Die Siedler |
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Diese Geschichte entstand aus einer Sammlung von Ideen, die lange in meinem Kopf herumgekugelt sind, ohne irgendwie zu einem Ganzen zusammenzufinden, bis ich das passende Genre dafür gefunden habe.
Die Handlung findet relativ früh in der ersten Staffel statt.
Vielen Dank meinen "Vorab"-Leserinnen Barbara, Barbara & Anita, die mich vor einigen Fehlern bewahrt haben! Danke für eure Anregungen, Gedanken und insbesondere eure Begeisterung, die ihr mit mir geteilt habt.. dies ist der Motor für weitere schriftstellerische Aktivitäten!
Flammendes Schiff Flüchtige
Teppiche glühn über Fluten.
Theodor Däubler aus Der sternenhelle Weg (1915)
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Das Licht war fahl und grell, und der Vormittag kein angenehmer. Alles war zu laut, zu hektisch, mühsam und ärgerlich. Zu unbequem, um einen angenehmen Tag zu verheißen.
Er hatte am frühen Morgen nach einer schlaflosen Nacht sein unfreundliches, leeres Quartier verlassen und war, bei einem Becher schwarzen Kaffees in der Kantine sitzend, zu dem Schluss gekommen, dass er einsam war. Wieso ihn dieser Gedanke gepackt hatte, war ihm immer noch nicht klar, vielleicht waren es die leeren Reihen an sauberen Tischen in der Cafeteria gewesen und die zwei oder drei Paare, die in ihren Nischen saßen und einander anschwiegen, die ihn bewusst werden hatten lassen, dass er selbst am Morgen nie Gesellschaft hatte, nicht einmal eine schweigsame. Er war immer allein mit seinem Kaffee. Mit seinem miserablen Kaffee, um genau zu sein. Der flüchtige Gedanke bei der morgendlichen Routine war vorübergegangen, hatte aber einen schalen Geschmack hinterlassen - sofern er diesen nicht dem ungenießbaren Gebräu verdankte - doch etwas davon war haften geblieben und hatte ihn in sein Büro begleitet, anhänglich, wie es war, und traktierte ihn nun ohne Unterlass aus dem Unterbewusstsein heraus. In der Tat hätte seine Laune besser sein können, insbesondere, als klar war, dass der Morgen nur mit harmlosen Dingen des Alltags an seinem Ärmel zupfte - einige Berichte, die es durchzulesen galt, wenige Besuche auf vereinzelten Stationen, kaum Termine, nichts Wesentliches, nichts Bedrohliches.
Dann war Alan Carter vorbeigekommen - mit einer Mauschelmiene im Gesicht, die ihresgleichen suchte. Seine Neuigkeiten hatte John nicht glauben wollen, und doch waren sie von der Art, dass er sie nicht als uninteressantes Basis-Geschwätz abtun konnte, sondern sie zumindest auf Richtigkeit überprüfen musste.
Er hatte Helena Russell in sein Büro zitiert, in neutralem Ton, wie er hoffte, aber doch ließ sie ihn nun warten, statt, wie er es verlangt hatte, auf der Stelle zu erscheinen. Sein Launenbarometer fiel in die Region arktischer Temperaturen ab, während er pro forma in den Berichten der Wartungsabteilung und der Botanik blätterte, ohne geistig auch nur ein Wort davon aufzunehmen. Nebenan im Hauptquartier herrschte Ausgelassenheit, selbst durch die relativ gute Dämpfung der mobilen Trennwand hörte er Morrow und Kano einander mit Witzen unterhalten, die so einen Bart hatten, dass sie sich damit bequem von Kopf bis Fuß einwickeln hätten können. Das schallende Gelächter trieb ihn auf die Palme, und bohrende Kopfschmerzen schraubten sich von links nach rechts durch die Temporallappen seines Gehirns.
Just in dem Moment ging die rückwärtige Tür zu seinem Büro auf, und die Chefärztin der Basis trat ein. Sie wirkte neben sich, etwas gehetzt, das Haar nicht in ganz gewohnt perfekter Fasson, und es zeigten sich leicht sichtbar rötliche Abdrücke einer Mundmaske auf der Haut, die sich beidseits über ihre Jochbeine spannte. John hätte dieses wenige nicht Perfekte an ihr unter normalen Umständen erotisch gefunden, aber im Augenblick gab es zu viele Störfelder, die ihn beeinflussten, als dass er den Wert einer nicht mehr vorhandenen Mundmaske hätte schätzen können.
Helena kam auf ihn zu, im Gehen
ihren Commlock zückend, um einen Blick auf die Uhr zu werfen. Sie wollte, dass
er sich beeilte. Das ärgerte ihn auf ein Neues.
Er erhob sich von seinem Sitz, um
ihr einen Schritt entgegen zu gehen, bat sie aber absichtlich nicht, Platz zu
nehmen.
"Helena", begann er ohne Umschweife, "stimmt es, was mir heute zugetragen wurde?" Ihre Augenbrauen hoben sich unisono fragend, und das helle Blaugrün ihrer Augen verstärkte sich mit dem Lichteinfall, als sie ihren Kopf in seine Richtung hob.
"Da musst du mir jetzt weiterhelfen", sagte sie und stützte eine Hand an der Hüfte ab. Er war sich nicht sicher, ob sie wirklich nicht wusste, worum es ging, oder ob sie, aus welchem Grund auch immer, nur vorgab, ahnungslos zu sein. Er hatte jedenfalls keinerlei Geduld für ein gemächliches Ausforschen der Situation.
"Sue Crawford", sagte er ein wenig betonter als nötig. Das herausfordernde Aufblitzen seiner Augen traf sie offensichtlich unvorbereitet. Sie neigte den Kopf, ein wenig nur, und zögerte, ein wenig nur, doch lange genug für John, um ihre Reaktion als ein Eingeständnis ihrer Mitwisserschaft zu werten.
"Helena, wir haben hier eine schwangere Frau auf der Station, das ist eine elementare Angelegenheit, über die nicht nur du als Chefärztin entscheiden kannst! Was denkst du dir dabei zu schweigen, statt mich davon zu unterrichten? Wolltest du mich vor vollendete Tatsachen stellen, oder was hattest du vor?" Er hatte angefangen, hin- und herzugehen, und blieb dann abrupt vor ihr stehen, so nahe, dass er den Duft ihres Haares in der Nase hatte. Er irritierte ihn, schnitt ihm das Wort ab. Sekundenlang starrte er sie zornig an, während sie vor ihm stand und ausdruckslos darauf wartete, dass die Eruption verebbte. "Verdammt, Helena! Wir hatten eine Abmachung, wir beide!"
Ihre Augen, die ihn unbeeindruckt gemustert hatten, verschatteten sich jäh, und ihr ganzes Gesicht verschloss sich. Er sah sie Luft holen, verhalten, ihr Mund öffnete sich, und das "John!" kam fast lautlos über ihre Lippen.
Er wusste, dass er eine Linie überschritten, irgendeinen wunden Punkt berührt hatte mit seinen Worten, auch wenn er nicht sehen konnte, worum es sich handelte. Es tat ihm augenblicklich leid, aber am Tatbestand und an seinem Zorn änderte es nichts.
"Helena, du weißt, dass wir hier am Mond und in unserer Basis lange nicht alle Freiheiten haben, die wir von früher gewohnt waren", fuhr er milder, aber eindringlich fort. "Wir können hier nicht einfach in den Tag hineinleben und tun, wonach uns ist, und ich erwarte mir von dir, dass du in solchen Angelegenheiten keine eigenmächtigen Entscheidungen triffst." Sie hatte sich wieder gefangen, ihre Miene wurde kühl, und sie schien unnahbar.
"Meine Entscheidungen", ließ sie ihn distanziert wissen, "sind nicht eigenmächtig. Wenn sie irgendetwas sind, dann notwendig." Er wandte sich, ärgerlich darüber, dass sie in einer solch wichtigen Angelegenheit Widerworte gab, von ihr ab, seinem Schreibtisch zu, als in die kalte Spannung hinein und daher mit unerwarteter Lautstärke der Rufton seines Commlocks ertönte. Sein scharfer, ungnädiger Kommentar erstarb ihm auf den Lippen, und er schnappte sich das Gerät vom Tisch, um die Verbindung zu aktivieren. Am anderen Ende war Paul, der ihn aufgeregt in die Kommandozentrale bat. John öffnete per Knopfdruck die Schiebetür, die sein Büro von der Zentrale trennte, um zu sehen, weswegen ihn der Controller zu sich gerufen hatte. Der Blick, den er Helena im Vorübergehen zuwarf, war deutlich genug, um ihr zu sagen, dass ihr Gespräch nur ausgesetzt war und nicht beendet. Sie aber folgte ihm ohne Zögern.
"Commander, sehen Sie!", begrüßte ihn Morrow mit deutlicher Aufregung in der Stimme und zeigte auf den Hauptbildschirm. Johns Blick war ohnehin darauf gefallen, denn der Schirm beherrschte den gesamten Raum, und im Moment starrten alle Anwesenden darauf.
Zu sehen war eine Schaltung in den Weltraum, in der rechten oberen Ecke des Bildes befand sich eine ferne diskusförmige Galaxie aus abertausend Sternen, die in der Schwärze flackerten, in der Mitte aber, anfangs nur schwer auszumachen, ein seltsames, in sich drehendes Gebilde, aus wolkigen, weißlichen Spiralarmen, die sich wie Fäden um ein unsichtbares Zentrum wanden, zuerst träge und zögerlich, dann beschleunigten, und sich aus einem zähen, taumelnden Tanz heraus in einen schnellenden Kreisel verwandelten, nach außen ein weißliches Flimmern verströmend, das sich wiederum in der Finsternis des Alls verlor. Gleichzeitig wuchs aus der Mitte der rotierenden Formation ein schwarzer Kreis, der wie ausgestanzt wirkte in dem hellen Wirbel, partikellos, ein buchstäbliches Nichts. Das Phänomen nahm an Größe zu, während die rotierenden Spiralen schmäler wurden, wie komprimiert schienen, als seien die Lichtstrahlen abgelenkt und machten einen Bogen um die tiefe Schwärze des Zentrums.
Die Alphaner in der Kommandozentrale wohnten dem Geschehen erstaunt und verwundert bei.
John, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden, wies Sandra an, Prof. Bergman über die Erscheinung zu informieren, und erhielt die Antwort, dass jener sich schon auf dem Weg in die Zentrale befand. Im selben Augenblick erschien er, sofort fasziniert und wie absorbiert von dem Geschehen am Schirm.
"Wie seid ihr darauf aufmerksam geworden?", erkundigte er sich.
"Die Auto-Sensoren haben es bei einem Scan entdeckt und lösten den Alarm aus", gab Paul zur Antwort.
"Welche Entfernung hat es?", wollte der Commander wissen. Kano, der bereits erste Messdaten hatte, nannte ihm die Zahl, und Victor nickte sinnierend.
"Scheint weit genug weg zu sein, um uns nicht gefährlich werden zu können", sagte er, ahnend, dass dies Johns nächste Frage sein werde. "Es kommt natürlich drauf an, wie groß diese Erscheinung noch wird - und welcher Natur sie ist." Mittlerweile hatte das dunkle Zentrum des Phänomens noch deutlich an Größe gewonnen, und als der weißliche Randwirbel verblasste und nur noch als ein Ring aus einer schwächlich schimmernden Gaswolke, die man durch einen Wassertropfen betrachtete, imponierte, da traten auch im dunklen Fleck Sterne zutage, kaum sichtbar wie ein erlöschendes Flimmern, und jedenfalls nicht in Übereinstimmung mit dem Hintergrund im Weltraum, der das Gebilde umgab.
"Commander, es scheint aufgehört zu haben zu wachsen", informierte Sandra Benes John. Er nickte grübelnd.
"Victor, was ist das?" Der Wissenschaftler kratzte sich abwesend am Kopf und nahm den Datenstreifen von Kano entgegen. Er studierte die Angaben eingehend und ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen, während alle gespannt auf seine Antwort warteten.
"Ich kann nur Mutmaßungen anstellen", sagte er endlich, indem er seinen Blick hob und John ins Visier nahm, "aber was ich hier sehe, hat frappante Ähnlichkeit mit dem, was unseren Berechnungen zufolge bei einem Wurmloch auftreten müsste."
"Ein Wurmloch?", wunderte sich John, das Phänomen am Schirm noch eingehender musternd, "Eine Verbindung in einen anderen Teil des Alls. Kann das so ohne äußeres Zutun entstehen?" Victor hob beide Hände und zog die Augenbrauen hoch.
"Wer sagt uns, dass es ohne äußeres Zutun entstanden ist?"
"Auch wieder wahr", gab John zu und fuhr fort, das ungewöhnliche Gebilde zu betrachten. "Kann man sagen, ob es stabil ist?" Der Wissenschaftler schüttelte den Kopf, während er von Kano neue Daten in Empfang nahm.
"Schwer zu sagen", erwiderte er, nachdem er einen kurzen Blick darauf geworfen hatte. "Ich kenne die theoretischen Berechnungen über Einstein-Rosen-Brücken, aber ich weiß nichts darüber, wie sie sich tatsächlich verhalten."
"Aber es handelt sich um eine Passage in einen anderen Bereich des Universums?"
"Oder in eine andere Dimension." John dachte nach.
"Es könnte also sein, dass sich etwas auf der anderen Seite befindet, das uns gefährlich werden könnte?" Victor nickte.
"Das wäre natürlich möglich."
"Paul, Gelbalarm. Ich möchte, dass es ständig unter Beobachtung bleibt. Die diensthabende Adler-Mannschaft soll sich bereit halten und zwei Kampfadler für einen sofortigen Abflug auf die Startrampen bringen."
"Commander!", unterbrach ihn Sandra, plötzlich sehr aufgeregt, "Da kommt eine Meldung herein! Sie stammt eindeutig aus dem Wurmloch! Ich schalte sie auf Lautsprecher!" Noch während sie sprach, bediente sie die erforderlichen Kontrollen, und jäh war die Kommandozentrale von lautem Rauschen erfüllt, aus dem heraus ein leises aber deutliches "Mayday!" zu hören war. Der Rest ging in einem wie atmosphärisch anmutenden Knistern und Knacken unter.
John warf Victor einen ungläubigen Blick zu.
"Sandra, hab ich recht gehört? Filtern Sie die Störgeräusche heraus!"
"Bin schon dabei, Commander", gab sie zur Antwort, "es ist aber nicht so leicht, weil diese Geräusche sich irgendwie nicht ..erfassen lassen. Hier kommt das Signal noch mal." Diesmal waren die Worte lauter, und die Analytikerin hatte es tatsächlich geschafft, das störende Rauschen etwas in den Hintergrund zu verfrachten.
"Mayday! Mayday! Mayday! Hier spricht die Pollux, B2476 auf Position TB4/6/9. Dies ist der automatische Notruf. Hilfe wird benötigt. Over."
Ein Hilferuf war von einem offensichtlich menschlichen Schiff an sie gesandt worden.
"Was machen wir?", wollte Paul mitten in die fast greifbare Verblüffung hinein wissen.
"Sandra, öffnen Sie einen Kanal."
"Sie können sprechen", informierte sie ihn.
"Hier spricht Commander John Koenig von Mondbasis Alpha. Bitte präzisieren Sie die Angaben bezüglich Ihres Notfalls! Brauchen Sie medizinische Hilfe? Haben Sie technische Probleme?" Er wartete auf eine Antwort.
"Mayday! Mayday! Mayday! Hier spricht die Pollux, B2476 auf Position TB4/6/9. Dies ist der automatische Notruf." John machte mit der Hand ein Zeichen, das Sandra bedeutete, den Ton auszuschalten.
"Das nützt nichts. Es ist tatsächlich ein automatischer Ruf. Victor, wie lange brauchst du, um zu sehen, wie stabil dieses Tor ist?" Der Wissenschaftler machte eine vage Handbewegung.
"Ich kann dir gar keinen Zeitraum nennen. Im Augenblick lassen die Daten vermuten, dass die Passage für alle Zeiten bestehen bleiben könnte. Wenn sie künstlicher Natur ist, und die Tatsache, dass gerade ein Hilferuf durchgeschickt wurde, lässt dies sehr wahrscheinlich werden, dann kann sie genauso gut von einem Moment auf den nächsten terminiert werden."
"Aber wenn sie unsere Hilfe benötigen, warum sollten sie das Tor wieder schließen?", wollte Sandra wissen.
"Wissen wir, dass sie wirklich Hilfe brauchen?", entgegnete Paul argwöhnisch. Er war von Natur aus ein Zweifler und daran gewohnt, sich nicht auf allzu viele Dinge zu verlassen. Diese Eigenschaft an ihm war oftmals ein Ärgernis - manchmal aber auch ein unschätzbarer Vorteil für einen Mann, der in der Zentrale die rechte Hand des Kommandanten war.
"Wissen wir, dass sie tatsächlich menschlich sind?", schlug Kano in dieselbe Kerbe.
"Nun, sie kennen den exakten Ablauf eines klassischen Notrufs", gab John zu bedenken."Woher sollten sie davon wissen, wenn sie nicht menschlich wären?"
"Aus unseren Datenbänken?", schlug Paul vor.
"Moment, Moment", mischte sich David Kano ein, der wieder mal einen Angriff gegen sein geliebtes Computer-System witterte. "So einfach können diese Daten nicht angezapft werden. Nachdem wir bei Notfällen ein anderes Prozedere einhalten, sind diese Informationen nicht Teil des aktiven Systems, sondern müssten aus den Archiven ausgehoben werden. Und ich kann mit Bestimmtheit sagen, dass in das betreffende Archiv nicht Einsicht genommen wurde."
"Nun gut, dann haben sie irgendeinen Weg gefunden, unsere Gehirne zu scannen", insistierte Paul.
"Dann hätten sie uns so gut kennen gelernt, dass sie einen erfolgversprechenderen Weg gefunden hätten, uns hereinzulegen", meldete sich Helena zu Wort.
"Außer sie verstehen uns nicht ausreichend, um einen besseren Weg zu finden", erwiderte Victor nachdenklich. John seufzte.
"Das sind alles Mutmaßungen. Welche Fakten haben wir? Ein offensichtlich künstlich generiertes Wurmloch öffnet sich in unserer Nähe, durch das hindurch wird ein Hilferuf an uns gesandt, der menschlichen Ursprungs zu sein scheint. Soweit zu sehen ist, ist die Passage stabil. Victor, können wir mit einem Adler durchfliegen?" Der Wissenschaftler nickte.
"Ich denke, dass sie dafür gemacht ist."
"Commander, das ist zu gefährlich!", sagte Paul eindringlich, "Wir haben keinerlei Informationen darüber, was uns auf der anderen Seite erwartet!"
"Können wir einen Hilferuf ignorieren, John?", entgegnete Helena. Er wandte sich ihr zu und blickte in ihr sorgenvolles Gesicht. Sein Zorn auf sie war jäh verraucht.
"Das können wir nicht", gab er ihr recht, "wir müssen wenigstens nachsehen." Dies hatte einen Aufruhr in der Kommandozentrale zur Folge. Alle redeten durcheinander.
"Genug!", sagte John laut, und tatsächlich trat Ruhe ein. "Ich übernehme die volle Verantwortung für diese Aktion. Ich brauche Freiwillige, die mich begleiten."
Alan Carter, der im Eingang stand, meldete sich als Erster.
"Sie können auf mich zählen", ließ er John wissen.
"Danke, Alan."
"Ich komme auch mit", erbot sich Helena, "vielleicht handelt es sich um einen medizinischen Notfall." John wollte protestieren, wusste aber, dass es klug war, jemanden mit medizinischen Kenntnissen mitzunehmen, weswegen aus seinem Einspruch ein knappes Nicken wurde.
"Allein schon, um das Phänomen zu studieren, muss ich euch begleiten", sagte Victor aufgeräumt.
Carl Peterson vom Sicherheitsdienst meldete sich als letzter Freiwilliger.
"Gut, dann treffen wir uns in einer Stunde zum Abflug. Victor, falls sich in der Zeit etwas am Wurmloch ändert, möchte ich es wissen."
"Natürlich, John." Der Commander wandte sich zum Gehen, blieb jedoch auf halbem Weg hinaus stehen und wandte sich wieder um.
"Sandra, versuchen Sie trotzdem, jemanden am anderen Ende zu erreichen."
"Natürlich, Commander, wir senden auf allen Frequenzen." Ein schmales Lächeln traf ihn, das ihm zeigte, wie genau sein Team ihn kannte und auch ohne explizite Befehle das Naheliegende machte.
Helena eilte hinaus, um ihren Notfallskoffer durchzuchecken. Er wurde zwar regelmäßig gewartet, was bedeutete, dass einerseits abgelaufene Medikamente ausgetauscht und verbrauchte nachgefüllt wurden und andererseits die Funktion der Instrumente darin überprüft wurde, doch bei solchen Aktionen warf sie selbst gerne vorher einen Blick und einige zusätzliche Utensilien und Wirkstoffe in den Koffer, um auch für abwegige Situationen besser gerüstet zu sein.
Vor dem Lift musste sie warten, und in der kurzen Pause drängte sich ihr Gespräch mit John vehement in ihr Bewusstsein. Sie wusste mit seinen Anwandlungen im Allgemeinen gut umzugehen und nahm sie nicht persönlich, weil er war, wie er war, und sie wusste, dass man ihn nicht ändern konnte. Sie begrüßte diese Impulsivität an ihm nicht immer, aber es war ihr erstaunlich leicht gefallen, sie als etwas nicht wirklich Bedeutungsvolles in ihrer Zusammenarbeit mit ihm zu betrachten, weil sie sein wahres Wesen kannte, weil sie wusste, welche Dämonen ihn verfolgten und was er auf sich zu nehmen bereit war, um diejenigen, für die er verantwortlich war, zu schützen. Und sie wusste auch, dass ihr eigener Stellenwert bei ihm den der anderen wesentlich überstieg.
Was ihr diesmal so den Atem geraubt hatte, war nicht rationell zu beschreiben und darum auch nicht wirklich gut erklärbar. Es war eine Sache, von der sie wusste, dass John nicht im entferntesten so weit gedacht hatte, als er nämlich die Freundschaft, die er ihr damals selbst angetragen hatte, eine "Abmachung" genannt hatte. Aus einer Herzensangelegenheit war unvermittelt eine banale wirtschaftliche Angelegenheit geworden, nützt du mir, dann nütze ich dir.
Er hatte es nicht so gemeint, das war ihr klar, doch in der unmittelbaren Konfrontation war kein Kraut gegen das Aufwallen von Emotionen gewachsen, auch - oder erst recht nicht - gegen die eigenen, und so hatte sie seine Worte nicht ignoriert, sondern war auf Konfrontationskurs gegangen. Sie ärgerte sich darüber, denn im Zorn ließen sich die Dinge nicht befriedigend regeln. Zum Streiten gehören immer zwei, dachte sie unzufrieden, doch da ging die Aufzugstür auf, und mit ihrem Eintreten in die Kabine wurden ihre Gedanken von den Überlegungen zu den augenblicklichen Geschehnissen und ihren unmittelbaren Aufgaben absorbiert.
Der Flug verlief unspektakulär, und, abgesehen von Victors Aufregung und geschäftigem Werkeln an Geräten und Messinstrumenten beim Eintritt und Durchfliegen der Passage, war die Reise wenig mehr als eine gemächliche Kutschenfahrt durch ein Nirwana ohne Eindrücke von außen. Der Adler wurde durch den intergalaktischen Schlauch gezogen und glitt ohne Rumpeln, ohne Energieaufwand, ohne jegliche Störung durch die Verbindung und wurde am anderen Ende in eine unbekannte Galaxie ausgespuckt. Alle verfolgten die Aufnahmen der Außenbordkameras, als Alan zur Orientierung eine kurze Runde drehte, selbst das Team in der Kommandozentrale, zu dem nach wie vor Kontakt bestand.
Die erste Überraschung ließ nicht auf sich warten. Was von der anderen Seite des Wurmlochs nicht zu sehen gewesen war, offenbarte sich nun: Sie befanden sich in einem Sonnensystem. Eine Sonne der Spektralklasse G erstrahlte in der Ferne, und die Sensoren ermittelten drei Planeten in deren Umlaufbahn.
Einer war seinem Muttergestirn so nahe, dass Leben darauf nicht möglich war, zwei weitere jedoch befanden sich in moderater Entfernung.
John trat vom Cockpit nach hinten ins Passagiermodul.
"Victor, was sagen die Scanner über das System?", erkundigte er sich etwas beunruhigt. Er hatte mit einem Raumschiff in Not gerechnet und nicht mit einem ganzen Sonnensystem. Der Wissenschaftler beugte sich über die Daten, die ihm die Sensoren lieferten.
"Einer der beiden äußeren Planeten, nämlich der, der von hier aus auf der Backbordseite liegt mit der grünlichen Oberfläche, scheint Leben zu beherbergen. Die Signale sind, gelinde gesagt, lautstark."
"Radiosignale?"
"Nein, ich habe hier Signale, die auf Lebewesen mit neuronaler Aktivität hindeuten", nuschelte Victor, die Nase in seinen Tabellen versenkt.
"Sie zeigen Gehirnaktivität an", half Helena aus, die Johns ratlosen Blick erhascht hatte.
"Intelligentes Leben?" Die Ärztin schüttelte den Kopf.
"So genau lässt sich das mit der Messmethode nicht unterscheiden. Jedenfalls können wir sagen, dass es hier Lebewesen gibt, die mit einem Nervensystem ähnlich dem unseren ausgestattet sind." John nickte beeindruckt.
"Ja, ein neu entwickeltes Gadget für unsere Sensoren", ergänzte Victor wie von ungefähr.
"Aber es gibt keine Radiosignale?"
"Nur das, was uns von der Pollux erreicht."
"Und wo ist sie, die Pollux?", wollte Helena wissen.
"Ich habe sie noch nicht geortet, aber wenn ich das konstante Signal, das sie an Alpha sendet, verfolge, dann müsste sie sich in der Umlaufbahn dieses Planeten befinden. Wahrscheinlich auf der uns abgewandten Seite. Ich würde übrigens vorschlagen, einen Satelliten in die Umlaufbahn des Planeten zu setzen, der all unsere Messungen und Informationen nach Alpha weitersendet."
"Gute Idee", stimmte John zu, "suchen wir aber zuerst die Pollux."
Wie ein buckliger, kleiner schwarzer Käfer hockte die Pollux in der Umlaufbahn des Planeten und regte sich nicht. Alan manövrierte den Adler in die Nähe und passte die Geschwindigkeit an die des Findlings an, um sodann direkt davor zu schweben und ihm von Angesicht zu Angesicht in dessen Front zu schauen.
"Das Ding ist definitiv zu klein, um bemannt zu sein", sagte er abschließend und legte ein paar Schalter um. Das laute Summen der Adlermotoren verebbte und machte einem leisen Surren Platz. "Es könnte allerhöchstens als Relais-Station verwendet werden, um möglichst weit reichende Signale weiterzuschicken." John, der wieder ins Cockpit gewechselt hatte, aktivierte die Sprechverbindung des Schiffs und ging sicher, dass er auf allen Frequenzen sendete. "Pollux, hier spricht Adler 1. Wir befinden uns in Ihrer unmittelbaren Nähe und erwarten weitere Informationen von Ihnen." Es kam keine Antwort.
"John!" Victor stand mit konsterniertem Gesichtsausdruck in der Schleuse und wies auf die Anzeige seines Scanners." Auch das Raumschiff quillt über vor Leben. Mehr, als meiner Meinung nach darin Platz hätte."
"Vielleicht ist es eine Rasse von Zwergen", schlug Alan vor und konnte sich bei der Vorstellung von zipfelmützigen, bärtigen kleinen Männern mit Schaufeln und Grubenlampen ein Grinsen nicht verkneifen.
"Die müssten dann schon im Gartenzwergformat sein", meinte Victor, immer noch etwas ratlos seine Daten musternd. "Eines kann ich aber sagen, dass nämlich die Pollux für das Wurmloch verantwortlich ist. Sie steht mit einer Vorrichtung da draußen in Kontakt, die wir beim Eintreffen hier nicht geortet haben und die sozusagen eine Art Türöffner zu sein scheint."
"Also hat uns die Pollux hierher geholt", überlegte John laut. "Aber wozu, wenn keiner zu Hause ist? Victor, kann man denn sagen, ob das Schiff menschlichen Ursprungs ist?" Alan ließ die Außenbordkameras über die schwarze Oberfläche der Pollux gleiten. Sie war glatt und glänzend, reflektierte in mattem Schimmer das Licht der Scheinwerfer, eine Hülle sanfter Kurven und ohne Ecken und Kanten. Die Front hatte Luken aus facettiertem, schwarzem, gläsernem Material, und der Vergleich mit einem Käfer war in der Tat nicht sehr weit hergeholt. Es fehlten nur offensichtliche Füße und Fühler.
Die Bordkamera fing eine farbliche Abweichung auf der Oberfläche ein, und Alan zoomte sie näher heran. Der verschwommene graue Fleck formierte sich zu einer Reihe von Buchstaben, ohne weiteres identifizierbar als ein menschliches Werk.
"SS Pollux", stand da zu lesen, in weißen Großbuchstaben und Sperrschrift. John musterte die Schrift nachdenklich.
"Victor, hast du noch weitere Hinweise?" Der Wissenschaftler wiegte den Kopf hin und her.
"Schwer zu sagen, John. Sollten sie sich schon die Mühe machen, uns mit Abkürzungen und Namen hereinzulegen, dann müssten sie genug wissen, um uns mit allem Drum und Dran hinters Licht zu führen." John nickte zustimmend. Sie hatten immer noch dasselbe Problem: nicht zu wissen, ob sie geradewegs in eine Falle liefen.
"Sagt mal, müsste da nicht irgendwo ein Zwilling sein?", meldete sich Alan plötzlich zu Wort, der zwar keine Details zur griechischen beziehungsweise römischen Mythologie wusste, aber zumindest die Sternbilder kannte. "Ich meine, gehört nicht zu Pollux sein Zwillingsbruder Castor?", präzisierte er, als ihn die übrigen etwas ratlos anschauten.
"Natürlich!", rief Victor, "Die unzertrennlichen Zwillingsbrüder! Es muss noch ein weiteres Schiff geben!" John nickte und aktivierte wieder die Sendeanlage.
"Hier spricht Commander John Koenig. Ich rufe die Castor, bitte melden!"
"Hier ist die Castor", kam nur Sekunden später eine klare, männliche Stimme aus den Lautsprechern, und John schenkte Alan einen anerkennenden Blick. "Captain Adalgis Yonwin von der Castor. Was für eine Erleichterung, dass Sie auf unseren Hilferuf reagiert haben. Wir befinden uns auf dem Planeten Lathan. Ich schicke Ihnen die Koordinaten." Es war klar, die anderen hatten auch sichergehen wollen.
"Womit können wir Ihnen helfen?", wollte John wissen.
"Wir haben hier eine Siedlung", war die Antwort, "und erhebliche Schwierigkeiten mit unserem Equipment. Sensorenausfälle und Störungen nach diversen Ärgernissen. Ich habe auch Probleme damit, unsere Leute zu erreichen." John warf Victor einen alarmierten Blick zu.
"Was soll das bedeuten? Besteht für uns eine Gefahr, wenn wir zu Ihnen kommen?" Eine kurze Pause.
"Das kann ich nicht ausschließen", sagte Captain Yonwin schließlich. "Ich habe keinerlei Informationen, die ich Ihnen geben kann. Eine gravierende Störung der schiffseigenen Sensorsysteme, die nicht reparabel sind, machen es mir schwer, irgendwelche Daten zu prozessieren."
"Sie haben die Pollux", schaltete sich Victor ein. "Entschuldigung, ich bin Professor Victor Bergman. Warum setzen Sie nicht die Sensoren der Pollux ein?"
