Das Paradies

 

Von Barbara Schmid

Was kann es bedeuten, wenn Helena plötzlich ihr Leben auf Alpha vergisst - und was sagt John dazu, dass er auch Opfer ihres Gedächtnisverlustes geworden ist???
Barbara hat sich wieder mal ins Zeug gelegt, um uns zu unterhalten!

Viel Spaß!

 


 

„Good Morning – Midnight –
I’m coming Home – ...”

Emily Dickinson

 

 

 

Dr. Helena Russell saß bei einem einsamen Mittagessen und war ein wenig verärgert. John hatte schon wieder eine Besprechung und dafür auf sein Essen verzichtet. Sie hatte ihm schon so oft gesagt, dass er halbwegs regelmäßig essen sollte, aber es war genauso sinnlos, wie ihm zu sagen, genügend zu schlafen.

Helena lächelte ein wenig. In letzter Zeit war sie an seinen schlaflosen Nächten durchaus beteiligt, sie gestattete sich kurz einen kleinen Tagtraum. Trotzdem musste John etwas mehr auf seine Gesundheit achten, sie brauchten ihn, SIE brauchte ihn. John liebte ihre Fürsorge, änderte aber auch ihr zuliebe kaum seine Angewohnheiten, allerdings aus reiner Nachlässigkeit, nicht, weil er ihre Ratschläge nicht ernst genommen hätte. Helena beendete ihre Mahlzeit und erhob sich seufzend. Vorläufig schien John sein ungesunder Lebenswandel nicht zu schaden, aber sie konnte die Medizinerin in sich nicht zum Schweigen bringen. Sie würde heute wieder ein ernstes Wort mit dem Commander wechseln. Zumindest nahm sie sich das vor.

Jetzt führte die Chefärztin ihr Weg in die Abteilung der Lebenserhaltenden Systeme. Helena überprüfte sie jeden Tag höchstpersönlich, sogar an ihren freien Tagen sah sie stets kurz vorbei. Ihr aller Leben hing von ihrer Gewissenhaftigkeit ab und diese Verantwortung nahm Dr. Russell stets sehr ernst. Nicht, dass es einen Grund gegeben hätte, ihren Mitarbeitern zu misstrauen, aber Helena hatte ein Gefühl für die Maschinen entwickelt, das ihr vor jedem anderen sagte, wenn etwas nicht in Ordnung war.

Dr. Bob Mathias begrüßte sie lächelnd:

„Ich habe bereits alles überprüft, aber - sehen Sie es sich lieber selbst noch einmal an.“

Helena lächelte ebenfalls. Bob nahm ihr ihre Kontrolle niemals übel, wofür sie außerordentlich dankbar war.

Seltsam, alles lief völlig reibungslos, aber sie hatte ein warnendes Gefühl. Im Kontrollraum fiel ihr ein eigenartiges weißes Licht auf, warum hatten die Scanner nichts gemeldet, warum hatte Bob das nicht gesehen? Es war nur ein ganz unauffälliges Glimmen, kaum wahrnehmbar, aber vorhanden, sie musste es John sagen, damit er weitere Untersuchungen anordnen konnte. Sie warf durch die Glasscheibe einen Blick in den Kontrollraum, aber dort schien alles in Ordnung zu sein, jeder ging ruhig seiner Arbeit nach.

Das Licht schien intensiver zu werden und Helena fühlte eine ungewohnte Leichtigkeit, die von ihr Besitz ergriff. John hatte eine Besprechung, warum sollte sie ihn jetzt stören. In vier Stunden hatten sie beide frei, da war dann Zeit genug. Sie kicherte ein wenig. Falls sie viel zum Reden kommen würden. Das Leben auf ihrem verloren gegangenen Erdtrabanten war schwer genug, warum sollte man ein paar schöne Stunden nicht mit allen Sinnen genießen? Sie kicherte wieder. Alles schien so einfach zu sein.

° ‡ ° ‡ °

Vier Stunden später kam John etwas atemlos in die medizinische Abteilung. Er fand Helena vor dem Computer, aber sie hatte eine ungewohnt entspannte Haltung, die ihr nicht wirklich ähnlich sah. Er trat näher:

„Helena? Alles in Ordnung?“

Helena sprang voller Begeisterung auf und schloss ihn in ihre Arme:

„John! Was für eine Überraschung! Schön dich zu sehen.“

Angesichts so einer Begrüßung vergaß John all seine Verwunderung. Er küsste sie und hielt sie fest. Dann schob er sie ein wenig von sich, um in ihr lächelndes Gesicht sehen zu können:

„Gehen wir in mein Quartier? Ich bin ziemlich müde.“

Helena zog einen leichten Schmollmund:

„Lieber zu mir, es ist näher. Ich hoffe, du bist nicht ZU müde.“

John sah sie erstaunt an. Das war schon gar nicht Helenas Art, aber es war verlockend. Er grinste:

„Nicht SO müde. Dann komm.“

Helena hatte eine ferne Erinnerung an etwas, was sie ihm hatte sagen wollen, aber das hatte bestimmt Zeit bis morgen. Und Morgen war noch so weit.

° ‡ ° ‡ °

Es war mitten in der Nacht, als Doktor Russell erwachte. Sie blickte sich schlaftrunken in ihrem Quartier um und wunderte sich, dass sie ihren Pyjama nicht trug. Die beliebten und gehassten blauen Basispyjamas, aber sie waren weich und bequem, daran gab es keinen Zweifel. Offensichtlich war sie gestern zu müde gewesen um ihn anzuziehen, seltsam. Sie lächelte und drehte sich wohlig zur Seite, um im nächsten Augenblick wie von Blitz getroffen zurückzufahren – sie starrte fassungslos auf den breiten, ebenfalls unbekleideten Rücken eines Mannes.

Helena schloss kurz die Augen und versuchte sich zu konzentrieren. Sie musste ohne Zweifel noch träumen, denn niemals hätte sie einen unbekannten Mann mit in ihr Bett genommen. So etwas konnte doch nur ein Alptraum sein. Aber auch das neuerliche Öffnen und Schließen ihrer Augen brachte kein anderes Ergebnis. Es blieb eine unverrückbare Tatsache, dass Helena Russell, die Unnahbare, kaum dass sie ihren Dienst auf der Mondbasis angetreten hatte, einen Mann mit in ihr Quartier genommen hatte. Sie versuchte sich zu erinnern, ob es gestern vielleicht eine Party oder so etwas gegeben hatte und sie womöglich, entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten, etwas getrunken hatte, aber sie hatte weder einen schweren Kopf, noch konnte sie sich entsinnen, irgendeiner Festivität beigewohnt zu haben. Aber da blieb dieser unbekannte Mann. Sie würde doch nicht, hatte sie…?

Natürlich, sie hatte, daran gab es gar keinen Zweifel. Helena fühlte trotz der Dunkelheit die Schamesröte, die ihr Gesicht überzog. Wer war dieser Kerl, den sie aus ungeklärter Ursache mit in ihre festungsartige Privatsphäre genommen hatte? Helena wagte sich nicht zu bewegen, aus Angst, den Mann aufzuwecken, sogar ihre Atmung versuchte sie so weit wie möglich zu unterdrücken. Natürlich war sie alt genug für so ein Abenteuer, aber gerade solche Abenteuer waren überhaupt nicht ihr Stil. Seit Lees Tod hatte sie Männern kaum ein Augenmerk mehr geschenkt, sie hätte so etwas auch in volltrunkenem Zustand nicht getan. Helena fühlte, wie eine eisige Kälte ihren Leib erfasste. War der Mann gewaltsam eingedrungen? Aber warum schliefen sie dann so friedlich Seite an Seite, es war verwirrend. Doch dann siegte endlich ihr klarer unbestechlicher Verstand. Sie musste zunächst einmal herausfinden, wer der Fremde war. Helena hob behutsam den Kopf und versuchte sich ein Bild von ihm zu machen. Der von der Decke verhüllte Körper musste, seinen Konturen nach, ziemlich groß sein und er hatte schwarzes Haar. War er einer der Piloten? Aber die waren alle nicht so groß und aus der medizinischen Abteilung stammte er mit Sicherheit nicht. Hatte Commander Gorski in letzter Zeit neues Personal angefordert? Davon wusste sie nichts, sie bekam doch sonst immer eine aktuelle Liste, da sie als Chefin der medizinischen Abteilung über alle Mannschaftsmitglieder genauestens informiert sein musste. Nur das technische Personal wechselte häufiger, war er einer der Techniker? Aber wie hatte sie den kennen gelernt? Sie kannte kaum einen persönlich aus der technischen Abteilung, wie hatte das nur passieren können? Sie stellte sich diese Frage nun wohl zum hundertsten Mal, aber es gab nach wie vor keine Antwort.

Genau in diesem Moment bewegte sich der Fremde und drehte sich im Schlaf zu ihr herum. Helena rückte an den äußersten Rand des Bettes, aber glücklicherweise war er nicht erwacht.

