gesamten alphanischen Wissens war.

Die Alarmbereitschaft in der Kommandozentrale hatte nicht nachgelassen - und würde es auch nicht, solange die Gefahr über der Ansiedlung schwebte.
Alan starrte etwas mißmutig über des Commanders Passivität auf den Hauptbildschirm, der eine Ansicht der Sonde, von einer der Außenkameras aufgenommen, zeigte. Er war ein Mann der Tat und glaubte, man sollte wieder versuchen, die Kugel mit einem Adler zu erreichen, denn so würde diese wenigstens gezwungen zu handeln, statt über der Szene zu verharren und Alpha stumm zu bedrohen. Ausnahmsweise deckten sich in diesem Fall seine und Paul Morrows Meinungen, der zwar nicht unbedingt einen Adler heranziehen wollte aber doch die Ansicht vertrat, daß es notwendig war, die Tritoner aus der Reserve zu locken.

Victor, der sich gerade einige seiner Berechnungen vom Computer bestätigen ließ, verstand die Ungeduld seiner jungen Kollegen. Aber während sie nur Vermutungen über die Gründe des Kommandanten anstellten, wußte er, warum sich John so restriktiv verhielt.

"Schon fast drei Tage lang sitzt sie da oben wie eine alte Spinne und wartet und wartet! - Wieso ist sie überhaupt wieder da?", ereiferte sich Alan, "Ich war der Meinung, daß sie sich zerstört hat!"

"Hat sie auch", erwiderte Victor und gesellte sich zu der kleinen Gruppe. "Seht sie euch an! Diese hier ist gelb - nicht orange wie ihr Vorgänger. Es erscheint mir logisch, daß die Zivilisation der Tritoner mehr Sonden als nur eine auf die Reise geschickt hat, um Erkenntnisse zusammenzutragen. Das All ist groß."

"Sie sagen es, Professor. Das All ist groß. - Wie kommt es dann, daß wir wieder auf so ein Exemplar treffen?", wollte Paul wissen. "Die Gesetze der Wahrscheinlichkeit sprechen nicht gerade dafür." In Victors Miene kehrte Betroffenheit ein, und er seufzte.

"Dr. Russell??" Sandra folgte seinen Gedankengängen richtig, noch ehe er antworten konnte. Er stimmte betreten zu.

"Ich halte es für möglich, daß noch irgendwas von der Lichtkugel, die in Dr. Russells Gehirn verpflanzt wurde, übrig blieb und daß dies die Sonde auf unsere Spur lockte."

"Es heißt, daß Dr. Russell krank ist." Die kleine Analytikerin formulierte ihren Satz absichtlich vorsichtig, denn sie selbst hatte Helena anläßlich ihrer - allerdings spärlichen - Visiten im Hauptquartier gesund und munter gesehen. Auch wußte sie, daß sie nach wie vor ihren Dienst auf der Medizinischen Abteilung versah.

"Ich weiß nicht, ob sie krank ist", antwortete der Wissenschaftler wahrheitsgemäß. Paul schaute auf.

"Dr. Russell spielt in dieser Sache eine wichtige Rolle, nicht wahr, Professor?"

"Das steht leider zu befürchten, Paul." Der Controller nickte bedächtig.

"Nun, dann verstehe ich Commander Koenigs Haltung, vorerst abzuwarten."

"Wir sollten die Sonde schleunigst dazu bringen, sich ebenfalls zu zerstören", schlug Alan vor. "Erzählen wir ihr doch auch, daß ihr Heimatplanet in Rauch und Asche aufgegangen ist!"

"So leicht ist es nicht", erwiderte Victor mit Bedauern. Sandra bestätigte dies.

"Ja, das ist leider richtig. Sie ignoriert alle Versuche der Kontaktaufnahme - und mehr noch, alle Informationen, die wir ihr schicken."

"Sie hat ihre eigene Art, sich Wissen anzueignen." Victors Worte lösten Betroffenheit unter den Anwesenden aus. Eine Weile herrschte Stille, bis Sandra beklommen fragte:

"Und warum hat sie Dr. Russell nicht aktiviert?"

"Sie versucht es, Sandra. Wahrscheinlich ist es ihr aber nicht möglich. Ich denke, sie müßte dazu erst die Vorrichtung in Helenas Gehirn erneuern."

"Gut! Dann müssen wir nur verhindern, daß sie - oder jemand anderer - wieder in ihre Fänge gerät!" Victor lächelte aufmunternd. Auch John hoffte auf diesen Ausweg. Doch er selbst war sich nicht so sicher, daß die Alphaner wirklich eine Wahl hatten.

