Papier |
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Das Licht des Tages ist gewichen, |
Schwedisches Volkslied |
Ich weiß nicht, was ich hier soll. Ich weiß nicht,
wie ich hierher komme, wer diese Wesen sind, warum sie mir Papier und Feder in
die Hand drücken und mir zu verstehen geben, dass ich alles aufschreiben
soll. Ich will nicht schreiben, ich will wissen, was geschehen ist. Ich will
hier nicht alleine sein mit der Erinnerung an diese furchtbaren Bilder!
Mir
ist, als ob es mich zerreißen müsste vor Schmerz und Angst, während
ich schreibe, und ich sehe, dass diese Zeilen kaum leserlich sind. Doch es spielt
wohl kaum eine Rolle, denn wer wird sie lesen?
Ich bin allein.
Endlose Zeit vergeht, ich betrachte das Schreibzeug und wundere mich, wie etwas so Irdisches hierher geraten ist. Ich kann nicht. Ich will nicht. Wie ein übermächtiger grausamer Alptraum kehren die Bilder wieder zurück und reißen mir das Herz aus dem Leib.
Ich war aufgeschreckt aus einer tiefschwarzen, traumlosen Nacht und hatte mich an einem Ort wiedergefunden, der weiß und fremd war, still und tonlos, bis zwei seltsame Wesen in mein Blickfeld traten, die mich unvermittelt packten und mich ungeachtet meiner verschreckten und entsetzten Versuche einer Kontaktaufnahme durch ein Labyrinth verwirrender, blaugrüner Tunnel schliffen, Tunnel, in denen ich weder Wände, noch Boden oder Decke zu unterscheiden vermochte und ständig das Gefühl hatte, gegen die Schwerkraft auf den Wänden entlang zu stolpern und meinen Begleitern kopfüber zu folgen. Tunnel, Gänge, Aufzüge, unsichtbare Plattformen. Hohe, domartige Kuppelhallen, und dahinter die Schwärze der ewigen Nacht. Ich war verstört, töricht, und als ich einen Ausgang erblickte, rannte ich davon, den Korridor entlang und durch einen bogenförmigen Tunnel, der mich mit seiner beruhigenden grünen Ausstrahlung angelockt hatte. Doch dahinter lag nur ein Kreuzungspunkt mit mehreren möglichen Durchgängen und, obgleich mir klar wurde, dass mein Davonlaufen eine sinnlose Kurzschlussreaktion war, wählte ich aufs Geratewohl den nächstbesten Eingang. Mir war schon übel gewesen vor Verzweiflung, ehe ich in den Saal geraten war, doch dort fand ich mich erst der Wirklichkeit gegenüber. Mir war, als bliebe mir das Herz stehen.
Die Luft dort war zum Schneiden stickig, wie auch hier,
und heiß, das Licht bläulich fahles Halbdunkel, und ich sah zahllose,
im Raum schwebende Objekte, die wie geformte Schalen Körper bargen und
von ihrer Unterseite aus in einem stumpfen Bischofslila schimmerten.
Die Wesen
waren mir gefolgt und ließen mich nun durch die
unordentlichen Reihen taumeln, und die Schalen sanken herab, wenn ich ihnen
nahe kam, als wollten sie mir ihren Inhalt preisgeben, mir zeigen, was sie bargen.
Ich warf einen verwirrten Blick in die erste Schale, die sich auf mein
Niveau senkte, und erblickte darin den unbekleideten, reglosen Körper
von Sandra Benes.
Ich konnte nicht glauben, was ich sah, und erst, als meine
zitternde Hand keinen Puls an der Carotis fand, meine Augen weite, reaktionslose
und lichtstarre Pupillen diagnostizierten und ich keine Reflexe auslösen
konnte, begriff ich, dass sie tot war. Sie war eiskalt inmitten der trockenen
Hitze, steif und wächsern.
Die Wesen sahen mir dabei zu, wie ich
betäubt und umnebelt zum nächsten Objekt wankte, wissend, was ich
darin vorfinden werde - einen weiteren Toten. Weitere Tote, wohin das Auge
reichte, und es waren meine Freunde, meine Mitarbeiter, meine Familie.
Alle, die mir geblieben waren. Ich fand sie alle, rannte erschüttert und
ungläubig durch den Saal, Victor,
Bob, Alan. John. Er war der Einzige, den ich unter den Körpern wirklich
suchte. Ich war wie
von Sinnen, auch wenn mir das friedliche, ausdruckslose Gesicht eines jeden
Alphaners, den ich sah, wie mit tausend Messern ins Herz schnitt und ich merkte,
wie ich die Kontrolle über mich verlor, ich konnte nicht aufhören,
ohne mich davon überzeugt zu haben, dass er unter ihnen war. Ich hatte
keine Hoffnung, wollte ihn nur mit eigenen Augen sehen. Er war da. Dunkel und
fern. Nicht mehr bei mir.
Mir schwindelte, und ich sank zu Boden, während
sie mich vom Eingang aus beobachteten. Ich weiß nicht, was sie dachten,
ob sie begriffen, was dieses Erlebnis für mich bedeutete. Wahrscheinlich
war mein Verhalten für sie ebenso fremd, wie sie mir erscheinen, graue,
große Gestalten, entfernt nur menschenähnlich, mit Extremitäten,
die als solche zu erkennen sind, einem Kopf, einem Mund wie ein verkniffener
Tabaksbeutel, so faltig, und nicht einschätzbar. Augen wie Kohlen, klein
und mit einem harten Funkeln. Ein dunkles Zwitschern von Worten, unverständlich,
die sich gedämpft verzwirbeln und verschluckt werden vom Licht der Wände.
Ich bleibe am Boden sitzen und sehe an mir herab. Ich trage
nichts als den Hauch einer weichen, durchscheinenden Chiffon-Robe, die im
Halbdunkel sanft schillert und schimmert.
Warum? Warum?
Ich kann nicht
aufstehen.
Über mir geraten die Schalen in Bewegung. Ich starre nach
oben und sehe, wie sie übergangslos zu rotieren beginnen, um ihre Längsachse,
und sie verwandeln sich in Kokons, die gemächlich beginnen, sich zu formieren
und auf einen Ausgang zuzuschweben. Sie verschwinden, lösen sich auf.
Ich
blicke John teilnahmslos nach.
Ich fühle nichts.
Der Spuk ging vorbei, und die Halle war leer, wirkte selbst
geisterhaft und ich mit ihr, wie ich reglos in der Mitte verharrte. Sie traten
herbei und reichten mir ihre Hände, zögernd ergriff ich sie. Sie fühlten
sich trocken an, wie Schleifpapier, heiß, und wirkten genauso tot wie
ihre ausdruckslosen Gesichter. Ich ließ mich von ihnen führen und
unternahm keinen nutzlosen Versuch mehr zu entkommen. Wohin auch. Wozu.
Sie
brachten mich hierher. Ich nenne es mein Quartier. Keine Möbel, nur ein
Bereich auf dem Boden, der wie ein weicher Teppich ist, des Innenarchitekten
Alptraum, denke ich, in Braun. Keine Tür, der Raum ist nach vorne hin offen.
Ich kann nicht fliehen. Wohin auch.
An der Wand neben meiner Lagerstatt befindet
sich ein Fenster, oder zumindest nimmt die Wand Durchsichtigkeit an. Ich kann
es nicht anders beschreiben. Es gibt keinen Übergang. Die Bräune der
Wand, wie Nussholz so dunkel, verwandelt sich in die leblose Schwärze des
Weltraums. Ich sehe keine Sterne. Es ist alles nur eine Illusion.
Sie sprechen nicht mit mir. Ich weiß nicht, wie ich in ihre Hände geriet oder warum die gesamte Mannschaft der Mondbasis Alpha ausgelöscht wurde. Warum lebe ich noch? Ich sehe keinen Sinn darin und wünsche mir, dasselbe Schicksal zu erleiden wie die anderen. Stattdessen befinde ich mich in einem zweifelhaften Zustand, den ich kaum als Leben bezeichnen möchte. Es ist ein zeitloses Schweben in einer Leere, die von den unwirklichen Tätigkeiten eines routinierten Tagesablaufes unterbrochen wird, das mechanische Erfüllen von körperlichen Bedürfnissen.