Nun konnte sie wenigstens in Ruhe sein Gesicht studieren. Der Mann hatte ein strenges, aber attraktives Gesicht und er wirkte durchaus sympathisch und Vertrauen erweckend. Nicht wie jemand, der sich nachts gewaltsam Zutritt zu den Quartieren allein stehender Frauen verschaffte. Also musste sie ihn doch freiwillig eingelassen haben, aber alles in ihr wehrte sich gegen diese Vorstellung. Sein Gesicht wirkte nicht so, als würde er Befehle empfangen, er wirkte mehr wie jemand, der es gewohnt war, sie zu geben, sie konnte sich ihn in einer so untergeordneten Stellung wie der eines Technikers nicht vorstellen. Helena hob ihren Kopf noch ein wenig und erblickte im trüben Schein der Notbeleuchtung ihre Couch, auf der ihre beiden Uniformen ziemlich unordentlich herumlagen. Sie errötete wieder wenn sie daran dachte, wie rasch sie beide sich ihrer dort entledigt haben mussten, da sie so hingeworfen aussahen.

Aber damit würde sie sich später befassen. Wenn sie die Ärmelfarbe seiner Uniform sehen konnte, wusste sie wenigstens aus welcher Abteilung er stammte.

Helena versuchte vorsichtig aus dem Bett zu gelangen, als sie plötzlich in zwei erstaunlich wache blaue Augen sah. Der Fremde lächelte zärtlich:

„Helena. Warum schläfst du nicht? Ist alles in Ordnung?“

Damit zog er sie vom Bettrand weg fest in seine Arme und schmiegte sich liebevoll an sie. Helena wünschte sich meilenweit weg. Diese Nähe in unbekleidetem Zustand war kaum zu ertragen, auch wenn sie sich Stunden zuvor wohl noch viel näher gewesen waren, woran sie gar nicht zu denken wagte. Der Mann küsste ihre Wange und liebkoste hingebungsvoll ihr Ohr. Helena erstarrte und dachte über einen Ausweg nach. Offensichtlich handelte es sich bei dieser Geschichte um keinen One–Night–Stand. Die Vertrautheit, mit der der Fremde sie berührte, ließ auf eine Beziehung schließen, was sie mit noch größerer Panik erfüllte. Helena richtete sich entschlossen auf:

„Äh... honey (verdammt, sie wusste seinen Namen nicht!), ich möchte ein Glas Wasser trinken, soll ich dir auch etwas bringen?“

Der Fremde strahlte ob des, offensichtlich unerwarteten, Kosenamens und küsste sie ein weiteres Mal auf die Wange, wobei er durch ihr, wie unbeabsichtigtes, Ausweichen mehr den Hals traf.

„Nein, danke. Aber komm gleich wieder, ja?“

Helena glitt erleichtert aus dem Bett und sah sich rasch nach ihrem Morgenmantel um. Aber der war nirgends zu sehen. Also versuchte sie, so schnell wie möglich ins Badezimmer zu kommen, wohl wissend, dass der Mann ihr nachsah.

Erst als sie die Tür hinter sich verschlossen hatte, wagte sie vorsichtig durchzuatmen. Sie raffte ihren Morgenmantel an sich und hüllte sich schaudernd ein, dann starrte sie atemlos in den Spiegel.

War es überhaupt sie selbst, oder würde ihr ein gänzlich anderer Mensch entgegenblicken?

Aber es war ihr eigenes ratloses Gesicht, was ihr wie zum Hohn von der glänzenden Fläche entgegen geworfen wurde.

Also sie war es selbst, sie war nicht plötzlich in den Körper einer anderen geschlüpft, trotzdem musste irgendetwas geschehen sein, aber was?

Helena wartete eine Weile, dann lauschte sie vorsichtig in die nächtliche Stille ihres Quartiers. Die tiefen, gleichmäßigen Atemzüge des Fremden verrieten ihr, dass er wieder eingeschlafen war und sie konnte sich ein wenig entspannen. Aber sie wartete noch ein wenig, bis sie ganz sicher war, dann schlich sie wie eine Diebin zu ihrer Couch. Obenauf lag das Oberteil ihrer Uniform mit dem vertrauten weißen Ärmel. Sie zog es zur Seite und entfernte gerade ihre Hose, als sie sie fallen ließ, als hätte sie sich verbrannt – der schwarze Ärmel des Kommandanten!

Wann war Commander Gorski abgelöst worden und warum um alles in der Welt hatte sie sich gleich in eine Beziehung zu dem ihr unbekannten Kommandanten gestürzt?

Helena blieb wie vernichtet auf der Lehne der Couch sitzen und gab es auf, Ordnung in ihre Gedanken bringen zu wollen. Entweder war sie in der falschen Zeit, oder auf dem falschen Mond, aber irgendetwas konnte hier nicht stimmen. Sie würde gleich morgen um ihre Versetzung auf die Erde ansuchen, offensichtlich tat ihr das Weltall entgegen ihren Erwartungen nicht gut. Sie kannte noch nicht einmal den Namen ihres neuen Commanders, aber sie hatte die Nacht mit ihm verbracht, verlor sie womöglich den Verstand?

Helena zog ihren Morgenmantel enger um ihren Körper. Sie konnte nur hoffen, dass es Antworten gab und dass sie sie finden würde, sobald die Nacht vorbei war.

° ‡ ° ‡ °

Irgendwann musste Helena dann aber doch wieder eingenickt sein, denn sie wurde von einem Kuss in ihren Nacken geweckt. Sie fuhr erschrocken auf und erblickte den Commander, der offensichtlich geduscht und rasiert und in seiner Uniform hinter ihr stand. Er musterte sie etwas verwundert:

„Ich habe dich nicht wecken wollen, Helena, du hast so fest geschlafen, aber warum in aller Welt bist du nicht wieder ins Bett gekommen?“

Nun war guter Rat teuer. Sollte sie ehrlich sein und antworten, dass sie sich unter keinen Umständen zu einem, ihr unbekannten, Mann ins Bett legen würde oder sollte sie lieber den diplomatischen Weg gehen und sich zuerst Klarheit verschaffen? Sie entschied sich für Letzteres und lächelte:

„Ich habe nicht wieder einschlafen können und ich… wollte dich nicht wecken. Du brauchst doch deinen Schlaf.“

Der Commander grinste:

„Da warst du gestern noch ganz anderer Meinung…“

Helena wandte sich peinlich berührt ab. Wann begann denn endlich sein Dienst? Hatte er denn ewig Zeit? Da ertönte das Signal seines Commlocks und Helena atmete erleichtert auf.

„Commander Koenig kommen Sie bitte zur Main Mission, Commander Koenig bitte.“

Der so Gerufene meldete sich seufzend:

„Ich bin schon unterwegs Paul.“

Helena gestattete sich einen Moment der Erleichterung, als sie Pauls Namen hörte, dann war sie gezwungen, sich von dem Fremden küssen zu lassen und ihm zu versichern, dass sie ihn genauso vermissen würde wie er sie. Er warf ihr noch einen forschenden Blick zu, dann verließ er mit raschen Schritten ihr Quartier.

Helena stürmte in die Dusche und versuchte sich unter dem heißen Strahl etwas zu entspannen. Sie duschte, bis der Computer ihr das Wasser abdrehte. Seltsam, seit wann wurde auf Alpha denn so gespart? Sie musste mit Bob Mathias darüber reden, sie konnte nur hoffen, dass es ihn in dieser Welt auch gab.

° ‡ ° ‡ °

Wenige Minuten später kam die Chefin der medizinischen Abteilung mit ruhigem Gesicht und mit einer frischen Uniform aus ihrem Quartier. Niemand hätte ihr angesehen, wie ängstlich und nervös sie war. Ihre eiserne Selbstbeherrschung ließ sie beinahe locker erscheinen. Sie wurde von den Entgegenkommenden freundlich begrüßt, aber es war ein Spießrutenlauf, denn bei jedem unbekannten Gesicht fühlte sie Panik in sich aufsteigen. Endlich stand sie vor der Tür der medizinischen Abteilung und betätigte erleichtert ihr Commlock. Die Tür glitt auf und Dr. Mathias begrüßte sie erfreut:

„Schon so früh auf, Boss? Sie hätten doch heute Spätschicht.“

In Helenas Kopf begann sich alles zu drehen. Frühschicht, Spätschicht, sie hatte keine Ahnung, was für eine Schicht sie hier hatte, auf diesem Mond, in dieser Zeit.

Aber sie musste weiter auf der Hut sein, noch wusste sie nicht, was hier geschah:

„Guten Morgen Bob, ich konnte nicht schlafen und da…“

Irrte sie sich oder sah sie tatsächlich ein verständnisinniges Grinsen auf dem Gesicht ihres Kollegen?