 

~°~°~°~°~

 

Auf der Basis herrschte eine Stimmung wie bei der Götterdämmerung. Die Mondbewohner waren schon längst Gefangene, den Beschränkungen ihrer künstlichen Umgebung unterworfen, Gefangene ihres eigenen Zuhauses, aber ein unberechenbarer und mächtiger Feind, der ständig über sie wachte und ihre wenigen Freiheiten auch noch beschnitt, war ihnen auf die Dauer nicht zuzumuten. John selbst fand dies nicht zumutbar - und doch sträubte er sich gegen das einzige Mittel, die Sonde loszuwerden.

Er hatte versucht, sich selbst als Vermittler anzubieten. Der Plan war einfach gewesen, er hatte die schützenden Mauern der Basis in einem Raumanzug verlassen und war hinaus auf die Mondoberfläche getreten, damit ihn die Sonde zu sich holen und alles Nötige veranlassen konnte, um ihn in ihre Dienste zu nehmen. Er hatte gehofft, ihr schnell klarmachen zu können, daß Triton nicht mehr existierte. Im günstigsten Fall hätte sie sich wie auch ihr Vorgänger zerstört - und ihn wieder freigegeben.

In Wirklichkeit aber war es nicht so einfach. Die Sonde wollte nicht ihn. Sie wollte Helena.

 

Die Chefärztin hatte ihn um eine Unterredung gebeten. Es war zwar bereits später am Abend, aber im Augenblick ein Auge zuzutun, schien ihm ohnehin absurd. Er wußte von ihren Kollegen im Lazarett, daß sie mittlerweile immer häufiger den Attacken auf ihre Psyche ausgesetzt war. Der Vorfall in ihrem Büro hatte ihn sehr erschreckt, weil es offensichtlich war, daß diese Beschwerden immer intensiver wurden und ihr an die Substanz gingen - auch wenn Helena dazu neigte, sie zu bagatellisieren und nach außen hin den Schein zu wahren.

Er unterbrach sein ruheloses Auf- und Abgehen, um sie einzulassen. Sie sah mitgenommen aus, und aus ihrem Gesicht sprach eine Verzweiflung, die nur notdürftig getarnt war von ihrer allseits bekannten "öffentlichen" Fassade.

"John, laß mich hinausgehen", bat sie ihn ohne Einleitung und nahm unaufgefordert auf seiner Couch Platz. Ihre schlechte Verfassung traf ihn, weswegen auch ihr Wunsch bei ihm auf heftige Ablehnung stieß.

"Kommt nicht in Frage! Wer weiß, was dieses Ungeheuer mit deinem Gehirn anstellen wird und ob dein Verstand überhaupt ein zweites Mal dazu in der Lage sein wird, einen solchen Eingriff auszuhalten!"

"Oh, ich bitte dich, John! Du weißt genauso wie ich, daß es keinen anderen Ausweg für Alpha gibt!"

"Dann erinnerst du dich also?"

"Nein. Nicht wirklich." Er sah, daß sie große Angst hatte. "Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll. Es ist diese Leere, die immer mehr überhand nimmt, und das Gefühl, daß man mir mein Leben wegnimmt. Meine Erinnerungen, meine Prinzipien, mein ganzes Wesen - alles droht, sich aufzulösen." Sie pausierte, und die Schatten in ihrem Gesicht verdichteten sich. "Mir ist, als bliebe von mir nichts mehr über." Er war zutiefst bestürzt. Das war nicht mehr die ruhige, selbstsichere Chefärztin, die an alle Probleme mit der nötigen Distanz und einem gesunden Realitätssinn heranging! Sie so verwundbar zu sehen, brachte ihn völlig aus dem Konzept.

"Aber Helena, wenn sie dir dein Leben stiehlt, warum willst du dann zu ihr?"

"Weil ich lieber sterbe, als diesen toten Verstand der Sonde, diese Kälte und Verlorenheit noch länger auszuhalten! Sie lebt nicht, und sie versteht Leben nicht. Darum begreift sie auch nicht, was sie den Wesen antut, die sie benutzt." Sie gewann ihre Fassung wieder. "Ich habe keine aktive Erinnerung mehr an die Zeit, als mich die Sonde in ihrem Verstand absorbierte und mich zu ihrem Diener machte - nur die Empfindungen von damals holen mich ein und das Wissen, dabei alles zu verlieren, was mich menschlich macht. Ständig versucht sie, sich in meinen Kopf zu stehlen. Aus irgendeinem Grund gelingt es ihr nicht, mich zu aktivieren, und deswegen muß ich zu ihr gehen und es zulassen." Ihre Worte machten Sinn, aber er war voller Zorn über die Dreistigkeit der Sonde, über ihre Gleichgültigkeit und die Selbstverständlichkeit, mit der sie über denkende, fühlende Wesen verfügte.