Ich versuche zu essen, was man mir bringt, wenn ich auch
nicht weiß, welchem Zweck es dienen sollte, mich am Leben zu erhalten.
Man stellt Schüsseln mit graugrünen Klumpen darin vor mir auf den
Boden. Ich bringe sie
nicht über meine Lippen. Ich trinke Wasser, das ich erbreche.
Ich fühle
mich schwach und hilflos. Ich kann nicht weinen. Ich will nicht leben.
Ich schlafe nicht sondern liege wach auf dem Teppich und
starre an die Decke, während ich mir vorstelle, wie die Parzen über
mir hocken und kichernd dabei sind, meinen Lebensfaden zu durchtrennen.
"Macht
doch", flehe ich sie stumm an, "worauf wartet ihr noch?" Doch
sie horchen nicht auf mich, sie lassen mich lieber leiden.
Ich will nicht
daran denken, was in der Vergangenheit war, welche Schätze ich besessen
habe mit meinem Leben auf Mondbasis Alpha, aber ganz von allein kommen die Gedanken
und Erinnerungen, und mein karger Mond erscheint mir mit einem Mal wie der Himmel
auf Erden, das Paradies. Aber selbst jetzt, wenn ich an John denke, ist es,
als hätte mir die Hitze in diesem Umfeld alle Tränen verdampfen lassen,
das Herz vertrocknet, wie eine verschrumpelte Dörrpflaume, die sich nur
schwach in der Brust regt. Ich spürte es kaum noch, oder vielleicht
spürte ich nur noch den Schmerz, nichts mehr weiter, und er hat mich innerlich
bereits absterben lassen. Ich bin ein vertrocknetes Wadi, die Wüste Sahara.
Ich glaube, ich bin schon tot. Ich sitze in einem unbarmherzigen Fegefeuer,
wo man mich vergessen hat.
Ich habe keine Ahnung, wie lange ich schon hier bin. Meine letzten Aufzeichnungen dürften bereits eine Weile her sein, denn die Feder war vertrocknet. Ich musste sie mit Wasser anfeuchten, bis die schwarze Tinte wieder an die Spitze gelangte und willens war, meine sinnlosen Gedanken aufzuzeichnen.
Ich fühle mich jetzt etwas kräftiger, und ich glaube,
dass mich die Wesen eine Zeitlang aus meinem Quartier geholt hatten. Ich habe
Erinnerungsfetzen im Kopf, ein eiliges Herumgewusel, unbekannte Apparate. Blendende
Helligkeit. Vermutlich
haben sie mich vor dem Tod bewahrt. Ich weiß immer noch nicht, warum.
Sie zeigen eindringlich auf den Stoß leeren Papiers. Ich lese das bisher
Geschriebene nicht durch. Es interessiert mich nicht. Statt ernsthaft weiterzuschreiben,
habe ich Papierflieger gebastelt und gerissene Scherenschnitte. Einen Origami-Kranich
und eine Seerose. Weiße Papiergirlanden. Sind sie an irdischer Kunst nicht
interessiert? Nun, dann kann ich ihnen nicht helfen. Ich weiß nicht, was
sie von mir wollen. Soll ich ihnen dafür danken, dass sie mir mein Leben
gerettet haben?
DANKE! DANKE! Ihr habt dafür gesorgt, dass mein Sterben
noch ein wenig länger dauert.
Sie bringen mehr Papier.
Sie haben auch dafür gesorgt, dass ich das Wasser, das
sie mir hinstellen, nun trinken kann, ohne dass meine Eingeweide mit nach oben
kommen, um nachzusehen, wer ihnen das antut. Gott, ich werde zynisch. Ich bin
kein zynischer Mensch, Zynismus hilft nicht, die Lage zu verbessern. Mir hilft
hier überhaupt nichts mehr.
Mittlerweile bringe ich sogar ihr Essen
herunter, die grünbraunen Brocken verwandeln sich vor meinem geistigen
Auge in ein Gala-Diner, und ich schwöre, wenn ich will, schmecken sie auch
so. Hummer, Trüffel, Kaviar. Dabei mag ich keinen Kaviar, er erinnert mich
an Löffel voller Lebertran, die wir als Kinder schlucken mussten, um unsere
Abwehr zu stärken und uns vor bösen Bakterien und Viren in Sicherheit
zu bringen.
Ich trauere meiner Kindheit nicht nach. Genauer betrachtet, trauere
ich um überhaupt nichts. Nicht um die Vergangenheit, nicht um die Gegenwart.
Und meine Zukunft hier? Sie besteht aus weißen Blättern Papier, die
ich vollschreiben soll. Und dann? Dann werde ich meine Sprache verlieren, meine
Gedanken und meine Menschlichkeit. Ich werde ein enfant sauvage werden,
etwas in die Jahre gekommen, freilich, aber ohne Worte, ohne Herz und Seele.
Was werden sie dann mit mir tun? Werden sie mich wieder retten? Wird ihnen dieses
Tier noch von Wert sein? Ich will nicht daran denken. Ich will an überhaupt
nichts denken, denn jeder Gedanke, jede Erinnerung, lässt mein Innerstes
ein wenig mehr sterben. Aber es ist nicht ein Tod der Gnade,
kein erlösender Tod, der mich befreit, sondern einer, der mich immer
tiefer in das finsterste Kerkerloch sperrt.
Im Mittelalter wurden Gefangene
auf Burgen in ein tiefes Loch geworfen, wo ihnen mit einem Eimer an einem Seil
ihre Verpflegung hinuntergelassen wurde. Ich sitze mit ihnen zusammen in ihrem
Loch, friere, hungere mit ihnen und werde von ihrem Ungeziefer geplagt. Ich
stelle mir vor, wie die kalte Wintersonne einmal am Tag über den Rand des
Lochs steigt und eine Hand voll ihrer gelben Strahlen zu ihnen herabschickt.
Ich bin so weit, sie dafür zu beneiden. Aber in Wahrheit steigt die Wintersonne
niemals über den Rand des Kerkerlochs. Mich frisst umsonst der Neid. Ich starre durch mein Fenster
hinaus in
das Nichts. Alles ist lautlos um mich herum. Ich denke, dass ich mich auf einem
Raumschiff befinde. Es muss groß sein und alt und einer mächtigen
Rasse angehören. Wenn ich Geräusche von mir gebe, hören sie sich
mittlerweile fremd an in meinen Ohren.
Es fällt so schwer, allen Gedanken auszuweichen, die vielleicht weh tun könnten. Ich versuchte, in Liedern zu denken, aber Lieder sind vom Wesen her sentimental, das stellte sich als Schuss in den Ofen heraus, selbst, wenn ich daran ging, sie zu singen. So falsch konnte der Ton nicht sein, so fehlend kein Text, dass mir nicht spätestens bereits beim ersten Reim die Stimme versagte. Gedichte sind noch hoffnungsloser. Gefühle helfen mir nicht, sie sagen mir, was ich vermisse. Sie schreien nach Gesellschaft, nach anderen Menschen, und sie schreien nach John. Ein Leben ohne ihn ist kein Leben. Und wieder sehe ich nur eine mögliche Schlussfolgerung: Ich lebe nicht mehr.
Das Papier. Ich beschrifte es mit Unfug. Die Blätter
fliegen durch den Raum, ich achte nicht darauf. Ich zeichne. Was ich sehe, zeichne
ich. Eine schwarze Füllfeder ist ein hervorragendes Mittel für die
Herstellung von Bildern.
Früher machte man Tuschezeichnungen. Da hatte man Federkiele, die in Tinte
getaucht werden mussten. Löschpapiere verhinderten ein Verschmieren. Das
ist nicht notwendig, wenn man darauf achtet, die gefertigten Striche nicht zu
verwischen.