Helena beschloss, es zu ignorieren und setzte sich an ihren Computer. Womit sollte sie nur beginnen? Als Erstes stellte sie fest, dass ihr Passwort nicht mehr stimmte. Das war doch unmöglich, sie verwendete seit so vielen Jahren „Lee“, daran hatte sie mit Sicherheit nichts geändert.

Helena versuchte sich zu beruhigen und konzentrierte sich auf die wenigen Daten, die sie hatte. Der Name des Commanders, Koenig, hatte einen schwachen Widerhall in ihrer Erinnerung ausgelöst, er war doch… richtig, er war einer der Astronauten der fatalen Ultra–Mission gewesen, daher kannte sie den Namen, vorausgesetzt, er war derselbe Koenig, was unwahrscheinlich war, denn der war doch abberufen und auf die Erde strafversetzt worden, man hätte diesem Mann sicher nicht das Kommando der Mondbasis übergeben, oder?

Koenig, wie hatte er noch geheißen? Charles, nein, Jack, das war es auch nicht, aber es war ein gängiger Vorname gewesen, soviel wusste sie noch. Sie betrachtete Bobs arglose Miene. Was er wohl sagen würde, wenn sie ihn nach dem Vornamen des Commanders fragte? Er würde ihr wohl kaum glauben, dass sie ihn vergessen hatte, es war ein echtes Dilemma. Aber sie musste in ihren Computer, es war beängstigend.

Bob betrachtete sie erstaunt:

„Träumen Sie, Doktor Russell? Sie arbeiten doch sonst gleich wie besessen, kaum dass Sie vor ihrem Bildschirm Platz genommen haben.“

Wieder das wissende Lächeln, sie hätte ihn ohrfeigen können. Aber konnte sie ihm sagen, dass sie ihr Passwort nicht mehr wusste? Bei der Gelegenheit hätte sie ihm dann auch gleich gestehen können, dass sie auch den Namen ihres Liebhabers nicht kannte, damit er gleich ganz genau sehen konnte, wie es um sie stand.

Sie entschied sich aber für ein harmloses Gespräch, um die Peinlichkeit zu überbrücken:

„Seit wann limitieren wir das Duschwasser?“

Bob musterte sie amüsiert, offensichtlich hatte er schon wieder einen Hintergedanken:

„Das war Ihre gute Idee, Doktor Russell. Wir müssen schließlich sparsam sein, mit unseren Reserven, trotz der Wiederaufbereitungsanlage. Ich wusste nicht, dass Ihnen jetzt zuwenig Wasser ist, bis vor kurzem….“

Helena musterte ihn eisig:

„Was meinen Sie, Dr. Mathias?“

Der zog den Kopf ein:

„Entschuldigen Sie vielmals Boss, aber wir freuen uns alle so für Sie und den Commander…“

Helena gab auf:

„Ist schon gut Bob. Ich muss unbedingt mit Victor reden, er ist doch hier oder?“

Einen Moment lang hielt sie den Atem an, aber zu ihrer Erleichterung nickte Bob lebhaft:

„Natürlich Doktor. Ich werde ihn für Sie rufen.“

° ‡ ° ‡ °

Victor kam wenige Minuten später und lächelte sie mit großer Wärme an. Seine Nähe gab Helena Sicherheit und Halt und sie wäre am liebsten in Tränen ausgebrochen. Aber das konnte sie sich nicht leisten. Auf gar keinen Fall.

Victor nahm neben ihr Platz:

„Na Helena? Alles in Ordnung?“

Sogar er schien ein wenig verschmitzt zu lächeln und Helena hätte schreien können. Wusste denn jeder auf der Basis über ihr Privatleben Bescheid, jeder, bis auf sie selbst?

Ihr Computer verweigerte sich ihr, es war Zeit auf die Erde zurückzukehren.

„Victor, ich muss zurück auf die Erde. Ich sollte…“

Sie hielt erstaunt inne, als Victor verständnisvoll ihre Hand nahm:

„So wie wir alle, Helena. Ich kann dich gut verstehen. Seit wir auf unserer ungewissen Reise durch das Weltall sind, wird dieser Wunsch immer lebhafter in uns allen, aber wir haben uns eben damit abgefunden. Du warst uns da immer ein Vorbild, du und John.“

Helena starrte ihn an. Die kurzfristige Erleichterung, nun endlich den Vornamen des Commanders zu kennen, machte namenlosem Entsetzen Platz. Auf unserer ungewissen Reise durch das Weltall? Der Mond? Seit wann machte sich ein Mond auf irgendeine Reise?

Nur eine Katastrophe konnte zu so etwas geführt haben, was war geschehen? Sie betrachtete wütend ihren Computer. Sie konnte Victor nicht nach den Ursachen dieser geheimnisvollen Reise fragen, nur ihr Computer konnte ihr da helfen, er würde ein unbestechlicher Berichterstatter sein. Unauffällig tippte sie den Namen „John“ ein, aber wieder wurde der Zugriff verweigert. Was für ein Passwort verwendete sie hier? Und vor allem, war sie es selbst, oder war das alles ein Traum? Wie kam sie hierher und was geschah nur mit ihr?

Da Helena in der medizinischen Abteilung nichts ausrichten konnte und eigentlich noch frei hatte, verabschiedete sie sich von Victor und suchte die Kantine auf. Zuerst sah sie sich vorsichtig um und erkannte zu ihrer Erleichterung, dass der Commander nicht anwesend war.

Helena steuerte Sandras Tisch an und nahm erleichtert neben ihr Platz. Die Datenanalytikerin schenkte ihr einen freundlich–scheuen Blick und aß langsam weiter. Helena musste nun sehr vorsichtig sein, aber wenn sie es geschickt anstellte, konnte sie vielleicht etwas erfahren.

Sie lächelte Sandra an und fragte dann ganz nebenbei:

„John hat schon gegessen?“

Sandra sah sie etwas unsicher an:

„Sie ärgern sich doch immer über ihn, weil er das Mittagessen meist vergisst, Doktor.“

Helena biss sich auf die Lippen, aber noch war nichts verloren:

„Ich hatte gehofft, er hätte heute schon etwas gegessen, weil ich ihn gestern darum gebeten hatte.“

Sandras Gesicht entspannte sich und sie lächelte strahlend:

„Sie wissen doch am besten, wie er ist.“ Dann, als hätte sie eine Respektlosigkeit begangen, verstummte sie plötzlich und starrte wieder auf ihren Teller.

Helena gab noch nicht auf:

„Es ist mir etwas peinlich, dass es so offensichtlich ist, ich meine unsere… es ist doch nicht…“

Sandra sah sie erschrocken an:

„Ich habe doch hoffentlich nicht den Eindruck erweckt, als würde ich mich daran stören, oder? Wir alle sind so froh und freuen uns doch so für Sie und den Commander.“

Helena verneinte rasch, aber sie musste mehr wissen und Sandra war ihr schon ein wenig auf den Leim gegangen:

„Seit wann wissen Sie es denn eigentlich?“

Sandra senkte beschämt den Kopf:

„Eigentlich schon seit der Commander auf der Mondbasis ist, aber da waren Sie ja noch nicht, ich meine... Aber wir wissen es alle, auf jeden Fall seit dem Feuerplaneten.“

Helena horchte auf. Der Feuerplanet! Nicht, dass sie irgendeine Erinnerung gefühlt hätte, aber das Wort klang irgendwie vertraut, es könnte, es musste ihr Passwort sein.

Nach ein paar belanglosen Worten mit der verunsicherten Sandra verließ Helena die Kantine und begab sich zum zweiten Mal in die medizinische Abteilung. Diesmal setzte sie sich in ihr Büro und schloss sorgsam die Tür. Noch hatte sie keinen Dienst, also würde sie wohl in Ruhe ihren Computer durchforsten können.

„Feuerplanet“ war tatsächlich ihr Passwort. Sie wollte nicht darüber nachdenken, was dort unten passiert sein mochte, sondern konzentrierte sich auf ihre Einträge. Es war verblüffend. Offensichtlich hatte sie seit dem Verlassen der Erdumlaufbahn gewissenhaft ein Logbuch geführt, dass würde ihr nun eine große Hilfe sein. Immer vorausgesetzt, sie befand sich in der richtigen Zeit und am richtigen Ort. Aber dessen war sie sich nicht sicher. Im Gegenteil, die Zweifel wurden immer bedrohlicher.

Bevor sie sich endgültig in die Lektüre ihrer umfangreichen Aufzeichnungen vertiefte, machte sie rasch bei sich selbst einen medizinischen Scan. Aber alles schien bestens zu sein, sie war gesund und ganz eindeutig sie selbst. Nur mit einem anderen Leben, einem Leben, das sie nicht wieder erkannte.  