"Ich werde eine andere Möglichkeit finden, die Tritoner loszuwerden", sagte er düster, "versprich mir, daß du Alpha nicht verlassen wirst!" Sie schwieg und sah ihn dabei mit einem störrischen, endgültigen Blick an, der deutlich sagte, was sie von seinen Forderungen hielt. "Ich werde dich bewachen lassen!" Sie erhob sich langsam.

"Du begreifst es nicht", sagte sie, "die Sonde wird von Alpha nicht ablassen, solange sie mich nicht hat. Je eher du mich gehen läßt, desto schneller wird der Mond frei sein. Und ich auch - so oder so." Ihre letzten Worte waren von seltsam brüchigem Klang, als rechnete sie nicht damit, der fremden Macht ein zweites Mal unbeschadet entkommen zu können.
John, wütend und durcheinander, wollte sie so nicht gehen lassen, doch er fand keine Worte, die ihm aus der Situation helfen konnten. Zum Glück piepste sein Commlock.
Es war Victor, der, von der anscheinend allgemeinen Schlaflosigkeit angesteckt, Gesellschaft suchte. Als der Wissenschaftler etwas zerstreut eintrat, zerfiel die knisternde Spannung in Johns Wohnraum wie eine nächtliche Illusion im Lampenschein. Helena sank kraftlos zurück auf das Sofa.

"Ich dachte mir, daß du noch wach bist", sagte Victor zu John und bemerkte erst auf den zweiten Blick die Chefärztin. "Oh, Helena, du bist auch hier." Sie nickte matt. "Ich frage mich schon die ganze Zeit, warum in deinem Gehirn ein Signal für andere Kundschafter Tritons zurückgelassen wurde, Helena. Ich meine, dieses Signal könnte ja bedeuten: 'Bemüht euch nicht, wir waren schon hier.' Das wäre sinnvoll. Aber warum läßt dich diese Sonde nicht in Ruhe? Sie muß ja wissen, daß hier nichts mehr zu holen ist." Helena konnte und wollte nicht darüber nachdenken.

"Nun, Victor, dann bedeutet das Signal offensichtlich etwas anderes", gab John, ebenfalls erschöpft, zur Antwort.

Victor hatte eine seiner geistig aktiven Phasen und schien darum die Hilflosigkeit, die seine beiden Freunde ausstrahlten, nicht zu bemerken.
"Vielleicht glaubt sie, daß sie uns trotzdem noch einmal überprüfen muß", spekulierte er weiter. "Immerhin handelt es sich ja nur um eine Maschine, die es auch logisch findet, sich selbst zu zerstören, wenn sie plötzlich keine Aufgabe mehr hat - statt, wie wir es täten, nach einer neuen Herausforderung zu suchen." John, der überhaupt keine Lust hatte, sich Fragen ohne Antworten über das Innenleben des Feindes zu stellen, seufzte nur tief. "Und habt ihr euch gefragt..." Victor verlor den Faden, als er in Helenas bleiches Gesicht sah und daneben Johns Zorn, Frust und Verzweiflung erkannte. Er setzte sich zu den beiden und wandte sich an Helena. "Du willst dich ihr stellen, nicht wahr?"

"Ja", sagte sie. "Aber nenn mir eine andere Möglichkeit, und ich werde sie mit Freude ergreifen." Victor blieb stumm. Sie stand nun doch auf und ging zur Tür.

"Helena, ich verbiete dir, diese Mauern zu verlassen!" Johns Befehl war ohne Schärfe und genauso lahm, wie sein Versuch, sich zu erheben. Victor legte ihm seine Hand auf den Arm und schüttelte den Kopf.

"Ich bin... wirklich müde", sagte sie. Damit verließ sie das Kommandantenquartier. John starrte noch auf die Tür, nachdem sie sich schon lange geschlossen hatte.