"Die Systeme der Pollux sind zwar mit denselben Spezifikationen ausgestattet wie die der Castor, aber die Pollux kann seltsamerweise nichts mit den Daten anfangen, die hereinkommen. Wir tippen auf Störfelder, die vom Planeten selbst generiert werden. Zudem wurde die Pollux lediglich als Begleitschiff konzipiert und dient überdies zur Telekommunikation und als Raumtorgenerator, aber sie kann nicht auf dem Planeten landen und schon gar nicht als Frachtschiff dienen."
"Wie kommt es, dass Sie uns gefunden haben?", wollte John wissen.
"Die Pollux ist dafür geschaffen, menschliches Leben zu finden. Ihre Technik beherrscht die Fähigkeit, quer durch Raum und Zeit die Signaturen menschlichen Lebens aufzuspüren und Kontakt aufzunehmen. Commander Koenig, ich denke, ich muss Ihnen folgende Mitteilung machen: Wir befinden uns in einem anderen Raum-Zeit-Kontinuum als jenem, in dem sich der Mond befindet, und in einer völlig anderen Zeit. Ich darf Ihnen aber versichern, dass Sie mir ein Begriff sind - Sie und Ihre gesamte Mannschaft sind Teil der irdischen Geschichte."
"Welches Jahr schreiben Sie denn?", erkundigte sich Victor neugierig.
"Wir haben das Jahr 2418", ließ ihn der Captain wissen.
"Und die Erde?"
"Gibt es noch. Sie wurde von der Regierung der Vereinigten Welten zu einem Naturreservat erklärt. Ein riesengroßer Erlebnispark, um mit Ihren Begriffen zu sprechen. Ich habe sie selbst noch nicht gesehen. Sie soll sehr schön sein. Wir hier stammen alle von einem Planeten namens Eridan, ein überfüllter kleiner Industriemoloch, in dem ein Menschenleben weniger wert ist als eine Handvoll Lathanium. Wir haben unser Schicksal in die Hand genommen und sind das Wagnis eingegangen, einen neuen Planeten zu besiedeln."
"Scheint nicht so ideal abgelaufen zu sein", rutschte es Alan heraus.
"Wie bitte?"
"Verzeihung. Alan Carter, ich bin Pilot hier im Adler. Ich sagte, dass Ihre Pläne sich wohl nicht nach Ihren Wünschen entwickelt haben."
"Richtig, Captain Carter. Das kann man getrost so sagen.- Darf ich fragen, was Sie zu tun gedenken?" Alan warf John einen Blick zu.
"Geben Sie uns eine Minute Zeit", bat der Commander, "ich habe hier mehr Leute an Bord und möchte unser Vorgehen mit ihnen besprechen. Wir melden uns in Kürze bei Ihnen." Mit einer resoluten Geste unterbrach er die Verbindung und erhob sich aus dem Copilotensitz. Erst jetzt sah er, dass sich sowohl Helena Russell als auch Carl Peterson bereits hinter Victor im kurzen Verbindungsgang zwischen Passagier- und Kommandomodul des Adlers aufhielten und ruhig dem Gespräch mit Captain Yonwin gelauscht hatten. "Habt ihr alles gehört?", wollte er wissen.
"Ziemlich alles", bestätigte Helena. "Wir wissen nicht, mit welchen Gefahren wir rechnen müssen, sollten wir auf dem Planeten landen."
"Zumindest hat er es nicht bestritten, dass es für uns gefährlich werden könnte", gab Victor zu bedenken.
"Wir wissen gar nichts", bestätigte John, "und darum möchte ich eine gemeinschaftliche Entscheidung. Ich will nicht euer Leben riskieren für etwas, das ich nicht im mindesten kalkulieren kann. Was sagt ihr?" Es herrschten nur wenige Augenblicke Stillschweigens.
"John, wenn da tatsächlich jemand in Not ist, kann ich nicht einfach daran vorübergehen", sagte Helena. Sie musterte den Commander entschlossen. Er blickte sich um und bemerkte, wie Alan zu ihren Worten bekräftigend nickte.
"Dass ich auf jeden Fall sehen möchte, wie der Planet aussieht, brauche ich wohl nicht extra zu betonen", erklärte Victor lächelnd. John hatte mit nichts anderem gerechnet.
"Peterson?"
"Ich schließe mich an, Commander." John nickte zufrieden. Das war der Vorteil bei einer Gruppe von Freiwilligen. Sie alle waren mitgekommen, um zu helfen, nicht zu zaudern und zu zögern. Und alle hatten eine gesunde Portion Neugier, wollten erfahren, was es mit der angeblichen Gruppe von Menschen auf sich hatte, denen es hier auf diesem Planeten nicht gut ergangen war.
Er aktivierte die Verbindung zum Planeten.
"Captain Yonwin, vorausgesetzt, Sie können mir garantieren, dass bis zu unserem Rückflug zum Mond das Wurmloch offen gehalten werden kann - und auch wird - möchten wir versuchen, Ihnen zu helfen. Schicken Sie die Lande-Koordinaten."
Der Adler steuerte ein ebenes, felsiges Plateau an, das sich zwar nicht direkt im Bereich der angegebenen Koordinaten befand, aber im Vergleich zum Rest der Gegend nur eine geringe "neuronale Aktivität" aufwies. John hatte ohne nähere Erläuterung seiner Gründe darauf bestanden, einen möglichst von Lebenszeichen freien Landeplatz auszusuchen und damit Captain Yonwins Empfehlungen zu ignorieren. Der Nachteil würde darin liegen, dass zu Fuß eine nicht zu knappe Wegstrecke zurückgelegt werden musste, um die Siedlung der Hilferufenden zu erreichen. Das Areal war wegen eines Steilhangs und dichten Bewuchses für das mitgebrachte Moonbuggy nicht geeignet.
Das laute Rauschen und Tosen einer gewaltigen Regenflut drang von der Außenwelt in den Adler hinein, nachdem das Dröhnen der Motoren verebbt war. Nachdenklich blickte John durch die Frontscheibe in eine vom Nebel dunstigen Regens verschleierte, düstere graue Welt hinaus.
"Gute Landung, Alan." Der Pilot kratzte sich mit unzufriedener Miene am Kinn, während auch er hinausstarrte.
"Also, ich habe meinen Regenschirm zu Hause vergessen", sagte er und beugte sich nach vorne, um, angestrengt verrenkt, einen Blick auf den niedrigen, wolkenverhangenen Himmel zu erhaschen. "Nicht, dass ich was dagegen hätte, nass zu werden, aber wie sieht das aus, wenn die Retter wie gebadete Mäuse dort auftauchen? Das gibt ein echtes Image-Problem!" John riss sich, ein Grinsen im Gesicht, von der trüben Regenwand vor seinen Augen los und betätigte einige Knöpfe an der Konsole, die Teil der Abschaltroutine des Adlers darstellten.
Von hinten steckte Victor Bergman seinen Kopf wieder ins Cockpit, während er selbst, seinen Scanner in der Hand, im Durchgang stehen blieb.
"Na, was macht dein Apparat?", erkundigte sich Alan und erhob sich. "Lässt sich irgendwas damit anfangen?" Der Wissenschaftler hantierte an den Einstellungen, offensichtlich damit beschäftigt, Anpassungen vorzunehmen.
"Ich könnte natürlich die irritierenden Messungen herausfiltern", meinte er vage.
"Aber?"
"Dann kann ich euch auch nicht mehr orten. Und andere Gefahren, die von Lebewesen ausgehen, genauso wenig."
"Das wirst du ohnehin nicht können, wenn wir hinausgehen, denke ich", erinnerte ihn Helena, die von hinten an ihn herangetreten war und ihm eine Hand auf die Schulter legte. Victor seufzte ungehalten, während er immer noch an den Kontrollen herumdrehte.
"Genau das ärgert mich ja so."
"Wir müssen also weitgehend ohne die hilfreichen Informationen unserer Sensoren auskommen." Johns Gesicht drückte Sorge aus. Diese Rettungsmission war irrwitzig. Das war ihm klar, es roch hier sehr nach unerwünschten Komplikationen. Gleichzeitig wusste er, dass sein Verantwortungsgefühl es ihm nie erlaubt hätte, nicht auf den Hilferuf zu reagieren.
"Alpha an Adler 1, wie sieht's bei euch unten aus?", erkundigte sich Paul Morrow via Monitor. Das Bild war klar und ohne Störgeräusche. Alans Blick streifte flüchtig die sich im Schauer des Regens auflösende Welt jenseits der Frontscheibe, ehe er sich dem Controller zuwandte.
"Mistwetter", rutschte es ihm heraus.
"Aber immerhin haben wir eine Verbindung zur Basis", meinte John. "Paul, gibt es Informationen zu unserer Landestelle?"
"Commander, ich gebe Ihnen Sandra." Die Analytikerin rückte ins Bild.
"Commander, David hat mir gerade die aktuellen Auswertungen übermittelt. Was die unbelebte Welt angeht, ist der Planet anscheinend sicher. Die Luft ist atembar und frei von Giften, auch wenn die Temperaturen mit 30-35°C für unseren Geschmack etwas zu hoch sind. Die Luftfeuchtigkeit wird Ihnen zusetzen. Die Strecke, die Sie zu überwinden haben, ist abschüssig, Sie haben einen Hang vor sich, der felsig durchsetzt ist, der Boden ist aber wahrscheinlich glatt und aufgeweicht, was bedeutet, dass Sie beim Abstieg auf jeden Schritt Acht geben müssen. Die letzte Strecke ist eben, es gibt allerdings Indizien auf sumpfigen Boden und Höhlen, die unter der Oberfläche liegen. Eventuell besteht Einbruchsgefahr. Prof. Bergman, das sollten Sie aber mit dem Scanner vor Ort feststellen können. In etwa eineinhalb Stunden sollten Sie die Castor erreicht haben. Was die belebte Welt angeht, muss ich Ihnen leider sagen, dass wir hier keine zusätzlichen Informationen haben. Der Planet strotzt vor Leben, aber wir können es ebenso wenig wie die Bordsysteme näher zuordnen. Gefahren stellen sich hier jedenfalls nicht explizit dar. Unnötig zu sagen, dass sie trotzdem vorhanden sein können. Tut mir leid. - Alan, das mit dem Mistwetter kann ich übrigens bestätigen. Es wird aber in der nächsten halben, dreiviertel Stunde etwas aufklaren."
"Gut", gab John zur Antwort, "dann können wir unseren 'Landgang' noch besser vorbereiten. Hört mir zu, ich möchte für alle Eventualitäten ausgerüstet sein. Der Adler bleibt hier, während alle Teammitglieder uns begleiten. Vielleicht kommt es auf jeden Einzelnen an. Falls ein rascher Abflug notwendig sein sollte, werden wir den Adler mittels Fernsteuerung zu uns holen. Wir führen im Marschgepäck alles mit, was für eine eigenständige Versorgung notwendig ist. Wir werden nichts zu uns nehmen, das von dem Planeten stammt, und statt dessen auf unsere Essens- und Wasservorräte zurückgreifen. Unser Ziel ist es, schnell herauszufinden, womit wir den Siedlern helfen können, diese Hilfe entweder zu leisten oder sie zu initiieren, falls möglich, und dann wieder zum Mond zurückzukehren. Für die gesamte Aktion möchte ich maximal 48 Stunden einberaumen." Er pausierte kurz. "Wir müssen Captain Yonwin vertrauen."
Die Gruppe brach auf, als der Regen als letzten Gruß in ein feines Nieseln übergegangen war und schließlich von einem schwülen, böigen Wind davon getragen wurde. Dampfende Hitze stieg von den Felsen auf, und die Menschen standen bis zu den Waden in einem wabernden Nebelteppich, der über den Boden kroch, sich an Felsblöcken vorbei schlängelte und sich schließlich an einem Abhang in die Tiefe stürzte, um sich in zerrissenen Fetzen an Vorsprüngen und an niedriges Gewächs zu klammern.
Die Alphaner, die in voller Montur und mit überfüllten Rucksäcken bepackt aus dem Adler getreten waren, erkannten sogleich, dass sie zu warm gekleidet waren, und entschlossen sich, die obersten Kleidungsschichten abzulegen. Überjacken und langärmelige Uniformoberteile mussten weichen, übrig blieben ärmellose Tops. Helena verbot ihnen das Hochkrempeln der Hosen mit dem Hinweis, dass der Stoff zumindest ein geringer Schutz gegen Angreifer aus Bodenhöhe darstellte.
Sie sahen nicht, wohin sie traten, und so waren die ersten Schritte in der fremden Welt von Lathan unsicher und voller Konzentration, bis Wind aufkam, der den Nebel energisch aufschaufelte, ihn hochwirbelte und in einer zerstiebenden Wolke feinsten Dampfes verschwinden ließ.
Sie standen auf schieferartigen, grau-grünen Felsplatten von beachtlichem Ausmaß, zwischen deren Ritzen sich niedrige fleischige Blattkonstruktionen wie in einander verhakte Kronen verkrallt hatten und sich in einem schwermütig schillernden dunklen Grün, das durchsetzt war von schwarz-violetten gefiederten Adern, nach dem dämmrigen Licht des Tages streckten.
In der Ferne breitete sich düsteres Land aus, soweit das Auge reichte, das hügelig durchsetzt war und in der Trübheit keine Einzelheiten erkennen ließ. Hinter ihnen erhoben sich nach wenigen hundert Metern die felsigen schiefergrünen Formationen einer abstrakten, abwegigen Welt, die vom rauchigen Nebel, hingezaubert von einem Wettergott mit Sinn für Ästhetik, geheimnisvoll verschleiert wurden.
Victor kontrollierte die Gegend mit seinem Scanner. Die Messdaten gingen unter in einem gleißenden Durcheinander von millionenfachem Leben, von Milliarden von eifrig tätigen Nervenpotenzialen, sodass er entmutigt die Funktion außer Kraft setzte und eine Standardmessung durchführte.
"So sieht dieser Planet sehr harmlos aus", sagte er mit einem entschuldigenden Lächeln. "Zumindest habe ich hier nach wie vor keine bedrohlichen physikalischen oder chemischen Erscheinungen."
"Das muss uns genügen", erwiderte John und ging voran. "Haltet eure Ohren und Augen offen. Keiner verlässt die Gruppe. Helena, du bleibst in meiner Nähe. Peterson, Sie machen die Nachhut." Die Menschen setzten sich in Bewegung. Alan gesellte sich zu John an die Front, ihm folgten Helena und Victor, die sich leise über die Informationen seines Scanners austauschten, und als letzter kam Carl Peterson, den Blick wachsam in alle Richtungen schwenkend und die Hand griffbereit an der Waffe.
Das Ende des Plateaus war gleich erreicht, und die Gruppe musste sich an den von Sandra angekündigten Abstieg machen. Es zeigte sich, dass er nicht sehr steil war und das Fortkommen einzig erschwert wurde von regennassen Steine und matschigem, glitschigem Erdreich. Auch hier wuchsen dieselben Pflanzen wie auf dem Plateau, jedoch nicht nur, dazwischen zeigten sich andere Gewächse wie geschlängelte, dem Geäst der Korkenzieherhasel ähnliche, blassgrüne zähe Ranken, die sich wirr in die Luft bohrten, eigentümliche Düfte absonderten und klappernde Geräusche von sich gaben. Von der Anwesenheit der Besucher aufgeschreckt, neigten sie sich ihnen zu, aufgeregt klappernd und schnatternd, und es wirkte wie das Dorfgetratsche einer Horde von Waschweibern, die das Erscheinen eines Fremden im Dorf untereinander kommentierten.
Die Alphaner wichen den Pflanzen besorgt aus und hofften, hier mit ihrer Anwesenheit nicht gerade Abwehrmaßnahmen gegen sie initiiert zu haben.
Eine andere Sorte von Gesträuch jagte ihnen einen beträchtlichen Schrecken ein, denn es wirkte anfangs so unscheinbar, dass sie sie kaum wahrgenommen hatten. Am Boden befanden sich nur unspektakuläre graue Hügelchen, auf die zu treten sie vermieden, jedoch, als ihnen Alan zu nahe kam, schnellte vielfach meterlanges Blattwerk in die Luft, entrollte sich aus seiner schlafenden Stellung am Boden, und Blätter wie von Schwertlilien schwangen silbrig durch die Luft, um sich sogleich um den Piloten zu schlingen, ihn mit vielen Fingern sekundenlang festzuhalten, um dann, als sähen sie ihren Irrtum ein, von ihm abzulassen, schmeichelnd von ihm herabzugleiten und sich zurück in die Ruheposition zu rollen.
"Das fühlt sich gar nicht so schlecht an", bekannte Alan mit einem schelmischen Grinsen, aber erst, nachdem der erste Schrecken gewichen war, "so, als ob man gestreichelt wird. Kann ich sehr empfehlen!" John warf dem wieder in Schlaf verfallenen Grünzeug einen nachdenklichen Blick zu. Lausiger Ersatz, dachte er, für die Intimität, die man mit einer Frau teilen konnte. Helenas Anwesenheit jagte ein Prickeln über seinen Rücken. Er fühlte sie hinter sich, so nah, so greifbar, und sein Herz schlug wie wild. Wie konnte er sie so spüren, wenn sie ihm so fern war? Wie konnte er zornig auf sie sein, wenn alles, was er sich wünschte, war, mit ihr zusammen zu sein? Wie konnte sie so distanziert bleiben? So ungerührt, so - so bedürfnislos, nach Nähe, nach geteiltem Leid, nach, ach, nach allem, das den allgegenwärtigen Schmerz erträglich machen konnte.
Mit einem Ruck zwang er sich, wieder in die Realität zurückzukehren. Er ärgerte sich über seinen unkontrollierten gedanklichen Ausflug. Es gab eine Zeit für alles. Jetzt jedenfalls konnte jede Ablenkung von der aktuellen Situation den Tod bedeuten! Wütend schritt er voran, den Blick nach vorne gerichtet.
Helena folgte John. Sie schwitzte, als ränne sie aus allen Poren aus, und die Gurte des Rucksacks schnitten ihr in die spärlich bedeckte Schulter. Sie lupfte die Last auf ihrem Rücken, um das Gewicht ein wenig umzuverteilen, jedoch landeten die Riemen der Schultergurte wieder an derselben Stelle und versenkten sich brennend in ihr Fleisch. Vor ihr wechselte John plötzlich in eine raschere Gangart. Sie seufzte und versuchte, Schritt zu halten, ohne selbst Opfer von Alans Wickelpflanzen zu werden oder angespuckt zu werden von einem anderen braungrünen Gewächs, das Störenfriede mit einer schmerzhaften Salve von dunklen kaffeebohnenartigen Samenkörnern beschoss, die zu allem Überfluss wie Kletten auf der Kleidung und der Haut kleben blieben. Neben ihr war Victor abwechselnd damit beschäftigt, dem Kauderwelsch seines wie gedopten Scanners einen Sinn abzuringen und andererseits darauf zu achten, wohin er seine Füße setzte - mit dem Erfolg, dass er bereits zweimal von pflanzlicher Wickelliebe umfangen worden und überdies mit einer Unzahl von klebrigen Kaffeebohnen übersät war, die wie schwarze Riesenzecken an ihm hafteten.
"Victor, denkst du ernsthaft, dass du deinen Scanner jetzt dazu bringen wirst, mit aufschlussreichen Daten aufzuwarten?", fragte sie ihn belustigt, als er, erneut unter Beschuss stehend, die Zähne schmerzlich zusammenbiss.
"Du weißt natürlich, dass du Recht hast", gab er zur Antwort und ließ den Apparat sinken, "aber dies alles ist so faszinierend, dass ich unbedingt dahinter kommen will!"
"Du wirst später auch noch Gelegenheit dazu haben", antwortete sie lächelnd und blinzelte. Schweiß brannte ihr in den Augen, und sie wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Die Luft war übersättigt von Feuchtigkeit wie in einem türkischen Hamam.
"Wer weiß", erwiderte Victor, während er unbeirrt an den Einstellungen seines Gerätes herumdrehte. "Je eher ich dahinter komme, umso besser."
Vor ihr blieb John unerwartet stehen. Helena rempelte ihn fast von hinten an. Sie blieb mit dem Gesicht nur Millimeter hinter seinem Rucksack stehen.
"Was ist los?", wollte sie wissen und versuchte, an ihm vorbei nach vorne zu spähen. Als sie nichts sah, begab sie sich an seine rechte Seite. Sie merkte, dass sie ihn, selbst ärmellos, mit dem Ellbogen am nackten Arm berührte. Es war Zufall, aber in ihr kribbelte es wie verrückt, und sie verharrte, bewegungslos. Es sollte andauern. Eine Ewigkeit lang. Der Moment war aber nicht mehr als nur ein unbedachtes Flackern der Zeit, kaum eingetreten, schon vorüber.
"Seht euch das an!", hörte sie John sagen, der, aufgeregt mit der rechten Hand nach vorne deutete. Der Kontakt war weg. Besser so, dachte sie. Sie war nicht dazu bereit, wollte nicht darüber nachdenken. Es war leicht, nicht daran zu denken. Ihr Blick fiel auf das Gebilde, das Johns Aufmerksamkeit erregt hatte.
Wie Fremdkörper ragten bläulich-weiße durchscheinende, eiszapfenartige Strukturen vor den Füßen des Commanders in die Luft, ein Büschel von schimmernden kleinen durchsichtigen Schwertern, nicht höher als zwanzig, dreißig Zentimeter, sprossen heraus aus dem Schmutz und der Unvollkommenheit der braunen Erde. Selbst makellos. Als hätte kein Regenguss sie je benetzt, keine Windböe sie je gebeutelt, nichts Unreines sie je berührt. Sie leuchteten aus sich heraus, aus dem Innerern, aus eigener Kraft und eigenem Ansinnen, als gäbe es nichts anderes auf der Welt, nur sie selbst und ihr heller Schein. Man wollte sie berühren.
John beugte sich hinab, fasste sie jedoch nicht an, einerseits, weil es ihm unklug erschien, etwas derart Unbekanntes zu berühren, andererseits, weil es ihm wie ein Frevel vorkam, das Vollkommene mit einem Handgriff zu zerstören. Er fühlte Ehrfurcht.
Victor drängte sich nach vorne, zielte mit dem Scanner darauf und erntete eine schallende Flut von neuronaler Aktivität in der Anzeige.
"Ja, also", sagte er nach einer Weile. "Sieht so aus, als könnte ich mit diesen Messdaten im Augenblick nichts zur Erleuchtung beitragen."
"Welche Daten bekommst du mit der Standardeinstellung?", erkundigte sich Alan, die blauen Spieße intensiv im Visier.
"Kohlenwasserstoffe", erwiderte Victor, "gitterartige Strukturen und Molekülketten, die man, nach allem, was ich weiß, lebenden Organismen zuordnen würde. Grob gesagt."
"Helena?" Sie nahm die Daten des Wissenschaftlers in Augenschein.
"Sieht so aus", war ihr Urteil. "Ich kenne die meisten Verbindungen nicht, aber wenn ich mir die Molekülstrukturen anschaue, haben sie verdächtige Ähnlichkeit mit jenen, aus denen wir gemacht sind. Aminosäuren, Zuckerketten, Lipide. Es könnte sich durchaus um eine Alternative zu unserem molekularen Aufbau handeln. Um mehr zu erfahren, bräuchten wir allerdings wesentlich mehr Zeit und die Systeme auf Alpha. Ich schlage vor, die Daten zum Mond zu schicken. Unsere Leute sollen versuchen, daraus klug zu werden. Und vielleicht können uns ja auch die Siedler etwas darüber erzählen."
"Es scheint so überhaupt nicht hierher zu passen", meinte John nachdenklich. "Als wäre es vom Himmel gefallen."
"So wie wir", ließ sich Carl verlauten, der gemeinsam mit den anderen das Gebilde umringte. Ein sanfter, fast pulsierender Schimmer ging davon aus.
"Wir können nicht hier bleiben", meinte Alan nach einer Weile.
"Richtig", sagte John, "wir sollten jetzt an unsere Mission denken."
Es zeigte sich, dass das Gebilde nicht einzigartig war. Wenig später begegnete ihnen ein weiteres, größeres dieser seltsamen, wie deplaziert wirkenden Kunstwerke. Und danach begannen sie, sich zu häufen.
Immer größere Strukturen ragten in
den Himmel, immer imposanter waren sie, und immer beeindruckender.
John ahnte, dass von ihnen eine Macht ausging, die er mit seinen begrenzten
Kenntnissen nicht ermessen konnte, nicht einmal vage abschätzen, aber es
spielte keine Rolle, denn diese Gebilde waren nicht Teil seiner Aufgabe. Sein
Ziel war es, den Menschen, die sich hier niedergelassen hatten, die Hilfe zu
bieten, um die sie gebeten hatten. Dazu mussten sie erst erreicht werden.
Vorbei an einer Vielzahl von in die Luft ragenden Gruppen von eisartigen Spießen, die im seltsamen Kontrast zu einem Wald aus bunten, pilzartigen Bäumen standen, die sich wie überdimensionale, aufgespannte und vom Wind umgestülpte Regenschirme in den wolkenverhangenen Himmel streckten, bahnte sich die Gruppe ihren Weg zum Ziel. Es gab keinen Pfad, kein Zeichen dessen, dass sich hier schon einmal Menschen aufgehalten hatten. Vielleicht waren Captain Yonwin und seine Leute erst kurz auf Lathan.
Die Bohnenschießer-Pflanzen waren einer anderen Spezies gewichen, mit schillerndem, gefächertem Blattwerk, an dessen Enden dünne lange Fäden hingen, die propellerartig hervorschossen und sich um ihre Ziele wanden. Dieses Gewächs war nicht mit dem Boden verhaftet, es benützte seine Lassos, um sich an den Stämmen der Riesenpilze hinaufzuarbeiten, wo es in vielfacher Ausfertigung von der Unterseite der Schirme herabbaumelte und wie zu einem Willkommensgruß mit seinen Fächern wedelte.
"Wir hätten ein paar Biologen mitbringen sollen", meinte Alan, während er eine Spießgruppe vorsichtig umrundete. "Die würden auf der Stelle in Ekstase verfallen!"
"Stimmt", sagte Helena, "es ist auch faszinierend. Aber wir sind aus einem anderen Grund da. Sagt mal, wie kommt es, dass wir hier keine Tiere sehen?"
"Vielleicht gibt es keine?", mutmaßte Alan.
"Vielleicht verstecken sie sich vor uns?", war Carls Antwort.
"Vielleicht sehen wir sie nur nicht, weil uns ohnehin alles so fremd ist", sagte John.
"Vielleicht sind diese Lasso-Dinger keine Pflanzen sondern Tiere?", schlug Victor vor. "Wie ihr wisst, kann ich es leider nicht herausfinden." Er schüttelte bedauernd den Kopf, nicht ohne wieder einmal die Sensoren auf die Pflanzen zu richten und ein lautes Durcheinander aus Aktivität zu ernten.
Der kurze Gedankenaustausch hatte jedenfalls zur Folge, dass jeder nun nach tierischem Leben Ausschau hielt, und bald kam die Gruppe zum Schluss, dass es wohl nicht so leicht war, auf Lathan zwischen Fauna und Flora zu unterscheiden. Dinge, die wie Pflanzen aussahen, konnten leicht Tiere sein, und umgekehrt. Möglicherweise gab es aber auch überhaupt keine Tiere, denn keines der in Frage kommenden Lebewesen war eindeutig mit Sehapparat, Ohren, Nase oder Maul ausgestattet. Entweder waren die Organe versteckt oder für menschliche Augen als solche nicht zu identifizieren. Auch Victors Standardeinstellung des Scanners kauderwelschte hilflos vor sich hin, bot allerhand organische Verbindungen und leitete davon denkbare Strukturen ab, war aber alles in allem wenig hilfreich.
"Verbesserungswürdig", schloss Alan nach einem Blick auf das vor Fragen strotzende Display. "Im intergalaktischen Vergleich hinken wir ordentlich hinterher!"
"Dabei ist das hier schon unsere Superstar-Version", merkte Victor mit zusammengekniffenem Mund an.
"Wie dem auch sei, ich nehme an, dass uns die Siedler etwas mehr Information dazu geben können", schloss John, "immerhin leben sie im 25. Jahrhundert."
"Denken Sie, sie könnten uns am Ende auch helfen?", erkundigte sich Carl beim Commander. Dieser seufzte vernehmlich und warf dem Sicherheitsdienstmann einen ernsten Blick zu.
"Ich möchte nicht so weit gehen, diese Hoffnung zu haben", gab er zur Antwort. "Ich weiß, diese Frage ist nahe liegend. Wenn es wirklich Menschen von der Erde sind, sollte man von ihnen nicht erwarten, dass sie uns unserem Schicksal überlassen werden. Aber bislang wissen wir zu wenig über ihre Lage und über ihre Intentionen. Ich möchte einen Schritt nach dem anderen machen und dabei keine zu großen Erwartungen haben." Carl senkte den Blick, und John wusste, dass der junge Mann große Hoffnungen gehegt, sich wahrscheinlich sogar das Unmögliche gewünscht hatte, wieder in ihre Heimat, in ihre Zeit, zurückkehren zu können. "Kopf hoch, Carl!", sagte er. "Wer weiß, ob es immer so günstig ist, wenn einem das Schicksal seine Wünsche erfüllt." Und dasselbe gilt für mich auch, dachte er grimmig und schritt eilig voran.
Der Weg war schließlich nur wenig länger, als es Sandra am anderen Ende des Universums, vielleicht am anderen Ende aller Welten, geschätzt hatte.
Die Gruppe gelangte auf eine Ebene, der deutlich anzusehen war, dass man sie künstlich geschaffen hatte. Stümpfe von geschlagenen Schirmbäumen ragten vergilbend und zerfallend aus der niedergetretenen Erde heraus, Ballen von totem Waschweibergeäst kugelten wie Steppenläufer über die ebene, verlassene Fläche, und direkt vor ihnen wurde nach Verlassen des Waldes der Blick auf eine Gruppe von mehreren Gemäuern eindeutig menschlichen Ursprungs frei. Unschwer erkennbar, es handelte sich um ein kleines Dorf. Jedoch konnte nicht darüber hinweg getäuscht werden, dass diese Dome noch Rohbauten waren, nicht fertig gestellt. Teilweise fehlten Türen und Fenster, nur offene Löcher luden zum Eintreten ein. Manche der Dome waren nur zu einem Bruchteil fertiggestellt, hatten lediglich ein Fundament, oder es war nicht mehr als ein Teil der Wand hochgezogen. Auf jeden Fall waren sie unbewohnt, und menschenleer. Alan stand in der Mitte des Bauplatzes, drehte sich einmal langsam um seine Achse und stemmte dann beide Hände in die Hüften.
"Ich kann mir nicht helfen, aber für mich sieht das so aus, als wäre diese Baustelle schon lange nicht mehr betreten worden", sagte er. "Seht euch das an. Überall fangen die Pflanzen an, hervorzuwachsen, und wenn mich dieses Junggemüse hier überall nicht täuscht, haben unsere Kaffeeklatscher vor, an dieser Stelle ihr Hauptquartier einzurichten. Die haben sich zuhauf hier angesiedelt! Eine aktive Baustelle sieht anders aus!"
Carl schaute sich um.
"Zwanzig, fünfundzwanzig", sagte er, "mehr sind es nicht. Die Siedlergruppe muss recht klein sein, wie es scheint, wenn sie mit so einem winzigen Dorf auskommen will. Außer es gibt mehrere Niederlassungen."
"Das halte ich für unwirtschaftlich", entgegnete John. Er hatte, wie alle anderen auch, seine Wasserflasche hervorgeholt und nahm einen großen Schluck. "Es sei denn, dieser Bauplatz stellte sich als nicht geeignet heraus, und die Leute fingen an einer anderen Stelle von vorne zu bauen an."
"Genauso unwirtschaftlich", hielt Helena dagegen. "Das müsste schon bedeuten, dass sie nicht sorgfältig vorgeplant hätten."
"Oder mit einem unüberwindbaren Hindernis an dieser Stelle konfrontiert wurden", schlug Victor vor. Die Übrigen nickten.
