Schatten |
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Die Idee hinter der Geschichte ist in der englischen Alpha-Fan Fiction nicht sonderlich neu, aber einige Diskussionen haben dazu geführt, dass der unwiderrufliche Befehl an mich erging, eine neue Variante zu schreiben... was dann also auch geschah!
John lag schlafend in seinem Bett, in Besitz genommen von quälenden Alpträumen, die ihn von einem Untergang der Basis in den nächsten führten. Lebhafte Bilder seiner Unfähigkeit als Kommandant der kleinen Ansiedlung auf dem herumirrenden Mond machten bei ihm Station und schleuderten ihn von einer herzzerfetzenden Angstattacke in die nächste.
Gerade, als eine ungeheuer große schwarze All-Krake den gesamten Mond mit einem unmenschlichen Kreischen in ihren Schlund stopfte, wurde er von dem Piepsen seines Commlocks in die Realität zurückgeholt, wo er sich schweißüberströmt zwischen seinem zerwühlten Bettzeug und im bläulichen Halbdunkel seines Quartiers wiederfand.
Erleichtert nahm er das Gespräch entgegen. Am anderen Ende der Leitung erwartete ihn das vor Aufregung rote Gesicht von Amy Keats, die eine Stationsgehilfin auf der Medizinischen Abteilung war.
„Commander, bitte entschuldigen Sie die späte Störung“, sagte sie erregt, „Dr. Mathias hat mich beauftragt, Ihnen zu sagen, dass er Dr. Russell bewusstlos in ihrem Badezimmer gefunden hat.“
John war auf der Stelle hellwach und setzte sich im Bett auf, während er gleichzeitig für Licht sorgte.
„Was ist passiert?“ Amy machte eine unglückliche Miene.
„Ich weiß es nicht, Commander, sie wurde sofort in den OP gebracht. – Ich habe nicht viel von ihr gesehen“, fügte sie noch hinzu, „aber sie war voller Blut.“
„Ich komme sofort!“, schnappte John, sprang aus dem Bett und warf sich im Gehen seinen blauen Morgenmantel über. Im Laufschritt eilte er ins Lazarett.
Es war gegen ein Uhr morgens, und auch wenn einige Stationen der Basis im Schichtbetrieb liefen, so war doch der Großteil der Mannschaft dabei, die künstlich hervorgerufene Nachtruhe einzuhalten. Niemand begegnete John, als er mit rasendem Puls durch die Korridore lief und den Lift verdammte, der wie üblich nicht dort war, wo man ihn gerade brauchte.
Außer Atem erreichte er die Medizinische Abteilung und rannte geradewegs in den Schwestern-Stützpunkt. Dort saß wie ein Häufchen Elend die Gehilfin und blickte ihn hilflos an.
„Alle sind im OP“, sagte sie, „deswegen musste ich Ihnen Bescheid sagen.“
„Aber was ist denn geschehen, Amy, Dr. Russell schien mir gestern, als ich sie in der Kommando-Konferenz sah, noch völlig in Ordnung zu sein?“
„Es tut mir Leid, Commander, ich bin erst später dazu gekommen und habe nur gesehen, wie sie weggebracht wurde.“ John fluchte unhörbar und begab sich ungeduldig zwei Ecken weiter zum OP-Bereich. Da musste er jedoch warten, denn der Eintritt war allen untersagt, die nicht zum medizinischen Personal gehörten – und erst recht, wenn Eingriffe vorgenommen wurden.
Er nahm auf einem der an der Seite
aufgestellten Sessel Platz, weil ihm klar war, dass er im Moment nichts
ausrichten konnte und griff stattdessen zu seinem Commlock.
In der Kommandozentrale hatte nur David Kano Dienst, der ihm,
offensichtlich aus einem Nickerchen gerissen, schläfrig und mit fragendem Blick
einen guten Morgen wünschte.
„Kano, hat es heute Nacht irgendwelche Aufregungen gegeben? Ist etwas auf Alpha passiert?“ Kano gab dem Computer die entsprechenden Befehle ein und antwortete kurze Zeit später mit hochgezogener Braue:
„Nur ein medizinischer Alarm – aus Dr. Russells Quartier.“
„Geht daraus hervor, was geschehen ist?“ Kano schüttelte bedauernd den Kopf.