Ich glaube, sie mögen meine Zeichnungen nicht. Vielleicht liegt es daran, dass ich sie immer
noch nicht unterscheiden kann. Ich weiß nicht, ob jeden Tag derselbe zu
mir hereinkommt, oder ob sie sich abwechseln. Sie sind für mein Auge austauschbar,
dabei wäre ich froh, wenn ich einen von ihnen wiedererkennen könnte.
Ich versuche, das Fiepen, Brummen und Surren ihrer Sprache zu unterscheiden
und herauszuhören, was es bedeuten soll, aber es hat keinen Zweck. Ohne
ihre Hilfe werde ich nie verstehen, mit welcher Zunge sie sprechen. Ich
glaube auch nicht, dass es ihnen ein Anliegen ist, mir ihre Sprache beizubringen.
Einfacher Sprachunterricht hätte mich schon weiter gebracht, ein Hindeuten
auf das eine oder andere, und manche Begriffe lassen sich auch durch den Zusammenhang
erfassen. Sie wollen es nicht. Sie wollen, dass ich schreibe. Was schreibe?
Ich will nicht an mein persönliches Desaster denken, an den Untergang meiner Welt, ich denke ohnehin zuviel.
Ich habe versucht, mein Quartier zu verlassen. Niemand hindert mich, ich bin frei, mich überall auf dem Schiff zu bewegen. Gelernt habe ich aber nur Eines: Dass ich spätestens nach der nächsten Biegung, nach der ersten Abzweigung, nicht mehr zurückfinde. Orientierung scheint hier nicht nach dem mir vertrauten Muster zu funktionieren. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die zwei Block von ihrem Zuhause entfernt hilflos in der Fremde stehen und erst nach Befragung der halben, da ansässigen Bevölkerung wieder zurückfinden. Ich bin kein klischeehaftes Muster an Orientierungslosigkeit, aber hier hat der Begriff "Richtung" eine ganz andere Bedeutung. Oder vielleicht auch gar keine Bedeutung. Ich weiß nicht, wo ich mich herumgetrieben habe. Fast hätte ich von Menschenleere gesprochen, aber ich merke, dass ich wieder Gefahr laufe, zynisch zu werden, so sage ich lieber, dass es hier keine Seelen gibt. Ich traf nicht auf viele, weder im weitesten, noch im engeren Sinn. Im engeren Sinn schon gar nicht. Die Bereiche, die ich fand, beziehungsweise, die mich fanden, waren seltsame Räume und Säle, deren Zweck sich mir nicht offenbarte. Optischer Kauderwelsch. Wenn ich einem der Wesen begegnete, nahm es mich an der Hand und brachte mich in mein Quartier zurück.
Ich gäbe ihnen so gerne Spitznamen. Doch ein einziger Spitzname für alle erscheint mir nicht zulässig. Ich lasse es sein. Ich fühle mich so alleine.
Mein Fenster ist wie eine Gummimembran. Wenn ich mit dem
Finger hineinbohre, kann ich vielleicht ein Loch erzeugen, das das Fenster zerstört
und mich in den Weltraum hinauszieht. Dann wäre ich sofort tot. Diese Idee
ist die dümmste von allen, die ich bisher zu dem Thema hatte. Ich denke darüber nach, wie ich diesem wertlosen Dasein
ein Ende machen könnte. Ich war dem Tode bereits nah, als ich nichts essen
und trinken konnte. Warum hat man mich da nicht sterben lassen? Ich verstehe
sie immer noch nicht.
Mein schimmerndes Kleid ist das einzige Mittel, mit
dem ich mir reell vorstellen kann, mich selbst von hier nach dort zu befördern,
aber die Sache hat einen Haken: es gibt keinen Knauf, keine Schnalle, keine Schlaufe,
an der ich mich aufhängen könnte. Ich finde es legitim, mich mit dem
Selbstmord zu beschäftigen, in diesem tristen Dasein, in dieser leeren,
reizlosen Welt, die mir alles genommen hat.
Ich will nicht an John denken.
Dieses Papier hier ist weiß; blütenweiß
hätte man früher dazu gesagt. Es wirkt echt, riecht nach Papier und
greift und hört sich danach an. Ich hatte lange kein echtes Papier
mehr in meinen Händen gehalten, und diese Füllfeder mit der schwarzen
Tinte ist ebenso wahrhaftig und wirkt wie ein Relikt aus einer lange untergegangenen
menschlichen Kultur. Papier und Feder haben immer, schon als Kind, eine magische
Anziehung auf mich ausgeübt, es war für mich wie ein Wunder, dass
aus dem Geist eines Individuums Gedanken in Form von Buchstaben strömen
und Gestalt annehmen, Worte formen können, die von anderen gesehen und verstanden werden können.
Ich hielt es für Zauberei, dass der Geist die Welt verändern konnte,
indem er sich verfestigte, formierte, dass er Herzen rühren, Wahrheit sprechen und
genauso lügen und betrügen konnte. Ich glaube jetzt aber nicht mehr
daran. Als ich noch lebte, einst, auf dem Mond, hätte ich nicht so unumwunden
erklärt, dass ich an die Wunder meiner Kindheit nicht mehr glaubte. Nun
aber sind die Zeiten der Mysterien vorbei.
Warum verschwende ich das Papier
mit meinen geistlosen Äußerungen, mit Gedanken, die sich normalerweise
einfach in Luft auflösen müssten, kaum gedacht, schon verschollen?
Was frage ich mich, ich kenne die Antwort. In dem gleichen Maß, in dem
ich nach Auswegen aus dieser Existenz suche, klammere ich mich daran. Vielleicht
habe ich Angst davor, was mich danach erwartet, dass nicht nur meine Gedanken,
sondern ich selbst nur Schall und Rauch
bin, nicht einmal ein Blinzeln im Angesicht irgendeiner kosmischen, alles umfassenden
Intelligenz. Hoffnung habe ich keine. Sie habe ich verloren mit dem Anblick
von Johns Kokon, wie er aus der Halle der Leichen hinausflog ins Nichts. Die
Sehnsucht packt mich immer wieder, und ich wünsche mir, einfach nur neben
ihm zu stehen, in der Kommandozentrale, und mir vorstellen zu können, dass
ich am Abend in seinen Armen liegen und seinen Atem an meiner Wange spüren
werde.
Ich habe noch immer keine Träne vergossen. Das verstehe ich genauso
wenig wie viele andere Dinge, die mir hier widerfahren. Warum fühle ich
nichts? Mischen sie mir Drogen in mein Essen? Ich denke nicht, dass sie meine
Nöte soweit verstanden haben, um auf die Idee zu kommen, etwas zu unternehmen.
Sie wollen, dass ich schreibe, aber was ich schreibe, scheint nicht das Richtige
zu sein.
Ich fürchte, bald überhaupt nichts mehr zu
spüren, nicht mehr die einfachsten Sensationen zu haben, die Teppichflusen
auf meinem Arm, die Elastizität der Fensterscheibe an meiner Hand, die
ruppige Bräune der Wand, die Scheußlichkeit meines täglichen
Gala-Diners. Ich stelle mich auf die Probe und singe Auld Lang Syne.
Schon bei den Worten "Should auld acquaintance be forgot" erstickt
mir das Wort im Halse.. aber vor Lachen, weil ich keinen einzigen Ton treffe.
Ich versuche weiterzusingen. "..and never brought to mind". Das Unterfangen
ist nutzlos, ich lache wie blöd und sinnlos aus vollem Halse, und jeder
Versuch, mit dem Lied fortzufahren, hat eine größere Lachattacke
zur Folge. Ich höre zu singen auf, mich windend vor Bauchschmerzen und
kenne mich nicht wieder. Das ist eine fremde Frau, dieses irrwitzige Gelächter
stammt nicht aus meinem Mund. Es hallt mir in den Ohren. Weithin schallende
Verzweiflung. Das ist nicht Helena Russell. Nicht sie. Nicht ich. Eine fremde Person, die da sitzend an der Wand lehnt
und sich keine Sorgen darum macht, dass ihr durchschaubares Chiffon-Kleid
bereits vor Schmutz starrt, die nicht gewaschen ist, deren Haar ihr struppig
ins Gesicht hängt. Ich wünschte, ich könnte mich nur ein einziges
mal duschen! Ein Hauch von Seife. Rauschendes Wasser.