"Aber wo ist die Mannschaft der Castor?", wollte John wissen. "Sie müssten wohl mittlerweile damit rechnen, dass wir auftauchen." Er ging ein paar Schritte, warf einen Blick in eine der leeren, unvollständigen Behausungen und rief dann die anderen herbei. "Seht einmal her. Hier sind schon wieder Spieße. Sie wachsen aus dem Boden heraus, und das mitten im Haus!" Die übrigen kamen hinzu und musterten das bläulich leuchtende Büschel aus eiszapfenartigen Strukturen.
"Vielleicht waren diese Dinger hier das Problem. Sie waren möglicherweise die Ursache, dass man sich ein anderes Areal aussuchen musste, um die Niederlassung zu errichten." Victor war in die Hocke gegangen, um die seltsamen Erscheinungen ganz aus der Nähe zu betrachten. "Das ist nicht nur irgendwas", sagte er schließlich, ohne den eindringlichen Blick davon zu wenden, "das ist etwas Wichtiges, das man nicht nur einfach ignorieren kann!"
"Ganz deiner Meinung", gab John zur Antwort, "Victor, und deshalb möchte ich nicht, dass jemand von uns die Spieße auch nur anrührt. Wir nehmen keine Proben davon, machen am besten einen großen Bogen darum. Ich möchte hier nichts riskieren, insbesondere dann nicht, wenn keine Notwendigkeit dazu besteht." Alle nickten im Einverständnis mit dem Commander. "Gehen wir weiter, die Castor muss, den Anzeigen zufolge, ganz in der Nähe sein. Dort wird man uns schon erwarten." Sie machten sich daran, das unfertige Dorf wieder zu verlassen.
Es war gegen Mittag, die Hitze und die Feuchtigkeit der Luft hatten einen neuen Rekordwert erreicht, und die Mitglieder des Hilfstrupps waren schweißgebadet. Der Himmel sah aus wie ein bleischwerer schwarz-lila Rührteig, düster und grimmig hing er sonnenlos über ihren Köpfen und tauchte die Welt in feindseliges, feucht-hitziges Zwielicht. Der Boden dampfte, und Nebel, der aussah, als wären Kumuluswolken auf den Boden gefallen, zog über die Ebene. Die Sicht in den Nebel war quasi gleich Null, kaum zweihundert Meter hinter den halb fertigen Gemäuern baute sich die erste Front auf wie ein blubbernder Hexenkessel und wogte in die Richtung, aus der die Alphaner gekommen waren.
Helena blieb stehen, ächzend unter der Last ihres schweren Rucksacks.
"Seid ihr sicher, dass wir dort hinein müssen?", wollte sie, wenig begeistert, wissen. Victor nickte bedauernd.
"Ja, allerdings. Die Castor ist nicht mehr weit weg, und soweit ich sehen kann, verbergen sich dort keine - zumindest keine unbelebten - Gefahren."
"Dein Wort in Gottes Gehörgang!", erwiderte Alan, der Nebel nicht mochte, nahm sich ein Herz und verschwand als Erster darin. "Ist das eine Suppe hier drinnen", ließ er verlauten, "man sieht die Hand vor den Augen nicht!"
"Bleibt zusammen", sagte John, "ich will keinen von uns hier verlieren, zumal wir euch nicht orten können."
In der Tat war es, als ob man blind wäre. Helena sah John, der direkt neben ihr stand, nur noch schemenhaft. Sie hätte gerne seine Hand genommen, doch die Auseinandersetzung, die sie und er in seinem Büro gehabt hatten, stand zwischen ihnen wie eine unsichtbare Glaswand, und eine vertrauliche Geste wie diese war schlicht nicht möglich. Sie hatten beide die Angelegenheit nicht mehr angesprochen, auch wenn sie natürlich wussten, dass sie noch lange nicht ausgestanden war. Sie verhielten sich im Umgang miteinander professionell, nicht kühl, aber deutlich distanziert. Sie wollten beide nicht, dass die Unstimmigkeiten zwischen ihnen den anderen auffielen, und wirkten so wohl wahrscheinlich nach außen hin ganz normal. Helena selbst fühlte sich unsicher und ambivalent. Nicht in der Sache um Sue Crawford, sie wusste, was sie getan hatte, und warum, und konnte dies sich und vor allem John gegenüber vertreten. Es war aber nicht schön, diese Verbundenheit, die sie im Umgang mit dem Commander zu schätzen gelernt hatte, verloren zu haben, es war, als wäre sie auf weiter Flur wieder alleine und auf sich gestellt. Sie wünschte sich, dass er den ersten Schritt tat und ihre Hand einfach nahm. Sie würde sie ihm nicht entziehen, aber selbst konnte sie es nicht tun, weil sie nicht sicher war, was in ihm vorging, und sie es nicht auf eine Zurückweisung ankommen lassen wollte. Je früher sie die Sache regelten, umso besser. Ihre innere Desorientierung verstärkte sich mit dem Gefühl, durch das Nichts zu waten.
Schwitzend blieb sie in seiner Nähe, darauf bedacht, seinen Schatten nicht aus den Augen zu verlieren.
Victor hatte die Leitung übernommen. Er benützte seinen Scanner als GPS und dirigierte die Gruppe in die Richtung der von Captain Yonwin angegebenen Koordinaten. Seine Gedanken schweiften trotz der Anspannung ab. Irgendetwas stimmte mit John und Helena nicht. Es war so wie mit den Dingen, die man nur aus dem Augenwinkel wahrnehmen konnte. Blickte man direkt hin, sah man sie nicht. Sie wirkten beide unauffällig, auch im Umgang miteinander, aber irgendetwas fehlte, irgendwo gab es einen Haken. Die Sache beschäftigte ihn, bis es ihm endlich einfiel, woran es lag. John war ein sehr physischer Mensch, sehr taktil, und fasste gerne alles an. Ein freundschaftliches oder aufmunterndes Schulterklopfen sagte aus seiner Warte mehr als tausend Worte, bedeutete Anteilnahme und beinhaltete die Botschaft, dass er notfalls da war. Victor hatte nicht gesehen, dass er Helena seit Beginn der Rettungsmission ein einziges Mal berührt hatte. Nicht, dass er ihr absichtlich auswich, aber bei einem so körperlichen Menschen wie John fiel es auf, dass er ihr nicht mehr nahe kam. Sie gab sich Mühe, sich nichts anmerken zu lassen, aber Victor hatte, wenn sie sich unbeobachtet wähnte, gesehen, dass es ihr weh tat. Er wusste nicht, ob er sich einmischen sollte, fühlte aber großes Unbehagen bei dem Gedanken, sich in einer Angelegenheit einzuschalten, die außerhalb seines Zuständigkeitsbereiches lag, ja, schlimmer, eine Sache nur zwischen John und Helena war. Er entschloss sich, sicherheitshalber abzuwarten.
Über ein stoppeliges Feld, auf dem niedrige, federartige Pflanzen wie Gras zu wachsen begonnen hatten, kamen die Alphaner nur langsam vorwärts, stolperten immer wieder über Regenschirmbaumstümpfe und machten einen Bogen um die schon bekannten Büsche und die Spießgruppen, die auch jetzt wieder beträchtlich an Größe zunahmen. Manche waren höher als die Menschen, flimmerten bläulich in der Nebelwand und übten hier, wenn möglich, sogar noch größeren Zauber auf die Gruppe aus als zuvor in der klaren Umgebung. Immerhin lichtete sich der Nebel nach einer gewissen Zeit, aus kaum ersichtlichen Umrissen wurden wieder die Mitglieder der Rettungsmission, und bald schon schimmerte das dunkle Violett des finsteren Himmels durch das Dach des weißen Dunstes.
"Ob hier auch mal die Sonne scheint?", keuchte Alan mit Blickrichtung in den Himmel.
"Denkst du, es würde dadurch kühler werden?", erkundigte sich Carl.
"Der Punkt geht an dich", sagte Alan grinsend und blieb stehen. "Seht ihr, was ich sehe?" Tatsächlich ragte vor ihnen, noch undeutlich und verschwommen, ein großes, domartiges dunkles Gebilde in die Luft.
"Das ist entweder die Castor oder etwas, mit dem ich nichts zu tun haben möchte", erklärte der Pilot und versuchte, zwischen den Nebelfetzen Einzelheiten auszumachen.
"Jedenfalls liegt es genau auf den richtigen Koordinaten", informierte ihn Victor. "Ich denke, wir sind angekommen." Alan blickte sich um.
"Nun ja, dann sollte langsam mal das Empfangskomitee antanzen." Die letzte Kommunikation mit Captain Yonwin hatte noch im Adler stattgefunden, wo er die Landung bestätigt und versichert hatte, dass den Alphanern auf ihrem Weg keine Gefahren drohten. Mit seinem Bedauern, ihnen niemanden entgegen schicken zu können, hatte er die Verbindung unterbrochen.
"Schön langsam wundert es mich nicht, dass Yonwin niemanden abstellen konnte, uns abzuholen", meinte John, "es scheint ja niemand da zu sein."
Aus dem sich rasant lichtenden Nebel schälte sich die Castor, die ein enorm großes Schiff war, wie eine Kathedrale wirkte, schwarz, glänzend, mit umrankten Luken, Bögen und Ausbuchtungen, die wie gotische Erker aussahen.
Die Alphaner blieben wie
versteinert davor stehen und starrten auf das Schiff. Es war vielfach wie von
Dolchen durchbohrt, riesenhafte eisblaue Lanzen hatten es, aus dem Boden
kommend, kreuz und quer aufgespießt, und selbst an der höchsten Stelle der Castor,
die einem vielstöckigen Bauwerk entsprach, ragten Schwerter wie im aggressiven
Triumph aus dem schwarzen Metall heraus. Sie schienen es mühelos durchdrungen
zu haben, als wären sie wie brennend heiße Nadeln durch Butter gerutscht und
hätten einfach weggeschmolzen, was ihnen im Weg gewesen war.
"Heiliger Bimbam!", entfuhr es Alan."Die haben echt ein
Problem! Scheint ganz gut gewesen zu sein, dass wir den Spießen nicht zu nahe
gekommen sind!"
Es war imposant, überwältigend, wie ein überdimensionales Kunstwerk, das die Unterlegenheit des Menschen deutlich machte. Ein Mahnmal.
"Vielleicht hat es ihnen nicht gefallen, dass hier alles abgeholzt wurde", mutmaßte Helena und deutete auf die Fläche hinter sich. Carl ging vorsichtig ein paar Schritte näher an die Castor heran. Die Schiffshaut wirkte wie Lack und war ansonsten unversehrt. Das Schiff ruhte auf ziselierten schwarzen Plattformen, die über die Außenhülle hinausreichten und nun teilweise von Erde überdeckt waren. Gefiedertes Gras hatte begonnen, darüber zu wachsen. Carl ging entlang der Außenhülle nach links und verschwand hinter einer der Ausbuchtungen.
"Kommt mal her!", hörte man ihn rufen. "Hier ist ein Eingang!"
Die Gruppe folgte ihm geschlossen, und tatsächlich kam hinter der Kurve ein nach innen versetzter Eingang zum Vorschein. Er war über eine niedrige Rampe zu erreichen und stand erstaunlicherweise offen. Umgeben war er von einer Reihe nach innen hin kleiner werdender Archivolten, die spitz nach oben ausliefen und dem Portal einen erhabenen, geradezu historischen Eindruck gaben.
"Die Gotik", sagte Victor beeindruckt. "In der dazu gehörigen Welt scheint es eine Art Renaissance des Baustils zu geben. Von allen Möglichkeiten nicht die schlechteste." Er betrat die Rampe und näherte sich dem Portal. Wieder machte er einen Messversuch mit seinem allgegenwärtigen Scanner.
"Es ist sehr eigenartig", sagte er. "Während im Adler völlig normale Messungen möglich waren, scheint dies hier nicht der Fall zu sein. Auch hier überschlagen sich die Lebenssignale."
"Victor, wir sollten vorsichtig sein", warnte ihn John. "Ich möchte das Schiff nicht ohne ausdrückliche Einladung betreten."
"Du hast ja Recht", sagte Victor und blieb im Eingang stehen. "Wenn ich das nicht alles so faszinierend finden würde. Hinter dem Portal befindet sich eine Halle astronomischen Ausmaßes. An der Decke sind Kreuzgewölbe, und von irgendwo fällt eine Fülle von Licht in das Foyer. Man sieht seitlich auf mehreren Stockwerken Bogengänge. Mitten durch die Halle gehen etliche blaue Spieße, die die Halle in ein mystisches blaues Licht tauchen. Es ist wunderschön." Er kehrte um und gesellte sich wieder zur Gruppe. John blickte sich um.
"Gut, dann kontaktieren wir wieder Captain Yonwin, wenn sich hier niemand zeigt." Als er sah, wie neben ihm Helena und Alan aufatmend die Last in Form ihres Marschgepäcks von sich warfen, und die Rucksäcke auf der Rampe ablegten, tat er es ihnen gleich, genauso wie Victor und Carl. Dann nahm er seinen Commlock vom Gürtel.
"John!" Victors alarmierter Ruf ließ ihn aufblicken. Der Wissenschaftler schaute in die andere Richtung, weg vom Schiff, zu einer Gruppe von Felsen, die etwa hoch in schiefrigem Grau über die Oberfläche hinausragten. Auf einem der Felsblöcke, nur etwa fünf Meter von ihnen entfernt, saß ein Mann und beobachtete sie. Als er bemerkte, dass er ihre Aufmerksamkeit geweckt hatte, erhob er sich.
Er wirkte distanziert, weder alt noch jung, und hatte ein markantes Gesicht, eine hohe Stirn, dunkle Augen, schwarzes, langes Haar, das straff zu einem Pferdeschwanz gebunden war, eine gerade, lange Nase, schmale Lippen, die er abschätzend geschürzt hatte, und ein energisches Kinn. Er wirkte, leicht von den letzten Resten eines nebeligen Hauches umwoben, bleich, fast ätherisch. Seine Kleidung war schwarz. Er trug eine enge, glänzende Hose, die an den Seiten mit einer Reihe von Schnallen versehen war, ein dazu passendes Oberteil, das an der Vorderseite gleichermaßen mit silbernen Schnallen besetzt war, flache Stiefel mit dicken Sohlen mit einer Reihe von silbernen Plättchen, die am Stiefelschaft aufgereiht waren, verziert. Über der Kleidung hatte er einen taillierten Mantel an, der offen stand und ein bordeauxrotes Innenfutter aufwies. Der Mantel flatterte leicht in der aufkommenden Brise.
"Kann ich Ihnen weiterhelfen?", wollte er wissen. Seine Stimme war schneidend. Froh, zumindest endlich auf ein menschliches Wesen zu treffen, ignorierte John den unfreundlichen Ton.
"Wir suchen Captain Adalgis Yonwin", gab er Auskunft.
"Wer will das wissen?", war die Gegenfrage. Verblüfft antwortete John.
"Ich bin Commander John Koenig." Ein misstrauischer Blick traf ihn.
"Wo kommen Sie her?" John tauschte einen verwunderten Blick mit Victor und Alan aus.
"Von Mondbasis Alpha."
"Also nicht von Eridan?"
"Nein. - Wo finden wir Captain Yonwin?"
"Sie sprechen mit ihm." John warf den anderen einen verblüfften Blick zu. Ihren Mienen nach zu urteilen, hatte er sich nicht verhört.
"Captain, wenn Sie es wirklich sind, dann müssten Sie wissen, dass wir vor etwa zweieinhalb Stunden miteinander gesprochen haben." Er erntete Erstaunen.
"Das kann nicht sein."
"Sie baten um Hilfe. Die Pollux hat ein Raumtor generiert, durch das wir zu Ihnen kamen. Sie gaben uns die Koordinaten Ihres Aufenthaltsortes, und nun sind wir da, um zu sehen, ob wir Ihnen in irgendeiner Form helfen können." Pause. Im Gesicht des Gegenübers arbeitete es. Schließlich nickte er.
"Die Castor, der Bordcomputer", sagte er zur Erklärung. "Das Schiff verfügt über meine Matrix, es ist im Besitz meiner Persönlichkeit und hat Sie offensichtlich in meinem Namen kontaktiert." John verlor langsam die Geduld.
"Brauchen Sie denn Hilfe?"
"Ich suche etwas", gab Yonwin zu. Sein Gesicht drückte Verwirrung aus.
"Worum handelt es sich denn?" Er schien in sich zu horchen.
"Ich weiß nur, dass ich es unbedingt finden muss."
"Glauben Sie denn, dass Sie es finden werden, wenn Sie nicht wissen, was es ist?", mischte sich Alan ein. Er spürte Ungeduld aufkeimen. Dieser komische Kauz war nicht nach seinem Geschmack. Yonwin nahm den Adlerpiloten ins Visier, als bemerkte er gerade, dass er anwesend war. Seine Miene war ablehnend, doch er machte sich nicht die Mühe, auf Alans Frage zu antworten.
"Haben Sie keine Information von Ihrem Bordsystem, dass wir kommen?", wollte John wissen.
"Sehen Sie nicht, wie es hier aussieht", war die gereizte Antwort. "Die Castor ist nur noch teilweise funktionsfähig."
"Captain Yonwin, ist etwas mit Ihnen passiert?", schaltete sich Helena ein. "Hatten Sie einen Unfall, der vielleicht für Ihren Gedächtnisverlust verantwortlich ist? Wenn Sie möchten, kann ich Sie untersuchen und behandeln. Ich bin Dr. Russell und auf Mondbasis Alpha fürs Medizinische Zentrum verantwortlich." Der Captain überlegte.
"Ich kann mich nicht erinnern, ob ich einen Unfall hatte", erwiderte er, "über der Vergangenheit liegt ein undefinierbarer Schleier, den ich mit meinen Gedanken nicht durchdringen kann, aber ich fühle mich gut. Also besteht keine Notwendigkeit, mich zu untersuchen. Vielen Dank für Ihr Angebot, Dr. Russell." Helena nickte. In Anbetracht dessen, dass der Mann aus dem 25. Jahrhundert stammte, konnte man es ihm nicht verdenken, dass er kein Vertrauen in eine aus seiner Sicht archaische Ärztin hatte. Mit einem Medicus aus dem Jahr 1603 hätte sie auch keine Freude gehabt und ihm nicht erlaubt, an ihr herumzudoktern.
"Fassen wir also zusammen", sagte John. "Erstens. Ihr Schiff wurde von blauen Lanzen durchbohrt und dadurch zum Teil defekt. Zweitens. Ihr Bordcomputer hat uns in Ihrem Namen aufgefordert, Ihnen zu Hilfe zu kommen. Drittens. Sie haben keine Erinnerung daran, was Ihnen geschehen ist, wissen aber, dass Sie auf der Suche nach etwas sind. Korrekt?"
"Lathanium", sagte Yonwin, offensichtlich, ohne John zugehört zu haben.
"Lathanium?", wiederholte Victor mit fragender Stimme.
"Die Lanzen, die in unserem Schiff stecken. Das Material generiert sich hier auf dem Planeten von selbst. Das war unsere Hoffnung und unser Plan." John verstand nichts.
"Was zu tun?"
"Lathanium abzubauen und industriell zu verwerten."
"Aber was ist es?"
"Wer sind Sie, dass Sie Lathanium nicht kennen?", erkundigte sich der Captain verwundert. John dämmerte es, dass der Mann wirklich nicht wusste, wer sie waren.
"Ihre Sensoren haben uns gefunden, obwohl wir uns in einer anderen Zeit, einem anderen Universum, als Sie befinden", sagte er. "Wir kommen aus einer Vergangenheit, in der das - Lathanium? - völlig unbekannt ist."
"Wie interessant, unser Computer scheint zu glauben, dass Sie uns trotzdem helfen können!" Der Captain war aufgebracht. "Aber was soll's. In meinem Gedächtnis ist so wenig zu finden, dass man fast glauben könnte, ich stammte ebenso wie Sie aus der Vergangenheit." John ignorierte das Lamento.
"Worum könnte es sich denn handeln, nach dem Sie suchen?", erkundigte er sich.
"Vielleicht nach Ihren Kameraden, Ihren Crewmitgliedern?", unterstützte ihn Alan hilfreich. Captain Yonwin griff sich an den Kopf. Er wirkte gequält.
"Ja. Nein. Ich weiß es nicht", war seine nicht eben nützliche Antwort.
"Aber Sie werden nicht allein hierher gekommen sein", wandte Helena ein. Er tat ihr leid. Sie stellte sich seine Situation schlimm vor.
"Natürlich nicht!", war die fast schroffe Antwort. "Es gingen zweiundvierzig Menschen an Bord. Sind sie nicht da?" Victor deutete in die Runde.
"Wir haben bis jetzt jedenfalls niemanden davon getroffen."
"Aber meine Frau..." Yonwin brach ab.
"Ihre Frau war auch am Schiff?", half John nach einer Weile nach, als er merkte, dass der Captain offensichtlich den Faden verloren hatte.
"Ja." Er wirkte abwesend. "Beryll. Sie muss hier irgendwo sein!"
"Vielleicht befindet sie sich im Schiff?"
"Ja, so wird es sein." Er wirkte beruhigt, was aber die Alphaner nicht dazu brachte, sich zu entspannen.
"Was hat es denn mit dem Lathanium auf sich?", hakte Victor schließlich nach. Captain Yonwin hatte keinerlei Anstalten getroffen, sich den Alphanern zu nähern, sie selbst waren ihm auch nur wenige Schritte entgegen gegangen. Von seiner Haltung, seiner gesamten Erscheinung, ging eine eindeutige Aufforderung, Distanz zu wahren, aus. Er wirkte kühl, unwillig, ja, fast ungehalten darüber, dass jemand gekommen war, um ihn zu stören. Die gleichzeitige Widersprüchlichkeit in der Persönlichkeit, die entstand durch seinen Gedächtnisverlust und sein dennoch arrogantes Auftreten, machte aus ihm einen Mann, von dem man nicht wusste, ob man ihn ablehnen oder bedauern sollte.
"Lathanium", sagte er, die Arme vor der Brust verschränkt, "das ist wie - Elektrizität. Hat man sie, ist eine Zeit ohne sie nicht mehr denkbar. Es ist die Basis eines jeglichen intelligenten Computersystems. In meiner Welt existiert nichts mehr, das ohne Lathanium funktionieren könnte. Es ist die Matrix für das Gehirn und Nervenleitsystem aller computergestützten Systeme und wird für hochpotente Speichermedien und spezielle ultraschnelle Leitungen in Verwendung genommen."
"Dann haben auch die Castor und die Pollux ein solches... Gehirn?", erkundigte sich Victor fasziniert. Ein knappes Kopfnicken. "Aber Captain, wenn Sie mir die Frage gestatten, was hat das alles mit Ihrer augenblicklichen Situation zu tun? Sie sagten, dass diese blauen Spieße Lathanium seien."
"Hier auf dem Planeten ist es ein natürlich vorkommender Rohstoff. Auf Eridan - auf allen anderen Welten - muss er künstlich hergestellt werden. Extrem teuer, extrem aufwändig, sehr heikel in der Produktion, und zudem ist die Weiterverarbeitung überaus kompliziert. An jedem Dekagramm von gebrauchsfertigem Lathanium muss ein speziell trainierter Mensch stundenlang arbeiten. Dabei werden Millionen Tonnen davon gebraucht. Eine automatische, maschinelle Bearbeitung ist nicht möglich, und überdies kann nicht jeder zum Spezialisten ausgebildet werden. Hier wächst der Rohstoff direkt aus der Erde heraus. Wir brauchen ihn nur noch zu ernten und sparen uns die gesamte Herstellung. Lediglich die Aufreinigung ist noch nötig." Das hörte sich ein wenig zu einfach an. Man brauchte kein Genie zu sein, um zu erkennen, dass hier auf dem Planeten etwas grob daneben gegangen war.
Helena trat einen Schritt nach vorne. Sie vermutete, dass die Arroganz Yonwins der verunglückte Versuch war zu demonstrieren, dass er die Sache trotz aller Geschehnisse im Griff hatte. Sie mochte ihn nicht, aber sein Schicksal, dass er kaum eine Erinnerung hatte, ließ sie nicht unberührt. Sie hatte Menschen gesehen, nach dem Krieg, deren Vergangenheit für immer im Dunklen geblieben war.
"Captain, haben Sie denn irgendwelche Anhaltspunkte zu dem Geschehen hier?" Er musterte sie mit fernem Blick.
"Was für ein eigenartiges Gefühl, über manche Dinge so perfekt Auskunft geben zu können, während andere aus dem Gedächtnis gelöscht scheinen", sagte er abwesend. Mit behandschuhten Fingern berührte er seine Stirn.
"Ich sehe, dass Sie in Not sind", meinte John schließlich, "auch wenn mir nicht ganz klar ist, was hier passiert ist. Vielleicht können wir zusammen mit den übrigen Crewmitgliedern herausfinden, was es war. Ich kann Ihnen auch anbieten, uns auf den Mond zu begleiten und von dort aus zu versuchen, Ihrer Amnesie auf den Grund zu gehen. Wenn ich es richtig verstanden habe, müsste die Pollux das Raumtor jederzeit für uns öffnen können." Er wehrte fast heftig ab.
"Nein, nein, Commander, ich muss hier bleiben. Ich muss etwas finden."
"Nun ja, solange wir nicht wissen, worum es sich handelt, werden wir Ihnen dabei kaum helfen können. Gestatten Sie uns denn zu versuchen herauszufinden, was auf dem Planeten geschehen ist?" Yonwin hob eine Hand.
"Tun Sie das", sagte er.
"Können wir uns frei bewegen?" Eine müde, ausladende Geste.
"Es ist hier sicher. Betreten Sie jedoch das Schiff nicht alleine. Es behandelt Fremde nicht immer zuvorkommend."
"Aber es hat uns doch selbst geholt!", wandte Alan ein.
"Das ist ein Grund, aber kein Hindernis. Nun muss ich Sie bitten, mich zu entschuldigen." Er kam auf sie zu, und automatisch wichen sie aus, als er an ihnen vorüber ging, die Rampe betrat und im Inneren des Schiffes verschwand.
"Was soll man davon halten?" Alan blickte ihm verblüfft nach. "Nicht gerade der klassische Notfall, würde ich sagen!" John wandte sich an Helena.
"Was denkst du von ihm?"
"Er hat offensichtlich Teile seiner Vergangenheit vergessen", erwiderte sie. "Ich kann, ohne ihn zu untersuchen und diverse Tests durchzuführen, nicht sagen, ob die Ursache organischer Natur ist oder ein psychischer Grund dafür vorliegt."
"Also könnte ein Unfall dafür verantwortlich sein?"
"Selbstverständlich. Ein Schädel-Hirn-Trauma mit Schäden in den entsprechenden Hirnarealen kann Störungen des Gedächtnisses bedingen. Eine dissoziative Amnesie wäre eine weitere Möglichkeit, die ohne physische Gehirnschäden ähnliche Phänomene verursachen kann. Ein sehr gravierendes, dramatisches Ereignis im Leben eines Menschen kann eine solche Amnesie auslösen, wodurch die traumatischen Ereignisse aus dem Gedächtnis ausgeblendet werden. Sie betreffen entweder einen gesamten Zeitraum oder selektive Erinnerungen. Es gibt noch weitere Ursachen wie eine Epilepsie, die sich ähnlich äußern können, aber, wie gesagt, Genaueres könnte ich nur sagen, wenn er es mir erlauben würde, ihn eingehend zu untersuchen." Sie machte eine Pause." Victor, hast du versucht, ihn zu scannen?" Der Wissenschaftler nickte verhalten.
"Hier sind keine verwertbaren Daten drauf", meinte er. "In der direkten Umgebung der Castor sind die Störfelder so enorm, dass sie sogar die Standard-Einstellungen der Sensoren beeinträchtigen."
"Könnte es am Lathanium liegen?", erkundigte sich Helena. Victor hob die Brauen.
"Nahe liegend. Nach allem, was wir jetzt über das Material wissen, kann es die Ursache dafür sein, warum unsere Messungen ein Datenchaos ergeben. Das Lathanium scheint eine enorme Aktivität in Form von elektrischen Impulsen und auch molekularen Veränderungen zu besitzen. Es ist ein höchst aktiver Stoff."
"Nun, dann sind wir womöglich wieder bei neuronaler Aktivität und einer Form von Gehirnleistung", sagte sie. Victor nickte nachdenklich.
"Das halte ich für wahrscheinlich. Wobei nicht gesagt werden kann, ob es eine Art von intelligenter Gehirnleistung ist oder sie nur genetisch oder vegetativ gesteuert funktioniert."
"Dann wenden wir uns an den Bordcomputer der Castor", meinte John entschlossen. "Wenn hier irgendwer etwas zu wissen scheint, dann er." Er aktivierte die Frequenz, mit der sie zuvor vermeintlich mit dem Captain des Schiffes gesprochen hatten.
"Castor, hier spricht Commander Koenig", meldete er sich. "Ich weiß nicht, ob Sie uns orten können, aber wir befinden uns jetzt direkt vor dem Schiff."
"Commander Koenig, hier ist die Castor. Ich kann Sie im Augenblick mit meinen Sensoren nicht erfassen. Wenn Sie hier sind, sehen Sie sicher, dass das Schiff schwer in Mitleidenschaft gezogen ist. Die Scanner und Bordsysteme funktionieren nur in einem sehr eingeschränkten Maße, was teilweise durch eine tatsächliche Zerstörung unserer Geräte und der Leitungen bedingt ist, andererseits aber auch durch die enorme Einwirkung großer Mengen des verunreinigten Lathaniums."
"Sie meinen das natürlich vorkommende Lathanium, das das Schiff aufgespießt hat?", präzisierte John.
"In der Tat", war die Antwort. "Es ist nicht kompatibel mit dem Lathanium unserer Systeme, weil diese sehr sorgfältigen Aufreinigungsprozessen unterzogen wurden. Stellen Sie sich eine riesengroße, katalogisierte und penibel geführte Bibliothek im Vergleich zu einer Lagerhalle desselben Ausmaßes vor, die bis unter die Decke voller Müll ist. Wenn unter dem Müll ein Buch ist, wird man es dort nicht finden. Die Müllhalde greift in bestimmten Bereichen auf unsere Bibliothek über."
"Sie sagten, dass Sie Schwierigkeiten damit haben, Ihre Crew zu finden. Unter den gegebenen Umständen wundert mich das nicht."
"Die Messdaten sind völlig unzuverlässig."
"Wir haben Captain Yonwin getroffen." Eine Pause.
"Gut. Er sagte Ihnen sicher, dass das Computersystem der Castor über seine Persönlichkeitsmatrix verfügt und daher traditionsgemäß im Namen des Captains auftritt."
"So ähnlich."
"Haben Sie außer Captain Yonwin weitere Crewmitglieder getroffen?"
"Bislang nicht", gab John zur Antwort. "Obwohl doch mehr an Bord gegangen sein sollen."
"Diesbezüglich liegen keine Daten mehr auf. Die Informationsspeicher sind zerstört. Es konnte auch nur ein Bruchteil der Persönlichkeitsmatrices gerettet werden."
"Wie viele haben Sie noch?", erkundigte sich Victor interessehalber.
"Zwei", war die Antwort, "obwohl klar ist, dass es mehr gab."
"Glauben Sie, es könnte uns gelingen, Ihre Systeme mit Ihrer Hilfe zu reparieren?"
"Nein, Professor Bergman. Sie haben weder die Kenntnis noch die geeigneten Vorrichtungen, um auch nur einen Teil der Systeme wiederherzustellen."
"Captain Yonwin sagte, es sei für uns ungefährlich, uns hier aufzuhalten. Allerdings warnte er uns davor, allein an Bord zu gehen."
"Solange Sie dem Lathanium nicht zu nahe kommen, sollte es draußen wie im Inneren des Raumschiffes gleichermaßen sicher sein. Wegen der starken Lathaniumkonzentration innerhalb der Castor würde ich Ihnen aber empfehlen, sich nicht zu lange im Schiff aufzuhalten."
"Wie sieht es mit Tieren und anderen Gefahren außerhalb des Schiffes aus?"