„Leider nicht. Man sieht nur, dass von Dr. Russells Commlock der Alarm ausgelöst wurde.“
„Danke, David.“ John unterbrach die Verbindung und lehnte sich mit einem Seufzen nach hinten an die Wand.
Was um alles in der Welt war passiert? Helena war ihm völlig gesund vorgekommen, ein wenig distanziert, ja, was ihn schon länger beschäftigte, weil er keinen Grund dafür wusste, aber sie hatte sich streitbar in die Diskussion um eine Vergrößerung des Erholungsbereiches geworfen, und er war froh gewesen, sie ausnahmsweise argumentativ auf seiner Seite zu haben. Sie hatte die Techniker und Biologen, die wieder einmal viele, viele unlösbare Probleme bei dem Projekt witterten, in Grund und Boden geredet, sodass sich am Ende die verblüffte Versammlung samt und sonders mit einer einheitlich positiven Einstellung wiedergefunden und das Vorhaben umgehend sanktioniert hatte.
John hatte versucht, danach mit der
Chefärztin ein paar Worte zu wechseln, doch sie hatte, sobald sie sah, wie er
Kurs auf sie nahm, mit einer lahmen Ausrede die Flucht ergriffen.
Er hatte sich verletzt gefühlt,
kaltgestellt, umso mehr, als er annahm, dass sie wusste, was sie ihm bedeutete,
wenn sie auch ihm gegenüber niemals ein Wort verloren hatte.
Doch sie beide hatten schon zuviel gemeinsam
erlebt, viele schwere Stunden, in denen sie nicht gewusst hatten, ob ihnen ein
neuer Tag beschieden war, aber auch viele kleine Momente, die ihm am Herzen
lagen, weil Helena für eine kurze Zeit aus ihrem Schneckenhaus hervorgekommen
war und ihm so ein Einblick in ihr schönes, wahres, verletzliches Ich gestattet
wurde, das niemand sonst zu sehen bekam.
Er liebte nicht nur diese kleinen Momente
sondern auch die Frau dahinter, und er hatte seit dem ersten Augenblick, da sie
einander begegnet waren, gewusst, dass er für alle Zeiten ihr gehörte.
Sie nun in einem so unerklärlichen Zustand
zu wissen, war ein neuer Alptraum. Mit Freude wäre er persönlich der alles
verschlingenden Krake ins Maul gesprungen, wenn er damit nur Helenas Sicherheit
garantieren konnte!
Aber die Option stand nun mal nicht zur
Verfügung, und er saß bangen Herzens und bis unter die Schädeldecke angefüllt
mit großen Fragezeichen vor den verschlossenen Pforten der sterilen Einheit.
Bald schon war ihm das Sitzen unerträglich, und er sprang auf, um in dem engen Gang auf und ab zu laufen, immer noch auf der Suche nach einer Erklärung.
Blut, hatte die Gehilfin gesagt – hatte
Helena am Ende versucht, sich das Leben zu nehmen? Hätte sie dann um Hilfe
gerufen? Hatte sie einen Grund, sich den Tod zu wünschen? – Wer auf Alpha hatte
ihn nicht?
Es war nicht ihre Art, wegzulaufen und ihre
Schutzbefohlenen sich selbst zu überlassen! Es musste etwas anderes geschehen
sein! Hatte ihr jemand etwas angetan?
Er wollte gerade Kano ein zweites Mal aus
seinem verbotenen Schlaf rütteln, als die Schleusentür aufging und ihm Dr.
Mathias auf der anderen Seite der kniehohen Barriere in grüner OP-Kleidung und
mit Haube und Abdrücken von der Maske im Gesicht gegenüberstand.
„Commander, Dr. Russell geht es gut, sie ist jetzt im Aufwachraum und wird wahrscheinlich in etwa einer Stunde in ein Krankenzimmer verlegt werden können. – Keine Sorge, sie wird wieder völlig gesund werden.“
„Mathias, ich bitte Sie, sagen Sie mir, was ist mit Dr. Russell geschehen? Hat ihr jemand etwas angetan?“ Helenas Kollege musterte ihn scharf und antwortete mysteriös:
„So könnte man es auch nennen. – Commander, ich möchte mich nur kurz umziehen, dann werde ich Ihre Fragen beantworten. Geben Sie mir ein paar Minuten Zeit, wir gehen in Dr. Russells Büro.“ Noch ehe er aufbegehren konnte, schloss sich die automatische Schleuse wieder, und John zog sich unbefriedigt und zornig in Helenas Büro zurück. Ihm war die leichte Kälte in Mathias Worten nicht entgangen, auf die er sich, wie auch auf alles andere, keinen Reim machen konnte.