Ich träume vom Meer,
von Wellenbergen, schäumende Gischt, eine frische Brise, eine feine Salzschicht
auf der luftgetrockneten Haut. Ich schwimme in der azurblauen, kühlen Flut
und blinzle lachend in die Sonne, die aus einem wolkenlosen Himmel auf mich
herabschaut und mich blendet, und ich fühle die Freiheit und Schwerelosigkeit
meines Körpers. Mir ist ganz leicht zumute, und mein Herz springt, als
ich am Segelboot John auf der Planke sitzen sehe. Er ist gebräunt, wirkt
erholt und heiter und fragt mich, ob es kalt ist, während seine Beine nach
unten baumeln. Ich winke ihn zu mir herunter, während ich ihn anspritze,
und als er sich herunterfallen lässt und mit einem lauten Platschen ins
Wasser taucht, ist der Traum vorbei. Ich starre auf die Struktur des Teppichs
vor meinen Augen, weiche knubbelige Bögen aus seltsamen Fasern, ein melancholisches
kastanien- und mahagonibraunes Wirrspiel, so nah, so real.
Es ist
absurd, aber ich schäme mich dafür, vom Glück geträumt zu
haben, weil ich weiß, dass ich es nicht wieder erleben werde. Kein
Meer, keine Erde, kein Boot in der Sonne, keine Liebe. Gar nichts, das für
ein normales, gesundes und willkommenes Leben unabdingbar ist. Jetzt wäre
ich für eine Gehirnwäsche bestens präpariert, man könnte
mich dazu bringen, alles zu tun im Gegenzug für einen Augenblick Zuwendung,
für einen Moment Interesse an mir, für nur einen Blick aus mitfühlenden
Augen. Ich weiß aber, dass ich vergeblich darauf warte, weil diese Wesen
nicht menschlich sind. Sie denken vermutlich, dass ich bestens versorgt werde,
artgerecht gehalten.. weil sie sich keinen Begriff machen können
von der Vielzahl der Komponenten, aus denen ich bestehe, die aus mir ein Individuum
machen, dieses eine Wesen, das Helena Russell ist. Es wäre von ihnen auch
zuviel verlangt. Ich bin für sie wie ein kleiner Käfer, der aufgehört
hat, emsig auf seinem Blatt herumzukrabbeln, und sie können sich nicht
fragen, warum er damit aufgehört hat, weil sie nicht wissen, dass das Herumkrabbeln
seine Natur ist. Und wie sollte der kleine Käfer es ihnen begreiflich machen,
er versteht sie ja ebenso wenig.
Im Gegensatz zum Käfer aber weiß
ich, dass sie etwas von mir wollen. Das Papier blickt mich an, und für
jedes beschriftete Blatt, für jedes verschwendete Blatt, bekomme ich einen
neuen Bogen. Weiß und leer. Wenn ich schreibe, was sie wollen, werden
sie mir dann immer noch neue Blätter geben, oder wird der schwindende Papierstoß
das Zeichen dessen sein, dass ich ihren Wünschen nachkomme? Ich will immer
noch nicht schreiben. Aber ich bin der Chronist von Alpha. Ich denke, dass das
der Grund für sie war, ausgerechnet mich aus einer ganzen Mannschaft von
300 Menschen herauszusuchen. Nach welchen Kriterien hätten sie sonst ihre
Wahl treffen sollen?
Mondbasis Alpha, Computerlogbuch. Dr. Helena Russell berichtet. Aber ich berichte nicht. Stattdessen habe ich es mir zum Sport gemacht, wegzulaufen. Ich streiche durch das Schiff und lasse mich von den verwunderlichen Anblicken dieser ganzen Konstruktion verblüffen. Ein einziges Mal ist es mir bisher erst gelungen, wieder von allein mein Quartier zu finden. Ich gehe auf sight seeing tour und lasse mich davon überraschen, was ich finden werde. Sie wissen immer, wo ich mich herumtreibe. Es gibt hier keine Spionageaugen, keine sichtbaren Kameras, aber ich weiß, dass sie mich beobachten. Es macht mir nichts aus. Ich habe ja nichts zu verbergen, und selbst wenn, ich fürchte, es wäre ihnen herzlich egal. Ich versuche zu erraten, worin die Bedeutung der Räume liegt, die ich finde, welchen Zweck die Geräte haben, auf die ich treffe. Sie erwecken meine Neugier, und irgendwie habe ich das Gefühl, den Wesen näher zu kommen, wenn ich sehe, wie sie leben, wie ihre Welt ist. Eigenartigerweise habe ich bis jetzt nichts gefunden, das mit meinem Begriff einer Einrichtung für soziales Leben vereinbar ist. Keine Gemeinschaftsräume, kein Ort der Zerstreuung, keine Unterkünfte. Ich fürchte, diese Außerirdischen sind Einzelgänger, die wenig Wert auf Gemeinschaftlichkeit legen. Es würde auch erklären, warum sie mich hier so bedenkenlos allein lassen. Aber andererseits, wenn sie wissen, dass ich die alphanischen Chroniken führe, dann müssen sie sich zumindest rudimentär mit der menschlichen Gesellschaft beschäftigt und erkannt haben, dass der Mensch nicht alleine lebt. Ich werde daraus nicht schlau, aber das ist ja auch nicht meine Aufgabe.
Bei einem meiner Ausflüge habe ich einen unglaublich schönen Ausblick entdeckt. Man findet ihn in einem der Außenhülle des Raumschiffs benachbarten kolossalen Korridor, der auf die gesamte Länge hin mit einer Fensterfront ausgestattet ist, mindestens 20 Meter hoch und bestimmt doppelt so lang. Der Blick ins All ist überwältigend, es ist, als hinge man in der Leere und betrachtete die Ewigkeit. Mitten durch die Schwärze des Universums zieht sich ein scharfes Band aus abertausend Sternen, und manche sind so nah, dass man fast die Schatten ihrer Planeten erraten kann. Am äußersten Rand rechts dahinter ist eine Nebula zu sehen, ein sich aufbäumendes, wildes Ungetüm, das sich im turbulenten Farbspiel seiner mit einander ringenden, leuchtenden Gase der Nacht widersetzt. Der Anblick ließ mein Herz aussetzen, atemlos und schaudernd ließ ich mich ans Fenster fallen, das mir sanft nachgebend erlaubte, mich an sich zu lehnen, um auch den äußersten Winkel dieses monumentalen Schauspiels in meinem Gedächtnis zu fixieren. Es war das einzige Mal, da ich mich nach Leibeskräften wehrte, als sie kamen, um mich wieder hierher zu bringen. Auch das begriffen sie nicht, die Aufregung, den menschlichen Sinn für die Schönheit und den Wunsch, einfach nur eine Zeit lang zu verweilen, zuzuschauen. Nun weiß ich aber wieder, dass ich noch fähig bin zu fühlen. Es gibt in mir noch ein kleines Fleckchen, das nicht ganz tot ist.
Es wird Zeit, die Flucht aufzugeben. Mit jedem Satz, den
ich hier zu Papier bringe, fliehe ich vor der Wahrheit. Ich fliehe vor mir selbst.
Ich weiß, was ich für die Außerirdischen aufschreiben soll.
Mir ist nur nicht klar, wozu sie meine Worte brauchen. Vielleicht sind sie die
Archivare der kosmischen Geschichten, vielleicht lassen sie sie erzählen
von Wesen wie mir, Wesen, die die letzten ihrer Gemeinschaft sind, damit sie
ihren kleinen, unbedeutenden Platz in der Geschichte des Universums bekommen.
Haben sie die anderen sterben lassen, damit ich die Letzte bin?
Ich
merke, ich zögere den Anfang mit Mutmaßungen hinaus, die ich nicht
beweisen kann, denn ich will immer noch nicht schreiben.
Morgen werde ich damit beginnen.