"Es gibt eine Tierart, die von der Mannschaft als Knochenbrecher bezeichnet wurde. Man sieht sie ab und zu über die Landschaft rollen. Die Tiere sehen aus wie totes Geäst. Wenn sie, im Boden verankert, meist in größeren Gruppen zusammenstehen, stellen sie für den Menschen eine Gefahr dar, denn dann erfüllen sie die Funktion von Wachhunden. Sie haben schon mehrere Crewmitglieder angefallen und eines getötet." Erschrocken warfen die Alphaner einander einen Blick zu.
"Die Waschweibergewächse", sagte Alan entsetzt. "Wir sind durch ein ganzes Rudel gegangen, ohne dass sie uns angegriffen haben!"
"Sehr ungewöhnlich", erwiderte die Castor."Sie hatten Glück!"
"Was bewachen sie denn?", wollte Carl wissen.
"Wer weiß? Auch ehe die Bordsysteme so sehr in Mitleidenschaft gezogen waren, stellte dieser Planet weitestgehend ein Rätsel dar."
"Gefährlich?"
"Nur Menschen mit speziellen Fähigkeiten, mit besonderen genetischen Anlagen, können hier auf lange Sicht überleben."
"Und Captain Yonwin und seine Leute gehören dazu?"
"Ja, sie sind Lathaniumarbeiter. Nur sie können auf Dauer mit den Auswirkungen des ungereinigten Lathaniums umgehen."
"Haben Sie Informationen darüber, wie lange es für uns unschädlich ist?", schaltete sich Helena alarmiert ein.
"Einige Wochen. Wenn Sie sich ihm nicht direkt aussetzen."
"Wieso wurde das Schiff vom Lathanium angegriffen?", erkundigte sich John. Er fand alles enorm spannend und ungewöhnlich, aber dennoch hatte er das Gefühl, auf der Stelle zu treten. Hier gab es ein zerstörtes Schiff, dessen Computersystem sich für dessen Captain hielt und dessen Informationsquellen zum großen Teil vernichtet waren, und andererseits gab es einen verwirrten Captain ohne Crew, der so gar nicht auf die Hilfe der Alphaner erpicht schien. Eine nicht näher definierbare Gefahr dagegen ging von den blauen Lathaniumspießen aus, die - wie auch der Rest des Planeten - die zu Hilfe eilenden Menschen vom Mond bislang völlig verschont hatten.
"Das ist nicht geklärt", sagte der Computer der Castor.
"Na, wunderbar", erwiderte Alan. "Warum sind wir eigentlich hier?"
"Suchen Sie den Rest der Mannschaft", war die Antwort. "Soweit möglich, werde ich Sie dabei unterstützen." John seufzte. Diese Mission war nicht das, was er erwartet hatte.
"Gut", sagte er. "Wir haben uns eine Frist gesetzt. Wenn wir bis dahin nichts erreicht haben, werden wir auf den Mond zurückkehren. Ich möchte mit dem Lathanium nichts riskieren. Wir melden uns, wenn wir Neuigkeiten haben." Er unterbrach die Verbindung am Commlock und wandte sich der Gruppe zu. "Lagebesprechung. Es wird in absehbarer Zeit dunkel werden, das heißt, dass wir wohl die Nacht hier verbringen müssen. In der Dunkelheit wird es auch schwierig sein, die Suche nach den Mannschaftsmitgliedern fortzuführen. Ich schlage daher vor, uns bis dahin umzuschauen und uns um ein Lager für die Nacht zu kümmern. Es würde zu lange dauern, zum Adler zurückzukehren, und zudem scheint es auf der Strecke Gefahren zu geben, die wir als solche bisher nicht wahrgenommen haben. Ich möchte das Risiko so gering wie möglich halten. Ich weiß nicht, ob es klug wäre, die Nacht in der Castor zu verbringen. Was sagt ihr?"
"Kommt drauf an, wie sich das Wetter benimmt", meinte Alan, "erfrieren werden wir jedenfalls nicht, aber wenn es wieder wie aus Schleusen gießt, möchte ich nicht dringend draußen sein. Ansonsten habe ich kein Problem damit." Er nahm seinen Commlock vom Gürtel. "Carter an Mondbasis Alpha, Carter an Alpha!"
"Alan, hier ist Sandra!" Die Analytikerin war fast augenblicklich am Bildschirm erschienen. "Ist alles bei euch in Ordnung?"
"Bis jetzt schon! Und bei euch?"
"Auch! Es ist hier langweilig ohne Ende."
"Konntet ihr schon mit den Daten etwas anfangen, die wir euch geschickt haben?"
"Der Planet geht über vor lauter Lebenssignalen", erwiderte sie, "da müssten Milliarden von Einwohnern zu finden sein."
"Vielleicht sind sie ja unsichtbar", grinste Alan, "nein, wir wissen, dass das von einem bestimmten Rohstoff ausgeht, dem Lathanium. Ihr müsstet auch Daten davon geschickt bekommen haben."
"Du meinst den Datensalat aus Victors Scanner. Kanos Prozessoren ersticken gerade daran. Ich höre sie bis hierher husten und spucken! Ich denke, das wird noch eine Weile dauern, bis es da Ergebnisse gibt."
"Wenn überhaupt!", hörte man Paul Morrow aus dem Off einwerfen.
"Sei so gut, und spiel mal unsere Wetterfee. Wie sieht es mit Regen, Sturm und dergleichen in der nächsten Zeit aus?" Sie lächelte und wandte sich kurz ab, um die Wetterdaten abzurufen, die der Satellit kontinuierlich an Alpha weitergab.
"Es sieht stabil aus. Die Schlechtwetterfront ist nach Südosten weitergezogen, der Luftdruck steigt, und morgen scheint es sogar ein wenig Sonnenschein zu geben." Tatsächlich waren die letzten Nebelreste mittlerweile verschwunden, hinter ihnen zog sich weit die Ebene hin, über die sie hergekommen waren. Die Gemäuer des halb fertigen Dorfes waren gerade eben noch zu sehen.
"Dann campen wir", sagte John. "Suchen wir uns eine geschützte Stelle nicht zu weit weg von der Castor, vielleicht gleich hier in der Nähe dieser Felsformation. Wir installieren einen Schutzschild und wechseln uns in der Nacht mit der Wache ab." Carl freute sich sichtbar. Auf der Erde hatte er zunächst eine militärische Laufbahn eingeschlagen und an vielen Feldübungen teilgenommen. Als er aber die Möglichkeit gehabt hatte, die Stelle am Mond anzutreten, hatte er nicht lange gezögert. Der Aufenthalt im Freien war eines der wenigen Dinge, die er seit seinem Dienstantritt auf Alpha vermisste. Er war jung, sehr kräftig und trainiert, das Haar militärisch kurz geschnitten, und mit starkem Enthusiasmus, was das Aufstellen des Lagers anging, ausgestattet. John übertrug ihm infolgedessen die Verantwortung dafür, und innerhalb weniger Minuten war das Camp fertig. Es gab sogar einen Unterstand, der ausreichend Platz zum Übernachten für zwei oder drei Personen bot. Helena, die sich seufzend bereit erklärt hatte, sich um das leibliche Wohl des Teams zu kümmern, hatte noch nicht einmal herausgefunden, was sich in den diversen versiegelten Plastikdosen befand, als sich Carl schon bei ihr meldete, um ihr zur Hand zu gehen.
"Carl, können Sie das lesen?", wollte sie entnervt wissen und drückte ihm einen Plastikbehälter in die Hand. Er studierte die schwarze, verschmierte und weitgehend unleserliche Schrift des Kochs, der die Verpflegung vorbereitet hatte.
"Spaghetti veganese", schlug er nach einer Weile vor und gab ihr die Dose zurück. Sie warf sie angewidert zurück in den Rucksack.
"Was ist mit den beiden?"
"Sojabrätlinge mit Kartoffelbrei beziehungsweise Moussaka", waren seine nächsten Mutmaßungen. Ihr langes Gesicht sprach Bände und nicht für die Kunst der alphanischen Köche. Sie entschied sich für das Moussaka.
Am Ende jedoch gab es einen Gemüseeintopf zu essen, denn offensichtlich hatte Carl beim Entziffern der Beschriftungen erheblichen Gebrauch von seiner Phantasie gemacht.
Die Gruppe, die, was das Essen anging, Leid gewohnt war, hielt sich damit nicht lange auf, sondern stärkte sich nur schnell und trank eine ausreichende Menge Wasser, um den kontinuierlichen Wasserverlust am Planeten auszugleichen. Anschließend schickte John Alan und Carl ins Gelände, wo sie die Lage im Nordosten überprüfen und nachsehen sollten, ob es irgendwo Anzeichen der restlichen Crewmitglieder gab.
Der Commander selbst war sich nicht schlüssig, ob er das Schiff betreten und es nach der Crew durchsuchen sollte. Captain Yonwin hatte davon abgeraten, alleine an Bord zu gehen, wohingegen das Computersystem nicht grundsätzlich etwas dagegen zu haben schien. Es war nicht klar, wem von beiden man vertrauen konnte - oder ob überhaupt einem von ihnen. Daher entschloss John sich vorerst, nicht hineinzugehen. Als Victor, der gehofft hatte, einen Blick ins Innere der Castor werfen zu können, dies hörte, ließ er verlauten, dass er die beiden jungen Männer auf ihrem Streifzug begleiten wollte. Verblüfft schaute John ihm hinterher, wie er hinter Carl und Alan herwieselte, seinen unnützen Scanner in der Hand und einige weitere Instrumente umgehängt.
So war das eigentlich nicht gedacht gewesen. John war sich dessen bewusst, dass er jetzt mit Helena allein war. Ob Victor irgendetwas mitbekommen und mit seinem Abgang dafür gesorgt hatte, dass sie die Angelegenheit aus der Welt schaffen konnten? Es war nicht auszuschließen. Sein väterlicher Freund war jemand, der leicht Feuer fing, wenn es um neue Erkenntnisse ging und um die Erklärungen, die zu diesen Erkenntnissen führten. Er ließ sich auf die Fragen ein, die sich ihm stellten, war hartnäckig und dabei immer optimistisch, mit einem brillanten Geist ausgestattet, aber nicht immer sah er, was rund um ihn passierte. Helena hatte einmal lachend gesagt, dass er einen Tunnelblick hatte, wenn es um wissenschaftliche Fragen ging, die ihn im Augenblick beschäftigten, da sei es ihm unmöglich, Dinge aus den Niederungen des Alltags wahrzunehmen. Das stimmte auch oft - aber nicht immer.
John seufzte. Die Sache konnte ohnehin nicht für alle Zeiten hinausgeschoben werden, und eine bessere Gelegenheit würde es so bald nicht mehr geben.
Er gesellte sich zu ihr. Sie war die Rampe zum Portal der Castor hinaufgegangen, im Durchgang, eine Hand an der seitlichen begrenzenden Säule des Eingangs, stehen geblieben und schaute hinein. Als sie merkte, dass sich ihr jemand näherte, wandte sie sich um.
"John!", sagte sie, etwas überrascht, und warf einen Blick nach hinten Richtung Lager. Sie hatte Victors Flucht nicht bemerkt und stellte jetzt fest, dass offensichtlich nur sie beide da waren. John blieb neben ihr stehen.
"Was muss das für ein - düsteres Volk sein", meinte sie nach einer Weile. "Ich mag den Stil, gotische Kirchen haben so etwas Aufstrebendes, zum Himmel Greifendes, aber warum sind die Wände dunkel? Alles ist hier schwarz." In der Eingangshalle herrschte mittlerweile Zwielicht, erhellt von einem bläulichen Leuchten der zahlreichen Lanzen, die, aus dem Boden kommend, kreuz und quer in die Halle ragten. Viele davon durchspießten auch die Decke und Seitenwände, mehrere führten an Strebebögen vorbei, auf die Galerien und in Nebenräume.
"Ja", gab John ihr Recht, "der Captain scheint auch nicht gerade der humorvollste Zeitgenosse zu sein."
"Nun ja, in seiner Situation ist es auch nicht ganz einfach, Frohsinn zu verbreiten", sagte sie zu seiner Verteidigung. "Aber es stimmt schon. Seine Kleidung ist so schwarz wie die Wände hier. Ein seltsamer Stil. Traurig. Da lebe ich schon lieber in unserem faden Beige." Sie wollten beide nicht anfangen und versuchten, mit Belanglosigkeiten das unausweichliche Gespräch hinauszuzögern.
"Helena, ich..." Er pausierte. "Können wir vielleicht wenigstens in den hellen Tag schauen, wenn wir.." Sie warf ihm einen Blick zu, ein leichtes Lächeln in ihren Mundwinkeln.
"Natürlich!" Sie drehten um, verließen die Rampe und nahmen Platz auf einem Felsenblock, der sich direkt neben dem Lager befand und zu einer größeren Formation gehörte. Sie erhob sich noch einmal, um ihre Wasserflasche zu holen und daraus einen Schluck zu nehmen. John beobachtete sie dabei. Sie sah nicht mehr professionell aus, nicht wie üblich frisch und perfekt, sondern ihr Haar war feucht und verlieh ihr mit seinen ungehörig ungebändigten Strähnen ein ungestümes, fast vorwitziges Aussehen. Zudem waren ihre Wangen gerötet von der Hitze und ihr Gesicht voller Spuren weggewischten Schweißes. Das ärmellose, helle Top wirkte sehr reinigungsbedürftig, auch wenn es überaus reizvoll ihre Formen verhüllte. Sie sah aus, als wäre sie soeben überhitzt von einem tollkühnen Abenteuer nach Hause zurückgekehrt. Er fühlte sich außerstande, das in seinem Büro abgebrochene Streitgespräch wiederaufzunehmen.
Doch natürlich wusste Helena genauso, dass eine Klärung zwischen ihnen notwendig war.
"John, Sue erschien erst vor wenigen Tagen bei mir." Sie kam nun ohne Umschweife zur Sache. Es hatte keinen Sinn, sich noch lange zu winden. "Nach Jacks Tod ist für sie eine Welt zusammengebrochen. Erst hat sie die Erde verloren und dann auch noch ihren Ehemann. Wir beide wissen, was das bedeutet, nicht wahr?" John sagte nichts. "Sie steckte den Kopf in den Sand und erschien einfach nicht zum vorgeschriebenen Gesundheitscheck. Als ich drohte, sie vom Sicherheitsdienst zu mir bringen zu lassen, kam sie schließlich und beichtete mir ihre Situation." John sah ihr direkt in die Augen. Ihr Blick schien im nachmittäglichen Licht amethystfarben durchwölkt und unergründlich.
"Helena, du hattest also mehrere Tage Zeit, zu mir zu kommen. Stattdessen muss ich es von einer dritten, völlig unbeteiligten Stelle erfahren, die es weiß der Himmel woher hat. Die ganze Basis weiß Bescheid, nur der Commander nicht. Das ist nicht gut. Wir beide müssen uns auf einander verlassen können." Sie schlug die Augen nieder, doch nur einen kurzen Moment, ehe sie wieder aufsah.
"Es war so nicht ausgemacht", sagte sie. "Ich hatte mit Sue vereinbart, bis zum Abschluss der Untersuchungen Stillschweigen zu bewahren. Du musst bedenken, dass wir im medizinischen Zentrum alle zusammen keine Gynäkologen sind. Unsere Geräte sind nicht für solche Diagnosen eingerichtet."
"Aber Helena, das kannst du mir nicht erzählen, dass mit unserem Equipment die Feststellung einer Schwangerschaft unmöglich sein soll."
"Natürlich nicht. Aber meine Daten zeigten mir Anomalien an, und ich musste eine fehlerhafte Interpretation des Programms ausschließen. Deswegen brauchte ich eine entsprechende Software. Verstehst du, wenn der Fetus organische Schäden gehabt hätte, die mit dem Leben nicht vereinbar sind, wie es zunächst aussah, dann wären wir vor einer ganz anderen Situation gestanden."
"Und gibt es mittlerweile die neue Software?" Sie nickte.
"Es handelt sich um einen gesunden männlichen Fetus in der elften Woche. Ich habe es vorhin von Bob Mathias erfahren." Beide schwiegen. Helena starrte hinaus in die Landschaft. Es war, als würde alles, was sie betrachtete, flach und zweidimensional, die Farben kontrastreich und bordeauxrot durchsetzt. Unwirklich. Es war so still, dass sie Johns Atmen hörte, und es tat fast weh in den Ohren. "Hör zu, John, ich weiß, dass du dagegen bist, aber aus dem Grund habe ich nicht geschwiegen. Die Sache ist nicht so gelaufen, wie ich es mir vorgestellt hatte, und im Nachhinein betrachtet, kann ich nur sagen, dass ich blöd war anzunehmen, so etwas könnte in einer Gesellschaft wie der unseren geheim bleiben, wenn auch nur für wenige Tage."
"Helena, du kennst die Gründe, warum ich dagegen sein muss", rang John sich endlich zu einer Antwort durch.
"Und du weißt, dass ich von Berufs wegen, aus Überzeugung, aus ganzem Herzen, nichts anderes tun kann, als dafür einzutreten, dass Sue das Kind bekommt."Dafür liebe ich dich auch, dachte er. Sagte es nicht, sondern lächelte ihr nur zu. Der einzige Sonnenstrahl des Tages verfing sich in ihrem Auge und blinzelte ihn froh an. Es war umso schwerer, den Standpunkt zu vertreten, der aus seiner Sicht für die Basis das Beste war - zumindest im Augenblick, da die Gesellschaft noch instabil war und die Mittel gerade mit Mühe reichten, um die vorhandenen Menschen durchzubringen. Es war weit und breit nicht abzusehen, dass die Alphaner auch nur die nächsten Monate überleben würden. Sie waren ein verlorener, sehr kleiner Haufen in einem fremden, sehr großen Universum. Die Lage war denkbar unsicher.
"Ich sehe wirklich große Probleme", sagte er deswegen leise, "nicht nur, was die Reaktion innerhalb unserer Gemeinschaft angeht. Was tun wir den Kindern an, wenn wir sie in so eine feindliche Umgebung hineinverpflanzen?"
"Ich weiß, die Umgebung ist nicht ideal. Sie werden keine freie Natur sehen, keine Haustiere haben, nichts von dem, was uns in der Vergangenheit zur Verfügung gestanden ist, nur diesen begrenzten Lebensraum innerhalb der Basis, in dem sie aufwachsen können. Aber sie werden nicht darunter leiden, weil sie nichts anderes kennen."
"Helena, es liegt alles in meiner Verantwortung. Jeder einzelne Mensch auf Alpha. Und wir führen kein normales Leben auf dem Mond. Es gibt Gefahren!"
"Es gibt immer Gefahren."
"Du weißt, was ich meine. Willst du zusehen, wie unsere Kinder bei einem Angriff von Außerirdischen vor unseren Augen sterben?" Sie atmete tief durch.
"Nein. Nein. Ich will nicht daran denken. Ich möchte mir vorstellen, dass wir ein vergleichsweise normales Leben führen können auf dem Mond, dass wir Familien haben und Kinder, die wir aufwachsen sehen. Die unsere Arbeit einmal fortführen können und einen bewohnbaren Planeten finden, wenn wir es nicht schaffen. Ich mag mir nicht vorstellen, dass alles umsonst war, und dass Mondbasis Alpha einmal eine leere Hülle sein wird, in der es kein Leben mehr gibt, weil wir das nicht getan haben, was die Menschheit seit Anbeginn der Zeiten getan hat: zu überleben - und das selbst unter den widrigsten Umständen." Es fiel ihm schwer, ihr ins Gesicht zu blicken. Er tat es dennoch und sah darin eine stille Hoffnung auf eine positive Zukunft, so zerbrechlich, als hätte sie das Gefühl, etwas Unrechtes zu tun, wenn sie es zuließ, so, als stünde es ihr nicht zu.
Sie war sich seines Blickes bewusst und erlaubte ihm zu sehen, was sie bewegte, während sie gleichermaßen in seinem Gesicht nach dem forschte, was er nicht aussprach. Es war da, für sie sehr deutlich zu sehen, wenn er sich auch Mühe gab, es zu verbergen.
"Helena, ich verstehe dich, ich weiß, dass du keine andere Meinung vertreten kannst, schon allein aus deiner Warte als Ärztin, die ihre Aufgabe, Leben zu retten und zu schützen, ernst nimmt, aber wie du weißt habe ich übergeordnete Pflichten, die ich nicht einfach ignorieren kann. Was ist zum Beispiel mit den anderen Alphanern?"
"Sie werden es verstehen", sagte sie leise.
"Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Wir sind eine Gesellschaft, die sehr jung und wenig gefestigt ist. Überhaupt nicht zusammengewachsen und daran gewohnt, an einem gemeinsamen Ziel zu arbeiten und dabei auch gezielt zu verzichten. Jeder ist noch mit sich selbst beschäftigt, damit, zu begreifen, dass wir die Erde nie wieder sehen werden. Ich kann keine Bomben auf Alpha brauchen, wie auch immer sie geartet sein mögen."
"John, du unterschätzt die Leute."
"Das wäre schön. Aber für solche einschneidenden Veränderungen auf der Basis möchte ich zu hundert Prozent sicher sein, dass die Mannschaft mit allen dazugehörigen Entscheidungen zurecht kommt. Und das ist im Augenblick nicht der Fall." Er pausierte. "Sue wird es verstehen." Sie schwieg und schickte ihren Blick wieder in die Landschaft hinaus. Auf John wirkte sie verloren, wie sie dasaß, mit leicht gekrümmtem Rücken, die Wasserflasche vergessen auf ihrem Schoß, die Kleidung staubig und voller Schmutzspuren, an den Schultern waren, teilweise vom Oberteil bedeckt, rote Striemen zu sehen, die der Rucksack verursacht hatte, und in ihrem Gesicht las er Traurigkeit und Enttäuschung. Er konnte es kaum ansehen.
"Es tut mir leid." Sie reagierte zunächst nicht, erst nach einer langen Weile antwortete sie.
"John, ich bitte dich, denk noch mal darüber nach." Er hätte nun einen Schlussstrich unter die Diskussion ziehen können, ihr klarmachen, dass seine Entscheidung feststand, aber er brachte es nicht übers Herz und akzeptierte mit seiner Antwort, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen war.
"Das werde ich tun", sagte er. Helena sah ihn an und lächelte ihm dankbar zu. Schließlich erhob sie sich.
"Sollten wir uns nicht auch ein wenig nach Captain Yonwins Crew umschauen?", wollte sie wissen. Er nickte und deutete in Richtung Nordwest.
"Ich möchte unser Lager nicht zu lange allein lassen, auch wenn die Anzahl der Dinge von Wert - insbesondere für die Leute von der Castor - wohl recht gering ist."
"Glaubst du, sie sind vielleicht alle im Schiff?"
"Ich weiß es nicht. Wenn da über 40 Menschen an Bord wären, hätte das dem Computersystem nicht irgendwann auffallen müssen? Es ist ja nicht völlig zerstört."
"Auch wieder wahr. Dann müssen sie sich ja wohl irgendwo im Gelände aufhalten." Johns Commlock piepste. Er nahm ihn vom Gürtel und schaltete ihn ein. Am anderen Ende war ein aufgeregter Alan, der von Skeletten sprach, auf die sie gestoßen waren.
"Menschliche Skelette?", wollte John alarmiert wissen.
"Ganz richtig!", war die Antwort. "Am besten, Sie kommen gleich mal her, Commander. Ich gebe die Position durch. Ich schätze mal, Gehstrecke ohne Umwege eine viertel Stunde."
"O.K., danke Alan, wir sind gleich bei euch. Dokumentiert in der Zwischenzeit alles und seht, was ihr rausfinden könnt." Er schaltete den Commlock ab und warf Helena einen Blick zu, die sich bereits eine kleine Tasche mit Equipment umgehängt hatte. "Sieht so aus, als hätten wir sie gefunden. Oder zumindest einen Teil davon." Sie nickte mit sorgenvollem Gesicht und folgte ihm dann, wie er, das Schiff umrundend, die von Alan angegebenen Koordinaten anpeilte.
Die Strecke selbst war nicht weit. Der Boden erwies sich als hart und staubig, trotz des Regens zuvor hatte die Erde die gesamte Feuchtigkeit bereits aufgesaugt, und bei jedem Schritt stoben weißliche kleine Wölkchen wie feiner Pulver um sie herum in die Luft. Ihren Weg begleiteten die blauen Lathaniumspieße, die in unterschiedlichen Größen aus dem Boden ragten und völlig unbehelligt von Regen oder Schmutz vor sich hin glommen. Vereinzelt kugelten die Geästtiere, die der Computer der Castor als Knochenbrecher bezeichnet hatte, an ihnen vorbei, und, nun wissend, dass sie nicht ungefährlich waren, betrachteten sie die eigenartigen Lebewesen mit deutlichem Unbehagen. Doch diese kümmerten sich nicht um die beiden Menschen, die sich da auf weiter Flur alleine durch die Landschaft bewegten, und John entschloss sich, nicht zu viele Gedanken darauf zu verschwenden. Ein übler Gestank, der plötzlich von einer Brise herbeigeweht wurde, ließ ihn ohnedies die Tiere bald vergessen. Es roch undefinierbar, in Wellen schwappten wilde Geruchsempfindungen in ihre Nasen, und kaum war eine geballte Ladung an grauenhaftem Odeur verebbt, als schon die nächste die Riechnerven der beiden Alphaner attackierte.
"Teufel!", sagte John, "Was ist das?" In der Luft schwebte ein feiner, grünlicher Nebel, gerade so viel, dass er wahrnehmbar war und die Gegend vor ihnen aussehen ließ, als hinge ein Hauch aus Gaze darüber. Sie gingen geradewegs auf die Quelle des Gestanks zu, denn er intensivierte sich mit jedem Schritt, den sie in die von Alan angegebene Position machten. Die jungen Regenschirmbäume, die, alle nicht höher als bis zu Johns Schulter reichend, vermehrt aus dem Boden sprossen, schienen sich daran nicht zu stören, was nur daran liegen konnte, dass sie keine Riechorgane hatten, sonst wären sie wohl augenblicklich verwelkt. "Weht das von den Skeletten herüber?", wollte John wissen.
"Das weiß ich nicht. Der Geruch kommt mir nicht bekannt vor", gab Helena diplomatisch zur Antwort. Wenige Schritte später jedoch fanden sie die Übeltäter. Es handelte sich um riesenbovistartige knubbelige Strukturen, die in Gruppen zusammenstanden, eine grünlich-weiße Farbe hatten und in unregelmäßigen Abständen wie Minivulkane, jeweils aus der Mitte ihrer knolligen Struktur, explosionsartig grünliche Wolken ausstießen, die den pestiziden Gestank verursachten.
"Ich hoffe, dass das nicht giftig ist", ächzte John hustend, als er, interessiert nach unten gebeugt und noch in Unwissenheit um deren Aktivität, die neue Spezies begutachtete und frontal von so einer Wolke ins Gesicht getroffen wurde. "Sieh mal nach, ob meine Augenbrauen noch da sind!" Helena fischte ein Taschentuch heraus und versuchte, das neue grüne Make-up aus seinem Gesicht zu entfernen.
"Du siehst aus wie der unglaubliche Hulk", sagte sie, während sie die grüne Schicht zusammen mit dem zuvor schon vorhandenen Staub verteilte, was ihn am Ende aussehen ließ, als hätte er sich zu Tarnungszwecken Farbe ins Gesicht geschmiert. "Tut mir leid", meinte sie schließlich, von ihm ablassend und ihr Werk kritisch betrachtend. "Ich fürchte, ich habe dein Aussehen nicht wirklich verbessert. Wir werden dazu ein wenig Wasser und Seife brauchen." Sie steckte das Taschentuch weg und ging daran, mit ihrem Scanner Informationen über den grünen Staub einzuholen. "Scheint auf den ersten Blick nicht gefährlich zu sein", schloss sie aus den Daten, die im Display zu sehen waren. "Wäre eine Option für Halloween."
"Verzichte!", grummelte John und bahnte sich seinen Weg rund um die Stinker herum. Kurz danach erreichten sie eine Senke, an deren Rand stehend sie bereits die restlichen Mitglieder ihres Teams sehen konnten. Carl entdeckte sie als Erster und winkte zu ihnen herüber.
In der Senke wuchs nichts außer niedriges krautartiges Farngewächs von graulila Farbe, das, mit Widerhaken versehen, im Stoff der Hosen hängen blieb und dabei ein widerwärtiges Quietschen von sich gab. Aus Furcht, dass es sich hier wieder um irgendwelche Tiere handelte, lösten sie nur sehr vorsichtig die Stacheln aus den lädierten Hosenbeinen. Dabei sahen sie am Boden seltsame, perlmuttfarben glänzende Scherben herumliegen. John hob eine davon, handtellergroß und schalenförmig gebogen, auf und hielt sie gegen das Licht. Sie war durchscheinend, wirkte wie eine Kostbarkeit, einen sanften, matten Glanz verströmend.
"Sieht aus, als wäre sie zerbrochen", sagte er, das Fundstück prüfend hin- und herdrehend.
"Diese Scherben liegen hier überall herum", erwiderte Helena, indem sie behutsam das Blattwerk eines Farnstrauches zur Seite schob und damit einen freien Blick auf den Boden schuf. Tatsächlich war da mehr von dem Material zu sehen, überall verstreut und in allen Formen und verschiedenen Größen schimmerte es matt und irisierend zu ihnen herauf. Längliche größere Exemplare, die rinnenförmig gebogen waren, Splitter, seltsam geformte Stücke, bis zu handgroßen Platten und Schalen, die allesamt aussahen, als seien sie zerbrochene und zerstörte Teile eines nicht näher eruierbaren Ganzen.
"Sie sind sehr schön", meinte John.
"Commander!", hörten sie Alan rufen. "Kommen Sie hierher zu uns!" John hob die Hand als Zeichen, dass er verstanden hatte, und behielt eines der Teile in der Hand, während er sich seinen Weg durch den Farn bahnte und dabei versuchte, möglichst nicht in Kontakt mit den Widerhaken zu kommen. Als sie bei den übrigen angekommen waren, zeigten ihre Hosenröhren dennoch bis zu den Knien deutliche und nicht wiedergutzumachende Zerfallserscheinungen. Victor, der in die Hocke gegangen war und interessiert etwas am Boden Liegendes betrachtete, erhob sich und wandte Helena und John ein quietschgrünes Antlitz zu.
"Mir scheint, du hast auch Bekanntschaft mit den Stinkpilzen gemacht", meinte er mit einem Blick auf John lächelnd. Der grinste zustimmend.
"Ihr habt Skelette gefunden?" Victor nickte.
"Seht her!" Zwischen den Blättern des Hakenfarns lagen seitlich verkrümmt die blanken Gebeine eines Erwachsenen. Spärliche Streifen zerschlissenen schwarzen Stoffs umrankten die Gestalt wie ein Kranz aus trauernden Girlanden. Dazwischen blitzten metallische Teile hervor von Nieten und Gürtel, sowie etwas, das eine Waffe sein konnte oder ein Kommunikator. Im Farn hingen wie Fäden weißblonde lange Haare, die noch zusammengebunden waren. Ein schwarzer Handschuh lugte unter der linken Darmbeinschaufel hervor, in der, nicht zu übersehen, immer noch die rechte knöcherne Hand steckte. Schmutzige, ehemals schwarze, nun aber abgewetzte, graufarbene Stiefel voller Staub hingen an den Knochenbeinen.
"Den Messungen zufolge war das ein Mann", gab Victor Auskunft. "Zwischen dreißig und vierzig Jahre alt. Die Knochen lassen auf Mangelernährung in der Kindheit schließen."
"Hast du herausgefunden, wie er gestorben ist?", erkundigte sich Helena, während sie ihren eigenen medizinischen Scanner über die Knochen gleiten ließ. Victor verneinte.
"Die Todesursache lässt sich aus den Knochen allein nicht ableiten."
"Wie lange liegt er schon hier?", wollte John ungläubig wissen. "Ich meine, das dauert ja eine gewisse Zeit, bis von einer Leiche nur noch Knochen übrig sind."