 

~°~°~°~°~

 

"Commander, es tut mir leid, Sie zu wecken, aber wir haben gerade festgestellt, daß Dr. Russell sich in Schleuse 34 befindet. Sie hat den Öffnungsmechanismus manipuliert, und wir können sie nicht daran hindern, nach draußen zu gehen. Ein Sicherheitsteam ist schon unterwegs." John, der natürlich hellwach war, fuhr sich mit beiden Händen durchs wirre Haar. War es Egoismus, sie aufhalten zu wollen, war es die Furcht davor, eine wichtige Fachkraft zu verlieren oder davor, einem übermächtigen Gegner zu unterliegen? Erwartungen nicht gerecht zu werden? Aber er kannte die Antwort. Egoismus war auch ein Grund, aber genauso war es das Wissen, daß sie, wie jeder andere auf Alpha auch, viel wertvoller war als alle mit Information gefüllten Speicherbänke des Universums zusammengenommen.

Nach einer Pause, die ihm selbst wie Ewigkeiten vorkam, sagte er schweren Herzens: "Laßt sie gehen, Sandra. Leitet das Bild auf den Monitor in mein Quartier." Sandra schien in sich zusammenzusinken, und ihr Gesicht nahm einen bekümmerten Ausdruck an.

"Ja, Commander." Ihr Bild erlosch, und stattdessen erschien die Außenaufnahme eines alphanischen Gebäudekomplexes im schwachen, gelben Licht der Sonde. Eben öffnete sich ein Schott, heraus trat eine Gestalt im Raumanzug und machte ein paar zögerliche, in der herabgesetzten Schwerkraft des Mondes ungelenke Schritte in die öde Landschaft hinaus.
John aktivierte die Sprechverbindung zu Helena und rief sie zurück. Sie antwortete nicht und blieb nur einen Augenblick lang stehen, ehe sie ihren Weg fortsetzte.

Es war zu spät, sie wieder hereinzuholen, er wußte es, noch ehe der gelbe Lichtball aus dem Nichts erschien und Helena, die mitten in der Bewegung erstarrte, einfing. Sie löste sich in der Helligkeit auf, bevor das Licht auch verblaßte und, abgesehen von einer Fußspur im Staub des Mondes, nichts mehr zurückließ. John biß die Zähne zusammen und hieb mit der Faust auf den Tisch, sodaß eine gläserne Schale mit einem Klirren zu Boden fiel und in tausend Splitter zersprang. Unkonzentriert raffte er mit den bloßen Händen die Scherben zusammen, bis er feststellte, daß seine Hände bluteten. Ungläubig bemerkte er, daß er die Schmerzen nicht wahrgenommen hatte.

 

~°~°~°~°~

 

Helena hatte die Orientierung verloren, sie schwebte im Nichts, frei von den beengenden Formen ihres Raumanzugs. Um sie war finsterste Nacht. Déjà vu, dachte sie, das kam ihr sehr bekannt vor. Vor ihr erschien ein buntes Flackern; auch daran erinnerte sie sich. - Ebenso an die beklemmende Atmosphäre; und die dumpfe Furcht vor der Macht, die hinter diesen Lichtern steckte, engte ihr den Hals ein. Ein Rauschen und leises Knistern war zu hören, und sie spürte wieder festen Boden unter ihren Füßen.

"Wir kommen vom Planeten Triton." Die Stimme war dieselbe wie damals, die Stimme, die sie verfolgt hatte seit dem ersten Treffen mit den Augen Tritons.

"Ich weiß", erwiderte sie und gab sich alle Mühe, ihre Angst zu verbergen," ihr sammelt das Wissen aller Welten und gebt es an euren Heimatplaneten weiter."

"Ja?" Ein Aufhorchen? Helena fühlte Verwirrung.

"Was wollt ihr von uns? Wieso kommt ihr wieder zurück?" Es rauschte, und die Lichter wurden matt. Helenas Verwirrung nahm zu, weil sie merkte, daß sie auf Gegenseitigkeit beruhte.

"Sie werden uns helfen, Dr. Russell." Schon wieder!

"Eure Welt weiß bereits alles, was es über die Menschen zu sagen gibt." Das Flackern setzte fast zur Gänze aus, während das Rauschen lauter wurde. Störgeräusche? Das Knistern und dieses kraftlose, blasse Licht! Helena verstand mit einem Mal, was geschehen war. Die Sonde war defekt!

"Seid ihr beschädigt worden?", fragte sie deswegen.