° ‡ ° ‡ °

Commander John Koenig lauschte den Worten seines Computertechnikers. David Kano wies auf den Hauptbildschirm:

„Wir treiben gerade durch einen sehr uninteressanten Sektor des Weltraums, es gibt weit und breit keinen bewohnbaren Planeten, nur diesen großen Asteroiden, der aber in wenigen Stunden aus unserer Reichweite sein wird. Aber der Computer hat eine geringfügige Energiefluktuation aufgezeichnet und ich dachte, das sollten Sie wissen.“

John sah den großen, von Kratern übersäten Asteroiden an und hatte ein mehr als unangenehmes Gefühl. Auch wenn Kano ihn nicht für gefährlich hielt, irgendetwas stimmte da nicht:

„In welchem Bereich waren die Energiefluktuationen?“

„Auf der gesamten Basis, Sir. Aber sie waren nur kurzfristig und kaum wahrnehmbar. Deshalb hat der Computer wohl auch keinen Alarm ausgelöst.“

„Irgendwelche Schäden?“

„Keine, Commander. Die gesamte Basis funktioniert einwandfrei.“

John war tief in Gedanken versunken. Die kleine Missstimmung vom Morgen lag ihm genauso im Magen wie etwas anderes. Auch wenn es kindisch war, aber er hatte Helenas vorwurfsvollen Anruf zur Mittagszeit vermisst. Er hatte auf sein Commlock gestarrt und gewartet. Manchmal hatte er sich selbst im Verdacht, nichts zu essen, nur um ihre besorgte Stimme zu hören. Irgendetwas hatte sich verändert. Er fühlte es mehr, als dass er es wusste, irgendeine Bedrohung lag in der Luft. Der anwesende Kommandostab wirkte ruhig und sorglos, niemand schien sich so unwohl zu fühlen wie er.

„Verbinden Sie mich mit Doktor Russell.“

„Ja Commander?“

Alle Augen in der Main Mission ruckten hoch und starrten auf den Bildschirm. Hatte sie ihn jetzt tatsächlich „Commander“ genannt?

John versuchte sich zu sammeln:

„Kann ich dich sprechen Helena? In meinem Büro?“

Helena ärgerte sich über sich selbst. Aber jetzt war es zu spät:

„Natürlich John. Ich komme sofort.“

Der Commander sah die betretenen Blicke seiner Crew und wandte sich abrupt an David Kano:

„Scannen Sie den Asteroiden. Zentimeter für Zenitmeter.“

„Aber Sir, er ist nur…“

„Tun Sie es!“

„Ja, natürlich Commander.“

„Sir?“

„Ja, Kano?“

„Wie erwartet, Sir. Auf dem Asteroiden gibt es nichts als Stein und Staub, weder Energie noch die entferntesten Anzeichen von Leben.“

„Gut. Wie lange sind wir noch in seiner Reichweite?“

„Circa 8 Stunden.“

„Hm.“

° ‡ ° ‡ °

Helena betrat Johns Büro durch die kleine Tür auf der Rückseite. Sie wollte sich nicht den neugierigen Blicken der Crew aussetzen. Als John sie sah, betrat er sein Büro und verschloss die großen Tore.

„Helena, wir müssen miteinander reden.“ Er kam vorsichtig näher, berührte sie aber nicht.

„Was ist los mit dir?“

Helena setzte sich langsam auf einen Stuhl und suchte nach einer passenden Antwort:

„John, ich denke, wir haben einen Fehler gemacht.“

„WIE BITTE?“

Helena hatte beinahe die gesamten Logbücher durchgearbeitet und wusste nun ziemlich gut über die Mondbasis und ihr Schicksal Bescheid. Nur ihr eigenes hatte sie noch nicht entschlüsselt. Jetzt musste sie wohl oder übel Farbe bekennen. Aber womöglich würde John sie vom Dienst suspendieren und da war etwas, was sie unbedingt erledigen musste. In ihrem Kopf wollte eine Erinnerung unbedingt an die Oberfläche, eine Erinnerung, die lebensnotwendig war…

John starrte sie an. Er wirkte verletzt, verunsichert und fassungslos.

„Was für ein Fehler, Helena?“

„Du hast mich schon verstanden, John. Das mit uns beiden, wir haben...“ Helena verstummte verzweifelt und sah in seine ungläubigen Augen.

„Was möchtest du mir sagen, Helena? Was für ein verdammtes Klischee willst du mir jetzt als Grund angeben, um mir DAS anzutun? Es geht dir zu schnell, du bist noch nicht so weit, oder…“

„Was bilden Sie sich ein, Commander? Ich bin heute neben Ihnen aufgewacht, neben einem völlig Fremden. Ich kannte nicht einmal Ihren Namen!“

Johns Miene wandelte sich von fassungslosem Schmerz in erschrockene Sorge:

„Helena. Was ist mit dir passiert? Bist du in Ordnung?“

Die Chefärztin winkte müde ab:

„Vollkommen in Ordnung Commander, aber ich habe keine Erinnerung an Sie und…..“

„Es ist unmöglich, dass du dich nicht erinnern kannst, gestern hatte ich noch einen ganz anderen Eindruck, wobei…..“

„Ja?“

„Ach… nicht so wichtig. Was ist nur los mit dir?“

„Ich habe schon alle Tests durchgeführt, ich bin in Ordnung.“

„Hast du mit Mathias gesprochen?“

„Ja… nein, ich…“

„Helena, du musst versuchen herauszufinden, was mit dir geschehen ist. Erinnere dich, ist gestern irgendetwas Besonderes vorgefallen? Es hat eine Energiefluktuation gegeben, hast du etwas davon bemerkt?“

Helena schüttelte nun doch ein wenig gerührt den Kopf:

„Nein John. Ich habe mir schon den Kopf zerbrochen, es ist gar nichts passiert.“

Commander Koenig musterte sie nachdenklich, dann gab er sich einen Ruck:

„An was erinnerst du dich noch nicht?“

„Meine Erinnerung begann mit meinem Dienstantritt auf der Mondbasis. Aber inzwischen habe ich meine gesamten Logbücher gelesen und diese Erinnerungen sind wiedergekommen.“

„Also wenn ich dich recht verstehe, kannst du dich jetzt nur mehr an mich nicht mehr erinnern.“

„Es tut mir Leid.“

John wirkte ernsthaft verletzt und Helena fühlte Mitleid, aber das war auch schon alles.

„Und gibt es dafür, deiner Meinung nach, einen besonderen Grund?“

„Ich kann mir leider nur einen denken.“

„Und der wäre?“ Eigentlich war die Frage nur mehr rhetorisch gemeint.

„Die Beziehung hatte offenbar für mich eine andere Bedeutung als für Sie… für dich. Wahrscheinlich habe ich sie entweder nur als kurzfristig angesehen oder habe mich ein wenig hineindrängen lassen, eine andere Erklärung fällt mir nicht ein.“

John begann ruhelos auf und ab zu gehen:

„Helena. Das ist nicht wahr. Wir waren uns so nahe. Wir haben so viel zusammen durch gestanden, der Feuerplanet… Hast du denn auch dieses Logbuch gelesen?“

„Natürlich. Sie haben mein Leben gerettet, aber Dankbarkeit wird es wohl nicht sein, was Sie von mir wollen, oder?“

„Wie kannst du so etwas auch nur denken! Doktor Russell, ich suspendiere Sie bis auf weiteres vom Dienst. Dr. Mathias wird Sie ersetzen, ich möchte, dass Sie genau untersucht werden und…“

„Commander… John! Ich muss Sie bitten, davon Abstand zu nehmen. Ich fühle es, dass es irgendeine Bedeutung hat und ich denke, ich werde es herausfinden. Es ist etwas von immenser Wichtigkeit und ich habe mich selbst schon eingehend untersucht.“

„Helena, du könntest von einer fremden Lebensform okkupiert worden sein, ich kann dieses Risiko nicht eingehen.“

„Was macht Sie so sicher, dass es nicht wirklich an Ihnen lag, dass ich diese Beziehung verdrängt habe?“

„Wir waren glücklich.“

„Vielleicht waren ja nur Sie das?“

„Diese Unterhaltung führt zu nichts. Aber als ein Zeichen des Vertrauens werde ich dich in deiner Position belassen, aber ich muss ein paar Vorkehrungen treffen und Victor und Dr. Mathias einweihen, das verstehst du doch, oder?“

„Natürlich Commander.“

„Wenn du nicht aufhörst, mich „Commander“ zu nennen, wird es bald die ganze Besatzung wissen.“

„Ich werde daran denken… John.“

Koenig wandte sich ein letztes Mal zu ihr und wollte seine Hände auf ihre Schultern legen, aber Helena wich unwillkürlich zurück.

„Helena, ich…“ Aber als er ihre Reaktion bemerkte, verstummte er und ging mit schweren Schritten zum Tor, das leise aufglitt. Helena folgte ihm und fühlte die Blicke des Kommandostabs wie Speerspitzen in ihrem Rücken. Sie floh beinahe in die medizinische Abteilung, erst dort bemerkte sie die Tränen auf ihren Wangen. Der Commander war mit Sicherheit kein gewöhnlicher Mensch und er strahlte Zuversicht und Lebensenergie aus. Eigenschaften, die ihr fehlten. Es wäre doch möglich, dass sie sich von ihm angezogen gefühlt hatte, aber warum erinnerte sie sich dann nicht? Während alle anderen Erinnerungen wiedergekommen waren, blieb er ein dunkler Fleck in ihrer Vergangenheit. Diese Tatsache machte Helena Angst. Hatte er ihr irgendetwas angetan? Gab es deshalb dieses beunruhigende Loch in ihren Gedanken?