"Auf der Erde", stimmte Helena zu, während sie Laborhandschuhe überstreifte und das Skelett vorsichtig untersuchte. "Wie es sich hier verhält, kann ich dir nicht beantworten. Das hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab." Sie deutete auf den Brustkorb. "Seht her, hier wachsen schon Krallenfarne durch. Aber nachdem wir auch nicht wissen, wie lange die Pflanzen brauchen, bis sie diese Größe erreichen, hat das auch keine Aussagekraft. Habt ihr noch mehr gefunden?" Sie erhob sich stirnrunzelnd und behielt die Handschuhe an. Carl nickte. "Ja, gleich da drüben liegt das nächste Skelett." Die Gruppe ging gemeinsam hinüber. John hielt Victor das perlmuttfarbene Fragment entgegen.
"Was hältst du davon?" Sein Freund warf einen flüchtigen Blick darauf.
"Sind mir auch aufgefallen, die Dinger. Ich habe schon eine Vermutung", gab er vage zur Antwort.
"Und?" In dem Augenblick waren sie bei den nächsten Gebeinen angelangt. Die Gestalt lag mit dem Gesicht zum Boden gewandt, die Arme zu beiden Seiten von sich gestreckt, nur noch spärlich bedeckt von den Überbleibseln eines schwarzen Mantels und anderen Stoffteilen. Ein Büschel wirren langen, schwarzen Haares hatte sich zwischen den Blättern des Farns verfangen. Auch hier steckten die Füße in Stiefeln, deren Oberfläche nur noch andeutungsweise lackschwarz war, und die Hände wurden bedeckt von völlig zerrissenen Handschuhen.
"Eine Frau", sagte Helena. "Etwa dreißig Jahre alt. Ihr Rückgrat ist gebrochen. Das könnte die Todesursache gewesen sein." Sie hob die linke Hand, und die Reste des Handschuhs fielen zur Seite. Am Ringfinger steckte ein wunderschöner Silberring mit schmückendem, keltischem Triskelenmuster und einem leuchtenden Rubin in der Mitte. Sie blickte hoch, und John traf ein Blick, aus dem er Trauer und Mitgefühl las. "Was mag hier passiert sein?" Ihre Stimmung hatte auf ihn übergegriffen, und er senkte den Kopf.
"Vielleicht werden wir das nie erfahren", sagte er leise."Wie viele habt ihr gefunden, Victor?"
"Knapp dreißig", war die Antwort. "Wenn ich mich richtig erinnere, bestand die Mannschaft aus ein wenig mehr als vierzig Mitgliedern. Vielleicht leben die restlichen ja noch?" Er umrundete, die Augen konzentriert zu Boden gerichtet, die Fundstelle.
"Victor, was machst du da?", erkundigte sich John, indem er den Wissenschaftler verwundert beobachtete. Der blieb stehen und bückte sich, um zwischen dem Hakenfarn irgendetwas zu suchen.
"Naja, bitte, da haben wir es ja", ließ er schließlich zufrieden verlauten und hob etwas hoch.
"Victor!" Er kam zurück zur Gruppe, und in seiner Hand schimmerte es perlmuttfarben.
"Ich habe nach einem unversehrteren Teil gesucht", sagte er zur Erklärung und hielt dem Commander sein Fundstück entgegen. Es sah wie ein Rugby-Ball aus, war aber kleiner, etwa wie eine Pomelo, unregelmäßiger strukturiert, mit Löchern versehen, ein Teil herausgebrochen. Er reichte es John. Der nahm es neugierig entgegen und drehte es fragend in den Händen herum. Es war leicht in seiner Hand.
"Ich sage es nur ungern", mischte sich Alan ein, der interessiert zugeschaut hatte, "aber könnte das ein außerirdischer Schädelknochen sein?" Victor nickte bestätigend. "Ich glaube, wir stehen hier auf einem Alien-Friedhof", meinte er. "Die meisten dieser Teile liegen schon lange hier. Wahrscheinlich zerfallen sie auch leichter an der Luft und durch die Witterung, so dass wir kein intaktes Skelett finden können. Womöglich ist er stillgelegt. Der Friedhof, meine ich."
"Aber was machen die Menschen hier?"
"Wurden vielleicht von den Außerirdischen bestattet?"
"Dann muss es hier intelligentes Leben geben!"
"Gut möglich", gab Victor zur Antwort. John betrachtete das Stück in seinen Händen jetzt mit dem Gefühl, eine bekannte Struktur darin erkennen zu können. Tatsächlich fand er Aussparungen im Perlmutt, in die ein Sehapparat passen konnte. Sonst sah er keine Ähnlichkeiten mit einem menschlichen Schädel, jedoch fehlte ein Teil, was die Sache mit der Wiedererkennung nicht leichter machte.
"Ich würde mich gerne genauer umsehen", sagte Victor versonnen, "vielleicht kann ich anhand der vorhandenen Teile so ein Wesen rekonstruieren."
"Heute nicht mehr", erwiderte John. "Es wird bald dunkel werden, und da stiefelt mir niemand auf einem außerirdischen Friedhof herum."
"Morgen dann."
"Einverstanden."
Sie kamen zurück zur Castor, als sich die Dämmerung eben anschickte, sich in einem zwielichtigen bläulichen Grau behäbig auf die Landschaft zu senken. Als die Gruppe das Schiff zur Hälfte umrundet hatte, um zum Lagerplatz zu gelangen, fanden sie eine junge Frau dort vor. Erstaunt sahen sie, wie sie die alphanischen Habseligkeiten neugierig betrachtete, ohne jedoch den Versuch zu machen, etwas davon zu berühren oder gar wegzunehmen.
"Hallo!", rief Alan freudig, sobald er sie erblickte. Er war froh, feststellen zu können, dass offensichtlich nicht die gesamte Mannschaft der Castor auf dem Friedhof lag und, abgesehen vom seltsamen Captain Yonwin, noch jemand aufgetaucht war. Die Frau erschrak und wandte sich ihnen zu. Sie war groß, wirkte aber dennoch zierlich und ein wenig verängstigt. Wie auch Yonwin trug sie einen langen schwarzen Mantel, der bis zu den Knöcheln reichte, und Boots bis an die Knie. Ihr pechschwarzes, lockiges Haar war hochgesteckt, und einzelne Strähnen fielen ihr ins schmale Gesicht. Auffallender jedoch war ihre eng geschnürte schwarze Korsage, die zarte dunkle, rote Blumenranken zierten, und die durch den Schnitt und die Schnürung für ein großzügiges Decolleté sorgte. Die Ärmel des Mantels bestanden ab den Ellenbogen aus schwarzen Spitzen, die in Form von üppigen Rüschen an den Handgelenken endeten, während die Hände von satinierten Handschuhen in gleicher Farbe bedeckt waren. Die Alphaner kamen näher, sie aber wich vor ihnen zurück, als sie sie sah. Ihr Gesicht erschien, insbesondere aufgrund der Schwärze ihres Haares und ihrer dunklen Kleidung, völlig blass, als hätte sie ihr Leben in den von Sonne abgeschotteten Verliesen ihrer Welt zugebracht. Das Make-up war auffallend, rote Lippen, eine schwarz geschminkte Augenpartie, die ihren Blick, wie von Kohlen, unterstrich, und eine anthrazitfarbene Tätowierung auf der linken Schläfe, die sich bis unter das Jochbein herunterzog und eine sich gerade öffnende Rose darstellte.
Eigentlich sollte die Frau aufreizend wirken, aber da war etwas an ihr, das Distanz einforderte, woran sich die Alphaner mit Freude hielten. Sie wagten kaum, ihr eigenes Camp zu betreten. John trat dennoch einen Schritt nach vorne.
"Ich bin Commander John Koenig von Mondbasis Alpha", informierte er sie, "wir halten uns mit der Erlaubnis von Captain Yonwin und Ihrem Bordcomputer hier auf." Sie hob den Blick.
"Adalgis", sagte sie, "Adalgis." Ihre Stimme war leise, sanft, und wehte in die Gehörgänge der Anwesenden, als sei sie nur zufällig bei ihnen angekommen und eigentlich auf der Durchreise in die Ewigkeit. Sie selbst wirkte abwesend. John versuchte, ein wenig Realität in die Situation zu bringen.
"Der Bordcomputer rief uns zur Hilfe. Wir suchen die Mannschaft der Castor, und, abgesehen vom Captain und nun Ihnen, ist uns noch niemand begegnet."
"Sie wollen uns suchen helfen?", erkundigte sie sich überrascht und schien zum ersten Mal die Alphaner als solche wahrzunehmen. John nickte bestätigend. Er wusste nicht, wie er es sagen sollte, und entschloss sich am Ende zu direkten Worten.
"Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass wir einen Großteil der Mannschaft gefunden haben. Da draußen auf dem Feld. Sie sind alle tot." Sie blickte durch ihn hindurch.
"Die Mannschaft", ließ sie schließlich verlauten, "ja, in der Tat." Die Alphaner waren verwundert über ihre Antwort.
"Captain Yonwin schien ebenfalls etwas zu suchen."
"Ja, das stimmt."
"Wissen Sie, was es ist?" Sie sah John direkt an.
"Selbstverständlich", erwiderte sie, "es ist sehr wichtig." Die Alphaner betrachteten sie gespannt.
"Sehr wichtig", wiederholte sie sich und verstummte, während sich eine irritierte und angestrengte Miene in ihr Gesicht legte.
"Sie haben es vergessen", sagte John, nun etwas ungeduldig. "Wie kommt es, dass wir hier nur auf Menschen treffen, die tot sind oder ihr Gedächtnis verloren haben? Zudem ist auch der Bordcomputer derartig beschädigt, dass er uns kaum brauchbare Informationen geben kann. Wissen Sie wenigstens noch, wer Sie selbst sind?" Sie blickte ihn verwundert an.
"Major Beryll le Marler", gab sie zur Antwort, als wäre es selbstverständlich, dass man sie kannte.
"Captain Yonwin erwähnte seine Frau Beryll", erinnerte sich Helena.
"Das ist richtig. In erster Linie aber bin - war ich", verbesserte sie sich mit einem Blick auf das beschädigte Schiff, "für die Maschinen der Castor verantwortlich."
"Nun, wieso wurde sie zerstört? Und was geschah mit der Mannschaft?", war Johns nächster Versuch, endlich Licht in die Angelegenheit zu bringen. Sie schien zu überlegen.
"Es ist mir unbegreiflich", sagte sie endlich, "aber ich erinnere mich nicht." John warf Helena einen Blick zu. Sie wusste schon, ehe sie die Frage vorgebracht hatte, dass die Frau sich von ihr nicht untersuchen lassen würde. "Mir fehlt nichts", wehrte sie ab, "wirklich nicht."
"Abgesehen von einem wichtigen Teil Ihres Gedächtnisses", warf Alan kurzerhand ein. Ähnlich wie bei Captain Yonwin zuvor war er genervt vom Auftreten dieser Frau. Beryll le Marler wies zwar nicht die Arroganz ihres Mannes auf, aber wie er verhinderte sie mit ihrer höchst verdächtigen Erinnerungslücke, dass sie hier weiterkamen.
Sie schwieg.
"Wie dem auch sei", fuhr John fort. "Wir haben draußen auf dem Feld zahlreiche scherbenartige Strukturen gefunden, von denen Prof. Bergman hier glaubt, dass es sich um die Überreste von einheimischen Lebewesen handelt, die vielleicht intelligent sind. Können Sie dazu etwas sagen?" Sie dachte über die Frage nach, und kurz schien es, als wäre ihr ein Gedanke dazu gekommen, doch am Ende schüttelte sie nur bedauernd den Kopf.
"Es gibt hier auf dem Planeten keine intelligenten Wesen. Abgesehen von uns, meine ich."
"Wo sind die übrigen Mitglieder Ihrer Mannschaft?", erkundigte sich John. Er hoffte, dass sie Auskunft darüber geben konnte.
"Im Schiff vielleicht", erwiderte sie.
"Können wir denn an Bord gehen?", versuchte John es erneut und war gespannt, welche Antwort sie hatte.
"Betreten Sie besser nicht allein das Schiff", sagte sie vorsichtig. "Es reagiert manchmal unberechenbar."
"Und wenn Sie uns begleiten?"
"Sie wollen eine Schiffsführung?"
"Ich möchte wissen, ob der Rest Ihrer Crew an Bord ist. Ich will wissen, ob am Schiff die Antworten sind, die wir suchen, und, ja, ich bin auch daran interessiert zu sehen, wie die Castor von innen aussieht."
"Vielleicht kann ich Sie später zu einem Rundgang abholen", sagte sie, zum ersten Mal ein leichtes Lächeln auf den Lippen. "Aber im Augenblick muss ich meinen Mann sprechen. Ich bitte Sie, mich in der Zwischenzeit zu entschuldigen." Immerhin war sie höflich, dachte Alan, der nicht mehr ganz so genervt von ihr war. Wenn er genauer darüber nachdachte, fand er sie sogar ganz nett - auf eine eigenartige, sehr abwegige Weise wirkte sie auch anziehend auf ihn - und das lag nicht nur an ihrem ausladenden Ausschnitt. Sie ging quer durch das Lager des Teams und entschwand durch den Eingang ins Innere des Schiffes.
"Noteinsatz mit Hindernissen", sagte er, während er zusah, wie sie von der Castor verschluckt wurde.
Es wurde langsam dunkel, und die Gruppe machte sich für die Übernachtung im Freien bereit. Alle hatten, was ihre Anwesenheit auf Lathan anging, stark ambivalente Gefühle. Einerseits war dies ein Aufenthalt in der freien Natur, wie er nach den langen Monaten in den verschlossenen Mauern der Mondbasis Alpha kaum mehr vorstellbar war, andererseits aber war dies eine fremde Welt mit Menschen, um die sich ein Geheimnis rankte, das sich nicht so schnell zu lüften schien. Aus dieser Situation ergab sich ein Gefühl von Unsicherheit, von Sorge zumindest, wie das Abenteuer wohl weitergehen werde. Dass der Planet sich vielleicht als neue Heimat herausstellen könnte, das wagte keiner der Anwesenden zu hoffen, zu wenig Vertrauen erweckend war ihre bisherige Begegnung mit dieser Welt gewesen. Auch, wenn ihnen bislang keine unmittelbaren Gefahren begegnet waren.
In ihrem Camp fühlten sie sich relativ sicher. Der bereits aktivierte Schutzschirm um das Lager war eine Adaption von Victors Erfindung, wie er sie beim Eintritt in die schwarze Sonne angewandt hatte, allerdings wesentlich sparsamer im Energieverbrauch, und konnte mit einer herkömmlichen tragbaren Batterie gespeist werden. Rückwärts waren sie abgesichert durch eine steil hinaufragende Felsformation und die Castor, gegen die freie Ebene schützten sie in zwanzig Metern Entfernung die aktivierten Schirmelemente, die in einem sanften Grün kaum merklich zweieinhalb Meter in die Höhe ragten. Sie selbst saßen gemütlich zusammen und besprachen, wie der nächtliche Wachdienst aufgeteilt werden sollte. Carl hatte abgestorbenes Geäst der Regenschirmbäume gesammelt und versuchte sich an einem Lagerfeuer. Überraschenderweise brannte das Material wunderbar in einer satten roten Flamme, die lodernd empor schoss und übermütig tänzelnd auf der Feuerstelle wogte, als freute es sich über seine Verwendung als Brennholz.
Als das letzte Glimmen des Tages am östlichen Horizont der Welt erlosch, tauchten von überall wie Schwärme von Insekten hell leuchtende, weiße Pünktchen auf, die in einem übermütigen Schauspiel turbulenter Strömungen lautlos durch die Luft schwirrten, gemeinschaftlich hierhin und dorthin stoben, und sich dazwischen bei chaotischem Spiel in einem wirren Durcheinander auflösten, aufstiegen, zu Boden purzelten, um sich dann, wie abgesprochen, wieder in einem säulenartigen Wirbel in den Himmel zu erheben.
Hätten sie es nicht für völlig ausgeschlossen gehalten, die Alphaner hätten vermutet, dass dies ein Schauspiel zu ihrer Unterhaltung war. Fasziniert und tief beeindruckt konnten sie nichts anderes tun, als dem bunten Treiben zuzusehen, das nicht aufhörte, sondern sich in immer neuen kreativen Formationen zusammenfand, um durch die Nacht zu tollen und in ihren Zuschauern sprachlose Bewunderung hervorzurufen.
Die Temperatur wurde allmählich angenehm, sie glitten in einen lauen Abend, der eine Art Entspannung versprach, die man auf Alpha nicht gewohnt war, die an Kindheit und nächtliche Lager und Lachen und Singen mit der Gitarre erinnerte - wenn man nicht zu sehr daran dachte, wo man sich aufhielt.
Zunächst versuchten sie, sachlich zu bleiben, ihre Lage miteinander zu besprechen, erneut Mutmaßungen über das Geschehen auf dem Planeten anzustellen und im Kontakt mit Alpha alle Eventualitäten und Möglichkeiten zu überdenken. Auf dem Mond war man mit den kryptischen Scanner-Daten nicht weiter gekommen, sodass sich am Ende aller Diskussionen die zentralen Fragen nicht geändert hatten:
Wo waren die restlichen Besatzungsmitglieder der Castor?
Was war hier auf dem Planeten geschehen?
Wie sollten die Alphaner helfen können, und warum hatte man sie gerufen?
Es gab noch keine Antworten, und, erschöpft von den Erlebnissen des Tages und der fruchtlosen Diskussion, machte sich die Gruppe schlussendlich an ein spätes Abendessen.
Diesmal erwischten sie statt der prognostizierten baked beans ein Pilze-Linguini, das ausnahmsweise nicht schlecht schmeckte, auch wenn alle an einen Grillabend und über dem Feuer gebratene Würstchen dachten. Zum Trinken gab es kein Bier, nur Wasser, aber das tat der guten Laune keinen Abbruch.
Alan lehnte sich zufrieden nach hinten auf seinen Rucksack und betrachtete das immer noch anhaltende Schauspiel der Glühpünktchen.
"Jetzt bräuchte ich nur noch ein paar Marshmallows, um sie im Feuer zu braten", sagte er abwesend, "dann wäre das Lager-Feeling perfekt." Alle lachten.
"Damit kann ich nicht dienen", gab Carl zur Antwort, während er sich erhob, um zu seinem Rucksack zu gehen, "aber ich hätte ein Säckchen mit Toffees mit."
"Oh?" Helenas Augen, die, halb geschlossen, auf die roten, tanzenden Flammen gerichtet waren, flogen jäh auf. "Wer hat sie gemacht?", wollte sie wissen. Der Sicherheitsdienstmann grinste breit.
"Das sind Frankie's Homemades!" Helena richtete sich aus ihrer bequemen Position auf.
"Dafür würde ich einen nächtlichen Überfall auf Ihr Marschgepäck riskieren", sagte sie, "sehen Sie sich also vor, Carl!" Er schütte sich aus vor Lachen und begann, in seinem Gepäck nach den Süßigkeiten zu suchen.
"Nicht nötig, Dr. Russell", meinte er, als er sie gefunden hatte, "ich treten Ihnen freiwillig welche ab. Schließlich will ich Sie nicht zum Diebstahl verführen!" Er öffnete den Beutel und hielt ihn ihr hin. Sie lachte auch und nahm dankend eines heraus. Er reichte es reihum, und nur John widerstand mit dem Hinweis, dass er wirklich keine Lust auf gezogene Plomben und tagelang verklebte Zähne habe. Helena erhob Anspruch auf Johns Toffee, diesem wurde unter schallendem Gelächter stattgegeben, und sie streifte die Beute siegesbewusst ein.
Schweigend genossen sie die laue Nacht, die Hitze des Feuers auf ihrer Haut, die rote Helligkeit und den Frieden in ihrem Camp. Die Ruhe, die hier herrschte, gab es auf Alpha nicht. Dort existierte kein Ort, an dem nicht aus irgendwelchen unsichtbaren Quellen zumindest ein leises Summen, Zischen, Piepsen oder Grummeln zu hören war, wenn es sich nicht um wesentlich mehr handelte, wie ein aufdringliches Surren der Luftversorgung oder das Brummen von anderen Geräten; immer war da irgendetwas oder irgendwer, um die nächste Ecke, im nächsten Raum, überall war jemand, und man wusste es. Lathan dagegen war eine gottverlassene Welt, so unglaublich still, und nur das leise Knacken des Feuers und das kaum hörbare Sirren des Schutzschildes trennte sie von einer perfekten Darstellung des Meeres der Stille.
Umso alarmierter waren sie, als sie plötzlich aus der Ferne ein dunkles Grollen hörten. Carl sprang auf und eilte, mit seinem Nachtsichtgerät ausgestattet, zum Schutzschirm, um in die Dunkelheit hinauszuschauen. John und Alan waren ebenso aufgestanden, während Helena die zur Seite gelegten Laser zur Hand nahm und sie an die Männer weiterreichte. Einen behielt sie selbst und checkte ihn auf Funktionstüchtigkeit. Victor sah sich mit zu wenigen Händen ausgestattet, denn mit der Rechten hatte er automatisch zu seinem Scanner gegriffen, und in der Linken hielt er plötzlich die Waffe, während er sie eigentlich zum Bedienen der Apparatur gebraucht hätte. Er schielte zu den anderen und legte den Laser etwas schuldbewusst ab, um den Scanner bedienen zu können. Er hatte eine herkömmliche Einstellung gewählt und nicht daran gedacht, dass in der Nähe der Castor alle Signale so gestört waren, dass es unmöglich war, überhaupt irgendeine brauchbare Messung vorzunehmen. Nach einem halben Blick auf die Anzeige fiel es ihm wieder ein, und er tauschte Scanner und Waffe gegen einander aus. Als er aufsah, fing er einen amüsierten Blick von Alan auf.
"Die Hoffnung stirbt zuletzt!", meinte er mit einem verständnisvollen Grinsen, und der Wissenschaftler hob beide Schultern. Das düstere Grollen wiederholte sich, nur, dass es näher zu kommen schien.
"Carl, ist etwas zu sehen?", erkundigte sich John, während er zum Mann vom Sicherheitsdienst ging und angestrengt versuchte, etwas in der Dunkelheit, die jenseits des zarten grünen Leuchtens der Schutzschildelemente lag, zu erkennen. Carl, der unmittelbar dahinter stand, schüttelte den Kopf.
"Es ist zu weit weg", gab er zur Antwort. "Wenn da etwas ist, meine ich." Sie lauschten, und erneut ertönte das Geräusch, das zornig wirkte, wie das ferne Schnauben wilder Stiere, die im Begriff waren loszutoben. Wieder war es deutlich lauter als beim vorigen Mal. Dann merkten sie, dass der Boden vibrierte.
John nahm seinen Commlock vom Gürtel und kontaktierte Alpha. Am anderen Ende meldete sich Paul Morrow, der offensichtlich gerade beim Essen gestört wurde. Er kaute und schluckte rasch den Bissen hinunter, ehe er zu sprechen anfing.
"Commander! Warum schlafen Sie nicht? Es ist schon gegen Mitternacht bei Ihnen."
"Paul, sehen Sie nach, ob der Satelliten-Scanner irgendetwas in der Umgebung unseres Camps ortet. Da draußen ist etwas, das uns gar nicht gefällt." Morrow neigte den Kopf.
"Wir sind mit den verrückten Scanner-Daten aber noch nicht wesentlich weiter gekommen", machte er seinen Chef aufmerksam. "Aber ich werde mal sehen, ob die Kameras dazu in der Lage sind, etwas zu sehen." Er machte sich daran, nach Informationen zu suchen. "Die Auflösung ist leider sehr schlecht", sagte er schließlich. "Ich kann nur sagen, dass da etwas Großes in Bewegung ist. Etwas sehr Großes. Oder viele kleine Dinge."
"Und es steuert auf uns zu, nicht wahr?"
"Leider. Es ist aber nicht mehr als eine Ahnung dessen, dass sich auf der Planetenoberfläche etwas tut. Sehr schwaches Signal, sonst hätte es schon einen Alarm gegeben. Ich konnte es nur mit ein paar von Sandras Tricks herausfiltern. Die Größe fluktuiert, aber ich kann nicht erkennen, ob es sich um intelligente Wesen handelt, oder ob Technik involviert ist. Es operiert offensichtlich im Dunklen. Keine Lichtquellen. Sollen wir Ihnen Hilfe schicken?" John schüttelte den Kopf.
"Ihr werdet zu spät hier sein. Zudem möchte ich nicht noch mehr Alphaner gefährden. Falls Sie noch etwas Hilfreiches herausfinden, wären wir dankbar. Paul, wir melden uns, wenn wir mehr wissen. Wenn Sie nichts mehr von uns hören, lassen Sie es sich ja nicht einfallen, nach uns zu suchen."
"Okay, Commander. Viel Glück." John nickte und unterbrach die Verbindung. Als nächstes rief er die Castor. Währenddessen näherte sich das Geräusch deutlich, es war wie eine heranmarschierende Armee, die vergessen hatte, was ein Gleichschritt ist, ein rumpelndes, vielfaches Poltern, als stampfte etwas Zorniges herbei, das sich erfolglos bemühte, leise zu sein.
"Hier ist die Castor", meldete sich der Bordcomputer des Schiffes.
"Haben Sie nicht gesagt, dass es keine Gefahren für uns auf dem Planeten gibt?", erkundigte sich John säuerlich. "Irgendetwas kommt uns nun näher, und ich würde mich nicht wundern, wenn wir gleich große Probleme bekämen! Wir haben zwar einen eigenen Schutzschild, aber wenn das Ding, das hierher unterwegs ist, so groß ist, wie wir vermuten, dann werden wir damit nicht weit kommen! Können Sie uns schützen?" Es war eine kurze Pause am anderen Ende der Leitung.
"Commander, unsere Waffensysteme sind inaktiv, ich erreiche sie auch nicht mehr. Die Verbindung ist bereits weggefressen, und die Ortungs- und Schutzsysteme des Schiffs haben völlig den Geist aufgegeben."
"Verdammt!" John ballte die linke Hand zur Faust. "Können Sie uns wenigstens Captain Yonwin und Major le Marler zur Verstärkung schicken? Vielleicht wissen sie ja, womit wir es hier zu tun haben."
"Ich habe keinerlei Kontakt zu ihnen", gab die Castor zu. "Commander, die Kommunikationskanäle sind mittlerweile fast das Einzige, das noch nicht vom natürlichen Lathanium zerstört wurde. Ich kann praktisch keine Funktionen im Schiff mehr steuern und habe keinen Zugriff mehr auf die Datenbänke."
"Na, hurra", sagte Carl, "dann sind wir auf uns selbst gestellt! Hoffen wir, dass Prof.Bergmans Schild ausreichend stark gegen diese Bedrohung ist.- Sehen Sie, Commander." Er nahm sein Nachtsichtgerät ab und reichte es John, der es entgegen nahm, aufsetzte, und ein paar Einstellungen adaptierte. Draußen in der Dunkelheit, gerade, soweit die Sicht reichte, war Bewegung zu sehen, unregelmäßig, einzelne bizarre Körper bewegten sich in einem wogenden, wankenden Muster, angeführt von einer kleinen Gruppe von Wesen, die offensichtlich zielstrebig auf die Castor - oder die Alphaner - fixiert waren. Der unbeholfen wirkende Gang täuschte, denn sie kamen rasch näher. Carl war inzwischen zu seinem Gepäck geeilt und hatte aus dessen unerschöpflich scheinenden Fundus ein Gewehr geholt. Dieses besaß eine wesentlich größere Wirkung als die Handfeuerwaffen, die im Kampf Mann gegen Mann hilfreich waren, aber nichts gegen ein ganzes Bataillon ausrichten konnten. Ein Gewehr war zwar wenig, aber besser als nichts.
Victor hatte sich gemeinsam mit Alan und Helena zu John gesellt. Der Commander betrachtete sie irritiert.
"Helena, du bleibst hinten." Sie ignorierte ihn. Ehe John darauf eingehen konnte, meldete sich der Wissenschaftler zu Wort.
"Was ist, wenn sie friedlich sind?", wollte er wissen, "Vielleicht sind sie ein Begrüßungskomitee, das Volk, zu dem die Knochen auf dem Friedhof gehören?"
"Ja, aber vielleicht sind sie auch ein Begrüßungskomitee, das uns an den Kragen will!", konterte Alan ironisch.
"Womöglich sind es auch nur nachtaktive Tiere, deren Wanderweg nur zufällig hier vorbei führt", ließ sich Victor nicht aus der Ruhe bringen.
"Das hilft uns aber auch nicht weiter", erwiderte John. "Wir müssen uns auf die schlimmste Variante gefasst machen, und das bedeutet, wir müssen davon ausgehen, dass sie uns auslöschen wollen." Alle starrten hinaus, und interessanterweise waren die Wesen jetzt schon ohne Nachtsichtgerät und mit freiem Auge in der Dunkelheit zu sehen. Es handelte sich um gedrungene Gestalten, massiv und groß wie Bisons, auch wenn sie keinerlei sonstige Ähnlichkeit mit ihnen hatten. John rief sich die zarten, durchscheinenden Knochen auf dem Friedhof ins Gedächtnis und entschied für sich, dass es sich dabei nicht um dieselbe Spezies handeln konnte.
Der Nachthimmel wurde hell, immer heller, und der Schauplatz war bald fast in ein wie von Scheinwerfern beleuchtetes Areal verwandelt, das in weißes gespenstisches Licht getaucht war. John hatte im ersten Augenblick vermutet, dass die Castor die Außenbordleuchten eingeschaltet hatte, doch er irrte sich, denn das Licht rührte von Schwärmen der Leuchttierchen her, die sich in immer größerer Zahl am Schauplatz einfanden, und, über der Szene schwebend, die Nacht in den Tag verwandelten.
"John, wir sollten den Adler per Fernsteuerung herholen", schlug Alan vor, wohl wissend, dass alles viel zu schnell ging und ihr Schiff mit Sicherheit noch nicht einmal startklar war, wenn sie von der Horde erreicht wurden.
"Alan, dafür reicht die Zeit nicht", erwiderte John auch folgerichtig. "Wir werden sehen, was sie im Schilde führen, und im schlimmsten Fall ziehen wir uns auf die Castor zurück. Vielleicht hält ja auch Victors Schutzschirm." Das künstliche, grünliche Leuchten um ihr Lager schien, nun kritisch betrachtet, viel zu zart, ja, armselig, als könnte es gegen eine Übermacht an Feinden bestehen, selbst, wenn diese keine Waffen hatten und nur mit dem kämpften, was ihnen von Natur aus gegeben war.
Die Helligkeit schien die Wesen zu irritieren, sie stoben zwar weiter voran, verloren aber zunächst die Richtung, kollidierten auch teilweise miteinander, ehe sie sich schlussendlich adaptiert hatten und unaufhaltsam näher rückten.
Nun konnte man sie schon besser erkennen. Sie waren massiv, bewegten sich, wie es schien, auf vier, oder auch auf zwei und sogar sechs Fortsätzen weiter, die sich wie massige Ausläufer in den Boden stemmten und sie vorantrieben. Ein eindeutig zu identifizierender Kopf war nicht auszumachen, irgendwo inmitten fleischig anmutender, strangartiger Strukturen konnte man wohl das individuelle Steuerzentrum vermuten, und auch das Sensorensystem, das, empfindlich gegen Licht, ihnen dennoch sagte, wohin sie sich zu wenden hatten. Die Masse donnerte unaufhaltsam in einer wallenden, unstrukturierten Bewegung auf die Alphaner zu. Die Gruppe wich zurück, bis hin zu ihrem Lager, und alle hielten ihre Waffen abwartend im Anschlag. Der Lärm wuchs, drohende, knödelnde und knurrende Geräusche drangen auf die Menschen ein, die entsetzt auf die taghell erleuchtete Szene starrten, schwitzend und bebend vor Erwartung.