"Ein Protonensturm", war die Antwort, "er löschte unsere Datenbanken fast vollständig, und wir verloren die Verbindung zu unseren Brüdern im All. Wir - wir haben vergessen, warum wir existieren." Helena war verblüfft. Eine Maschine, die ihre Funktion nicht mehr kannte, war wohl nicht im Sinne des Erfinders!
"Die Zivilisationen, auf die wir trafen, konnten uns nicht weiterhelfen. Sie waren - unkooperativ und feindlich. Sie verstanden unsere Prioritäten nicht", fuhr die Stimme fort. Helena konnte sich ein lebhaftes Bild dessen machen, wieso diese anderen Welten 'unkooperativ und feindlich' waren.
"Doch endlich fanden wir das Signal, das Sie uns schickten, Dr. Russell. Wir erkannten, daß wir unsere Brüder wiedergefunden hatten." Helena hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit, plötzlich ein "Bruder" der Augen Tritons zu sein! Das war sie nicht - und das wollte sie auch nicht sein. Als deren Sklave hatte sie sich gesehen - später auch als ihr Opfer! Wie kam es nun, daß man sie auf eine Stufe mit ihren Peinigern stellte?

"Ich verstehe es nicht! Ich war nur euer Werkzeug, und ihr habt in Kauf genommen, mich für die Erlangung eures Wissens zu zerstören." Doch die Sonde ließ sich nicht beirren.

"Sie besitzen das Gedächtnis tausender Sonnen, Dr. Russell. Wir sind gekommen, es abzurufen, damit wir unseren Aufgaben wieder nachgehen können."

"Nein, ihr irrt euch. Ich weiß nur wenig, nur von den Angelegenheiten der Menschen!" Ihr Einwand blieb ungehört. Das flackernde Licht wurde wieder intensiver, und sie fühlte, wie sie sich zu drehen begann, träge wie ein Mühlrad, dessen Wasserquelle versiegte. Sie fiel in einen trügerischen Frieden, der keine Angst kannte.

"Du wirst dich zerstören, wenn du alles weißt", warnte sie die Sonde benommen.

"Es gibt keine größere Macht als die des Wissens." Helena, die es besser wußte, schwieg. Nicht alle Kenntnisse waren von Nutzen. Sie versank in einen Zustand zwischen Wachsein und Schlaf, in dem der Verstand ein Eigenleben entwickelt und keiner willentlichen Kontrolle mehr unterworfen ist. Bilder strömten auf sie ein, in rasender Geschwindigkeit sah sie die tausend Sonnen, und wie in einem Kaleidoskop schwirrten deren Welten an ihr vorüber. Einen Augenblick lang schien es ihr, als besäße sie tatsächlich das Wissen dieser Welten, sah die fernen Zivilisationen, die alle auf ähnliche Weise wie die Alphaner dazu gebracht worden waren, ihre Errungenschaften mit den Tritonern zu teilen. Und gleichzeitig fühlte sie mit jedem einzelnen Opfer der zahlreichen Augen Tritons, und ihr Machtgefühl wurde von Trauer überschattet. Eine breite Spur des Leides zog sich durch die Vergangenheit der Sonden und relativierte den Wert dieser vielen Kenntnisse.
Sie verlor sich in einem Tumult aus Faszination und Abscheu, doch nur kurz, ehe die Eindrücke zu verblassen begannen und sie wieder in ihre eigene farblose, unwissende Welt zurückglitt, jetzt reglos in Tritons Sphäre verharrend und am Ende perplex und erstaunt über die eben erkannten - und schon wieder vergessenen - Zusammenhänge im Universum.

Kein Laut war mehr zu hören, selbst das leise Rauschen der defekten Maschinerie war verstummt, und Helena wagte nicht zu sprechen. Es war ihr, als müßte ein jedes Wort von der Stille verschluckt werden.
Plötzlich verlosch auch das flackernde Licht, und völlige Finsternis umgab sie. Die Angst kehrte langsam wieder zurück und kroch ihr den Rücken hinauf. Nichts war schlimmer als die bloße Erwartung eines Schreckens, der im Hinterhalt lauerte, und sie merkte, wie ihr das Herz bis in den Hals klopfte.

Doch nichts geschah, und allmählich überfiel sie der Verdacht, daß sich die Sonde bereits deaktiviert hatte.

"Was ist geschehen?", wagte sie schließlich zu fragen. Sie lauschte angestrengt in die Finsternis nach einem Zeichen, daß sie nicht allein zurück geblieben war. Sie erschrak, als sich die Stimme endlich meldete.

"Triton existiert nicht mehr."