Es dauerte eine endlose halbe Stunde, bis der Arzt ins Büro trat. Bis dahin hatte John bereits vier Becher schlechten Alpha-Kaffee aus der Kanne hinuntergestürzt, die ihm Amy Keats verschüchtert gebracht hatte, und sein Puls raste über alle gesunden Grenzen hinaus und klopfte ihm in den Schläfen. Er spürte Kopfschmerzen wie einen schwarzen Sturm aufziehen und wünschte sich weit weg an einen anderen Ort.
Mathias sah nun müde aus nach der nächtlichen Aktion, und er setzte sich auf die kleine Couch, die für Konsultationen und Besuche zur Verfügung stand.
„Mathias, bestätigen Sie mir nur, dass es ihr gut geht. Ich weiß nicht, was hier passiert.“ Bob schaute auf seine Hände und seufzte dann tief.
„Sie wissen nicht, was mit ihr los war,
nicht wahr?“ John schüttelte den Kopf. Es war ihm klar, das etwas Schlimmes
folgen würde und er fühlte sich schwach und hilflos.
„Commander, Dr. Russell war in der 11. Woche
schwanger, und heute Nacht hat sie das Kind verloren. Wir mussten eine
Kürettage vornehmen.“ John starrte den Arzt an und fühlte, wie ihm gleichzeitig
alles Blut aus dem Kopf wich. Schwindel überkam ihn.
„Schwanger“, wiederholte er, und das Wort kam wie ein heiserer Windhauch aus seinen Lungen. „Aber ich verstehe nicht, wie.. ich meine...“ Rettungslos verloren brach er ab, und sein wunder Blick lag auf Mathias.
„Ouh...“, sagte dieser und begriff jäh, dass seine Vermutungen offensichtlich nicht zutreffend waren und dass diese Tatsache den Commander schlimm traf. John versuchte, sich zu sammeln.
„Hat sie was gesagt?“
„Sie hat Alarm geschlagen, als sie es in der Dusche bemerkte. Wir kamen gleich, und seitdem spricht sie nicht mehr mit uns. Sie hatte die erforderlichen Untersuchungen selbst an sich vorgenommen und alles in ihre Akte eingetragen. Commander, niemand weiß etwas, mit Ausnahme von Dr. Vincent, einer Schwester, die bei dem Eingriff assistierte, und mir selbst. Alle werden Schweigen bewahren.“
„Gut“, seufzte John, „sie wird nichts anderes verlangen.“ Er fühlte sich, als litt er an einer auszehrenden Krankheit. „Mathias, warum hat sie sich niemandem anvertraut?“ Der Arzt hob in einer resignierenden Geste beide Hände.
„Sie hat die Tests erst vor knapp zwei Wochen gemacht. Vielleicht wusste sie nicht, was sie tun sollte.“ John nickte. Die Zeitangabe passte zu ihrer abweisenden Haltung ihm gegenüber.
Dr. Mathias’ Commlock piepste und John hörte mit, wie die Nachtschwester ihm mitteilte, dass sie Helena auf die Station gebracht hatte.
„Kann ich sie sehen?“ Bob wusste, dass der Commander, egal wie seine Antwort ausfiel, darauf bestehen würde, sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass es ihr gut ging, und so nickte er nur müde und deutete mit der Hand nach draußen.
„Gehen Sie nur, aber Commander, ich bitte Sie, tun Sie ihr nicht weh. Sie hat versucht, es mit ihrem Schweigen zu verbergen, aber der Schmerz ist da. Und er sitzt tief.“ John ärgerte sich im ersten Moment über die Worte von Helenas Kollegen, weil er ihn als Angriff gegen seine Person wertete, und war drauf und dran, ein scharfes Wort an ihn zu richten, doch dann sah er in dessen Gesicht nichts als Respekt, Freundschaft und Sorge um seine Chefin. Er schluckte seinen herben Kommentar und nickte nur im Hinausgehen.