Ohne die Geschwindigkeit zu reduzieren, warfen sich die Ersten mit voller Wucht gegen den Schutzschirm - und prallten, ein intensives grünes Schillern verströmend, davon ab. Orientierungslos rannten sie in alle Richtungen weiter und kollidierten in einem donnernden Knallen mit nachfolgenden Wesen, die taumelten, zu Boden fielen, und andere, die dahinter waren, zu Fall brachten. Ein lautes Schreien ertönte, wütend und unbarmherzig, und die Meute rüstete sich erneut, um vereint gegen den Schutzschirm der Alphaner anzurennen. Wieder versagten sie, wieder taumelten sie zurück, und der Lärm wurde fast unerträglich. Jeder erfolglose Angriff schien sie nur erneut aufzustacheln, wieder anzugreifen, kein System steckte dahinter als jenes, das dem Diktat: "Mit dem Kopf"- so einer vorhanden war - "durch die Wand", folgte. Und was noch dazu kam, es schien einen unendlichen Vorrat an Angreifern zu geben. Sie trampelten sich gegenseitig zu Tode, denn manche blieben, von ihresgleichen zur Strecke gebracht, einfach wie Fleischberge am Boden liegen, während die übrigen zornig über sie hinwegrasten, aber von hinten kamen mehr und immer mehr Individuen, die, einer unsichtbaren Fährte und ebenso unsichtbaren Motiven folgten, und die offensichtlich nichts anderes vorhatten, als die Menschen zu erreichen. Es war ein grausiges Schauspiel, ein Toben, ein Wuseln von Leibern, die von der grünen Barriere zurückgeworfen wurden, sich erneut rüsteten und voranpreschten, als hinge ihr Leben davon ab. Die Toten stapelten sich bereits vor dem Schutzschirm, der, eine freie Zone vor sich, noch immer zart grün vor sich hin schillerte. Es war bald klar, dass es keinen Rückzug geben werde. Diese Wesen verfolgten ihr Ziel bis zum Erlöschen, nur eine Strategie existierte: dass nämlich die Masse den Sieg davon tragen werde.
Victor betrachtete sorgenvoll sein kleines Wunderwerk von Schutzschirm. Es war für solche Belastungen nicht gedacht, denn die Energiequelle, die es speiste, war zwar vor dem Aufbruch von Alpha frisch geladen worden, aber es handelte sich keineswegs um eine Quelle endloser Stromversorgung.
"Vielleicht können wir sie vertreiben, wenn wir auf sie schießen?", mutmaßte er mit wenig Hoffnung.
"Gut", stimmte John ein, "probieren wir es zunächst mit Betäubung, und wenn das nicht hilft, mit scharfer Munition." Die anderen stellten ihre Waffen ein und schossen wahllos in die Menge. Victors Schirm war so konzipiert, dass man zwar von der geschützten inneren Seite hinausschießen konnte - dass aber umgekehrt kein Schuss hineingelangen konnte, egal, ob es sich um ein konventionelles Geschoss handelte oder um einen Energiestrahl. Wie befürchtet, zeitigten ihre Anstrengungen keine Wirkung. Zwar blieben bei einem Todessprühregen aus Carls Gewehr die vorderste Front der Gegner auf der Strecke, doch die Masse der Angreifer wälzte sich nach wie vor nach vorne und verwendete all ihre Kraft darauf, den Schirm zu durchdringen oder zu überwinden.
Gerade, als ein erstes Flimmern des grünlichen Kraftfeldes ein Schwächerwerden der Batterie ankündigte, schien plötzlich neue Bewegung in die Feinde zu kommen. Von der Seite her erschütterten Turbulenzen ihre Reihen, und irgendetwas schien ihr Vorwärtskommen zu behindern. Carl inspizierte mit seinem Nachtsichtgerät den Aufruhr, und gab das Gerät anschließend wortlos an John weiter. Dieser schaute hindurch, und was er sah, verschlug ihm den Atem. Kugelnde Geästtiere warfen sich in übergroßer Anzahl ins Kampfgetümmel, wobei sie mit sich entfaltenden Teilen ihrer Äste die Gegner regelrecht knackten. Sie nahmen sie in die Zange, wussten offensichtlich genau, wo sie verwundbar waren und brachten sie rasch und in großer Anzahl einfach zum Platzen, indem sie sie zerquetschten.
Die Alphaner hatten sich noch nicht von ihrer Verwunderung losgeeist, als sie auch bemerkten, wie die Lichttierchen mit einem Male ihre Strategie änderten, nicht nur wahllos für Helligkeit sorgten, sondern sich formierten, zu Lichtpfeilen, die in rasender Geschwindigkeit hinabstießen, die Angreifer durchbohrten und sie damit zerstörten.
"Es scheint, als hätten wir gemeinsame Feinde", ließ Alan verblüfft verlauten. "Umso besser." Doch ehe die Rede davon sein konnte, dass sich das Glück wendete, zirpte eines der Schirmelemente laut und vernehmlich und verlosch anschließend. Es dauerte keine halbe Sekunde, bis eine Horde von Angreifern durch die entstehende Lücke eindrang, und wütend tosend vorwärts preschte, schneller als je zuvor, während die Alphaner eilig versuchten, unter Feuerschutz in die Castor zu gelangen. Sie hatten nur wenige Meter zu überbrücken, weil sie sich ohnehin in der Nähe der Rampe positioniert hatten, doch noch ehe sie durch das Portal ins Innere des Schiffes gelangt waren, hatten die Wesen sie eingeholt und danach trachteten, sie zu töten, indem sie lange, schlanke Tentakel entrollten, die sie von sich schleuderten und damit versuchten, die Menschen zu erschlagen. Glücklicherweise waren diese Schläge zwar überaus schmerzhaft, brannten wie Feuer und wirkten wie Peitschenhiebe, die sie aus dem Gleichgewicht brachten, konnten ihnen aber, solange sie keine empfindliche Stelle trafen, keine wesentlichen Verletzungen zufügen. So gelangten sie unter Carls Feuerschutz in die Eingangshalle der Castor, was die Angreifer allerdings nicht daran hinderte, ihnen zu folgen, und sie bald mit effektiveren Mitteln anzugreifen. Sie richteten sich, offensichtlich unter erheblich größerem Energieaufwand, auf ihre rückwärtigen beinartigen Fortsätze hoch und schleuderten gleichzeitig fleischige, dicke Fangarme an ihrer Unterseite, die mit spitzen Zähnen bewaffnet waren, als Prügel durch die Luft, um die Alphaner in den Tod zu reißen. Die Menschen aber waren wendig und auf der Hut, machten von ihren Handlasern Gebrauch, und überdies war Carl ein hervorragender Schütze, der reaktionsschnell eine Gefahr ausmachte und sie umgehend eliminierte.
Die Übermacht der Feinde war aber das Hauptproblem. Massen folgten, rollten in die Castor wie eine überbordende Woge eines Tsunamis, doch gleichzeitig ratterten Geästtiere in großer Menge herein und metzelten ihre Gegner nieder, und selbst die Lichttierchen flirrten durch die hohe Halle und setzten den Angreifern schwer zu. Den Alphanern blieb aber am Ende nichts anderes übrig, als die Beine in die Hand zu nehmen, und sie rannten, ohne an mögliche Gefahren zu denken, die im Inneren des Schiffes lauern konnten, durch verschiedene Korridore davon. John hatte Helena, die er nicht aus den Augen gelassen hatte, an der Hand gepackt, und gemeinsam hechteten sie über eine Rampe nach oben, hofften, irgendwohin zu gelangen, wo die massigen Angreifer allein aufgrund ihrer Wuchtigkeit keinen Zugang hatten, und damit in Sicherheit zu sein. Sie hatten kein Auge für den wunderbaren Schmuck der Bogengänge, für die liebevolle, wenn auch vollkommen schwarze, Ausarbeitung von Details und Elementen wie Wimpergen, besetzt mit Krabben und flankiert von Fialen, die, entgegen der ursprünglichen gotischen Baukunst, nicht nur an den für sie vorgesehenen Stellen angebracht waren, sondern wie regellos, und dabei, ein durchkomponiertes, harmonisches Ganzes erzeugend, an allen möglichen und auch unmöglichen Orten zu finden waren. Sie rannten, immer den blauen Lanzen ausweichend, die Gänge entlang, über schmale Wendeltreppen hinauf und gelangten schließlich in die oberen Geschoße des Schiffes, wo es heiß war und stickig, einerseits von Furcht vor den Feinden getrieben, andererseits zunehmend voller Panik, dass ihnen das Schiff etwas antat. Irgendwann erreichten sie eine leere Halle, längst nicht so groß wie diejenige, durch die sie das Schiff betreten hatten, fast klein und heimelig im Vergleich, in mildes buntes Licht getaucht, das durch ein Maßwerkfenster mit Drei- und Vierpassformen und farbigen Glasfacetten mit ornamentalem Charakter hereinschien. Helena keuchte mit ihrem letzten Atem, dass sie nicht mehr könne. Sie fiel zu Boden, während ihre Lungen wie Feuer brannten, sie sich schwach und welk fühlte, und trotzdem den Feind im Nacken spürte, als hätte sie keine Chance auf Entkommen. John versuchte, auf den Beinen zu bleiben, blickte zurück in den Korridor, durch den sie gerannt waren, und hatte selbst kaum den Atem, Helena aufzufordern, nicht aufzugeben und weiterzulaufen. Sie warf ihm von unten einen nahezu ohnmächtigen Blick zu und schüttelte nur den Kopf. Für mehr als ein "Kann nicht!", reichte ihre Luft nicht mehr, und sie schloss die Augen, während sie sich an die kühle Wand lehnte. John sank neben ihr auf den Boden, sich ihrem Diktat ergebend, und sog gierig Luft in seine Lungen.
"Werden sie uns erwischen?", fragte Helena nach einer Weile, immer noch außer Atem. Er schüttelte den Kopf.
"Kommt drauf an, wen du meinst", gab er zur Antwort. "Die Angreifer, selbst wenn sie unserer Witterung folgen sollten, müssten schon in der ersten Wendeltreppe feststecken. Was das Schiff angeht, bin ich mir nicht so sicher." Er lächelte aufmunternd, während sie ihn wenig begeistert anstarrte.
"Ich hoffe, den anderen geht es gut", meinte sie.
"Ich habe Victor und Alan gemeinsam verschwinden gesehen", informierte er sie, "sie werden es schon geschafft haben, sich zu verschanzen. Was Carl angeht, kann ich es nicht sagen. Er trotzte noch den Angreifern, als ich ihm längst zugerufen hatte, Fersengeld zu geben. Er ist ein wahrer Rambo!" Sie lächelte.
"Ja, das ist er. Ein mutiger Mann. Mit einem hervorragenden Geschmack für Süßigkeiten." Er lachte hustend.
"Für klebrige Süßigkeiten", ergänzte er schließlich.
"Da hat man länger was davon!", erwiderte sie schwach und musste auch husten. Sie schwiegen erschöpft und lauschten nach Geräuschen. Es herrschte jedoch Totenstille. Entweder waren die Wände des Schiffes so sehr isoliert, dass sie kein Laut durchdringen konnte, oder es gab keinen Laut mehr. John vermutete Ersteres. Er kam langsam zur Ruhe, musterte Helena besorgt, die mit geschlossenen Augen, den erhobenen Kopf an die Wand gelehnt, neben ihm saß und versuchte, ihre Schwäche zu überwinden. Er beobachtete, wie sich ihr Brustkorb unter dem beschädigten Top heftig hob und senkte, während sich gleichzeitig eine Sehnsucht in ihm breit machte, sie zu berühren, ihr Haar, ihre Haut, mit den Lippen den Konturen ihres Körpers zu folgen, sie bis ins Detail zu erforschen. Das muss der Sauerstoffmangel sein, dachte er, die Gedanken von sich schüttelnd, komm wieder zu dir, John. Träumen kannst du, wenn du in deinem Bett liegst, nicht in einer solchen Situation.
Er wischte sich unwirsch über die Augen, und als er sie wieder öffnete, sah er nicht nur Captain Yonwin im Raum stehen, sondern auch dessen Frau Beryll le Marler, die ihn neugierig musterte und dabei eine Miene machte, als wüsste sie genau, woran er gedacht hatte. Er hatte nicht gemerkt, dass sie eingetreten waren, und schrieb das dem Rauschen des Blutes in seinen Ohren zu, von dem er jäh feststellte, dass es in ihm toste.
"Helena", sagte er, als er sah, dass auch sie nichts bemerkt hatte. Sie öffnete mit fragendem Blick die Augen, und entdeckte Yonwin und seine Frau.
"Sieht so aus, als hätten Sie sich bereits ohne Begleitung an die Schiffsbesichtigung gemacht", meinte Beryll, jedoch milde und ohne Vorwurf in der Stimme.
"Sozusagen", stimmte John zu. "Nur, dass wir nicht sehr viel davon gesehen haben. Wir wurden angegriffen von einer Armee aus wilden Tieren, oder was auch immer, und konnten nichts anderes tun, als in die Castor zu fliehen, sonst wären wir jetzt wohl tot." Die beiden warfen einander einen fragenden Blick zu.
"Es gibt hier keine Gefahren", sagte Beryll, "Sie müssen sich täuschen."
"Na, klar, die haben wir uns nur eingebildet", erwiderte John, während er sich mühsam erhob, "und die Geästtiere und die Lichttierchen auch, die uns zur Hilfe geeilt sind." Yonwins Stirn legte sich in blasse Falten.
"Das kann nicht sein. Die Knochenbrecher mögen uns nicht. Sie würden Menschen nicht helfen, wenn sie sie auch sonst meist in Ruhe lassen."
"Nun, dann haben sich die Zeiten eben geändert", resümierte John. Neben ihm kam auch Helena stöhnend in die Höhe.
"Was für einen Grund sollten wir haben, Ihnen etwas vorzumachen?", wollte sie wissen. Yonwin schüttelte knapp den Kopf.
"Nein. Nein, es gibt hier keine Feinde, die über uns herfallen."
"Nun, dann möchte ich gerne wissen, wer die übrigen Mitglieder Ihrer Mannschaft getötet hat?", erwiderte John ungehalten. "Sie selbst werden es wohl nicht gewesen sein!" Er hatte langsam die Nase voll von dieser Unwissenheit, davon, dass die beiden immer nur genau das zu wissen schienen, das ihnen nicht weiterhelfen konnte.
"Nein!" Yonwin reagierte heftig. "Nein! Ich könnte ihnen nie etwas antun! Sie sind nicht nur meine Crew, sie sind alles persönliche Freunde, die mit uns zusammen einen weiten gemeinsamen Weg gegangen sind." John ging darauf nicht ein, denn seine Frage war aus seiner Warte ohnehin von rhetorischem Charakter gewesen, sondern verschränkte die Arme vor der Brust.
"Wissen Sie, es gibt eine Frage, die mich schon die ganze Zeit über beschäftigt", sagte er. Yonwin musterte ihn aufmerksam. "Wie kommt es, dass die Castor uns gerufen hat, statt Ihre Heimatwelt zu kontaktieren? Entfernungen und Dimensionen scheinen ja mit Ihren technischen Mitteln keine Rolle zu spielen." Der Captain pausierte nur kurz.
"Wir können Eridan nicht um Hilfe bitten", gab er zur Antwort, "ebenso wenig wie die restlichen verbündeten Welten." John sah ihn neugierig an und wartete auf eine Erklärung. "Wir sind auf uns allein gestellt. In den Augen unserer Heimatwelt sind wir Verbrecher, die den Tod verdienen. Für uns gibt es auf Eridan keine Hilfe."
"Aber wollten Sie nicht das Lathanium, das hier auf dem Planeten gewonnen wird, an Ihre Heimatwelt verkaufen?", meinte er schließlich. "Wie soll das gehen, wenn man Sie als Verbrecher verfolgt?"
"Sie haben illusorische Ansichten über das Wesen des Menschen", gab Yonwin kalt zur Antwort. "Wir reden über astronomische Gewinne. Natürliches, bereits aufgereinigtes Lathanium ist deutlich billiger in der Herstellung als das künstliche Material. Die Gier nach Geld hätte uns den Weg geebnet, darüber gibt es keinen Zweifel."
"Sieht aber nicht so aus, als sei das Lathanium hier einverstanden mit Ihren Plänen gewesen", konnte John sich eine ironische Bemerkung nicht verkneifen.
"Es ist ein höchst diffiziler Werkstoff."
"Aber was haben Sie getan, dass man Ihnen auf Eridan nach dem Leben trachtet?", erkundigte sich Helena.
"Sie müssen sehen, um unsere Geschichte zu verstehen", erwiderte Yonwin.
"Wird das unserer Sache hier dienlich sein?", wollte John wissen. Er hatte keine Lust, sinnlos Zeit zu vergeuden.
"Da ich leider, genauso wie meine Frau, die Sache an sich vergessen habe, ist es mir unmöglich, Ihre Frage zu beantworten." Yonwins Antwort troff vor Sarkasmus. "Sie werden es riskieren müssen. Wir werden Ihnen zeigen, was wir wissen." John war müde und für Spiele nicht aufgelegt, zudem machte er sich Sorgen um den Rest seiner Mannschaft. Es war schon weit nach Mitternacht, aber dennoch lockte ihn die Chance darauf, endlich Licht in die Angelegenheit zu bringen.
"Was meinen Sie mit zeigen?", wollte er wissen und überlegte, ob die Datenbanken der Castor noch ausreichend intakt waren, um die Information herzugeben.
"Vertrauen Sie uns, wir sind Lathaniten", sagte aber Beryll, und in ihren Worten lag eine alarmierende Nuance, die keinen Widerspruch duldete. John erschrak, aber gleichzeitig bemerkte er, dass er keine Wahl hatte. Er war auf einmal taub, wie gelähmt, und seine Muskeln gehorchten ihm kaum mehr. Es war ihm selbst unmöglich zu sprechen, und wie in Trance sah er die Szene vor sich. Der Captain und seine Frau näherten sich ihnen, und plötzlich war John, als kristallisierte sich alles in diesem Raum, die Luft klirrte in funkelnden Kristallen, die Wände, selbst seine Hände glitzerten in funktionsloser Starre, während das einzige Lebende hier Adalgis Yonwin und Beryll le Marler waren. Ein hilfloser Blick zu Helena zeigte ihm, dass sie Ähnliches empfand, sie stand da, im Gesicht Erstaunen und einen Hauch von Furcht. Im nächsten Augenblick war seine Sicht getrübt, als blickte er durch Milchglas, aber er spürte eine unbekannte Präsenz in seinen Gedanken, etwas Fremdes, Kühles, Distanziertes, das sich in seinen Verstand quetschte, unangenehm, als schlüge man seinen Kopf gegen die Wand, und dann war er auf einmal nicht mehr in der Halle.
Er kauerte im Unrat und suchte nach schönen Dingen, immer eifrig darauf bedacht, dem einzigen Sonnenstrahl, der zwischen den hohen, schwebenden Gebäuden zu ihm herunter drang, auszuweichen. Schöne Dinge waren kaputte Spulen, Reste von Datenkristallen, eine Tasse mit Sprung aus Porzellan, der der Henkel fehlte, eine Haarspange mit glitzernden Steinen, alles, was den Abfallverwertungsautomaten irrtümlich von der Schippe sprang und hier unten landete. Die heutige Ausbeute war nicht gerade sensationell, der beste Fund war eine Gabel mit verbogenen Zinken gewesen. Die älteren Kinder waren ihm wieder einmal zuvor gekommen. Sehnsüchtig starrte er nach oben und hoffte, dass ein Abfalltransport vorbeikäme und beim Umladen des Mülls etwas Kostbares verlöre.
Er spürte ein Summen und Surren in seinen Eingeweiden, das war der tägliche Transporter, der das fertig aufbereitete Lathanium aus der Fabrik holte und für den Export zum Raumhafen brachte. Er fühlte Lathanium, er kannte seine Eigenschaften, wusste, wann es rein und von herausragender Güte war. Er konnte sagen, wer es bearbeitet hatte, kannte den perfekten Zuschliff aus seines Vaters Hand, der jedoch vor kurzem an einer Überdosis Fentol gestorben war. Er verabscheute das von seiner Mutter mit Lieblosigkeit geschluderte Material, das bestenfalls für minderwertige und ganz anspruchlose Geräte in Verwendung genommen werden konnte. Unter den Arbeitern nannte man sie spöttisch "Türsteherin", weil fast das gesamte, von ihr gereinigte Lathanium in die Automatik von Türöffnern gesteckt wurde. Adalgis hasste sie, weil es ihr egal war, weil ihr alles egal war, einschließlich der Tod ihres Mannes, den man zu noch besseren Leistungen mit Drogen vollgepumpt hatte, und auch ihr Sohn, um den sie sich nicht kümmerte. Er selbst war das Produkt einer geplanten Kreuzung, seine genetischen Anlagen waren anhand der elterlichen Muster am Reißbrett entworfen worden, wie die aller anderen Lathaniten, ein herkömmliches, unaufwändiges Verfahren, um die besten Lathanium-Arbeiter zu gewinnen. Sie waren Werkzeuge, keine Menschen.
Sie hausten in den Verliesen der Welt, waren ohne Ansehen und Wert
Er hatte es schnell verstanden, dass er nichts war, niemals etwas werden konnte, abgesehen von einem guten Arbeiter in der Fabrik, und dass es ihm nicht beschieden war, jemals auch nur einen Blick auf die schwebenden Plattformen zu werfen, wo die Menschen ihren Tagesgeschäften nachgingen. Nicht, dass er das Licht vermisste - im Gegenteil - er fürchtete es, aber unter seinesgleichen kursierten märchenhafte Geschichten, was alles in dieser fremden Welt möglich war. Das Verlangen nach mehr begleitete ihn auf jedem Schritt in seinem Leben.
Seufzend erhob er sich. Er musste zum Training. Bald schon sollte er so weit sein, in der Fabrik zu arbeiten.
Sie stand an eine fahle Wand gepresst, das lange schwarze Haar flatternd und sich kräuselnd im Wind der Lüftungsturbinen, und ihr Herz klopfte vor Angst wie verrückt. Die Hände hatte sie hinter dem Rücken versteckt, und ihre Knie schlotterten unter dem kurzen, schmucklosen grauen Kleidchen, das sie trug. Sie fürchtete sich zu Tode, denn sie war in einer Sackgasse gelandet, und die anderen würden sie bald eingeholt haben. Sie waren größer als sie, selbst Ghetto-Kinder, aber normal, und damit war sie von ihnen auf der sozialen Leiter so weit weg wie eine Kakerlake von einem Schwan. Sie kamen zu viert, mit triumphalem Geschrei stürzten sie sich auf sie und stießen sie zwischen einander herum.
"Zeig deine Hände her!", schrieen sie im Chor, "Zeig deine Hände her!" Sie brach in Tränen aus, als sie sie packten und ihre Arme hinter dem Rücken hervorzerrten.
"Wo sind deine Handschuhe?", tobten sie.
"Ich muss noch keine tragen", erwiderte sie weinend, "ich bin noch zu klein." Die Antwort stellte sie nicht zufrieden, hatten sie ja gehofft, sie ihr wegnehmen zu können, um sie in Schwierigkeiten zu bringen. Verdrossen prügelten sie auf sie ein, bis sie am Boden lag, Blut aus der Nase rann und ihr Kleid zerrissen war.
"Was geht hier vor?" Zwei Männer von der Miliz zerrten das Knäuel aus Kindern auseinander. Als sie Beryll im Gewühl auftauchen sahen, lachten sie.
"Seht zu, dass ihr wegkommt!", befahlen sie den jungen Schlägern, und sie stoben auseinander. Sie blieb am Boden zurück, tränenüberströmt und ohne ihre Schuhe, die die anderen mitgenommen hatten.
"Weg mit dir, Abschaum!", sagte einer von ihnen, "Wir wollen dich hier nicht mehr sehen. Du machst unseren schönen Weg schmutzig!" Sie rappelte sich auf und humpelte davon, weinend, erniedrigt. Sie war kaum fünf Jahre alt.
Er war zehn, als er zum ersten Mal die E-Peitsche zu spüren begann. Sie schnitt in sein Fleisch, tanzte mit ihren elektrischen Impulsen über seinen Rücken und fraß sich wie eingebrannt in seinen Verstand. Er war zum wiederholten Male zu spät zur Arbeit erschienen, denn er hatte die Schicht für seinen kranken Bruder übernommen und war auf der Strecke zu seiner eigenen Arbeitsstelle in der Umkleidekabine eingeschlafen. Die Lathaniten waren Einzelkämpfer, jeder für sich, und der Nachteil des anderen war am Ende der eigene Vorteil, und so hatten sie ihn nicht geweckt sondern waren an ihm vorbei in ihre Schicht geschlichen, um mit einem schadenfrohen Grinsen verstohlen dabei zuzusehen, was geschah, als er endlich hereinkam. Zweimal hatte man ihn für zehn Minuten Verspätung verwarnt, beim dritten Mal war er hinausbeordert worden in den Vollzug. Der Vollstrecker war kein Lathanit, sondern ein Müllmann, selbst sehr weit unten in der Nahrungskette, aber an diesem Ort der Herr und Meister. Er kam seiner Aufgabe sorgfältig nach und prügelte Adalgis gewissenhaft die Seele aus dem Leib. Der Junge war, selbst für sein Alter, hart im Nehmen, und den Triumph gönnte er ihnen nicht. So ließ er sich nichts anmerken, nahm unbeteiligt, als käme er von der Pause zurück, an seiner Werkbank Platz, um sich mit zitternden Händen dem ersten Strang Lathanium zu widmen.
Auf dem Weg fiel sie ihm zum ersten Mal auf. Sie war ein paar Jahre jünger als er, saß in seiner Nähe, und als er an ihr vorbeikam, erreichte ihn ein mitfühlender, trauriger Blick aus ihren dunklen Augen.
Sie arbeiteten in derselben Schicht, tagein, tagaus. Jahrein, jahraus. Und doch hatten sie kaum mehr als ein paar Worte miteinander gewechselt. Sie beobachteten einander, waren unruhig, wenn der andere zur Arbeit nicht erschien, und froh, ihn am Morgen an seiner Werkbank vorzufinden. In der spärlichen Freizeit waren sie einander noch nie begegnet. Beryll mochte sein widerspenstiges, schwarzes Haar, das ihm wild am Kopf wuchs und immer zu lang war, seine ruhigen und präzisen Bewegungen, die einer Liebkosung des kostbaren Lathaniums gleichkamen, wenn er es reinigte, das innere Gefüge ordnete, ihm Denkstrukturen verpasste, und damit die Basis für die lebenden Computer schuf, die die Welt erobert hatten. Sie selbst mochte das Material ebenso wie er, es war fast wie ein Freund für sie, dem sie den Weg weisen musste, Ordnung schaffen, dem sie aus seinem rohen Zustand heraus eine Form geben musste, dazu geeignet, den höchsten Anforderungen gerecht zu werden. Im Stillen wetteiferte sie mit ihm, und, obwohl sie jünger war als er, schaffte sie es bald, ähnlich meisterlich zu arbeiten wie er. Es gab keine Vergünstigungen für die Besten, nur eine innere Befriedigung, denn natürlich sickerte es durch, für welchen Zweck ihre Arbeiten in Verwendung genommen wurden.
Als er plötzlich begann nachzulassen, nahm sie heimlich seine Werkstücke an sich und besserte sie nach, während sie sich sorgte wegen seiner schwarzen Ringe unter den Augen, seiner Unkonzentriertheit und wieder einmal seines Zuspätkommens am Morgen.
Er passte sie eines Abends nach der Schicht in einer Seitengasse ab.
"Was fällt dir ein!", fuhr er sie böse an, und sie schaute zu ihm auf, verblüfft, gleichzeitig aufgeregt - und dabei auch noch amüsiert.
"Wenn du nicht solchen Müll produzieren würdest, müsste ich mir deine Stücke nicht ständig vornehmen!", erwiderte sie, genau wissend, worauf er hinauswollte. Sie war cool und mutig, niemand sonst hätte es gewagt, so mit ihm zu sprechen. "Womit auch immer du dir deine freie Zeit um die Ohren schlägst", fuhr sie ungeniert fort, "du solltest darauf achten, dass dies deine Arbeit nicht beeinträchtigt, denn sonst fliegst du schneller auf, als du 'piep' sagen kannst. Ich kann nicht immer hinter dir herräumen!"
"Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten!", erwiderte er zornig.
"Das ist das Hauptproblem unter uns Lathaniten", gab sie prompt zurück, "wir kümmern uns immer nur um unsere eigenen Angelegenheiten! Kein Wunder, dass wir am unteren Ende der Gesellschaft stehen, wenn es keinen Zusammenhalt gibt."
"Du bist zu jung, das alles zu verstehen", sagte er, insgeheim beeindruckt von ihrer klaren Sicht der Dinge.
"Ich bin alt genug, gleich gut zu sein wie du", hielt sie ihm entgegen, das Kinn trotzig vorgestreckt.
Er ließ sie stehen, wo sie war.
Das war nicht gut. Er spürte eine Flamme in sich brennen, die vergebens leuchtete, denn er wusste, dass er keine freie Wahl hatte. Das System hatte schon lange festgelegt, wer seine Partnerin werden sollte. Er kannte sie bereits. Sie war ein oberflächliches Wesen mit guten Erbanlagen, jedenfalls solchen, die sich ideal mit seinen eigenen ergänzten, ein rothaariges Mädchen, das landläufig als Schönheit galt, mit dem er aber nichts anfangen konnte.
Beryll war eine Option, die ihm nicht offen stand.
Es hatte eine Rebellion gegeben, an der ein paar alte Lathanium-Arbeiter beteiligt waren, und die Sanktionen, die den restlichen Lathaniten von der Regierung und deren Vorsitzenden, Aethelbeorn Jarvis, auferlegt wurden, waren fürchterlich. Man implantierte ihnen ID-Chips, um immer sicher zu sein, wo sie sich aufhielten. Nahrungsrationen wurden auf unbestimmte Zeit reduziert und bewegten sich auf einem Level, auf dem es zuwenig zum Überleben, aber zuviel zum Sterben war. Jedes kleinste Vergehen wurde mit dem Tod bestraft. Es gab keine Ausnahme.
Die Situation hatte sich für sie
wesentlich verschlechtert, sie waren rechtlich mittlerweile vogelfrei, und nur
die Tatsache, ob ein Lathanit die goldene Marke für die Ableistung
hervorragender Arbeit trug oder im Gegenteil dazu eine graue für die
Herstellung minderwertiger Produkte, entschied darüber, ob er der sinnlosen
Willkür eines jeden Unzufriedenen ausgesetzt werden und folgenlos jeder
Gewalttat zum Opfer fallen konnte. Die Gesetzesmacher lobten einander, hatten
doch ihre Maßnahmen dazu geführt, dass die Qualität des Lathaniums sprunghaft
in die Höhe schnellte.
Die Lathaniten arbeiteten um ihr Leben.
Beryll wankte von ihrer Werkbank zur Garderobe, wo sie die sterile Kleidung ablegte, sich umzog und Handschuhe über ihre weißen, fast durchscheinenden Hände zog. Das Lathanium hatte Spuren hinterlassen, und die Lathaniten mussten sich bedecken, um ihre von der Arbeit entfärbten Hände zu verbergen. Sie war bestraft worden, weil ihr Fehler unterlaufen waren, und sie überlegte, wo sie gefahrlos eine Kleinigkeit zu essen stehlen konnte. Sie fühlte sich zu schwach, effektiv zu arbeiten, aber ein solches Argument zählte unter den Ausbeutern nicht. Sie war länger geblieben, um ihr Pensum zu bewältigen, und war die Letzte aus ihrer Gruppe, die die Fabrik verließ. Als sie heimwärts ging, betäubt und wie auf Watte, fühlte sie sich plötzlich zur Seite gezogen und in einen Hauseingang bugsiert.
"Komm mit!", hörte sie eine wütende Stimme, die sie grob am Handgelenk hielt. Sie erkannte sofort, um wen es sich handelte.
"Adalgis!", flüsterte sie, "Ich kann nicht! Der ID-Chip verrät mich doch!"
"Sei nicht so blöd", konterte er sauer, "die Signale kann ich umleiten. Die wollen betrogen werden, diese Idioten, dann tun wir ihnen doch den Gefallen!" Er fasste sie am Handgelenk und hielt einen Apparat an den subkutanen Chip, woraufhin dieser der Zentrale offensichtlich mitteilte, dass sie gehorsam nach Hause und schlafen ging.