Ich schreibe immer noch nicht. Ich schreibe, aber nicht das Wesentliche, das, worauf es ankommt. Es gibt hier keine Ausflüchte, nichts Dringenderes, nichts Eiligeres, das zu erledigen wäre, aber ich kann nicht anfangen. Meine Hand ist willig, greift folgsam zur Feder, und dann wartet sie auf die Worte, die ihr der Geist diktieren soll. Allein, der Geist schweigt. Er sucht nach anderen Themen, über die er sich auslassen kann, und er tut dies aus Furcht, die Wahrheit nicht aushalten zu können. Ich habe mein Leben auf Alpha vergessen, ich habe es zusammen mit den Kokons ins Nichts geschickt, denn Erinnerung tut weh, und ich habe genug gelitten.
Mich zu erinnern hieße, den sicheren Boden zu verlassen und mich ohne einen Rettungsring in das tosende und brausende Meer der Emotionen zu werfen. Ich kann darüber nicht mit den unbeteiligten, rationalen Worten des Chronisten berichten, weil es um einen Nachruf auf meine Welt geht, deren einziger Überlebender ich bin.
Es begann an einem jener friedlichen Tage auf Alpha, die
uns immer wieder die Hoffnung gaben, dass wir trotz unseres Irrflugs durch ein
unbegreifliches, unvorhersehbares und manchmal feindliches Universum vielleicht
eine Chance hatten, als Gemeinschaft zu überleben. Ich weiß noch,
dass ich gerade dabei war, mein kleines Atelier aufzuräumen, die Töpferscheibe
von Resten festgeklebten und fast versteinerten Tons zu befreien, den Brennofen,
den mir die Techniker liebenswürdigerweise einmal geschenkt hatten, zu
säubern, und die Tonreste aus ihren verschlossenen Plastikbeutelchen zu
nehmen und auf ihre weitere Verwendbarkeit hin zu überprüfen.
Ich bin kein unordentlicher Mensch, aber wenn der Künstler geruht, an die
Oberfläche zu treten, dann neigt er dazu, Dinge der Ordnung nicht allzu
wichtig zu finden, und so musste ich gelegentlich, wenn ich gerade nicht Künstler
war, im Atelier ein wenig Hand anlegen. Ich kontrollierte mein Werkzeug, Modellierhölzer
und -schlingen sowie Schlaghölzer in verschiedenen Größen, als
der Alarm ausgelöst wurde. Ich eilte in die Kommandozentrale und erkundigte
mich im Laufen via Commlock bei Mathias, der Dienst hatte, ob es ein Problem
in der Medizinischen Abteilung gebe. Dem war nicht so, und ich kam gleichzeitig
mit Victor in die Zentrale, wo fieberhafte Betriebsamkeit herrschte und die
Anwesenden auf der Suche nach der Ursache für den Alarm waren.
Es stellte
sich heraus, dass die Telesonden, durch ein optisches Phänomen irritiert,
den Alarm ausgelöst hatten, und Sandra Benes gab sich alle Mühe, diese
Veränderung schön sichtbar für uns auf den Hauptbildschirm zu
holen.
Leider bekamen wir nicht allzu viel zu sehen, lediglich ein
schwaches, kaum sichtbares Glimmen erhellte den Schirm, und das auch erst, nachdem
sie alle Tricks, die das Programm in Hinsicht auf Verfremdung und Bildbearbeitung
aufbieten konnte, in Verwendung genommen hatte. Wir rätselten herum, ob
es sich um eine natürliche Sache handelte, maßen der Entdeckung aber
keine allzu große Bedeutung bei, bis die Berechnungen ergaben, dass sie
sich dem Mond näherte. Victor schlug vor, eine andere Sonde mit vielfältigen
Messeinrichtungen hinzuschicken. Paul, der stets den Versuch unternahm, mit
unseren Ressourcen zu haushalten und der daran dachte, dass die Herstellung
von Sonden mit allen Extras überaus aufwändig war und diese nicht
immer auch wieder von ihren Missionen zurückkamen, versuchte, andere Alternativen
aus seinem Zauberhut zu holen.
Victor setzte sich durch. Er hat die Gabe,
seinen wissenschaftlichen Eifer und die Freude am Forschen an andere weitergeben
zu können, und man braucht nur einige Minuten mit ihm zu verbringen, um
bald auch das Bedürfnis zu verspüren, seine Fragen lösen zu wollen. Er
ist - war - ein ganz besonderer Mensch.
Es fällt mir so schwer, von ihnen in der Vergangenheit zu sprechen, für mich existieren sie noch, und in Wirklichkeit will ich nicht glauben, dass ich nicht einfach durch eine Tür treten kann, um auf sie zu treffen, mit ihnen ein paar Worte zu wechseln. Doch es hilft nichts, den Dingen nachzutrauern, die ich nicht ändern kann. Die Worte stocken mir, als steckten sie in der Feder fest, doch sie hängen in meiner Seele fest, die sie wie ein Filter aufhält und nicht hinauslassen will, obgleich ich versuche, nur einen einfachen Bericht der Vorkommnisse abzugeben. Es ist, als verlöre ich sie beim Niederschreiben, als gäbe ich sie her und mit ihnen die Menschen, die ich für mich bewahren muss. Das wird der Grund sein, warum ich John nicht erwähnen möchte. Aber er kann natürlich als Commander in dem Bericht nicht fehlen.
Die Sonde wurde ausgeschickt, und sie kam zurück, ohne uns neue Erkenntnisse zu vermitteln. Sie war in diesen fraglichen Bereich eingetreten, und die Messungen zeigten nichts Ungewöhnliches. Keine elektromagnetischen Felder, keine für uns messbare abnormale Strahlung oder andere Raumanomalien, keine aufregenden Partikelstrahlungen, keine wie auch gearteten Hinweise, dass da etwas anderes war als nur der nackte, leere Weltraum mit dem üblichen Hintergrund. Wir sahen aber, dass etwas auf uns zukam, und je mehr sich dieses Phänomen uns näherte, umso besser war es auch zu sehen. Es bestand aus einem ungeordneten Flimmern und Flirren bunter Teilchen, die sich von unseren Sensoren nicht einfangen ließen. Sie wirkten auch jetzt noch harmlos, flogen durch das All, wie zufällig, und schienen keinen Effekt auf weitere von uns eingesetzte Sonden zu haben. Es war aber bald klar, dass ihr Ziel Alpha war, denn sie schwenkten in eine Umlaufbahn um den Mond ein und passten sich seiner trägen Rotation derart an, dass sie wie ein stationärer Satellit über der Basis schwebten. Wir hatten den Verdacht, dass dahinter irgendeine Form von Intelligenz stecken musste, konnten es aber nicht beweisen. Eine Kontaktaufnahme gestaltete sich nicht nur als schwierig, sondern schien geradezu unmöglich. Was rede ich von Kontaktaufnahme? Ich lebe hier inmitten fremder Wesen, und eine Kontaktaufnahme gelingt mir nicht, obwohl ich sie sehe, als intelligent einstufen kann, ja, sie sogar fast als humanoid bezeichnen würde! Ein Kontakt zu flimmernden Partikeln dagegen kommt mir jetzt noch abwegiger vor als zu dem Zeitpunkt, als wir uns darum bemühten.
John war beunruhigt, ich sehe noch, wie er zornig aus der Kommandozentrale stürmte, weil Kano leichtherzig meinte, dieses Phänomen gefalle ihm und es werde uns wohl nicht schaden. John wollte es eliminiert wissen, zumindest entfernt aus unserem Orbit und unserem Einflussbereich, und er überlegte, es mit Laser-Kanonen zu bombardieren, doch es war ihm bewusst, dass ein solcher Angriff risikoreich war. Wir konnten das Phänomen weder einschätzen noch wissen, dass unsere Waffen hilfreich und unsere Verteidigungsmaßnahmen ausreichend waren. Es war immer ein Schwachpunkt und ein großer Dorn in Johns Auge gewesen, dass Alpha so schutzlos war. Aber wie hätte man einerseits beim Bau wissen können, dass die friedliche Forschungsstation eines Tages durch das unbekannte All fliegen würde, und wie hätten wir andererseits auch je adäquate Schutzmaßnahmen ergreifen können? Wir hatten unser Bunker, die Katakomben unter der Mondoberfläche und Victors zweifelhaften Schutzschild, dessen Wirksamkeit wohl von der Gnade des jeweiligen Angreifers abhängig war. Der Schild war außerdem ein Energiefresser und konnte nicht permanent eingesetzt werden, und so stand es außer Frage, ihn ständig zu verwenden.