Er selbst war in einem wirklich undefinierbaren emotionellen Aufruhr und wusste kaum mit den widersprüchlichen Gedanken, die ihn bestürmten, umzugehen. Er war gekränkt, in seiner Ehre, in seiner Männlichkeit und in seiner Liebe, denn seine innersten Hoffnungen, dass Helena sich einst so zu ihm bekennen würde wie er bereit war, sich jederzeit und ohne zu zögern zu ihr zu bekennen, waren wie von einem Wirbelsturm zerpflückt und in alle Windrichtungen zerstreut worden, denn irgendetwas war mit ihr passiert, an dem er nicht teilgehabt hatte, und sie hatte ihn auch nicht ins Vertrauen gezogen. Er war verwirrt, weil er nicht wusste, was wirklich hinter allem steckte und welche, vielleicht furchtbaren, Wahrheiten hinter Helenas schweigsamer Fassade verborgen waren. Aber mehr als alles andere sorgte er sich um ihr Wohlergehen. Egal, was geschehen war, der Gedanke, dass sie litt, war ihm unerträglich.
Er schlich mit flatternden Nerven ins Krankenzimmer, und bei ihrem Anblick wurde ihm das Herz schwer. Sie lag, das Gesicht ihm zugewandt, zusammengerollt im blauen Krankenbett und weinte bittere Tränen. Ihr Haar war straff nach hinten gebunden, was ihr ungeschminktes, weißes Gesicht schutzlos und verwundbar für alle Angriffe machte, und John kam sich wie der letzte Mensch vor, als er merkte, dass er sie nach diesem Anblick noch mehr liebte - und noch mehr begehrte.
„Geh weg, John“, sagte sie gebrochen, als sie ihn bemerkte und bedeckte mit einer Hand ihr nasses Gesicht. Er konnte es nicht und näherte sich verzagt. Es stand außer Diskussion, sich zu ihr aufs Bett zu setzen und so zog er sich einen Hocker herbei, auf dem er Platz nahm.
„Helena“, sagte er mit spröder Stimme, „lass mich nur bei dir sitzen. Du sollst nicht alleine sein. Nicht jetzt.“ Sie drehte sich unter Schmerzen von ihm weg, was ihm einen neuen Stich versetzte. Aber immerhin warf sie ihn nicht hinaus, und so blieb er bei ihr, wortlos seinen Gedanken nachhängend, und wagte es nicht, sie zu berühren. Das Beben ihrer Schultern verebbte schließlich, und sie nickte ein, während er versuchte, mit sich und ihr und den Ereignissen ins Reine zu kommen.
Elf Wochen, hatte Dr. Mathias gesagt. Was war vor elf Wochen geschehen? Er konnte sich gut Zahlen merken, hatte aber ein schlechtes Zeitgedächtnis, insbesondere dann, wenn im fraglichen Zeitraum keine markanten Ereignisse oder Feiertage stattgefunden hatten. Der letzte planetare Kontakt war bereits an die drei Monate her, fiel ihm ein, Retha, der rätselhafte Planet, dessen Nebel sie in Steinzeitmenschen verwandelt hatte, und an den jegliche Erinnerung in demselben Nebel zurückgeblieben war.
Sie hatten den Erzählungen der anderen
zufolge tagelang das Leben von Primitiven geführt, hatten eine körperliche wie
geistige Regression durchgemacht und die Fesseln der Zivilisation abgelegt.
Emotionale Verhaltensmuster waren an den Tag getreten, und es war am Ende fast
zu Mord und Totschlag unter ihnen gekommen. - Auch anderes? Auch körperliche
Liebe? John traf die Erkenntnis wie ein Keulenschlag.
War es sein Kind, um das Helena trauerte?
Er fühlte den Schmerz wie einen Stein in seiner Brust und barg das Gesicht in seinen Händen.
Als die Nachtschwester Stunden später nach dem Rechten sah, fand sie John schlafend, den Kopf auf seine am Krankenbett verschränkten Arme gebettet. Sie ließ es dabei.
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John erwachte von einer Berührung auf seiner Wange und war im ersten Augenblick verblüfft über seine Anwesenheit in der Medizinischen Abteilung. Doch gleichzeitig ereilte ihn die Erinnerung, und die schweren Schatten legten sich wieder über ihn.