° ‡ ° ‡ °

John hatte inzwischen Victor und Dr. Mathias zu sich gerufen. Beide bestätigten das etwas merkwürdige Verhalten der Ärztin.

John wanderte voller Sorge auf und ab:

„Dr. Mathias, wo war Helena gestern Nachmittag? Als ich sie zu Dienstschluss abholte, war sie ein wenig verändert.“

„Inwiefern verändert, Sir?“

„Also……irgendwie, als hätte sie ein Glas zuviel getrunken, ich meine…“

„Das ist mir nicht aufgefallen. Dr. Russell hat am Nachmittag, so wie immer die Lebenserhaltenden Systeme kontrolliert. Aber die hatte ich schon vorher inspiziert, da war alles in Ordnung. Keine Veränderung und keine Störung, nichts.“

John wandte sich an Victor:

„Hast du denn irgendetwas feststellen können?“

Victor rieb sich nachdenklich die Stirn:

„Bis auf diese kleine Fluktuation, nichts.“

„Wann genau war diese Fluktuation?

„Genau um 16 Uhr Mondzeit.“

„Also vier Stunden vor Helenas Dienstende. Hat sie in diesen vier Stunden irgendjemand gesehen?“

Dr. Mathias befragte alle Krankenschwestern und eine hatte in dieser Zeit mit der Ärztin geredet.

Es war Mary Silverspoon, eine sehr schüchterne, aber umsichtige junge Frau. Als sie plötzlich der Mittelpunkt dieser kleinen Geheimkonferenz war, wurde sie hochrot im Gesicht und starrte zu Boden.

Bob wandte sich freundlich an sie:

„Mary, ist Ihnen an Dr. Russell etwas aufgefallen, als sie am Nachmittag allein in ihrem Büro war und gearbeitet hat?“

Mary wagte es nicht, den Kopf zu heben:

„Na ja, sie hat mit mir geredet, mehr, als es sonst ihre Art ist. Sie war sehr fröhlich, was mich gewundert hat, denn sonst ist sie immer so ernst, wenn sie vor dem Computer sitzt und ihre Berichte verfasst.“

John machte eine ungeduldige Handbewegung:

„Und was hat sie gesagt?“

Marys Röte wurde noch um einige Grade dunkler, auch wenn dass zuerst unmöglich erschienen war:

„Sie… ähhh, sie…“

„JA?“

„Sie freute sich sehr, auf den Abend… mit Ihnen Commander.“

Die letzten Worte waren kaum mehr als ein Flüstern gewesen, aber John hatte ohnehin genug gehört.

„Danke Mary, Sie können gehen.“ Diese verließ fluchtartig das Büro des Kommandanten, dankbar, dass er auf weitere Details verzichtet hatte.

John wandte sich an Bob Mathias:

„Wann genau hat Helena die Lebenserhaltenden Systeme kontrolliert?“

„Um 16.10 Uhr Mondzeit.“

„Also nur 10 Minuten nach der Fluktuation. Wann haben Sie sie inspiziert, Bob?“

„Um 15.45 Uhr Mondzeit.“

„Also 15 Minuten davor. Diese Fluktuation muss irgendetwas bewirkt haben, aber was? Gab es eine Veränderung oder einen Schaden an den Systemen? Und wenn er noch so geringfügig war, ich will alles wissen.“

„Nichts, Sir, absolut nichts.“

Victor betrachtete Johns besorgte Miene:

„Was hältst du davon John?“

„Ich weiß es noch nicht, aber ich will mir diesen Asteroiden genauer ansehen, auch wenn er noch so harmlos aussieht, irgendetwas stimmt mit ihm nicht, das habe ich im Gefühl.“

Koenig öffnete die Tore zur Main Mission und rief etwas harsch nach Alan:

„Carter. Machen Sie einen Adler startklar, ich will mir diesen Asteroiden aus der Nähe ansehen.“

„Ja, Sir.“

° ‡ ° ‡ °

Bevor John sich allerdings zum Rampenschlitten begab, rief er noch einmal Dr. Russell zu sich:

„Helena, ich muss dich sprechen. Könntest du sofort in mein Büro kommen?“

„Ich bin unterwegs, John.“

Die Minuten wurden zur Ewigkeit und John hätte vor Nervosität die Wände hochlaufen können. Endlich trat die Ärztin ein. John verschloss abermals die Tore.

„Helena, hast du gestern irgendetwas bemerkt, als du die Lebenserhaltenden Systeme kontrolliert hast?“

„Nein, John. Nicht das Geringste. Warum fragst du?“

„Weil du nach den Aussagen aller anderen danach verändert erschienen bist.“

„Dann hast du diese Veränderung doch auch schon gestern bemerkt, oder?“

John geriet etwas aus der Fassung:

„Gewissermaßen, ja.“

„Warum hast du mich dann nicht schon gestern suspendiert? Was habe ich denn getan?“

„Helena…“

„WAS, John?“

„Du hattest es sehr eilig ins Quartier zu kommen.“

„Warum?“

„Kannst du dir das nicht denken?“

„Da du es mir nicht sagen willst, KANN ich es mir denken. Also, als die Veränderung dir angenehm war, stellte sie noch kein Problem dar, erst heute, als sie für dich negativ zu werden beginnt.“

„Helena, so war es nicht und das weißt du… solltest du zumindest wissen.“

John betrachte hilflos ihr angewidertes Gesicht:

„Helena, du bist mehr für mich, als du jetzt zu glauben scheinst, viel mehr. Du bist meine Gegenwart und meine Zukunft, meine Sonne, um die sich alles dreht… mein ganzes Universum… bitte tu mir das nicht an.“

Sekundenlang war Helena ernsthaft bewegt und hob eine Hand, um ihn zu berühren, aber John zuckte zurück:

„Nein, Helena, dein Mitleid will ich nicht, ich möchte…“

Helena zog verletzt ihre Hand zurück:

„Ich weiß ja, WAS du möchtest!“

John fühlte, wie er in Zorn geriet und wollte die Unterredung beenden, als sein Commlock ertönte:

„Commander? Der Adler ist bereit, wir haben nicht allzu viel Zeit, wenn Sie den Asteroiden genau untersuchen wollen.“

„Ja, Alan, ich komme sofort.“

Helena musterte ihn ruhig:

„Du willst einen Asteroiden untersuchen? Suchst du dort die Ursache für meine „Veränderung“? Ist das nicht ein bisschen lächerlich? Dafür sein Leben zu riskieren?“

John fuhr zornentbrannt herum:

„Ich täte dir doch einen Gefallen, wenn ich dort mein Leben verlieren würde!“

Im nächsten Moment bereute er die unbeherrschten Worte, aber sie standen bereits im Raum und begannen wie aus dem Nichts eine noch höhere Barriere zwischen ihnen zu errichten.

Helena traf der emotionale Tiefschlag völlig unvorbereitet und sie geriet ebenfalls in Wut:

„In einen Mann wie dich kann ich mich niemals verliebt haben.“

Diese Worte hatten getroffen. John zuckte zusammen und wurde bleich wie die Wand hinter ihm. Sie starrten sich noch eine Minute lang fassungslos an, dann stürmte John durch die sich öffnende Tür Richtung Rampenschlitten.

Helena blieb allein zurück. Die verschiedensten Gefühle stürmten auf sie ein. Irgendetwas hämmerte an die verschlossenen Tore ihres Bewusstseins und verlangte mit Macht, gehört zu werden.

° ‡ ° ‡ °

Alan zog den Kopf ein, als er Johns Gesicht sah. Das würde ein unterhaltsamer Flug werden!

Der Flug dauerte drei Stunden, die die längsten in Alans Leben zu sein schienen. Commander Koenig sprach während der gesamten Zeit nicht ein Wort, wurde er gefragt, gab er entweder äußerst knappe, oder gar keine Antworten.

Carter setzte besonders weich auf der zerklüfteten Oberfläche des Asteroiden auf, aber auch dieser gut gemeinte Versuch wurde nicht gewürdigt.

John zog hastig seinen Raumanzug an und packte den bereitliegenden Scanner:

„Alan, Sie bleiben hier. Ich untersuche diesen Asteroiden, wenn ich in einer Stunde nicht wiederkomme, fliegen Sie zurück. Ist das klar?“

„Vollkommen klar, Sir.“

„Ich melde mich regelmäßig per Funk. Verlassen Sie unter keinen Umständen den Adler.“

Damit wandte John sich um und stellte sich vor die Luftschleuse.

Alan blieb nichts anderes übrig, als in die Pilotenkanzel zu gehen und die Schleuse zu öffnen. Hoffentlich ging da nur alles gut.