"Ja", sagte sie, "Triton ist schon lange tot."

"Auch die Brüder im All existieren nicht mehr."

"Wirst du dich also auch zerstören?" Wieder eine Pause.

"Ich sehe mit anderen Augen."

"Meinen?", fragte sie atemlos.

Keine Antwort.

 

~°~°~°~°~

 

Das Warten war zermürbend, und in der Kommandozentrale herrschte eine Atmosphäre, die man sozusagen mit einem Messer in Scheiben schneiden konnte.
Die Sonde stand ständig unter Beobachtung, und die Alphaner versuchten, wenn auch erfolglos, jedes noch so geringe Flackern der gelben Kugel zu deuten.
Eines stand fest: Alles dauerte zu lange! Stunden um Stunden waren vergangen, seit Dr. Russell von Tritons Augen entführt worden war. Die Sorge um sie war groß, denn sie war ein Anker der kleinen Gesellschaft auf dem Mond, eine zentrale Figur des gemeinschaftlichen sozialen Netzes, ohne die manchen ein Leben auf Alpha nur schwer möglich schien.
Die Mannschaft im Hauptquartier wagte es nicht, Commander Koenig, der sich in seinem Büro verschanzt hatte, zu stören. Man hörte ihn durch die geschlossene Tür hindurch rastlos hin- und hergehen, nur unterbrochen von einer gelegentlichen Anfrage nach neuen Informationen via Commlock.

Als das Licht der Sonde erlosch, geriet alles in Aufregung. John erschien eine halbe Sekunde später bereits wie ein Derwisch in der Kommandozentrale und rief im Laufen nach Meßdaten und einem Adler. Sandra hatte keine Chance, ihm mitzuteilen, daß Alpha wieder frei war und die Sonde ihren Einfluß auf den Mond aufgegeben hatte. Die Tür der Kommandozentrale schloß sich bereits, als sie erst den Mund zum Sprechen aufklappte.

Alan, dessen Adler auf einer der Landeplattformen wartete, bereit für einen raschen Start, rannte von seinem Quartier, von wo ihn Paul gerufen hatte, zur nächstgelegenen Station eines Rampenschlittens. Er erreichte zusammen mit John das Raumschiff, und als sie sich in die Pilotensitze fallen ließen, kam die Nachricht aus der Kommandozentrale, daß die Sensoren soeben vor Schleuse 34 ein Objekt ausgemacht hätten, das "als Dr. Russell zu identifizieren" sei.

Als die beiden vor Ort ankamen, versuchten Sicherheitskräfte gerade, Helena, die bereits ihren Helm abgenommen hatte, aus der Schleuse zu geleiten. Sie aber wies in gewohnter Manier jede Hilfe ab und trat schwankend auf den Gang hinaus. In ihr Gesicht zeichnete sich bei Johns Anblick ein sehr müdes, aber frohes Lächeln ab, worauf es ihm, ungeachtet der früheren Unstimmigkeiten, ziemlich natürlich vorkam, sie in seine Arme zu schließen. Er hielt sie fest und bemerkte ihre körperliche Schwäche.

"Wie fühlst du dich?"

"Durstig", sagte sie, "obwohl ich doch höchstens eine Stunde lang weg war." John schüttelte grinsend den Kopf.

"Eine Stunde! Mit einem Tag liegst du richtiger, Helena!" Sie löste sich aus seinen Armen und sah ihn ungläubig an.

"Ein Tag? Davon habe ich nichts gemerkt." Zwei Sanitäter kamen soeben an, Dr. Mathias im Schlepptau, der sofort Ansprüche auf die Chefärztin erhob und sie kurzerhand, und ohne auf ihren Protest zu achten, mit einem Rollstuhl abtransportieren ließ. Da dies ganz in Johns Sinne war, ließ er sie gewähren und erkundigte sich in der Zentrale nach den Aktivitäten der Sonde. Sandra gab ihm freudestrahlend zur Antwort:

"Sehen Sie selbst, Commander! Ich leite das Bild auf den Commpost hinter Ihnen um!"

"Ja, danke." Er drehte sich um und sah zu, wie Tritons Augen, nunmehr ein oranger Lichtball, sich vom Mond entfernten. Während die Entfernung rasch größer wurde, verblaßten sie und verschwanden aus dem alphanischen Himmel.