Wir beide haben endlose Diskussionen darum geführt, in denen ich ihm Recht gab, was unsere Wehrlosigkeit anging, aber wenig Enthusiasmus für eine bis an die Zähne bewaffnete Ansiedlung zeigte, die ein Fort Knox war, aus dem einfachen Grund, weil Maßnahmen nach Johns Wunsch zum einen ohnedies nicht machbar waren und zum anderen auch nicht den Eindruck einer friedliebenden Gemeinschaft erweckt hätten. Ich sehe ihn auf- und abmarschieren wie ein gefangener Wolf und höre ihn mir wütend zurufen, dass ich unrecht hätte. Diese Erinnerung ist so lebendig, als läge sie weniger als einen Augenblick zurück: er gab sich einen Ruck, als nähme er gerade erst wahr, wer sein Gesprächspartner war, und ließ sich neben mir auf der Couch nieder. Die Härte wich aus seinem Gesicht und ein ganz seltsamer Ausdruck von Bewegung und Ergriffenheit schimmerte in seinen Augen, der ihn jung und verwundbar aussehen ließ. Ich wusste, dass ich seine Verwundbarkeit war, dass sein Herz für Alpha schlug, aber seine Seele und sein Sein mir gehörten, und ich hob meine Hand und verschloss seinen Mund mit meinen Fingern. Er sollte es nicht sagen, ich wusste es auch so, dass seine ganze Sorge mir galt.
Das war das letzte Mal, da ich Liebe und Teilnahme in John Koenigs Gesicht sah.
Statt bei diesen Gedanken nun quälenden Schmerz zu spüren, fühle ich nur eine taube Sensation von Verlust, als stünde ich tausend Lichtjahre neben meinen Gefühlen und versuchte nachzuvollziehen, was diese Verbundenheit zwischen John und mir denn ausgemacht hatte. Mein Gedächtnis wird jetzt träge und will mir nicht zeigen, was ich weiter zu berichten habe, aber ich weiß, dass ich es dazu bringen muss, mir die Wahrheit zu sagen. Nur, wenn ich die Sache zu einem Ende bringe, werde diesen Frieden finden können, den meine außerirdischen Gastgeber für mich vorgesehen haben. Wie auch immer er aussehen möge. Ich habe mich dazu entschlossen, ihn anzunehmen. Wer nichts zu verlieren hat, nimmt jeglichen Kompromiss an.
Ich habe darüber nachgedacht, meine Aufzeichnungen von Anfang an durchzulesen, doch ich tue es nicht, denn ich will nicht mehr wissen, wie ich mich gefühlt habe, als ich damit begann, meine Gedanken und Empfindungen zu Papier zu bringen. Diese Zeit liegt wie ein nebeliger, trüber Schleier hinter mir, noch verworrener und unzugänglicher als meine letzten Erinnerungen an den Mond, und ich habe den Verdacht, dass ich sehr gelitten habe. Meine persönlichen Grauen liegen auf wenigen handschriftlichen Seiten zusammengefasst vor mir, und ich bin zu feige nachzulesen. Ich war nie eine Heldin, nur eine mittelmäßige Ärztin, die eine glorreiche Karriere kunstvoll in den Sand setzte. Es gab Leute, die mir das prophezeit hatten, aber ich war damals jung und dumm. Arrogant, denn ich hatte mich nicht für mittelmäßig gehalten. Aber halt, wieder lenkt mein Verstand einfallsreich ab. Er muss mich durch diese Geschichte geleiten, ich habe sonst nichts, worauf ich mich stützen könnte.
Die Diskussionen um Sicherheitsmaßnahmen für die Basis erübrigten sich, denn das kuriose Phänomen verschwand plötzlich aus unserem Orbit. Niemand konnte es sich erklären, wohin das fluktuierende Flimmern verschwunden war. Uns war nicht ganz wohl in unserer Haut, aber was blieb uns anderes übrig, als es zu akzeptieren? Doch in Wahrheit spielte es keine Rolle, der Mond war wieder frei und keiner Gefahr ausgesetzt, und im selben Moment des Verschwindens setzte der routinierte Basisalltag auf Alpha wieder ein. Allein, es war kein Alltag.
Ich kann die Situation nur anhand meiner eigenen Erinnerungen
schildern, so sie sich wieder aus ihren vergessenen Verstecken hervorwagen,
aber ich glaube, dass es den übrigen Mannschaftsmitgliedern nicht wesentlich
anders als mir erging.
Ich verlor die Lust, ja, jegliches Interesse an meiner
Arbeit.
Das war das erste Kennzeichen dessen, dass unser Leben nicht mehr so war wie
vor dem Besuch der flimmernden Wolke. Ich merkte, dass ich mit dem Herzen nicht
mehr bei der Sache war, wenn ein Verletzter in die Ambulanz kam und dass ich
seine Anwesenheit und seinen Wunsch nach Hilfe als eine Störung meines
persönlichen Friedens empfand. So etwas kannte ich nicht, selbst beim größten
Stress waren mir die Kranken und Schwachen immer das Wichtigste gewesen. Ich
machte mir immerhin so große Sorgen, dass ich mit John darüber sprach.
Er erschien mír aber abwesend, ungerührt, und hatte mehr Interesse
an einem, sagen wir, intimen Ausklang unseres Beisammenseins. Was mich im Nachhinein
nicht mehr verwundert, ist die Tatsache, dass ich ihm rasch nachgab und meine
Sorgen vergaß.
Bald schon zählten nicht einmal mehr diese Motivationen,
ich verspürte keinen Appetit mehr, keinen Wunsch nach Freizeitaktivitäten,
keine gesunden Bedürfnisse, und diese Antrieblosigkeit setzte mir sehr
zu. Irgendetwas in mir wehrte sich dagegen
und wusste, dass mein Verhalten schlecht war, übel, und, wenn alle darunter
litten, über kurz oder lang zum Untergang unserer Gemeinschaft führen
müsse. Es blieb mir nicht verborgen, dass ich dabei war, mich in
eine gefühllose Marionette zu verwandeln, und ich dachte zunächst,
dass es ein weiteres Raumphänomen war, irgendwelche Felder oder Strahlen,
die uns in eine kollektive Depression schickten. Ich stieß mit meinen
mühsam hervorgebrachten Bedenken auf taube Ohren und mehr noch, auf Aggression, dabei
war es nicht mehr zu übersehen, dass wir alle unter dieser seltsamen Erkrankung
litten. Victor, mittlerweile wie ein völlig verwahrlostes Vögelchen
aus der Gosse wirkend, kam mir zur Hilfe und eröffnete uns bei der letzten,
mit enormem Aufwand und unmenschlichem Willensaufgebot in die Wege geleiteten
Kommandokonferenz, dass es das flimmernde Weltraumfeld war, dessen Partikel
von uns Besitz ergriffen hatten, und wer ihm nicht glaube, solle doch mal für
eine Sekunde innehalten und in sich gehen. Er hatte Recht, es war nicht möglich,
den inneren Pol der Ruhe zu finden, und was uns gar nicht aufgefallen war, merkten
wir mit Hilfe seiner Worte: dass wir voller fremder Stimmen waren, die uns geichgültig
machten. Wo Gleichgültigkeit verhindert wurde, traten Zorn und Aggressivität
an deren Stelle, und so verhielten wir uns eben, als ginge uns die Welt nichts
an oder als wollte uns jeder nach dem Leben trachten.