° ‡ ° ‡ °

Koenig kletterte mühsam über die felsige Oberfläche des Asteroiden. Sein Scanner lieferte keine nennenswerten Daten und ihm lief langsam die Zeit davon. Was war nur mit Helena passiert? Er hatte das Gefühl, als wäre sein Herz in unzählige scharfe Splitter zerbrochen, die seinen ganzen Brustkorb durchstachen. Er MUSSTE etwas finden, es MUSSTE einen Grund, eine Lösung gebe...

Da entdeckte er die Höhle. Es war eine unscheinbare, eher kleine Öffnung, durch die er sich mit einiger Mühe zwängen konnte. Sein Gefühl sagte ihm, dass er hier eine Antwort finden würde, aber es war eben nur ein Gefühl.

Bevor er die Höhle betrat, nahm er sein Commlock:

„Alan? Hier Koenig.“

„Ja, Commander?“

„Ich habe eine Höhle entdeckt und werde sie genauer inspizieren. Ich melde mich wieder.“

„Seien Sie bloß vorsichtig, Sir.“

Aber John Koenig hatte die Verbindung bereits unterbrochen.

° ‡ ° ‡ °

Das Innere der Höhle war dunkel, trocken und voller Staub. Auch hier konnte es keine Lösung für die Probleme geben, die er auf sich, auf alle, zukommen fühlte. Wie Kano gesagt hatte, gab es hier nichts von Bedeutung. Mit dem ihm eigenen Starrsinn weigerte der Commander sich, schon aufzugeben. Er konnte und wollte nicht an einen Misserfolg dieser Mission glauben, als ein sanftes weißes Licht seine Aufmerksamkeit erregte.

John ging vorsichtig näher und fand eine seltsame schalenartige Vertiefung im Stein, in der ein konturloses Lichtgebilde zu liegen schien.

Wieder lieferte der Scanner keinerlei Daten, nicht einmal eine geringfügige Energiekonzentration war feststellbar. John stand vor dem Licht und überlegte, was er tun sollte, als er eine leise Stimme vernahm. Sie war männlich, kultiviert und angenehm.

„Sie nennen sich John Koenig? Was für ein Aufwand, sich Namen zu geben für eine dermaßen kurze Existenz.“

John war etwas überrascht über die ungewöhnliche Einleitung, antwortete aber sofort:

„Demnach haben Sie keinen Namen, oder…?“

„Wir bilden eine Einheit und legen keinen Wert auf Individualität. Wir sind die letzten Überlebenden von einem Planeten, der vor 3000 Jahren verglüht ist. Wir retteten uns auf diesen Asteroiden und warten seit dieser Zeit auf unsere Bestimmung.“

„Was für eine Bestimmung?“ Die Erfahrung hatte John gelehrt, dass jetzt nur etwas kommen konnte, was ihm nicht gefallen würde.

Die Stimme fuhr ruhig und emotionslos fort:

„Wir warten auf das Paradies, was uns prophezeit worden ist, vor unendlich langer Zeit.“

„Das Paradies?“

„Ja, der Himmelskörper, den Sie zu uns gebracht haben.“

„Unser Mond? Das kann doch nicht möglich sein.“

„Warum zweifeln Sie daran? Seiner Bestimmung folgend machte er diese Reise bis zu uns und nun werden wir uns auf unsere Unendlichkeit vorbereiten.“

„Was meinen Sie damit?“

„Die Energie, die Sie so verantwortungslos auf unserem Paradies verschwenden, reicht aus, uns Unsterblichkeit zu schenken. Ihre Systeme sind unsere Ewigkeit.“

„Aber wir brauchen diese Energie, um zu überleben!“

„Was für eine Bedeutung hat für Sie dieses Überleben? Ihre Frist ist so knapp bemessen, warum klammern Sie sich so an diesen Wimpernschlag der Zeit? Ob Ihr Dasein heute oder morgen endet ist doch völlig irrelevant.“

„Das mag Ihnen so erscheinen, für uns ist eine lange Zeit, die wir bis zur Neige erleben wollen.“

„Uns gehört die Ewigkeit.“

Koenig blickte sich herausfordernd um:

„Große Worte angesichts dieses Übermaßes an Vergänglichkeit.“

„Dieser Asteroid war nur der Träger unseres Volkes, bis wir unser Paradies erreichen würden, jetzt hat er seinen Zweck erfüllt. Wir haben hier einfach nur überlebt, erst jetzt beginnt unser wahres Leben, aber dazu brauchen wir all ihre Energie, denn diese garantiert unsere Unsterblichkeit.

John holte tief Luft:

„Hören Sie zu. Dieser Mond war niemals dazu bestimmt, eine Reise durch das Weltall zu machen, es war eine Katastrophe, ein unvorhersehbarer Unfall, der dazu geführt hat, dass wir die Erdumlaufbahn verlassen haben. Wir haben nur wie durch ein Wunder überlebt, normalerweise hätte die nukleare Explosion den Mond in Stücke reißen müssen!“

„Sie erkennen es also selbst. Es war Bestimmung, die höhere Bestimmung, das Paradies an den Ort zu bringen, wo wir es seit tausenden von Jahren erwarten.“

„Unser Mond kann nicht Ihr Paradies sein. Denn er ist unser Zufluchtsort, unsere Heimat und er ist weit entfernt davon, ein Paradies zu sein.“

„Weil ihr nicht damit umgehen könnt, die Herrlichkeit nicht zu schätzen wisst. Für euer so kurzes Leben verschwendet ihr Unmengen von Energie. Ihr seid wie Parasiten, die wir zuerst beseitigen müssen. Aber es ist so bedeutungslos. Ihr seid so kurzlebig, dass es doch wahrlich keinen Unterschied macht, ob ihr jetzt sterbt, oder etwas später.“

„Für uns macht es einen Unterschied! Was gibt Ihnen das Recht, so über uns zu urteilen?“

„Einfach das Recht der besser angepassten Lebensform über die, die Ressourcen verschwendende, zu dominieren. Die Energie in Ihren Systemen bietet uns Unsterblichkeit, während Sie sie achtlos verbrauchen und ohnehin nicht lange damit überleben können. Sie suchen nach einem Planeten, den Sie mit ihrer parasitären Lebensform verseuchen können, aber hier gibt es keinen bewohnbaren Planeten, wahrscheinlich leben Sie ohnehin nicht lange genug, um einen solchen zu finden. Deshalb wäre es unverantwortlich, Sie weiter die wertvollen Reserven verschwenden zu lassen. Wir tun ihnen doch einen Gefallen, wenn wir sie erlösen, außerdem haben sie Sie haben unser Paradies lange genug benutzt, jetzt werden wir, als seine rechtmäßigen Erben, dort unserer Bestimmung folgen.“

„NIEMALS!“

Koenig hatte seine Waffe gezogen und richtete sie auf die Schale.

° ‡ ° ‡ °

Dr. Russell hatte die letzten Stunden in ihrem Quartier verbracht. Irgendetwas hatte eine kleine Pforte zu ihren verschütteten Erinnerungen geöffnet und nun fielen Gedanken wie schwere dunkle Tropfen in ihr Bewusstsein.

Irgendetwas war darin verborgen, etwas Lebenswichtiges, sie musste es erreichen und dann etwas ganz Wichtiges tun. Sie WUSSTE es, aber noch war es nicht greifbar, nicht so nahe, dass sie etwas damit anfangen hätte können.

Aber die Zeit lief ihr, ihnen allen, davon und Helena wusste, dass es von ihr abhängen würde, von ihr allein.

Das Schicksal von Alpha stand auf dem Spiel und nur sie konnte die Basis retten, aber noch hatte sie keine Ahnung wie.

° ‡ ° ‡ °

Die Stimme ließ ein leises Lachen vernehmen:

„Schon wieder wollen Sie Energie verschwenden, John Koenig? Energie ist eine so wertvolle Quelle, wer so nachlässig davon trinkt, ist eine verzichtbare Erscheinung. Es ist notwendig, Sie zu vernichten, ihre ganze parasitäre Lebensform.“

John feuerte seine Waffe ab, aber sie zeigte nicht die geringste Wirkung.