 

~°~°~°~°~

 

Im Medizinischen Zentrum waren die langwierigen Untersuchungen endlich abgeschlossen; und die Ergebnisse konnten sich sehen lassen. Es hatte sich keine Lichtkugel in Helenas Stammhirn nachweisen lassen, wie jeder zunächst befürchtet hatte, es gab keine Seh- oder Gleichgewichtsprobleme, und selbst die Kopfbeschwerden waren wie vom Winde verweht, was Helena zum Anlaß nahm, schleunigst ihre Sachen zu schnappen, um das Weite zu suchen. Als Patientin wußte sie nichts mit Krankenhäusern anzufangen. Bob, der sie zwar gerne noch für eine Nacht unter Beobachtung gehalten hätte, blieb angesichts ihrer Worte, daß es ihr schon lange nicht mehr so gut gegangen sei, nichts anderes übrig, als kopfschüttelnd nachzugeben. Den Commander, der wenig später zu einer Stippvisite vorbeikam, konnte er nur vor vollendete Tatsachen stellen.

Helena fühlte sich wirklich frisch. Sie hatte Gelegenheit gehabt, sich auszuruhen und zwischen den diversen Tests, die Mathias ihr auferlegt hatte, war genug Zeit zum Nachdenken geblieben. Vieles war ihr jetzt nicht klarer als zuvor, aber insgesamt fühlte sie, daß ihr eine Last von den Schultern genommen war.
Die erste Sonde, die ihnen begegnet war, hatte, kurz, bevor sie sich zerstört hatte, ihr Wissen in die brach liegenden Areale von Helenas Gehirn übertragen.
Helena war bekannt, daß ein Großteil des menschlichen Gehirns wenig bis gar nicht genutzt wurde; es aber als unbewußte Datenbank zu nützen, war eine Idee, wie sie nur einer künstlichen Intelligenz einfallen konnte, deren Existenz sich in genau dieser einen Aufgabe begründete. Sie wußte nicht, ob die Informationen noch immer in ihrem Kopf saßen oder ob sie von der zweiten Sonde gelöscht worden waren, jedenfalls erinnerte sie sich nur daran, kurzfristig über ein großes Wissen verfügt zu haben. Einerseits tat es ihr leid um die vielen Informationen, die auch den Alphanern sehr nützlich gewesen wären, aber gleichzeitig war ihr klar, daß es ihr nicht möglich gewesen wäre, damit umzugehen.

In ihrem Quartier angelangt, nahm sie eine Dusche, worauf sie sich schon den ganzen Tag gefreut hatte, und fühlte sich danach so lebendig und frei, daß ihr Bob Mathias´ Aufforderung, sich auszuruhen, wie eine regelrechte Schnapsidee vorkam. Sie entschied sich für einen kleinen Basisspaziergang, die Route 'Nirwana', wie sie von den Alphanern scherzhaft genannt wurde, weil sie zwar an wunderschönen Ausblicken auf die Mondlandschaft vorbei und durch die alphanischen Obstbaumgärten führte, aber ihren Endpunkt im Moloch des Erholungszentrums, genannt Club '99, fand, wo gewisse Leute regelmäßig für einen nicht unerheblichen Zeitraum zu verschwinden pflegten.

Sie kam aber nicht weit, sondern wurde von Alan bereits an der ersten Biegung abgefangen, der sie in heiterster Stimmung überredete, sofort und ohne lange Umwege das Erholungszentrum aufzusuchen. Sie folgte ihm lachend und bestellte auch John, der sich via Commlock nach ihr erkundigte, in den Club.
Er erschien mit Victor im Schlepptau, und die Gruppe ließ sich in heimeliger Atmosphäre mit dezenter Hintergrundmusik in einer der Nischen nieder.
Jeder ein Glas des grauenhaften alphanischen Kunstweines in der Hand, stießen sie auf Helenas Rückkehr und das überstandene Abenteuer an, und schon bald entstand eine lebhafte Diskussion um die Hintergründe der Tritonischen Augen.

"Die Heimatwelt Triton hat viele - wirklich viele - Kundschafter auf ihre Reise geschickt, um Wissen zu sammeln, potentielle Feinde auszumachen und am Ende die Vorherrschaft im Weltall zu erlangen. Alle Sonden standen miteinander in Verbindung, und jede wußte auch, was die anderen in Erfahrung gebracht hatten. Sie übermittelten ihre Kenntnisse nach Triton, doch vielleicht waren die Tritoner nicht reif für so manche Information." Helena pausierte, um grimassierend einen Schluck Wein zu nehmen. "Ich weiß wirklich nicht, wieso wir immer wieder dieses schauderliche Zeug trinken!"