Ich lebte in dem Gefühl
der Irrelevanz, in mir gab es keinen Zorn, aber dagegen war er Johns ständiger
Begleiter, der ihm jedoch nicht ermöglichte, seine Verantwortung
der Basis gegenüber wahrzunehmen. Niemand verhielt sich mehr verantwortlich.
Ich machte es John nicht zum Vorwurf, weil ich einsah, dass seine Schuldfähigkeit
begrenzt war, und weil ich auch zu schwach war, mich über die Stimmen in
meinem Inneren zu erheben. Sie führten mittlerweile das Regime, mitleidslos,
kompromisslos, gedankenlos. Ich fühlte sie in jedem wachen Moment meines
Daseins, wie sie mich okkupierten, in mir saßen wie die Made im Speck
und mich in eine nichtssagende leere Hülle verwandelten. Mein Flehen nach
Wärme und Geborgenheit, nach Liebe und Verständnis verhallte ungehört,
und ich selbst war mittlerweile unfähig, irgendetwas davon auch nur in Bruchteilen
zur Verfügung zu stellen. Es machte mir vordergründig nicht einmal
mehr etwas aus, meine Fähigkeit zur Selbstbestimmung verloren zu haben,
obwohl das Bewusstsein darum an mir nagte wie ein böses Krebsgeschwür. Ich, meine
Persönlichkeit, das Wesen, das Helena Russell ist, war die Unterlegene
in meinem Körper, und bald schon lebte ich mit der Gewissheit, dass es übelwollende,
intelligente Wesen waren, die mich besiedelt hatten. Ich spürte sie schadenfroh
lachen in meinem Inneren und damit protzen, dass sie mich - uns alle - in
ihrer Hand hätten. Und es stimmte, sie konnten mit uns machen, was ihnen gefiel,
sie verfügten über uns, und am meisten schmerzte es mich, dass sie
John und mich auseinander trieben.
Warum sie das taten, wusste ich nicht,
aber heute vermute ich, dass sie Angst vor unserer Verbundenheit hatten. Ich glaube, dass sie eine Gefahr für sie war und
eine Waffe gegen sie, aber wir hatten keine Ahnung, wie uns geschah und waren
wie Spielbälle in einem großen unverständlichen Spiel, dessen
Regeln wir nicht kannten.
Ich muss mich korrigieren. Ich schrieb, dass aus mir ein
emotionsloses Wesen gemacht worden war. - Wie bizarr und erschreckend, meine
damalige Situation mit der jetzigen zu vergleichen. Ich sehe die Unmenschlichkeit
meines gerade noch gehegten Wunsches nach Gefühllosigkeit jetzt im Licht
der Tatsache, dass ich ihr an meinen letzten Tagen auf Alpha tatsächlich
ausgeliefert war, und weiß, dass ein Dasein so gänzlich ohne eine
emotionelle Ebene mit dem menschlichen Leben nicht vereinbar ist. Ein Mensch
ohne Gefühle ist kein Mensch mehr. -
Meine Korrektur bezieht sich darauf,
dass die Gefühlskälte in der Tat Einzug in meinem Leben gehalten hatte,
aber aus Gründen, die ich nicht verstehe, immer wieder durchbrochen wurde
von wilder Angst, großer Sorge und taten- und machtlosem Zorn. Sie ließen
mich spüren, was sie mit mir machten, waren wie ein perfider Herstellungsbetrieb
von Sadismus
und Barbarei in meinem Inneren, und weideten sich an meinen Qualen. Was machte
sie dazu? Hat die Natur die Grausamkeit in ihrem erfindungsreichen Katalog von
Wesenseigenheiten enthalten? Oder welche Voraussetzungen bedingen das Bedürfnis
nach Bestialität, Unbarmherzigkeit, Inhumanität? Was ruft es hervor?
Ich kann nicht einmal raten. Ich kenne menschliche Rohheit und Gewalttätigkeit,
Zerstörungswut, und ich weiß, dass sie nicht immer das Ergebnis einer
förderlichen Vergangenheit sind, aber hier? Empfinden sie uns als minderwertige
niedere Kreaturen, deren Leiden keinerlei Bedeutung bezumessen ist? Es ist müßig,
darüber nachzudenken, denn es ist mittlerweile alles vorbei. Ich weiß,
dass sie jetzt nicht mehr in mir sind.
Das Ende meines Berichtes erklärt mir nicht das Ende meiner Gemeinschaft, sondern löst nur einen ganz furchtbaren Schmerz in mir aus, der natürlicherweise mit dem Untergang von Alpha zusammenhängt, aber nicht nur. Er zeigt, dass die Invasoren uns ganz gezielt Leid zufügen wollten und sich sogar die Mühe machten, individuelle Schmerzgrenzen und -auslöser zu erkunden. Sie zettelten eine Auseinandersetzung zwischen John und mir an, die ganz offensichtlich von ihnen gesteuert war, weil ich diese Einmischung nicht nur spürte, sondern aus freien Stücken nicht mehr dazu in der Lage gewesen wäre, sie überhaupt zu führen. Wir standen mitten in der Kommandozentrale, und ich wohnte dem Schauspiel entsetzt, fast panisch und hilflos bei. Ein Wortwechsel auf niedrigstem Niveau entbrannte, deren Ursache mir nicht mehr einfallen will. Wahrscheinlich gab es keinen Grund, und die Äußerungen waren der Situation nicht nur nicht angemessen sondern ein undenkbares Konvolut von erlogenen, unwahren Vorwürfen und Unterstellungen, die in der Kommandozentrale nichts verloren hatten, ja, unter normalen Umständen nicht einmal die geringste Chance gehabt hätten, im privaten Rahmen geäußert zu werden. Es war ein programmatischer Abauf von sich gegenseitig aufwiegelnder Bosheit, die in einer schier unvorstellbaren Gier nach Gewalt gipfelte. Ich habe Ähnliches nie zuvor gespürt und fühle jetzt noch bloßes Entsetzen, dass ich überhaupt fähig zu solchen abscheulichen Gefühlen bin.
Das Ende kam mit der Tatsache, dass John eine Waffe bei sich
trug. Ich sah ihn die Laser-Pistole ziehen. Er zielte auf mich, und für
einen Augenblick schien die Zeit stillzustehen. Ich dachte nicht mal an Flucht.
John war kaum drei Meter
von mir entfernt, und ich konnte nicht glauben, dass er seine Waffe auf mich
richtete, sein Gesicht eine verzerrte Maske aus Hass und Widerwärtigkeit.
Es war nicht John; es war nicht er, der den Laser auf "Töten"
einstellte, nicht er, der wieder wutentbrannt zielte, nicht er, der auf mich
schoss. Nicht die anderen, die tatenlos dabei zusahen. Ein blitzschneller Strahl
traf mich an der linken Schulter, und es war das erste Mal, da ich Oberhand
über die tausend Stimmen in mir bekam. Ich rief seinen Namen und sah in
seinen Augen dasselbe namenlose Entsetzen, das auch mich überschwemmte,
Furcht und Grauen, während gleichzeitig um seinem Mund die harten Züge
von Vergeltung und Triumph lagen. Meine Knie knickten unversehens unter mir
weg
und taumelnd fiel ich ihm vor die Füße. Einen Augenblick glaubte ich, dass
er noch einmal abdrücken werde, aber dann glitt ihm die Waffe aus der Hand,
und er sank an meine Seite, griff nach mir und schrie unartikuliert, ohnmächtig
und verzweifelt seinen Schmerz hinaus.
In dem Augenblick gesellte sich wie ein
Fremdkörper aus einer anderen Welt der schrille Ton der Alarmsirene zu
seinem gequälten Schrei, und in einem überwältigenden, blindmachenden
Blitz löste sich ganz Alpha um mich auf.
Das war mein letzter Blick auf die Basis, auf meine Welt und John. Mir ist nichts geblieben.
Ein großer Wassertropfen klatscht auf die schwarzen Buchstaben, Schreie und Qualen zerrinnen im wolkigen Zerlaufen der löslichen Tinte. Ich blicke unwillkürlich an die Decke und vermute unrealistisch ein tropfendes Wasserrohr, doch da merke ich, wie sich mein Blick verschleiert und sich der überquellende Schmerz in meiner Brust seinen Weg ins gedämpfte Licht dieser Welt bahnt. Zum ersten Mal weine und trauere ich um das, was ich verloren habe.