Wieder war ein leises, geringschätziges Lachen zu hören:

„Sie werden es nie lernen, Parasit.“

„Sie unterschätzen uns, wir sind durchaus lernfähig!“ John packte sein Commlock und rief Carter:

„Alan, hier ist Koenig, wir müssen zurück auf Alpha und.. Alan?“ John hörte nur ein gleichmäßiges Rauschen. Die Stimme antwortete amüsiert:

„Ich vergIhnen zu sagen, John Koenig, dass ihr Pilot glaubt, den Befehl erhalten zu haben, zur Mondbasis zurückzukehren. Sie sind allein und haben noch genau eine Stunde zu leben, dann ist Ihr Sauerstoffvorrat verbraucht. Erkennen Sie jetzt, John Koenig, dass die Zeit nicht ihr Spiel ist? Sehen Sie nicht, wie Sie sie verlässt? Sie ist in Wahrheit Ihr größter Feind, aber Sie wollen es einfach nicht verstehen. Wir sind längst in unserem Paradies und das, was Sie hier sehen, ist nur mehr eine Projektion, eine Illusion, genährt von Ihrer eigenen, schwindenden Lebensenergie, uns genügt dieses bisschen, um zu überleben. Sehen Sie jetzt, wie abhängig Sie sind? Nur ein kleiner Sprung zurück in der Zeit, die Ihnen doch so kostbar ist, und Doktor Russell erkannte Sie nicht mehr, Sie haben alles verloren, John Koenig, sterben Sie mit Würde.“

° ‡ ° ‡ °

Helena hatte das Gefühl, den Verstand zu verlieren. Erinnerungen kamen nun mit der Macht eines Wasserfalls, aber noch war nicht DIE dabei, die sie so dringend brauchte. Helena hatte ihr Quartier verlassen und ging, ohne es wirklich vorzuhaben, Richtung Main Mission. Sie musste mit John reden, er würde ihr helfen können…

Als sie die Kommandozentrale erreichte, kam eben ein Funkspruch von Alan, der meldete, dass er zur Basis zurückkehren würde.

Paul erstarrte:

„Was heißt, du kommst zurück? Wo ist der Commander?“

Alan schüttelte hilflos den Kopf:

„Er hat mir den Befehl gegeben, ich konnte nicht bleiben.“

„Du meinst, du hast ihn da unten einfach zurückgelassen?!“

„Er hat mir den ausdrücklichen Befehl erteilt…“

Alle Augen wanderten zu Helena, die eben hereingekommen war. Sie starrte fassungslos auf den Bildschirm:

„Alan! Sie können den Commander nicht einfach im Stich lassen!“

„Ich weiß auch nicht, was passiert ist, Doktor, aber ich habe diesen Befehl erhalten und ausgeführt.“

Helena nickte atemlos:

„Ich weiß, was passiert ist. Kümmern Sie sich nicht darum und kehren Sie zurück zum Asteroiden. Alan…“

„Ja, Doktor?“

„Bringen Sie ihn mir wieder, ja?“

Alans breites Grinsen schien den ganzen Bildschirm zu erfüllen:

„Zu Befehl, Doc!“

Die gesamte Crew der Main Mission schien sich zu entspannen. Wenigstens etwas schien sich wieder zu normalisieren…

Helena verließ von einer seltsamen Unruhe erfasst die Main Mission und begab sich zu den lebenserhaltenden Systemen. Dort war der Schlüssel, das wusste sie ganz genau, nur dort...

° ‡ ° ‡ °

Commander Koenig hatte seine Waffe wieder eingesteckt und die Höhle verlassen. Der Adler war, wie die Stimme prophezeit hatte, verschwunden und er hatte tatsächlich kaum mehr eine Stunde bis zum unausweichlichen Erstickungstod. Seine im Zorn hervorgestoßenen Worte fielen ihm wieder ein und er wünschte verzweifelt, er hätte Helena zum Abschied etwas anderes gesagt…

° ‡ ° ‡ °

Helena hatte sich nun wieder völlig in der Gewalt. Sie wusste, was zu tun war und war entschlossen es auszuführen. Niemand konnte vorhersagen, wie das alles ausgehen würde, aber sie wünschte, sie hätte John zum Abschied etwas ganz anderes gesagt...

Hatte er tatsächlich sterben wollen? Nein, niemals! Nicht der John Koenig, den sie kannte und liebte...

° ‡ ° ‡ °

Als John den Adler zurückkehren sah, glaubte er zunächst an eine Sinnestäuschung, die ihm der schon bemerkbar werdende Sauerstoffmangel, vorgaukelte. Aber es war Alan, der gute alte treue Alan, der ihn doch nicht im Stich ließ.

Der Adler landete und John schleppte sich durch die sich öffnende Luftschleuse:

„Alan... Sie sind zurückgekommen…“

„Ja, Sir! Ich weiß zwar nicht, warum Sie mir den Befehl zu fliegen gegeben haben, noch kann ich sagen, warum ich ihn einfach so ausgeführt habe, aber Dr. Russell hat mir die Order gegeben, Sie zurückzubringen und die führe ich mit Vergnügen aus.“

John warf ihm einen verwunderten Blick zu, sagte aber nichts dazu. Jetzt ging es um Alpha!

„Alan, bringen Sie uns so schnell wie möglich zurück zur Basis! Wir müssen sie aufhalten!“

Alan hatte zwar keine Ahnung, wovon der Commander redete, aber er startete und flog mit Höchstgeschwindigkeit zurück zu Alpha.

° ‡ ° ‡ °

Helena hatte die lebenserhaltenden Systeme erreicht und sah das vertraute weiße Leuchten. Sie betrachte es ruhig, dann verschloss sie die Zugänge. Für Erklärungen war keine Zeit mehr, Zeit… sie schien in ihrem Leben eine übergeordnete Rolle zu spielen.

° ‡ ° ‡ °

Der Rückweg zur Basis schien John eine Ewigkeit zu dauern. Er kontaktierte voller Ungeduld die Main Mission:

„Paul! Wir befinden uns auf dem Rückweg, aber ich weiß nicht, ob wir rechtzeitig kommen werden. Alpha ist von einer fremden Macht okkupiert worden und wir müssen...“

Paul unterbrach ihn panisch:

„Sir! Gut Ihre Stimme zu hören, aber ich muss Ihnen auch eine Mitteilung machen. Diese fremde Macht hat offensichtlich Dr. Russell befallen, denn sie hat sich in den lebenserhaltenden Systemen eingeschlossen und sie laufen auf Maximumenergie! Die gesamte Basis ist nahezu ohne Energie, weil alles in die Lebenserhaltenden Systeme fließt. Dr. Mathias will die Zentrale, wo Dr. Russell sich befindet, mit einem Narkotikum strömen, damit wir sie stoppen können. Ist das in Ihrem Sinne Sir?“

John überlegte nicht lange:

„Machen Sie das, wir kommen so schnell wie möglich!“

Damit unterbrach er die Verbindung. Aber er hatte kein gutes Gefühl dabei. Gedankenfetzen zogen vor seinem inneren Auge vorbei.

„Sie werden es nie verstehen, John Koenig. – Unser Paradies - Energieverschwender – die Zeit ist nicht ihr Spiel…“

John hieb auf den Schalter der Funkanlage:

„PAUL! Niemand darf den Kontrollraum mit einem Narkotikum fluten! Lassen Sie Dr. Russell ungestört alles machen, was sie will.“

„Aber Sir! Sind Sie sicher…“

„Das ist ein Befehl, Paul! Führen Sie ihn aus!“

„Klar, Commander. Wir unternehmen nichts, bis Sie wieder da sind.“

John fühlte, wie die Angst um Helena seine Glieder lähmte. Wenn er nur nicht zu spät kam! Und wenn sie ihn bis an ihr Lebensende hassen sollte, sie sollte nur leben – LEBEN!

° ‡ ° ‡ °

Helena sah, wie das weiße Licht immer heller und heller wurde. Sie fühlte sich leicht und sicher. Das war die Lösung, die einzige Lösung. Es hatte nie einen anderen Weg gegeben, deshalb hatten sie auch ihr Gedächtnis gelöscht…

Sie fühlte nichts, war wie in einer eigenartigen Schwerelosigkeit gefangen, nur ein Wunsch beherrschte ihr Denken, sie wollte John noch einmal sehen und ihm sagen, dass…

Ihre Gedanken verschwammen…

° ‡ ° ‡ °

Der Adler hatte kaum angedockt, als John schon durch die Schleuse stürmte und Victor beinahe über den Haufen rannte, der voller Sorge auf ihn gewartet hatte.

„John. Helena ist noch immer da drin und ihre Werte werden immer schwächer.“

John riss ihn mit sich:

„Wir holen sie da raus, sofort!“

Als sie vor dem Kontrollraum standen, war das weiße Licht nicht mehr sichtbar. Sie konnten Helena durch die Glasscheibe leblos am Boden liegen sehen.

John befahl, die Türen aufzubrechen. Kaum geöffnet, stürzte er hindurch und zog Helena in Sicherheit.

Er hielt sie in seinen Armen und wusste einen furchtbaren Augenblick lang nicht, ob sie überhaupt noch lebte…

Da schlug sie kurz die Augen auf und lächelte ihn schwach an:

„John. Wir haben es geschafft. Wir sind frei.“

John fand keine Worte sondern hielt sie nur weiter fest und musste erkennen, dass, wenn auch sein Herz an der Basis und seiner Besatzung hing und er alles für deren Erhaltung und Rettung zu tun imstande wäre, er Helenas Leben jedem anderen, inklusive seinem eigenen, vorgezogen hätte.