"Weil es alkoholhaltig ist, mein Kind", belehrte sie Victor lapidar.

"Triton ist also seinem eigenen Größenwahn zum Opfer gefallen!", fragte Alan fasziniert, für den der Wein im Augenblick eher zweitrangig war.

"Ich kann es mir vorstellen, Alan. Ich habe gesehen, was sie wußten! Ein verantwortungsvoller Umgang mit einer solch immensen Menge an Wissen setzt voraus, daß man damit aufgewachsen ist, daß man eine entsprechende geistige Entwicklung durchgemacht hat. So eine... Informationspiraterie bedeutet unweigerlich, daß Kinderhände versuchen werden, sich die Kenntnisse nutzbar zu machen."

"Und die Sonden?", wollte John wissen.

"Die Sonden? Als sie herausbekamen, daß es Triton nicht mehr gab, machte es keinen Sinn mehr, weitere Daten zu sammeln. Sie zerstörten sich alle."

"Bis auf unsere spezielle Freundin", meinte Victor, der an dem katastrophalen Wein nur der Gesellschaft wegen genippt hatte.

"Ja", sagte Helena, "sie war in einem Protonensturm beschädigt und dabei von den anderen getrennt worden. Mithilfe der Daten, die in meinem Gehirn gespeichert worden waren, konnte sie ihre Funktion wiederherstellen."

"Aber warum setzte sie nicht auch ihrer Existenz ein Ende? Das wäre doch logisch gewesen!" Victor machte ein nachdenkliches Gesicht und schlug dann vor:

"Nun, vielleicht hat sie eine andere Aufgabe gefunden."

"Möglich", erwiderte John, "aber welche?"

"Was würdest du mit dieser Fülle an Information anfangen, wenn du die Sonde wärst, Helena?", wandte sich Victor an die Ärztin. Sie dachte nach.

"Versuchen, anderen damit zu helfen?", gab sie nach einer geraumen Weile und sich ihrer selbst nicht ganz sicher zur Antwort.
Alle hingen ihren Gedanken nach, wohlig eingehüllt von den Soul-Klängen der Musik aus einer lange zurückliegenden Vergangenheit.

"Ich frage mich", sagte John abrupt, "warum Helena überhaupt die ganzen Daten anvertraut wurden? Wieso hat die Sonde sie nicht 'mit in ihr Grab' genommen?" Victor lächelte.

"Darf ein so immenses Wissen denn verloren gehen? Ich meine, jede Zivilisation entwickelt ihre eigene Ethik - und die Sonde war ein Spiegelbild tritonischer Weltanschauungen." John nickte nachdenklich.

"Wahrscheinlich konnte sie sich erst zerstören, nachdem sie alles, was sie wußte, weitergegeben hatte. Damit hatte sie ihren Zweck erfüllt."

"Eines kann man wirklich sagen", meinte Alan munter, "unser Bedarf an tritonischen Sonden ist wirklich gedeckt!" Er hob sein Glas, um mit den anderen auf eine "tritonfreie Zukunft" anzustoßen - und damit war der ernste Teil des Abends beendet. Die unbeschwerte Zeit auf Alpha war so knapp bemessen, daß man nicht zögern durfte, sie zu genießen. Eine mühsame Lektion, die längst nicht alle vollständig gelernt hatten. Nun aber fiel es nicht schwer, sich von der entspannten Atmosphäre davontragen zu lassen.

John stellte, einer plötzlichen Laune folgend, sein leeres Glas auf den Tisch und bat Helena um einen Tanz.

"Entschuldige!", sagte sie und sah ihn überrascht an. "Ich habe mich wohl verhört! Es kann ja nicht sein, daß mich der standhafteste Tanzmuffel der Basis gerade aufgefordert hat?!"

"Du neigst zur Übertreibung", erwiderte er heiter und schon im Stehen, "oder was war damals an dem einen Abend, als...?" Sie sprang schleunigst auf, hielt ihm den Mund zu und schleifte ihn in die Richtung der kleinen Tanzfläche.

Alan lachte herzlich und bestellte per Handzeichen beim Barkeeper eine neue Karaffe Wein.

Victor lächelte ebenfalls und betrachtete seine beiden Freunde eine Weile versonnen, wie sie sich im Halbdunkel zum Rhythmus der Musik bewegten. 'Wer hätte das gedacht', kam es ihm in den Sinn, 'sogar auf Alpha kann man glücklich sein!'

 

Ende

 

  

05/03


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