Helena Russell kramte und werkelte in ihrem Quartier herum. Sie brauchte mehr Platz und hatte sich daran gemacht, eine der in die Mauer eingelassenen Regalwände von Dingen zu befreien, die ihr ohnedies schon lange ein Dorn im Auge waren. John saß auf ihrem Sofa über eine große Kiste mit musikalischen Datenträgern gebeugt und hatte die ehrenvolle Aufgabe übernommen, diese zu ordnen und mit Helenas Namen zu beschriften. Sie hatte vor, sie, wie auch andere es getan hatten, der allgemeinen Bibliothek zu überantworten, damit sie der Gemeinschaft zugängig gemachen werden konnten. Er kam seiner Arbeit nur mit halbem Ernst nach, plänkelte mit Helena und summte da und dort Melodien, deren Titel er auf den jeweiligen Covers erkannte.
"My baby don't care for clothes, my baby just cares for me!", sang er freudestrahlend, und Helena blickte schmunzelnd von den Akten hoch, in denen sie gerade blätterte.
"Kunststück", sagte sie, "du hast ja damals bei der Planung von Alpha verabsäumt, hier eine entsprechende Bekleidungsindustrie und shopping malls zu installieren!" Sie legte den Packen zur Seite und streckte sich nach dem Inhalt des nächst höher gelegenen Regals.
"Falls du die großen Kisten ganz oben brauchst, die hole ich dir herunter", erbot sich John, doch sie schüttelte den Kopf.
"Später", sagte sie, "jetzt möchte ich erst mal sehen, was ich von dem Zeug hier überhaupt noch brauche." Sie griff nach mehreren blauen Mappen und schlug sie der Reihe nach auf. Es handelte sich um Computerausdrücke von Berichten, die sie zur Lage von Alpha verfasst hatte. Im Blättern stutzte sie und nahm ein Bündel von Papieren heraus. Den Rest legte sie zur Seite und setzte sich verwundert zu John auf die Couch.
"Was hast du da?", erkundigte er sich interessiert und stopfte eine Handvoll CDs, mit denen er sich soeben beschäftigt hatte, wieder zurück in die Kiste.
"Ich weiß nicht", erwiderte sie und musterte ihren Fund, "das ist echtes Papier. Ich glaube nicht, dass wir hier auf Alpha je welches von der Qualität hatten." Die Seiten waren nicht gebunden, und sie drehte die erste um. Sie waren vorne und hinten beschriftet. "Es ist meine Handschrift. Aber ich kann mich nicht erinnern, diesen Text hier geschrieben zu haben." Sie hielt ihm das erste Blatt entgegen. "Schau dir die Schrift an, die Buchstaben sind verhutzelt und kaum leserlich. Es sieht so aus, als wären sie unter großem Druck, unter Verzweiflung oder mit Angst geschrieben worden. Ich habe nie handschriftliche Berichte verfertigt. Das kann ich mir nicht erklären, und schon gar nicht, wie die Zettel in mein Quartier geraten sind."
"Vielleicht sollten wir es lesen?", schlug John vor, und sie nickte zustimmend.
Gemeinsam gingen sie durch den Text, zuerst verwundert, dann, als klar war, dass Helena tatsächlich die Schreiberin gewesen war, mit wachsender Unruhe und steigendem Entsetzen. Keiner erinnerte sich an die Ereignisse, über die berichtet wurde. Als Helena die letzten Zeilen ihres Berichtes gelesen hatte, waren ihre Hände schweißnass und ihr Herz schwer.
"Glaubst du, dass uns dies tatsächlich widerfahren ist?", wollte John wissen. "Ich meine, wir sind ja nicht direkt tot, zumindest wäre es mir neu! Und an die Situation, die da beschrieben wurde, kann ich mich auch nicht erinnern." Helena neigte sich bebend zu John vor.
"Hilf mir mal mit dem Reißverschluss", sagte sie, und er zog an dem Zip ihres Uniformoberteils, ohne so recht zu begreifen, was sie damit wollte.
"Siehst du?", fragte sie und wandte ihm ihre entblößte, weiße linke Schulter zu. Da war eine zarte, bleiche, unregelmäßige Narbe, die sich von knapp unter dem Schlüsselbein bis hin zum Schultergelenk zog. "Ich habe mich schon immer gewundert, wo ich die her habe." Seine Finger berührten sie sacht, wie, um sicherzugehen, dass sich seine Augen nicht täuschten.
"Was da steht, Helena, ist entsetzlich! Ich kann mir nicht einmal im schlimmsten Alptraum vorstellen, dass ich dir so etwas antun könnte!"
"Nein", erwiderte sie mit einem schmalen Lächeln und legte ihre Hand auf seine Wange. "Ich kann es auch nicht. - Falls es wirklich passiert ist, bin ich von Herzen froh, dass wir es vergessen haben." Sie wollte die letzte Seite Papier auf den Tisch legen, merkte aber, dass noch ein weiteres Blatt angefügt war, das sie zuvor übersehen hatten.
Die Zeichen entsprachen Helenas Handschrift, und doch waren sie offensichtlich künstlich generiert und gedruckt worden.
Die gesetzlose Kolonie aus dem Volk der Arkess weiß um das geltende Recht in der Zone des Bündnisses, allein, es hat sich dagegen entschieden, diesem Recht zu folgen, um seinen illegalen Vergnügungen zu frönen und Gästen des Bündnisses auf das Äußerste zu schaden. Die Wächter wurden eingeschaltet, um die Kolonie unschädlich zu machen. Die Individuen der Kolonie, die zu Tausenden in die Persönlichkeiten der fremden Gastentitäten eingedrungen waren, wurden in einer aufwändigen Prozedur zur Gänze wieder entfernt und sämtliche verursachten Schäden behoben. Aus Gründen der Legalität musste der Chronist der Gäste in eigenen Worten Zeugnis ablegen von der Art und Weise der schädlichen Einflussnahme. Es wird gebeten, Unannehmlichkeiten, die der Chronist erlitten hat, zu entschuldigen. Aus humanitärer Notwendigkeit wurde entschieden, das Erlebnis zur Gänze aus den Gedächtnissen der Gäste zu löschen, die Rechtslage sieht aber vor, dass diese über den Vorfall unterrichtet werden müssen. Die weitere Reise dieser Gemeinschaft innerhalb der Zone wird unbehelligt von statten gehen.
"Es gab keinen Kontakt mit Außerirdischen, die ein Bündnis erwähnten", meinte John nachdenklich. Helena nickte, bedächtig zustimmend.
"Ich fürchte, es wird völlig unmöglich sein, das Ereignis zeitlich zuzuordnen. Ich weiß auch nicht einmal mehr ungefähr, wann mir die Narbe an meiner Schulter aufgefallen ist." John hob die beschrifteten Bögen und betrachtete sie abschätzend.
"Was sollen wir damit tun?" Es stand nicht zur Diskussion, den Text in einer vollständigen Fassung für die Öffentlichkeit zugängig zu machen. Zu persönlich waren Helenas Worte gewesen, zu sehr war ihr Leid erkennbar, zu erschreckend das Erlebte.
"Es ist ein schauriges Dokument, von dem ich nicht gerne weiß, dass es aus meiner Feder stammt", gab sie widerwillig zur Antwort, "aber es ist ein Dokument. Irgendwann kann es vielleicht jemandem eine Hilfe sein. Daher sollten wir zumindest eine Zusammenfassung dieses Berichtes mit Querverweis zum Original in unsere offizielle Historie aufnehmen. Ausnahmsweise wird das Original bei mir bleiben." John stimmte ihr zu.
Es war eine weitere Dokumentation der Fragilität des Menschen in dem fremden Meer des Universums und der Beweis, dass es manchmal nur Hilfe von außen war, die ein Überleben möglich machte.
-Ende-
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25.06.07