Er wünschte so verzweifelt, dass er seine Abschiedsworte ihr gegenüber zurücknehmen hätte können…

° ‡ ° ‡ °

Dr. Russell erholte sich rasch und fand sich pünktlich zur Versammlung des Kommandostabs ein, die John während sie geschlafen hatte, einberufen hatte.

Nachdem der Commander alles berichtet hatte, was auf dem Asteroiden geschehen war, begann Helena mit ihrem Bericht:

„Gestern um 16.10 Uhr Mondzeit habe ich das Licht zum ersten Mal gesehen und dieselbe eigenartige Botschaft erhalten wie du, John. Ich erkannte, dass diese Wesen nach 3000 Jahren ausgehungert waren nach Energie und man sie nur mit einem Übermaß verwirren konnte. Ich konnte zunächst nichts damit anfangen und wollte mit dir darüber reden John, aber dann haben sie meine Erinnerungen nach und nach gelöscht und das hat dann zu den bekannten“, sie warf John einen kurzen Blick zu, „Verwicklungen geführt. Diese Wesen konnten mit einem Minimum an Energie überleben, unsere Basis muss ihnen tatsächlich wie das Paradies erschienen sein.“

Helena machte eine kurze Pause und sah lächelnd in die Runde:

„Die Energie zu drosseln hätte nichts gebracht, also habe ich ihnen alles gegeben, was wir hatten, mit dem Erfolg, dass sie nun doch ein Stück ihrer Unsterblichkeit gehabt haben. Diese Menge an Energie hat ihnen vorgegaukelt, eine Ewigkeit gelebt zu haben, also auch eine Art der Erfüllung, wenn auch eigentlich nur eine Illusion. Sie waren so anders als wir, wir sind ihnen vorgekommen wie Schädlinge, die sich hier eingenistet hatten, sie wollten uns beseitigen, so bedenkenlos, wie wir auf der Erde Mäuse oder Spinnen entfernt haben.

John sah sie an:

„Die Zeit war somit auch ihr größter Feind, denn sie sind ihr genauso zum Opfer gefallen, wie wir es tun.“

Victor rieb sich nachdenklich die Stirn:

„Was meinst du John? Haben sie nun einen Unterschied bemerkt, zwischen ihrer imaginären und ihrer tatsächlichen Unsterblichkeit?“

John legte seine Hand an sein Kinn:

„Ich weiß es nicht Victor, aber sie selbst waren doch der Ansicht, dass Zeit unser Feind ist und wir nichts davon verstehen würden. Letztendlich haben sie auch zuwenig davon verstanden und sind ihrer eigenen Wunschvorstellung zum Opfer gefallen. Aber irgendwie hatten sie ihr Paradies und am Schluss zählt wohl nur das, denke ich.

Victor lächelte:

Wer sagt uns eigentlich, dass sie es nicht tatsächlich hatten, oder haben, John? Vielleicht hängen wir noch immer zu sehr an der Zeit und verstehen unter Ewigkeit etwas ganz anderes als sie?“

John wandte sich mit ernster Miene an den Kommandostab:

„Vielleicht sollten wir alle unser Verhältnis zu Alpha neu überdenken? Immerhin ist unsere geschmähte Basis ein Paradies, auf das eine Spezies 3000 Jahre lang gewartet hat.“

Die Sitzung löste sich auf, aber an diesem Tag hatte jeder der Anwesenden ein Lächeln auf dem Gesicht. 

John und Helena blieben allein zurück, nach dem auch Victor sich, mit dem Hinweis in sein Labor zu müssen, zurückgezogen hatte.

John hatte seine Arme verschränkt und sah aus dem Fenster. Der Anblick der Sterne machte sein Herz noch schwerer. Würde Helena ihm verzeihen können, würde sie sich auch wieder an ihn erinnern wollen?

Helena sah ihn an, dann kam sie langsam auf ihn zu. John wandte sich um:

„Helena, du musst nichts sagen, ich…“

Helena hob beide Hände, um ihn zum Schweigen zu bringen:

„John. Würdest du mir einfach nur zuhören? Kannst du dir vorstellen, was es für ein Gefühl war, neben einem Mann aufzuwachen, den ich gar nicht kannte? Ich geriet in Panik, erkannte mich selbst nicht wieder. Ich wusste nicht wer ich war, wo ich war, meine ganze Welt hatte sich auf den Kopf gestellt. Aber dann sagtest du so schöne Worte zu mir, du nanntest mich deine Sonne, dein Universum und ich bekam das Gefühl, dass… aber dann kamen die Worte, dass ich es vorziehen würde, wenn du tot wärst…“

John senkte schuldbewusst den Kopf:

„Es tut mir Leid Helena, aber ich war so verzweifelt und verletzt, ich wollte einfach nicht glauben, dass du mich vergessen hattest.“

Helena lächelte ein wenig:

„Du musst dich nicht entschuldigen John, ich war ja auch nicht sehr zartfühlend. Ich habe dir mit meiner Antwort auch sehr wehgetan, ich weiß.“

John nickte:

„Ja, sehr.“

Helena kam auf ihn zu und legte eine Hand auf seinen Arm:

„Ich habe diese Worte auch sehr bereut John.“

Der seufzte:

„Nein, Helena, die hatte ich wohl verdient, fürchte ich.“

Helena schüttelte sehr bestimmt den Kopf:

„Nein, hattest du nicht. Denn es waren genau die Worte, die meine Erinnerungen wiedergebracht haben. Diese nicht sehr gefühlvollen Worte hatten alles wieder ans Tageslicht gebracht. Ich hatte erkannt, das ist mein zorniger emotionaler und ungeduldiger John, der so leicht den Kopf verliert, wenn es nicht nach seinem Willen geht.“

John lächelte schwach:

„Das ist nicht sehr schmeichelhaft für mich, nicht wahr?“

„Nein, John. Ich kenne deine Schwächen sehr genau, weil sie zugleich deine größten Stärken sind. Hier draußen und - hier drinnen.“ Sie hatte zunächst auf die funkelnden Sterne hinter dem Fenster gewiesen und dann auf sein Herz.

„In Wahrheit könnte ich mich in keinen anderen Mann verlieben, als in dich. Allerdings hatte ich gehofft, du hättest wieder ein Jahr um mich geworben, um mich wiederzugewinnen.“

John betrachtete erleichtert ihr lächelndes Gesicht:

„Hundert Jahre, wenn es sein muss.“

Helenas Lächeln vertiefte sich:

„Soviel Geduld? Solltest du doch nicht der John sein, den ich…“

Bei diesen Worten hatte John sie heftig in seine Arme gezogen und sie so fest an sich gedrückt, dass sie kaum atmen konnte.

„Ich hatte solche Angst, dich zu verlieren, Helena. Auf dem Asteroiden ist mir klar geworden, dass du diesen Mond zu meinem Paradies machst. Überall wo du bist, ist mein Paradies.“

Helena fühlte brennende Tränen der Rührung. Sie hob den Kopf und sah in seine strahlenden Augen, die langsam näher kamen.

Ihre Lippen verschmolzen zu einem zweiten ersten Kuss, der dem tatsächlichen ersten an Feuer in nichts nachstand. Er suchte und forderte Gewissheit und Sicherheit, war Abbitte und ein Versprechen zugleich, ein Siegel ihrer Liebe.

Als er außer Kontrolle zu geraten begann, löste Helena sich atemlos aus Johns Armen:

„John... John! Wir sind noch in deinem Büro.“

Der lächelte glücklich:

„Ich weiß.“

Helena betrachtete ihn amüsiert:

„Hm. Bist du enttäuscht, dass ich wieder die „alte“ Helena bin?“

„Nein, natürlich nicht.“

„Du bist ein miserabler Lügner.“

„Ich lüge nicht, das kannst du mir glauben.“

John sah verzaubert in Helenas leuchtende Augen:

„Was hältst du davon, morgen neben einem Mann aufzuwachen, den du sehr gut kennst.“

„Das halte ich für eine wunderbare Idee …..honey.“

John verzog ein wenig schmerzlich das Gesicht:

„Könntest du mich vorläufig nicht mehr so nennen? Es erinnert mich daran, dass du meinen Namen vergessen hattest und DAS möchte ICH gerne vergessen.“

Helena begann zu lachen und nahm schwungvoll seine Hand:

„Es liegt ganz bei dir, John Koenig, dass so etwas nie wieder passiert.“

 

Ende

 

Die einleitenden Worte stammen aus einem meiner Lieblingsgedichte von Emily Dickinson, das – wie ich finde - sehr gut zu Helena und John passt.

Good Morning – Midnight –
I’m coming Home –
Day – got tired of Me –
How could I – of Him?

Sunshine was a sweet place –
I liked to stay –
But Morn – didn’t want me – now –
So – Goodnight – Day!

I can look – can’t I
When the East is Red?
The Hills – have a way – then –
That puts the Heart - abroad –

You – are not so fair – Midnight –
I chose – Day –
But – please take a little Girl –
He turned away!

Ca. 1862

 

 


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