Es war Helena, die ihn aufgeweckt hatte und die, als sie merkte, dass er wach war, rasch ihre Hand zurückzog.
Er richtete sich auf und griff
mit
beiden Händen nach ihr. Sie wehrte sich nicht und blickte ihm nur wortlos
in die Augen. Ihre Miene war ein ebenso verzweifelter wie hoffnungsloser Kampf
gegen ihre aufgewühlte und verletzte Seele, die ihre Emotionen diktierte und
dem Verstand, der nach Befreiung von der Folter schrie, keine Chance ließ.
Doch er musste ähnlich auf sie wirken, denn
sie entzog ihm ihre Hand und legte sie wieder auf seine Wange, wo er sie heiß
und sanft und wie eine Vergebung für seine Sünden spürte.
„Du weißt es“, sagte sie mit brüchiger Stimme, und er nickte, unfähig zu sprechen. Sie schien mit sich zu ringen, und es brauchte eine Weile, ehe sie schließlich leise fortfuhr. „Ich habe es ignoriert, weil es keinen Anlass gab, an eine Schwangerschaft zu glauben. Stress und mein unsteter Lebenswandel waren mir willkommene Ausreden dafür, die Anzeichen zu übersehen. Und als ich mich endlich zwang, den Tatsachen ins Auge zu blicken, da war ich so schockiert, dass meine Schreckenssekunde ganze zwei Wochen dauerte. – Aber die Zeit reichte, mich für das neue Leben zu entscheiden, und ich hätte alles dafür getan.... John, ich weiß, du hattest das Anrecht darauf, davon zu erfahren, und ich hätte mit dir darüber reden müssen, aber ich wusste nicht wie, denn Retha ist aus unseren Gedanken gelöscht, und ich hatte Angst.“ Sie weinte, und er wischte ihre Tränen mit den Händen weg. „Ich hatte Angst vor dir und deiner Reaktion - und vor mir selbst, davor, loszulassen, die Kontrolle zu verlieren und am Ende wieder vor den Trümmern meiner Existenz zu stehen. Und wie man sieht...“
„...du hast noch mich“, erwiderte John nach einer langen Pause mit leiser Stimme.
„Meine Angst ist nicht geringer geworden. John, was werde ich tun, wenn sie wieder vor meiner Tür stehen und mir sagen, dass mein Leben zuende ist?“ Er wollte ihr so gerne die Lüge der Liebenden erzählen, die trügerische Sicherheit gab, dass ihr Leben von diesem Augenblick an ein Paradies, nein, nicht auf Erden, aber am Mond sein würde - doch gerade war sie daran erinnert worden, dass es kein Paradies im Diesseits gab, und die besänftigenden Worte fanden ihren Weg nicht aus seinem Unterbewusstsein.
„Was werde ich tun, Helena, wenn sie vor meiner Tür stehen?“ Zwischen der Trauer schlich sich ein mattes Lächeln in ihre Mundwinkel. Sie seufzte.
„Du hast Recht. Es ist für mich sowieso zu spät, ich habe mein Herz längst an dich verloren. Als ich dich eben an meinem Bett fand, wo du die ganze Nacht unbequem gesessen bist, ohne ein Wort, eine Erklärung von mir zu verlangen, da wurde es mir endlich bewusst: Ich habe meine Zeit damit verbracht, nicht sehen, nicht hören, nicht fühlen zu wollen. - Es ist mir nur nicht immer gelungen.“ Er schaute ihr ins bleiche, erschöpfte Gesicht, wie sie, halb aufgerichtet, in ihren Kissen lehnte, und er spürte, wie ihre Hoffnungslosigkeit erste Sprünge bekam und Funken von Licht in die Finsternis drangen. Er erhob sich endlich und setzte sich zu ihr aufs Bett, ohne den Blick von ihr abzuwenden.
Ihre Augen sagten ja, und langsam beugte er sich vor zu ihr, bis sich ihre Lippen berührten. Es war ein sinnliches, lebensbejahendes Feuermeer voller Verzweiflung und Trauer, ein bittersüßer Moment, denn Schmerz und Hingabe hatten sich in dem Kuss vereinigt, er war Zuversicht, Trost und ein gegenseitiges Versprechen; er war die Lüge der Liebenden.
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Ist jemand da, wenn dein Flügel bricht |
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Herbert Grönemeyer |
-ende-
April 2005