"Ich muss einen Test mit dir machen", flüsterte er und hielt ihr ein anderes Gerät an den Kopf. Ein Blitzschlag traf sie und brachte sie ins Wanken. Er kümmerte sich nicht darum, sondern las auf einer holographischen Anzeige das Ergebnis ab.
"Wo hast du das her?", wollte sie entnervt wissen, doch er ignorierte sie.
"Gottseidank!", sagte er erleichtert, als er fertig mit dem Ablesen war. "Du gehörst zu uns."
"Wer sind 'wir'?", fragte sie konsterniert.
"Wir sind nicht wie die alten Stümper, die man hochgenommen hat", gab er zur Antwort, "wir werden es ihnen zeigen!"
Es dauerte, bis sie dazu in der Lage waren, "es ihnen zu zeigen", die Vorbereitungen brauchten Zeit, das Sammeln von Verbündeten, das Legen falscher Fährten. Es war nicht einfach, den findigen Feinden immer einen Schritt voran zu sein. Sie trafen sich nur in der Gruppe, niemals allein, um das Vertrauen untereinander aufrecht zu erhalten. Immer mindestens fünf Kameraden kamen zusammen, um die Fortschritte zu besprechen, neue Hürden zu diskutieren, Planabänderungen zu machen. Irgendwann stand ihr Vorgehen fest.
Die Nachricht war zu ihnen durchgedrungen, dass es einen für Menschen geeigneten Planeten gab, auf dem natürlich vorkommendes Lathanium existierte. Zuerst hatten die Lathaniten die Hoffnung gehabt, offiziell den Planeten besiedeln zu können, doch man hatte offensichtlich Angst davor, ihnen zuviel Freiheit zu geben, den Einfluss auf sie zu verlieren, und die Idee wurde, wie der Planet, fallen gelassen.
Adalgis war die treibende Kraft hinter allen Vorhaben und Plänen, Beryll seine Augen und Ohren, die, immer mit einem Fuß im Alltag, dafür sorgte, dass sie unentdeckt blieben. Sie arbeiteten an einem großen Auftrag für die Nervenleitsysteme eines Zwillingsraumschiffes, und naturgemäß war es das Lathanium von Adalgis und Beryll, das für das Computersystem in Verwendung genommen wurde. Sie präparierten es unauffällig, so, dass es allen Vorkehrungen zum Trotz am Ende ihnen gehorchen würde. Sie schmiedeten Pläne, wie sie an das Wissen in Form von biologischen Programmen kommen konnten, mit deren Hilfe sie das Schiff bedienen und alle wichtigen Funktionen an Bord beherrschen konnten. Sie bedachten alles, gingen jeden Schritt mit Hilfe von holographischen Simulatoren durch, und waren am Ende nur ein, zwei Ungeheuerlichkeiten von ihrem Ziel entfernt.
Helena und John waren vom ersten Augenblick an in das Leben der beiden Lathaniten gesaugt worden. Sie waren in eine fremde Welt gefallen, die sie aus den Augen derjenigen sahen, die in ihr lebten, geprägt von den Umständen und dem Erlebten; sie sahen und hörten, was sie sahen und hörten, fühlten mit ihnen, den Zorn, die Ohnmacht, den inneren Widerstand, die aus tiefster Seele kommende Ablehnung des Absoluten, des Unabänderlichen, den Hass gegen das System und dessen Handlanger - aber auch die leise Hoffnung auf eine ferne, bessere Zukunft, die immer gegenständlicher wurde, zunächst aus irrationalen Phantasien entstiegen, einer tiefen Sehnsucht nach Menschlichkeit und Würde entsprungen, formte sie sich und nahm Gestalt an, so konkret, dass sie nicht mehr nur ein Traumgebilde war. Beryll und Adalgis stammten aus einer gnadenlosen, zusammenhaltlosen Gesellschaft, in der sie eine Insel gefunden hatten, die ihre Zuflucht war - und ihre einzige Hoffnung zu entkommen. Sie waren Besessene, und Helena und John verstanden sie, begriffen die Obsession und die Tatsache, dass sie alles tun mussten, um ihren Traum zu verwirklichen. Sie waren zu ihnen geworden, John war Adalgis, Helena Beryll, fast, als wären sie jeweils nur noch ein Wesen, und die Seelen der Alphaner führten ein kaum wahrnehmbares Schattendasein in der übermächtigen Präsenz der Lathaniten, leise, machtlose Beobachter in einem Spiel des Lebens mit hohen Einsätzen.
Helena blickte aus Berylls Augen auf die reflektierende Wandfläche des Aufzugs. Sie sah ihr Gesicht, das ausdruckslos war und eine Frau zeigte, die keinen Kompromiss eingehen würde. Neben ihr spiegelte sich die Gestalt von Adalgis. Er war groß und blass und wirkte konzentriert, determiniert. Es war die einzige Chance, die sie hatten, und jetzt zu versagen, stand außer Debatte. Es war riskant, doch die Sache hatte sich nicht anders regeln lassen, denn sie beide hatten die Geheimschlüssel organisieren müssen, mit deren Hilfe allein ihre Schiffe gestartet werden konnten. Ohne die Codes würden sich die Castor und die Pollux nicht aus dem Raumhafen bewegen lassen. Dies war eine neue Sicherungsmaßnahme, um der modernen Raumdockpiraterie entgegen zu wirken, die Codes waren fälschungssicher, und diese Tatsache hatte ihnen beträchtliches Kopfzerbrechen bereitet. Sie hatten die Schlüssel jedoch glücklicherweise unbemerkt entwendet und waren mit gefälschten Identitäten in den Internationalen Raumhafen gelangt. Nun rasten sie über Hunderte von Stockwerken im rötlichen, wie aus Licht bestehenden Lift zu den Plattformen der neuen Schiffe. Der übrige Plan war aufgegangen, der Rest der Mannschaft war in der Nacht in Containern sicher an Bord geschmuggelt worden und wartete auf sie. Nun waren sie nur einen Augenblick von ihrem Ziel entfernt.
Beryll trug einen dunklen Anzug, schmal und elegant, als wäre sie eine Kontrollorin, mit einer elektronischen Kladde in der Hand, das dunkle Haar am Hinterhaupt züchtig verknotet, während Adalgis unauffällig und distinguiert gekleidet war, das Haar gebändigt und er selbst von seriösem Auftreten. Ein Schiffseigner. Wer nicht zu genau hinsah, konnte sie mit normalen Bürgern verwechseln.
Der Lift blieb mit einem leisen Sirren stehen, die Energiebarriere schob sich zur Seite und gab einen Blick auf die Plattform frei. Weiter entfernt standen mehrere Schiffe derselben Bauart, doch die Castor und die Pollux waren jene, die auf kürzestem Weg zu erreichen waren, fast greifbar nahe.
Sie traten hinaus in die morgendliche Helligkeit, betont gelassen, und doch geblendet vom ungewohnten Licht und voll innerer Anspannung, denn ihr Spaziergang über die Plattform war äußerst riskant. Niemand hatte hier Zutritt, abgesehen von den Ingenieuren, dem Wachdienst und der Mannschaft der Schiffe, und wenn etwas daneben gehen konnte, dann hier, in diesem Umfeld, das sie nicht kontrollieren konnten.
Im Augenblick ihres Hinaustretens schon schien alles vorbei zu sein. Eine Gruppe von mehreren Menschen bewegte sich auf den Aufzug zu, bereits nahe genug, um eine Konfrontation unumgänglich zu machen. Sie versuchten, unbeteiligten Blickes vorbeizugehen, doch ein lautes "Halt!" ließ sie erstarren.
"Was tun Sie hier?" Die Stimme gehörte dem Generaldirektor der IRB, Thor Derwald, dem man nachsagte, jedes einzelne Gesicht zu kennen, das im Unternehmen Zutritt hatte. Umringt war er von Männern und Frauen, alles bekannten Gesichtern aus Politik und Wirtschaft. Sie befanden sich offensichtlich auf einem Rundgang am Raumdock, einer der Inspektionen, die der Verwaltung zeigen sollten, wie gut mit den Steuergeldern umgegangen wurde. Sie waren die einzigen Menschen auf der Plattform, ansonsten befanden sich nur Arbeitsroboter und Androiden in der Nähe, die unbeteiligt ihren Aufgaben nachkamen.
Berylls Herz gefror. Mitten unter den Anwesenden erkannte sie Aethelbeorn Jarvis, der immer noch unter Zuhilfenahme der Exekutive und mit äußerster Härte gegen die Lathaniten vorging. Sie war wie betäubt, und ein Blick zu Adalgis zeigte ihr, dass es ihm ähnlich ging. Die Gruppe baute sich vor ihnen auf, allen voran Derwald, der sie mit vor der Brust verschränkten Armen intensiv musterte. Sie hatten an ein Ausweichszenario gedacht, einen Plan B, mit dessen Hilfe sie aus einer solchen Situation herauskommen wollten, doch der beinhaltete nicht die Anwesenheit von Aethelbeorn Jarvis, einem Peiniger und Feindbild, der ihnen, die ohnehin auf der untersten Sprosse der Leiter standen, das Leben zur Hölle machte.
"Lathaniten", sagte er plötzlich, im Tonfall nichts als Verachtung. "Ich werde euch Beine machen!" Er griff nach seinem Kommunikator, um Hilfe zu rufen, doch so weit ließen es Adalgis und Beryll nicht kommen. Es gab keine Diskussion mehr, kein Zögern, keine Angst, überhaupt kein Gefühl, sondern nur eine Unwirklichkeit, das Wissen, dass dies ein schicksalhafter Akt war, eine Entscheidung, die ihnen aus der Hand genommen war, als wären sie Zuschauer, wie John und Helena, deren eigene Persönlichkeit sich vor Entsetzen wand, denn eine halbe Sekunde genügte, und in einem Sprühregen der Disintegratoren tilgten die beiden die gesamte Gruppe vom Antlitz Eridans. Sie schossen noch, als kein Metallteilchen und erst recht kein organisches Material, kein gegenständlicher Beweis mehr dafür existierte, dass sich die neun Menschen je auf der Plattform aufgehalten hatten. Sie kamen zu sich, flatternden Herzens, und rannten zur Castor. Dort hatte man sie beobachtet, ließ sie ein, und sorgte dafür, dass die beiden Schiffe starteten, ehe die Getöteten abgängig waren. Wie in Trance gaben sie die verschlüsselten Sequenzen bekannt, und die Maschinen des Schiffes erwachten mit leisem, fast freudigem Brummen. Die Castor arbeitete selbstständig, führte die von den Lathaniten zuvor besprochenen Manöver zur Ablenkung aus, und verschleierte so ihr Reiseziel, während die Mannschaft an Bord, einem Wahnsinn gleich, vor Glück, Erleichterung und Freude jubelte und schrie. Sie rannten durch das Schiff, das nun ihnen gehörte, verloren sich in dessen Größe, tobten vor Leichtigkeit und Befreiung.
Adalgis traf auf Beryll in einem bunten, farbenfroh beleuchteten Raum voller Gorgonen, die ihnen widersinnigerweise ein Hochgefühl vermittelten. Er eilte ihr entgegen und riss sie in seine Arme.
"Wir haben es geschafft", rief er, damit, was positive Emotionen anging, wesentlich mehr aus sich herausgehend, als Beryll es bei ihm gewohnt war, "und niemand kann uns mehr etwas anhaben!" Sie klammerte sich an ihn, außer Atem und benebelt von zuviel Sauerstoff, vom Hochgefühl, und von einer Taubheit, hinter der alles Unwürdige, alles Unrechte, in ihrem Leben verschwand.
Er küsste sie, drängte sie gegen die Wand, und sie erwiderte den Kuss, heftig und ebenso fordernd, ebenso berauscht, erschlagen, belebt, verwirrt und überwältigt vom Erfolg ihrer von langer Hand vorbereiteten Aktion. Es war keine Hingabe, kein zartes Miteinander, im Gegenteil, sie nahmen einander in einem wilden Feuerwerk des Triumphes, in einer von Adrenalin durchtränkten Ekstase der Begierde, als gäbe es kein Morgen, als existierte die Welt um sie herum nicht mehr. Wesentlich später fanden sie wieder in die Realität zurück, in sich die Erschöpfung ihres ganzen Lebens, mit dem sie gebrochen, ja, das sie besiegt hatten am heutigen Tage, durch alle Taten dieses einen Tages, deren letzte die endgültige Befreiung vom Diktat und der Macht der anderen gewesen war.
Sie hatten es geschafft. Zum Preis von einer Handvoll Menschenleben waren sie ihrer Heimatwelt entkommen, dem Sklaventum entflohen, einem freien Leben entgegen, einer Würde, die ihnen nicht weniger zustand als jedem anderen lebenden Wesen im Universum.
Der Rest war ein Kaleidoskop aus kurzen Sinneseindrücken: die lange Zeit in der Umlaufbahn, als sie noch fürchten mussten, dass man sie trotz aller Vorkehrungen aufspürte und verfolgte, immer fluchtbereit; die rote Sonne des Planeten hinter dunklen Blenden versteckt, wie sie am Rande Lathans aufging; Messungen, Testungen, Versuche, die von der Ferne durchgeführt wurden, schließlich die tosende Landung der Castor, die eine endgültige war; das Betreten ihrer neuen Heimat, geblendet von der ungewohnten Helligkeit; erste Tätigkeiten zur Gründung einer Niederlassung; ein Flackern aus knappen Szenen, in denen eine Gruppe von schwarzen Androiden im Areal rund um die Castor einen Wald aus Regenschirmbäumen rodete, Lathanium-Spieße, die mit speziellem Werkzeug von ihrer Basis abgetrennt und zur weiteren Verarbeitung in die Werkstatt des Schiffes transportiert wurden, ein Geästtier, das aus Übermut aus seinem Verband gerissen und wie ein Fußball durch die Gegend getreten wurde; und danach folgend fast stroboskopartige Einblendungen von Eindrücken nur, Lathanium, das sich, aus dem Boden wachsend, in rasender Geschwindigkeit durch die Castor bohrte, brüllende Gewitter, die die fast fertig gestellte Siedlung wegschwemmten, eine Feuerbestattung, ein verlorener Mantel, der im schweren Wind davon getragen wurde, ein Schuh im Schlamm, die Verschwörung der gesamten Natur gegen sie, Machtlosigkeit, das Scheitern.
John spürte, wie er selbst wieder in den Vordergrund trat, die Bilder in seinem Gedächtnis verblassten, und gleichzeitig die fremde Präsenz in seinem Kopf die Herrschaft über seine Sinne zu verlieren begann. Es war schmerzhaft, viel schlimmer noch als zuvor, als seien die beiden Persönlichkeiten ineinander verschmolzen und könnten sich nicht mehr trennen. Er wollte nicht mit Yonwins Gedanken und seinen Erinnerungen leben müssen und kämpfte gegen ihn an, der zögerlich nur zu weichen bereit war, als wäre er seinerseits von Johns Existenz fasziniert, als betrachtete er ihn als wertvolle Bereicherung seines eigenen Daseins. Peinigender Schmerz fuhr durch Johns Kopf, und es war wie ein Gewaltakt, mit dem er die fremde Gedankenwelt ausschloss, doch schließlich fand er sich keuchend und sich windend am Boden liegend, um sich schwarze, gotische Bogengänge und schräg gegenüber mehrere dunkle, stilisierte Wasserspeier, die ihn im dämmrigen Licht der diffusen, bunten Beleuchtung von oben herab und mit offenem Maul betrachteten und ihm sehr bekannt vorkamen. Er atmete rasselnd, während er sich nach Helena umschaute. Sie lag neben ihm am Rücken, die Arme von sich gestreckt, und starrte mit entsetztem Blick ins Leere, während sie nach Luft rang und dabei gequälte Laute von sich gab. Er griff nach ihrer Hand und rief sie, da kam sie zu sich, und wandte sich in jähem Erkennen ihrer Situation ihm zu. An ihrer Miene sah er, dass sie so aufgelöst war wie er, so bestürzt und mitgenommen von der gesamten Erfahrung, die sie geteilt hatten, und sie ließ ihn gewähren, als er sie in seine Arme nahm und sie fest hielt. Es war ein luftleerer Moment, außerhalb der Realität, viel zu irreal, um ihn zu begreifen und ihn in die Normalität des sonstigen Erlebens einzugliedern.
Er sah ihre Erschütterung, sah, dass sie nahe dran war, ihre Fassung zu verlieren, und es fiel ihm nichts ein, als sie an sich zu drücken und ihr damit Schutz und Sicherheit vorzuspiegeln. Ihre Anwesenheit hatte aber auch für ihn etwas Tröstliches, ihr lautes, entsetztes Atmen bescheinigte ihm, dass er nicht allein war, nicht gerade dabei war, den Verstand zu verlieren. Als sie den Kopf hob und ihn anblickte, merkte er, dass sie Tränen in den Augen hatte.
Sie fühlte sich, als verbrannte sie von innen, sie hatte alles gesehen und erlebt, jede Niederlage, jede Demütigung, jeden Schmerz, aber auch den Triumph. Noch immer raste ihr Herz, sie war voll jener Gefühle und Gedanken, die Beryll gehabt hatte, und es war ihr, als hätte sie alles persönlich getan.
Die Waffe gehoben. Kaltblütig geschossen.
Und doch waren ihre eigenen Gefühle da, sie war erschüttert und wie vom Schock betäubt.
"Helena?" Sie hob den Blick und sah in seine Augen, in denen ebenso das Entsetzen stand und die Frage, ob sie denn sicher sein konnten, dass nichts davon Teil ihrer eigenen Wirklichkeit war.
"Nein", sagte sie erschrocken, "John, nein. Es ist nicht passiert. Es war.." Sie suchte nach Worten. "..eine Projektion. Wie ein Film. Wir haben zugesehen, wir waren nicht daran beteiligt, haben nur durch ihre Augen gesehen, was geschehen ist. Sonst nichts." Sie war zu aufgelöst, um in ihre übliche Ruhe des rationalen Denkens zu gleiten, war im Augenblick absorbiert von der Idee, beim Tod von unbeteiligten Menschen involviert gewesen zu sein, wie irrational der Gedanke auch war.
Sein Herz schlug ihm bis zum Halse, wie ein Dampfhammer, und in seinem Mund schmeckte es nach Karamell. Er schwieg. Weitere luftleere Momente lang.
Dann sah er Yonwin und seine Frau an der Seite stehen. Der Captain hatte die Arme vor der Brust verschränkt und lächelte spöttisch, als weidete er sich am Anblick der beiden am Boden liegenden Menschen, während Berylls Miene Mitleid widerspiegelte.
"Wachen Sie auf aus Ihren naïven Vorstellungen von der Güte des Menschen", forderte Yonwin die beiden auf. Die kalten Worte führten augenblicklich dazu, dass Helena aus ihrer inneren Gefangenheit befreit wurde. Sie löste sich aus Johns Armen und richtete sich auf.
"Sie sind Mörder!", sagte sie fassungslos. Yonwin beugte sich vor.
"Wir haben genommen, was uns zustand! Man benutzte uns, man verwendete uns wie einen Gebrauchsgegenstand, wir wurden verkannt, gedemütigt, ausgebeutet und wie Schmutz behandelt. Fehlerhaft Funktionierende wurden aussortiert. Man hat nie wieder von ihnen gehört. Ihre Mörder wurden nicht gesucht, nicht verfolgt. Wir waren Geächtete. Wer gedemütigt wird, gequält, und dabei so unschätzbare Arbeit leistet, muss sich eines Tages zur Wehr setzen! Dr. Russell. Sie haben es gesehen. Wenn uns jemand verstehen kann, dann Sie und Commander Koenig." Ihre Augen waren nass. Sie blickte zu Boden.
"Sie sind ein Spiegel Ihrer Gesellschaft, Captain Yonwin", sagte sie, nun mehr traurig als zornig. "Kein Wunder, dass hier auf Lathan nichts so gelaufen ist, wie Sie es sich gewünscht haben." Sie erhob sich und richtete die Reste ihrer Uniform. Die Angreifer hatten mit ihren Peitschen wie versengt wirkende striemige Löcher in die Textilien gerissen, und mit jedem Schlag zwar, abgesehen von Abschürfungen, keine wesentlichen Hautdefekte verursacht, durch die Wucht aber blaue Flecke produziert, die wie Stockhiebe doppelte Zeichnungen hinterlassen hatten und gehörig schmerzten. Sie sah, dass es John nicht anders ging. Er wirkte wie ein abgerissener Landstreicher, der einer Horde von tollwütigen Hunden in die Fänge geraten war. "Wir müssen sehen, wie es dem Rest unseres Teams geht", sagte sie. John gab ihr Recht und suchte nach seinem Commlock. Er hatte ihn verloren, auch Helenas Gürtel samt Waffe und Kommunikator waren verschwunden.
"Zeigen Sie uns den Weg hinaus." Beryll, die die ganze Zeit über nachdenklich geschwiegen hatte, nickte.
"Folgen Sie mir."
Es war leichter als sie angenommen hatten, denn wo sie, ohne auf den Weg zu achten, gerannt waren, Wendeltreppen und lange, verwirrende Gänge benutzt hatten, dem Gefühl nach in einem altertümlichen, labyrinthartigen Schloss unterwegs, existierte eine geballte Ladung an zukünftigem Wissen und Ausstattung. Die dekorative Fassade verbarg mehr Technik, als die Alphaner je gesehen hatten, und eine unscheinbare Wand entpuppte sich als Tür zu einem Aufzug, mit dessen Hilfe man direkt in die Eingangshalle gelangen konnte. John schlug das Angebot zu einer intensiveren Besichtigung des Schiffes aus, er war im Augenblick in Sorge um die restlichen Mitglieder seines Teams und darum, was aus dem Angriff der feindlichen Horde geworden war. Beryll verabschiedete sie vorerst, und sie gelangten während eines Augenaufschlages ins Parterre. Als sie jedoch in die Halle traten, trauten sie ihren Augen kaum.
Es gab keinen Hinweis darauf, dass die Castor je von Angreifern geentert worden war. Alles war sauber, nirgendwo lagen die Leichen der Getöteten, kein Unrat, kein Blut, gar nichts.
John und Helena rannten nach draußen ins Freie, wo mittlerweile die Landschaft in ein graurotes, frühmorgendliches Tageslicht getaucht war. Die Nacht und der Krieg waren vorbei. Als sie die Rampe betraten, wurden sie sofort von Victor entdeckt, der offensichtlich das Portal nicht aus den Augen gelassen hatte. Er eilte ihnen entgegen und umarmte, froh, sie wieder zu sehen, John und Helena gemeinsam.
"Victor, wie siehst du denn aus?", erkundigte sich John verwundert. Sein Freund trug nun selbst die schwarze Kleidung der Lathaniten, enge dunkle Hosen aus Leder, dazu passende Stiefel und ein Hemd mit unsäglichen Rüschen an der Vorderseite und Volants an den Ärmeln.
"Schick, nicht", erwiderte er grinsend. "Wir haben im Schiff eine Art Lieferservice mit einem Kleiderarsenal entdeckt, und nachdem unsere Uniformen bei dem Angriff etwas gelitten haben, haben wir uns dort bedient." Er schaute an sich herab. "Leider gab es keine alphanischen Uniformen zur Auswahl." John lachte und musterte mit einem Blick nach unten seine eigene reparaturbedürftige Erscheinung.
"Ich denke, wir werden uns euch anschließen müssen." Er trat die Rampe hinab und wandte sich in Richtung ihres Lagers. Nichts war davon übrig geblieben.
Carl, nun auch schwarz gekleidet in ein weniger auffälliges Schnürhemd, dafür mit einem Gürtel mit imposantem Pentagramm als Schnalle, werkelte an irgendwelchen Überresten ihres Gepäcks herum, und erhob sich dann, offensichtlich glücklich, die übrigen Mitglieder des Teams zu sehen.
"Commander, Dr. Russell, wie froh bin ich, Sie wieder zu sehen!", rief er und kam ihnen entgegen.
"Carl, wo sind die Angreifer?", erkundigte sich John. Sein Gegenüber hob beide Arme.
"Das können Sie sich nicht vorstellen, Commander", ereiferte er sich. "Die Geästtiere haben sie platt gemacht. Ich weiß nicht, ob das Tiere waren, die uns angegriffen haben, weil es eben in ihrer Natur liegt, oder ob sie uns nicht mochten, weil wir nicht hierher gehören, aber jedenfalls scheinen sie selbst auf der Speisekarte der Geästtiere zu stehen. Sie haben so lange gekämpft, bis es keinen Nachschub mehr gab - und das hat ewig gedauert, glauben Sie mir. Anschließend sind die Geästtiere in Horden über die Kadaver hergefallen und haben sie abtransportiert. Den Rest haben Roboter aus der Castor gereinigt." Er zuckte mit den Schultern. "Hat den Vorteil, dass wir hier klar Schiff haben."
"Wo ist Captain Carter?", wollte Helena besorgt wissen. Angesichts Carls unbesorgten Verhaltens wollte sie nicht annehmen, dass ihm was geschehen war, doch es war immer besser zu sehen, als nur zu vermuten.
"Im Schiff", erwiderte Victor, "er füllt ein paar unserer Wasserflaschen. Wir haben fast unsere gesamte Ausrüstung verloren. Helena, eine deiner Taschen mit Medikamenten ist noch da, beziehungsweise teilweise da, und was unser leibliches Wohl angeht, gibt es nur noch eine Büchse mit irgendwas Ungenießbarem. Wir vermuten Blumenkohl." Sie verzog das Gesicht.
"Zeit, dass wir nach Hause kommen", gab sie zur Antwort.
In dem Moment kam Alan aus der Castor, mehrere Wasserflaschen in der Hand. Auch er trug schwarze Hosen und weiters ein kurzärmeliges Tank Top, auf dem in dunkelgrüner Farbe ein nichts sagendes aber apartes Muster aus in sich verschränkten Linien verwoben war.
"Ah, Commander, Gottseidank geht es Ihnen gut!", rief er froh. "Sie haben sicher schon gehört, was passiert ist. Wir haben versucht zu retten, was zu retten ist, aber viel ist es nicht." Helena kontrollierte die Reste ihres medizinischen Equipments. Es gab wenigstens noch Schmerzmittel und etwas zum Reinigen von Wunden.
"Wie sieht es aus, ist jemand verletzt worden?", wollte sie wissen. Carl kam zu ihr und zeigte ihr sein Bein. Ein Fortsatz der Angreifer hatte ihm an der linken Wade eine tiefe Wunde beigefügt. Sie beugte sich über ihn, untersuchte das Bein, reinigte und versorgte es. Schließlich blickte sie zu ihm hoch.
"Wird es so gehen?", wollte sie wissen. Er nickte.
"Viel besser, danke.- Aber darf ich etwas anmerken, Dr. Russell?" Sie musterte ihn fragend.
"Ihr Rücken sieht auch nicht gerade gut aus." Sie wurde rot, denn sie hatte vergessen, dass ihr Oberteil ziemlich abgerissen war und mittlerweile mehr zeigte, als es sich für die medizinische Chefin auf Alpha geziemte.
"Danke, Carl", sagte sie schwach, "ich werde mich darum kümmern." Sie erhob sich, schnappte Desinfektionsmittel, Wundsalben und Verbände und sah sich hilfesuchend um. "Wo ist das Bekleidungsdepartement der Castor?", verlangte sie zu wissen. Alan grinste breit.
"Erste Tür links", erwiderte er.
"John, komm mit", befahl sie. Sie wusste, dass er sie nicht allein auf die Castor lassen würde, auch, wenn es nur um das Akquirieren von Kleidung ging.
John verkniff sich mit äußerster Mühe ein "Sehr gerne!" und folgte ihr zurück ins Schiff.
Das "Bekleidungsdepartement" der Castor entpuppte sich als ein kleiner Nebenraum, in dem es nichts als ein Computer-Terminal gab, schwer zu identifizieren freilich, denn es sah aus wie ein gotisches Tabernakel.
"Dr. Russell, Commander Koenig", meldete sich die Stimme von Captain Yonwin. "Sieht so aus, als könnten Sie neue Kleidung brauchen. Bitte bleiben Sie ruhig stehen, während Ihre Maße genommen werden." Verdutzt rührten sie sich nicht, bis eine hellrosa Lichtbahn sie von oben bis unten gescannt hatte. Einen Augenblick später materialisierte vor ihnen ein Podest, auf dem zwei Ausstattungen, ordentlich zusammengelegt, zu sehen waren. John hob das auf, das er für seines hielt, und hatte damit Recht. Es war ähnlich wie jenes von Carl, wenn auch völlig aus Leder, und ein Wams, mit Bändern zu schnüren und Schnallen zu befestigen. Er drehte es ratlos herum und fand schließlich annähernd heraus, wie es anzuziehen war.
"Äh, Castor, eine Frage, kann ich dieses Modell umtauschen?", erkundigte sich Helena, die mit spitzen Fingern ein dunkelrotes Korsett hochhielt, von dem sie vermutete, dass es mehr herzeigte als verbarg. "Ich denke, es wird mir zu eng sein."
"Dr. Russell, seien Sie versichert, es passt perfekt", war die Antwort. Sie verdrehte die Augen.
"Kann ich trotzdem etwas anderes haben?"
"Selbstverständlich", war die Antwort. John strengte sich an, ernst zu bleiben. Helena legte das beanstandete Teil zur Seite, und statt diesem erschien eine eng geschnittene, bläulich-schwarz schimmernde Trägerkorsage, tailliert in der Hüfte und mit darunter ausgestelltem Saum. Helenas skeptischer Blick konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie auch das nicht für die adäquate Kleidung anlässlich einer Erkundung eines fremden Planeten hielt, jedoch war es wesentlich besser als das, was sie im Augenblick noch am Leib hatte.
Sie beschloss mit grimmiger Miene, Johns kaum verbergbare Heiterkeit zu ignorieren, und drückte ihm ihre Tuben und Sprays in die Hand. "Sei so gut und sieh mal auf meinem Rücken nach. Auf der Höhe des Rippenbogens links ist eine Verletzung. Die tut ordentlich weh. Desinfizieren, Salbe drauf und mit Pflaster versorgen." Er tat wie geheißen und fand dort tatsächlich eine unschöne, längliche Wunde, die ihm jedes Feixen verleidete. Es war ihm klar, dass sie ihn nicht gebeten hätte, ihr zur Hand zu gehen, wenn sie nicht wirklich unter Schmerzen litt. Vorsichtig werkelte er herum, bis er mit dem Ergebnis zufrieden war.
"Danke", sagte sie am Ende, milder gestimmt, "an dir ist eine Krankenschwester verloren gegangen."
"Gott bewahre", erwiderte er und gab ihr die Utensilien zurück, "für mehr als Hilfsdienste wäre ich nicht geeignet." Sie lächelte und blickte sich suchend um.
"Ich nehme nicht an, dass es in dieser Boutique eine Umkleidekabine gibt."
"Umkleidekabinen sind seit etwa zweihundert Jahren aus der Mode", erwiderte die Stimme der Castor. Ehe Helena sich aber dazu äußern konnte, traf sie ein lilafarbener Blitz von oben, und im nächsten Moment stand sie völlig neu bekleidet an Ort und Stelle. Zudem fühlte sie sich frisch und sauber. Auch John hatte dieselbe Erfahrung gemacht und blickte sie verdattert an.
"Wir sollten zusehen, ob wir unserem Computer auch diese Tricks beibringen können", meinte er schließlich, während er sich mit der Hand übers frisch rasierte Kinn strich und sich dabei in einer spiegelnden Fläche musterte, die plötzlich vor ihm aufgetaucht war.
"Brauchen Sie einen weiteren Holo-Spiegel?", erkundigte sich das Programm höflich. Sie hatten in den Erinnerungen der beiden Lathaniten zahllose Hologramme gesehen, aber durch deren Augen betrachtet, waren sie ein normales Utensil, eine bloße Alltäglichkeit, gewesen, während sie nun durchaus etwas Besonderes darstellten.
"Ihre Technik der Holographie ist sehr weit fortgeschritten", meinte John beeindruckt und musterte das Objekt, das sich überhaupt nicht von einem echten Spiegel unterschied.
"Hologramme stellen für uns in der Tat keinerlei Herausforderung dar. Wir könnten zum Beispiel auch von Ihnen eine perfekte Kopie herstellen."
"Lieber nicht", wehrte John entschieden ab. "Einer von mir ist vollkommen ausreichend." Helena lächelte, während sie wie John ihre neue Kleidung kritisch betrachtete, die aus dem genannten Oberteil bestand, und, wie konnte es anders sein, schwarzen Hosen und Stiefeln, die fast bis an die Knie reichten. Es war "schnittig", befand sie, und zum Glück nicht so aufreizend, wie sie zunächst befürchtet hatte. Außerdem erstaunlich bequem.
"Jetzt noch eine Mütze voll Schlaf", sagte sie. "Wir haben uns die ganze Nacht um die Ohren geschlagen." John schwieg zu ihrem Aussehen, obwohl ihm jede Menge dazu eingefallen wäre, und begleitete sie hinaus.
"Wir können jetzt schlecht schlafen gehen", erwiderte er, "an Bord möchte ich nicht bleiben und draußen ist es, im Nachhinein betrachtet, wirklich nicht sicher. Schon gar nicht, nachdem unser Schutzschirm zerstört wurde."
"Wir könnten doch Captain Yonwin nach einer Unterkunft auf der Castor fragen", schlug sie vor, während sie gemeinsam über die Rampe hinunter ins Freie traten, "oder den Adler herholen." Sie sah sich von den beiden jungen Männern des Teams höchst interessiert gemustert. Ihre Augen verengten sich. "Ich will keinen Ton von euch hören!" Alan, die Lippen bereits zu einem anerkennenden Pfeifen gespitzt, ließ die Luft tonlos entfleuchen und beugte sich grinsend nach unten, um ein nicht vorhandenes Problem an seinen Stiefeln zu begutachten.
"John", meldete sich Victor zu Wort, indem er, seinen Commlock in der Hand, auf ihn zukam, "ich habe hier Alpha in der Leitung." John nahm das Gerät entgegen und erblickte auf dem kleinen Monitor Sandra Benes' Gesicht.
"Wie sieht es bei euch da oben aus?", erkundigte er sich, und sie lächelte.
"Langweiliger als je zuvor", war ihre Antwort, "abgesehen vielleicht von Kanos gestörtem Verhältnis zu den Scannerdaten von Lathan, das sich in zyklischen Wutanfällen äußert. - Aber, Commander, wir sind froh zu sehen, dass das Team noch vollständig ist. Ein Rettungsadler steht bei uns bereit und kann jederzeit losstarten, wenn Sie das wünschen."
"Gut", sagte John, "aber im Moment nicht notwendig. Sonst noch etwas?"
"Ja, Commander." Ihr Gesicht war voll Sorge. "Wie sieht es aus mit der Passage? Kann sie lange genug aufrecht erhalten werden?"
"Gibt es denn Probleme?"
"Im Moment nicht, aber wenn die Castor das Mutterschiff ist, das die Pollux steuert, glauben Sie nicht, dass wir uns darüber Gedanken machen müssen?"
"Die Leitsysteme der Castor zerfallen immer mehr", bestätigte der Wissenschaftler, "Sandras Frage ist berechtigt." John nickte. Ein vergeblicher Griff an seinen Gürtel erinnerte ihn daran, dass er seinen eigenen Commlock verloren hatte. So musste er sich Alans Gerät ausborgen und tippte die Frequenz der Castor ein.
"Wie lange kann das Wurmloch zwischen diesem Sonnensystem und dem Mond aufrecht erhalten werden?"
"Mehr oder weniger unbegrenzt", sagte der Computer. "Die Pollux ist angewiesen, das Tor frühestens zu schließen, nachdem Sie wieder auf Ihrer Seite des Universums sind."
"Gut, sehr gut", sagte John."Können wir uns darauf verlassen?"
"Sie können auch direkt mit der Pollux kommunizieren. Die Funktionalität des Zwillingsschiffes ist nicht von der meinen abhängig, falls Ihnen das Sorgen bereitet."
"Gut." John unterbrach die Verbindung. "Wie gehen wir weiter vor?" Carl hob eine Thermoskanne hoch.
"Frühstück?", fragte er. "Leider nur Kaffee ohne Donuts." Er rief ihnen damit in Erinnerung, dass sie nicht nur müde sondern auch hungrig waren.
"Gerne." Sie teilten sich, während sie die Situation besprachen, den Kaffee in der Kanne, der noch schön heiß war und aus unerfindlichen Gründen den Überfall überlebt hatte.
"Wir sind den Antworten auf unsere Fragen seit gestern nicht wesentlich näher gekommen", meinte John nachdenklich. Victor nickte bestätigend.
"Erstens: Wo sind die restlichen Besatzungsmitglieder der Castor?" John schaute vom Kaffeebecher in seiner Hand auf.
"Ich komme immer mehr zur Überzeugung, dass sie nicht mehr leben. Ich meine, wir haben außer Yonwin und seiner Frau hier niemanden gesehen, und die meisten liegen da draußen am Gräberfeld. Wenn die Übrigen am Schiff wären, hätten sie sich doch einmal zeigen müssen. Zudem hat die Castor sie auch nicht gefunden. Gut. Okay. Die Systeme sind schon ziemlich zerstört und unzuverlässig, aber keiner kann mir einreden, dass mehr als zehn Menschen an Bord so völlig spurlos verschwinden können."
"Es sei denn, sie sind eingesperrt, oder es ist ihnen sonst wie unmöglich, auf sich aufmerksam zu machen", wand Alan ein.
"Ich gehe davon aus, dass der Captain das Schiff durchsucht hat. Es handelt sich ja, wie wir gehört haben, um seine persönlichen Freunde." Victor horchte auf.
"So?", sagte er, "Das haben wir gehört?" John nickte und erzählte eine Zusammenfassung dessen, was er und Helena auf dem Schiff erlebt hatten.
"Nun, gut, das erklärt, warum sie uns und nicht ihre Heimatwelt gerufen haben. Und es zeigt uns etwas über die Gesellschaft, aus der sie entstammen, und was für eine Bedeutung das Lathanium in ihrer Welt hat. Aber was erfahren wir über die Ereignisse hier auf dem Planeten?"
"Das führt uns zu unserer zweiten Frage", bestätigte Helena ergänzend. "Was ist hier auf dem Planeten geschehen?"
"Wir haben viel davon gesehen, was auf Eridan passiert ist, aber nur wenige Momentaufnahmen dessen, was die Gruppe auf Lathan erlebt hat", führte John aus.
"Die beiden haben, wenn sie uns nicht absichtlich Einiges verschwiegen haben, tatsächlich wesentliche Teile, ganze Abschnitte, ihres Lebens vergessen." Helena dachte laut nach. "Es passt zu der selektiven Amnesie, von der ich gestern gesprochen habe."
"Was könnt ihr aus den wenigen Ausschnitten denn als Fakten herausfiltern?"
"Victor, es führt uns im Kreis. Was wir gesehen haben, sind alles Geschehnisse, die in Summe zu der augenblicklichen Situation geführt haben - nur dass der Big Bang fehlt, die Katastrophe, die über die Lathaniten hereingebrochen sein muss."
"Ja", sagte Helena zustimmend, "das Ereignis, das dieses Unternehmen endgültig scheitern ließ und das so tragisch war, dass Yonwin und seine Frau es beide vergessen haben. Wir brauchen die beiden, um es in Erinnerung zu rufen."
"Besteht denn eine realistische Chance, ihnen das Erinnern zu ermöglichen?", erkundigte sich Victor und musterte Helena nachdenklich. Sie schüttelte den Kopf.
"Kaum", gab sie zu. "Dazu haben wir viel zu wenig Zeit, und wenn es ein derartig tiefgreifendes Trauma ist, ist nicht so leicht ranzukommen."
"Wir müssen es versuchen", erwiderte John, "sie haben uns geholt, aus einer fernen Zeit und aus einem fremden Universum. Es muss um etwas gehen, das ihnen enorm wichtig ist."
"Wir könnten das Gräberfeld genauer prüfen", schlug Alan mit einem müden Gesicht vor. Die Aussicht darauf, stundenlang zwischen den außerirdischen Scherbenknochen und den menschlichen Skeletten herumzusuchen, erschien ihm offensichtlich nicht sonderlich erstrebenswert. Victor blickte auf.
"Das ist möglicherweise wirklich unsere letzte Möglichkeit, etwas zu erfahren. Die Ursache für ihren Tod festzustellen und so die letzte Katastrophe aufzudecken. Wenn wir sie damit konfrontieren, erinnern sie sich vielleicht."
"Sie suchen immer noch nach unserem Gedächtnis", hörten sie eine Stimme vom Portal der Castor. Wieder einmal waren Yonwin und seine Frau unbemerkt aufgetaucht, blieben aber am oberen Rand der Rampe stehen. Sie wirkten wie irrtümlich Verwehte aus einer nie gelebten Zukunft, da, wo sie standen, dunkel, gleichzeitig fahl und verloren in einer überdimensionalen Kulisse.
"Captain, Sie wissen, dass wir wieder zum Mond zurückkehren müssen, in unsere Welt und in unsere Dimension. Der Planet ist interessant, und das Raumtor, das die Pollux offen hält, verlockend, aber wir können uns hier nicht niederlassen und Ihnen beim Vergesslichsein Gesellschaft leisten." Die beiden antworteten nicht, und ihre Mienen waren indifferent. Es war klar, dass der Planet die beiden verändert hatte. Es fiel John und Helena nun auf, da sie sie in einer anderen Umgebung und unter anderen Umständen erlebt hatten. Hier waren sie distanziert, wo sie einst leidenschaftlich gewesen waren, wirkten emotionslos, als hätten sie vergessen, wie es war, Gefühle zu haben, wie innerlich abgestorben. John ging ihnen einige Schritte entgegen. Die Übrigen folgten. "Captain Yonwin, ich denke, von Ihrer Mannschaft lebt niemand mehr." Beryll schüttelte den Kopf.
"Nein, sie können nicht alle tot sein."
"Wir haben gesehen, dass Sie manche Ihrer Freunde zu Grabe getragen haben, Sie haben sie im Feuer bestattet - aber was ist mit all jenen auf dem Friedhof da draußen? Es muss etwas passiert sein!" Yonwin schaute zu Boden, während Beryll sich an die Schläfe griff, als versuchte sie, einem Tumult in ihrem Kopf Einhalt zu gebieten. Johns Vermutung, dass außer ihnen keiner mehr lebte, löste offensichtlich Unruhe in ihnen aus, und die Vorstellung, von allen allein übrig geblieben zu sein, führte zum ersten Mal dazu, dass sich eine Art innere Unsicherheit in ihrer Körpersprache widerspiegelte.
"Wir sehen das Resultat", schaltete sich Helena ein und wies mit einer weitläufigen Geste auf die zerstörte Castor, das Gräberfeld und die fern liegenden Ruinen der lathanitischen Siedlung hin, "aber es fehlt alles, was dazu geführt hat. Die Stürme und die Zerstörung durch die Gewitter waren nur ein Teil dessen, wie sich der Planet gegen Sie verschworen hat, richtig?" Sie musterten sie mit Schmerz in den Augen.
"Sie haben die Regeln von Lathan gebrochen", warf ihnen Victor vor, der sich einen Reim machte auf die Szenen, die Helena und John erzählt hatten.
"Ja, das stimmt", bestätigte ihm John, froh, dass sein Freund einen Anhaltspunkt gefunden hatte. "Sie sind hierher gekommen und haben sich genommen, wovon Sie dachten, dass es Ihnen zustünde. Sie haben in das lebende, perfekte System von Lathan eingegriffen, sind so achtlos mit den Lebewesen hier umgegangen, wie man mit Ihnen umgegangen war, und haben nicht daran gedacht, dass Sie Eindringlinge sind, Rechtlose, die sich zu Feinden der Besitzer dieses Planeten machten, und am Ende dafür bezahlen mussten."
"Nein, nein, das stimmt nicht. Es gab hier nichts, das unsere Achtung verdient hätte, nichts, dem wir uns beugen hätten müssen, nichts, das das Recht gehabt hätte, sich uns in den Weg zu stellen", erwiderte Yonwin heftig. In seinem Gesicht arbeitete es. Er war bleicher als je zuvor, fast transparent im Licht der rubinroten Morgensonne, die gläsern über dem Horizont schwebte und ein unwirkliches Licht auf die Szenerie warf, als betrachtete man alles durch einen hauchdünnen Farbfilter aus Blut.
"Die Zerstörung", sagte Helena, während die flackernden Szenen, die ihr gezeigt worden waren, lebhaft vor ihrem inneren Auge tanzten, "sie ist da, das Lathanium, das sich durch Ihr Schiff gefressen hat, das Feuer, in dem Sie Ihre toten Freunde verbrannten, der Verlust, das Wissen, dass sich der Sieg in eine Niederlage verwandelt hatte - und immer wieder der Tod. Ich sehe den verlorenen Mantel, wie er im Wind durch die Luft getragen wird, und den Schuh im Schlamm. Es sind Symbole Ihres Scheiterns. Sie haben alles verloren." Sie ging näher, bis zum Fuß der Rampe, und John folgte ihr. Yonwin und Beryll wirkten verstört.
"Der Schuh", flüsterte John bestürzt und berührte Helenas Schulter.
"Ja, ich weiß", antwortete sie, ebenso leise, ebenso erschüttert, "es war ein Kinderschuh." Sie standen in einem Vakuum des Entsetzens.
"Sie haben alles verloren, Captain Yonwin, sogar die Erinnerung an Ihre Kinder", sagte John schließlich matt. "Sie sind es, die Sie suchen, nicht wahr." Bei seinen Worten war es, als bliebe die Welt stehen, und einen Moment lang sah es so aus, als wischte sie Adalgis und Beryll vom Antlitz des Planeten hinfort, als hörten sie zu existieren auf. Schmerz kam in ihre Gesichter, grenzenlos, hervorgegangen aus dem jähen Wissen, dass die Lathaniten verloren waren. Beryll griff in Pein nach ihrem Mann, und der Captain schloss sie in seine Arme, ihr namenloses Leid teilend.
"Es stimmt", sagte er nach einer langen Weile, da sie nur dagestanden waren, von der Wahrheit zerrissen. "Sie kamen wie eine - eine biblische Plage, zu Tausenden, und es gab nichts, das wir ihnen entgegen setzen konnten. Wir wussten nichts von der Existenz dieser räuberischen Tiere, und sie überraschten uns mitten in einer schwierigen Zeit, da wir ohnehin mit Verlusten und Rückschlägen zu kämpfen hatten. Die Abwehrsysteme der Castor waren bereits zerstört und das Schiff weitgehend funktionsuntüchtig. Wir rüsteten uns rasch, um die Angreifer zu bekämpfen, stellten einen Schlachtplan auf, aber wir scheiterten an der schier unerschöpflichen Anzahl der Gegner, denn für jedes Untier, das wir töteten, kamen zwanzig neue, deren einziges Ziel es war, uns zu vernichten. Wir verschossen unser gesamtes Pulver, unsere gesamte Munition, bis jede Waffe unbrauchbar war, und schließlich kämpften wir mit unseren eigenen Händen, mit den Füßen und Zähnen. Es war eine ungleiche, verzweifelte und von vorneherein verlorene Schlacht, denn sie töteten all unsere Kameraden." Er verlor den Faden und starrte zurück in das Massaker, das Grauen des Krieges gegenwärtig, die Angst, die Verzweiflung und den Tod.
"Und die Kinder?", flüsterte Helena. Beryll antwortete.
"Wir versteckten sie an Bord der Castor. Sie sollten den Kampf nicht sehen, nicht Tod und Verderben."
"Sie sind nicht mehr am Schiff", sagte Yonwin tonlos. "Wir haben es durchsucht, bis in den letzten Winkel. Dort gibt es niemanden mehr. Wir haben sie verloren." Die Trauer war greifbar.
"Captain Yonwin, wir glauben, dass es auf Lathan intelligentes Leben gibt", sagte John vorsichtig. Yonwin schüttelte den Kopf.
"Nein, Commander, es ist unmöglich. Wir haben den Planeten lange beobachtet und erforscht, ehe wir mit der Castor gelandet sind. Unsere Daten haben nichts dergleichen ergeben."
"Wir haben bereits den Friedhof erwähnt, Captain. Glauben Sie etwa, die Tiere, die Sie überfallen haben, haben die Toten dorthin gebracht?"
"Wir haben keine intelligenten Wesen hier entdeckt."
"Ja. Ja, weil Sie voreingenommen waren", erwiderte John heftig, "weil Sie dachten, Sie wüssten, was Intelligenz bedeutet, und weil Sie nicht darauf vorbereitet waren, sie in einer Form vorzufinden, wie Sie sie aufgrund anderer Erfahrungen als solche nicht definieren würden!" Victor nickte, während Yonwin und seine Frau die Alphaner verständnislos anstarrten.
"Wir haben den Planeten gescannt und untersucht, wir haben kein Anzeichen von künstlich geschaffenen Strukturen gefunden - keine Häuser, keine Straßen oder Wege, kein Werkzeug, nichts."
"Und was ist mit dem Friedhof?", wollte Victor wissen. Yonwin machte eine wegwerfende Handbewegung.
"Das sind Tiere, glauben Sie mir, wir haben sie beobachtet. Sie leben in unterirdischen Höhlen und benützen die Lathanium-Schwerter als Lichtquellen. Sie kommen nur zum Sterben an die Oberfläche. Es gibt viele dieser Friedhöfe auf Lathan, das hat nichts zu bedeuten."
"Und wer hat Ihre Toten dort gebettet? Oder sind sie vielleicht auf eigenen Beinen dorthin gegangen?" Der Captain war verärgert.
"Ich weiß es nicht, Commander! Und ich weiß auch überhaupt nicht, worauf Sie hinauswollen!"
"Ich will darauf hinaus, dass diese intelligenten Wesen vielleicht wissen könnten, was mit Ihren Kindern geschehen ist! Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass das Scheitern Ihres gesamten Projektes allein auf Naturkatastrophen zurückgeführt werden kann! Da steckt System dahinter."
"Unmöglich!"
"Was ist mit dem Lathanium?"
"Wieso? Was wollen Sie damit?"
"Haben Sie noch etwas davon abgebaut, seit Ihre Mannschaft getötet wurde?"
"Wozu? Wir hatten es schon viel früher aufgegeben."
"Es zerstörte Ihr Schiff!", meinte Victor, "War das für Sie nicht ein Zeichen zielgerichteten Handelns, eine Art von Intelligenz, wenn man so will?" Er hatte begriffen, worauf John hinauswollte.
"Das natürliche, verunreinigte Lathanium ist ein höchst kompliziertes Material", gab Yonwin zurück. "Es folgt seinen eigenen Regeln, und wir wissen, dass es von den Lathaniumbestandteilen unseres Bordcomputers angezogen wurde. Wir hatten damit nicht gerechnet und konnten darum keine Vorkehrungen treffen. Innerhalb von Minuten waren die Lathanium-Schwerter durch das gesamte Schiff gedrungen und hatten es funktionsuntüchtig gemacht."
"Oh, nein", erwiderte Victor ruhig, "es hat sich gewehrt, es hat zerstört, was ihm gefährlich wurde."
"Nein, Sie täuschen sich."
"Und Sie verschließen Ihre Augen vor der Wahrheit", sagte John scharf. "Was passiert, wenn ich das Lathanium berühre?" Er ging ein paar Schritte von der Rampe weg zu einem der überdimensionalen Lathaniumsträuße, die in der morgendlichen, nunmehr rotgelben Sonne leuchteten, fast weiß, eine kristallene, unbefleckte Pracht inmitten einer unbeholfenen Wildnis.
"Tun Sie das nicht", erwiderte Yonwin leise. "Es würde Sie verbrennen, an Leib und Seele. Nur Lathaniten sind dagegen gewappnet, sie allein können sich gegen die überwältigenden Kräfte dieses Stoffes schützen." John beugte sich vor, hob seine Hand und ließ sie nur wenige Zentimeter über einem der Balken schweben. Helena ging zu ihm.
"John, was hast du vor?" In ihrer Stimme lag ein Hauch von Panik.
"Helena, die Antwort liegt im Lathanium! Du weißt das genauso wie ich - wie alle hier! Hier ist etwas, ich fühle, dass das Lathanium eine ganz starke Anziehungskraft hat!"
"John, bitte, sei vorsichtig damit!" Er warf ihr einen verblüfften Blick zu.
"Es - es.. lacht!", sagte er, sich im Klaren darüber, dass seine Worte alles andere als Vertrauen erweckend waren. "Sieh selbst!" Zögernd folgte sie seinem Beispiel und führte ihre Hand in die Nähe des weißlich-blauen Leuchtens. Sofort spürte sie eine Affinität, etwas Wildes, Verlockendes, Leichtherziges, das sie in tobendem Ungestüm einlud, den Stoff selbst zu berühren, und dahinter lag ein überbordendes, ein wieherndes, prustendes, ein johlendes Gelächter, das ihr die Tränen ins Auge trieb vor Erleichterung und ihr Herz schwerelos machte, alle Last, die es wie Fesseln umgab, wegsprengte, und sie blickte zu John, der ihr in die Augen sah, und dabei das widerspiegelte, was sie im Inneren spürte. Er fasste nach ihrer zweiten Hand, sie gab sie ihm, ohne darüber nachzudenken, und gemeinsam glitten ihre Hände auf das Lathanium zu, berührten es zusammen, kühl und glatt, und unmittelbar durchströmte sie eine sprühende Energie, elektrisch, tosend und aufbrausend, wie der wilde Haupttanz eines Czárdás, von Nigel Kennedy gespielt, ein Toben der Sinne, ohne Ende, das rasende Glück sorgenloser Euphorie. Und das Lachen, vielstimmig, ein sich Ausschüttenwollen, ein Gackern und Giggeln, ein sich scheckig, krumm und kringelig Lachen, ein Schwimmen in Lachtränen, eine Welt aus schierem Gelächter. Und dazwischen ein Geschrei und ein Johlen und immer wieder erfolglose Versuche, Worte zu finden, die überlacht wurden, überkichert und weggeprustet. Helena und John wurden durchdrungen von dem schallenden Gelächter, jede Faser ihres Körpers, jede Zelle, ihr Herz und ihr Verstand, lachten aus vollem Halse mit. Die hellen Stimmen, die aus dem Lathanium kamen, schrien durcheinander, offensichtlich angestrengt mit dem Versuch beschäftigt, dem kolossalen Lachanfall beizukommen, und schließlich verebbte das Lachen, immer wieder durchsetzt von erneuten Ausbrüchen besonders lachwütiger Einzelner, die sich nicht beruhigen konnten.
"Endlich! Endlich!", setzte sich schließlich eine Stimme durch, kindlich, und selbst noch voll überströmenden Lachens, "Endlich habt ihr alten Schnarchnasen verstanden! Ihr seid echt tierisch schwer von Begriff!" Das Gelächter setzte wieder ein, doch diesmal spürte man, dass sie alles unglaublich lustig fanden, aber doch den Wunsch hatten zu kommunizieren. John war selbst noch kaum befreit von der heiteren Attacke, die über ihn hinweggerollt war und konnte sich nicht einmal emotionell gegen die Wortwahl der Anschuldigungen wehren, er nahm es einfach hin, eine begriffsstützige "Schnarchnase" zu sein. Wieder drohte die Heiterkeit, in unkontrollierbare Regionen abzugleiten, doch Stimmen riefen durcheinander, die die Übrigen zur Ordnung riefen.
"Hört auf! Hört auf! Wir haben nicht lange Zeit, sonst werden sie beschädigt!" Das sorgte für Disziplin, wenn auch immer wieder ein Auflachen, ein Kichern und Zwischenrufe zu hören waren.
"Habt ihr nicht gemerkt, wie wir euch geholfen haben?"
"Ihr seid - ihr seid die Kinder der Lathaniten!", rief John. Jubel, Geschrei und Applaus.
"Wir sind erst jetzt echte Lathaniten. Zuvor waren wir nur Menschen, wie unsere Eltern, die dachten, sie seien Lathanium-Experten, aber in Wirklichkeit haben sie nicht nur nichts verstanden, sondern obendrein alles kaputt gemacht!"
"Aber sie suchen euch!"
"Zu spät!", war die Antwort, und plötzlich war sämtliches Lachen verschwunden, die Heiterkeit nicht mehr spürbar. "Wir sind nun verschmolzen mit dem verzweigten, weitläufigen Netz des Lathaniums, das Herz und Seele der wahren Lathaniten ist, das kollektive Wissen, in das jedes Mitglied der Gesellschaft eingebettet ist. Was unsere Eltern als Verunreinigung gesehen haben, ist in Wahrheit jahrtausendealt, enthält alles, was je gesehen, gedacht wurde, alle Erfahrungen, und ist der Kern und die Basis unserer Existenz. Das Lathanium von uns abzutrennen bedeutet, die Lathaniten zu verstümmeln, ihnen ihre Seele zu herauszureißen und sie zu zerstören."
"Aber wie kam es dazu, dass ihr von den Lathaniten aufgenommen wurdet?", wollte Helena wissen.
"Es gab einen letzten, großen Angriff auf die Siedlung. Die Tiere stürmten das Schiff, sie töteten die Mannschaft, aber wir - wir waren gut versteckt, und so konnten sie uns nichts anhaben, obwohl die Angreifer durch die Castor fluteten wie gewaltsame Lavamassen, die alles vernichten. Sie entfalteten sich, wanden sich und schlüpften durch die engsten Lücken, um niemanden zu übersehen - aber sie taten es dennoch, und wir überlebten. Es war schließlich alles vorbei, doch wir trauten uns nicht hinaus, weil unsere Eltern uns eingeschärft hatten, auf keinen Fall von alleine herauszukommen. Wir hatten Angst und bekamen Hunger und Durst, und doch blieben wir in unserem Versteck und hofften, dass uns bald jemand holen würde. Es geschah aber nicht. Als wir fast schon zu schwach waren, um auf den Füßen zu stehen, brach eine Lathaniumlanze durch in unseren Unterschlupf. Sie brachte uns zu den Lathaniten, die uns retteten, weil wir nur Kinder waren, und weil wir ihnen keinen Schaden zugefügt hatten. Mit unserer Symbiose hat sich das Denkmuster der Lathaniten verändert, sie können nun auch Menschliches verstehen, und so allein ist die Kommunikation zwischen euch und ihnen überhaupt möglich."
"Die Lathaniten sprechen durch euch zu uns?", fragte John verwundert.
"Ja, das tun sie", war die Erwiderung. "Und sie sagen euch: Geht nach Hause, denn hier gibt es für euch nichts zu tun."
"Aber was ist mit Captain Yonwin und Beryll le Marler?", wollte Helena wissen.
"Sagt ihnen, dass wir in Sicherheit sind."
"Warum macht ihr es nicht selbst?" Tuschelndes Flüstern.
"Es ist nicht möglich. Wir erreichen sie nicht mehr." Die Stimme barg eine Nuance von Traurigkeit.
"Ich verstehe nicht alles", sagte John, "aber ich fürchte, dass ich das meiste so hinnehmen muss. Sagt mir nur, warum ihr uns geholfen habt?" Die Kinder fanden seine Frage wieder äußerst amüsant.
"Also wirklich, ist das so schwer zu verstehen? Ihr habt euer Fluggerät dort abgestellt, wo kein Lathanium beschädigt werden konnte, ihr wart ehrfurchtsvoll allem gegenüber, was euch hier begegnet ist.. nun mit Ausnahme der Angreifertiere.. aber das zählt nicht!" Die Anmerkung führte zu einem Glucksen und Kichern, das nur mühsam unter Kontrolle zu halten war, selbst der Sprecher konnte kaum an sich halten und schien mehrfach nach Luft zu schnappen. "Ihr habt euch würdig verhalten, wie Gäste, und uns eure Achtung bezeugt. Was für einen Grund sollten wir haben, euch einen Schaden zuzufügen? Wir wären schlechte Gastgeber, sorgten wir nicht dafür, dass euch nichts geschieht."
"Aber.."
"Genug! Ihr müsst euch nun von uns trennen, denn sonst werdet ihr Schaden nehmen. Lebt wohl!" In einer Wolke aus vielstimmigen Abschiedsrufen lösten sich John und Helena vom Lathanium. Sie kamen wieder zu sich und entdeckten die übrigen drei Teammitglieder, wie sie ebenfalls vom Lathanium abließen, ein vergnügtes Lächeln im Gesicht.
Adalgis und Beryll dagegen standen noch an Ort und Stelle im Schatten der Castor, hatten sich nicht gerührt, während die Alphaner ihr Zwiegespräch mit dem Lathanium geführt hatten.
John ging ihnen entgegen.
"Was ist, warum sprechen Sie nicht mit Ihren Kindern?", wollte John wissen, "Sie sind im Lathanium und wurden gerettet von den Wesen, deren Gedächtnis, deren Herz und Seele das Lathanium ist."
"Wir spüren nichts", gab der Captain traurig zur Antwort. "Das Lathanium ist für uns mittlerweile wie tot. Auch wenn wir es berühren, fühlen wir nichts mehr."
"Es geht ihnen gut. Sie wurden von den Lathaniten des Planeten aufgenommen, sie haben sich gewandelt, und sie werden weiterleben. Im Lathanium." Die beiden antworteten nicht. Die Trauer, nun ihre Kinder gefunden - und dabei doch verloren - zu haben, stand ihnen deutlich ins Gesicht geschrieben. Die Alphaner beobachteten sie voller Anteilnahme.
"Captain Yonwin, alles, was wir tun können, ist, Ihnen anzubieten, uns auf unsere Basis zu begleiten. Ich fürchte, wir leben für Ihre Verhältnisse sehr primitiv, wir existieren in einer lathaniumlosen Gesellschaft, die die Unterschiede nicht kennt - aber auch die Vorteile nicht."
"Nein, Commander, wir können von hier nicht fort." John nickte. Er verstand es.
Beryll zog langsam den rechten Handschuh von ihrer Hand und ließ ihn aus den Fingern gleiten. Er war so leicht und zart, dass er wie ein trockenes Blatt gemächlich zu Boden sank. Sie trat mit dem linken Stiefel darauf. Ihre Hand, die zum Vorschein gekommen war, war weiß wie eine frisch getünchte Wand, die Haut fast durchscheinend.
"Diese Handschuhe trugen wir auch hier auf dem Planeten, weil die Haut auf die Sonne des Planeten empfindlich reagierte", sagte sie leise, "mehr aber noch als Mahnmal, als Erinnerung daran, was man uns auf Eridan angetan hat. Aber wir wurden von den Opfern zu den Tätern, das habe ich erst jetzt erkannt." Sie seufzte tief. "Und darum sind wir keine Lathaniten mehr. Die Handschuhe kann ich nicht mehr tragen." Mit ihren Worten hatte sie auch den zweiten Handschuh abgestreift. Er fiel achtlos auf die Erde, während sie die Hände vors Gesicht schlug und zu weinen begann. Yonwin hatte ihren Worten gelauscht, gefangen in seiner eigenen Trauer, die nicht minder war.
John hätte ihnen gerne gesagt, dass alles in Ordnung kommen werde, doch es war nicht so. Er blickte sie so nur mitfühlend an, wie sie, isoliert in ihrem Schmerz, vor ihnen standen und nun verstanden hatten, dass ihr Traum, in Freiheit und Würde nach ihren eigenen Vorstellungen zu leben, endgültig gescheitert war.
"Commander!", sagte Alan plötzlich aufgeregt, aber leise, "Sehen Sie, was sie an der Hand trägt?" John schaute genauer hin und entdeckte einen Ring an ihrem Finger. Eine Sekunde musste er darüber nachdenken, doch dann fuhr ihm der Schock in die Glieder. Er hatte ihn schon mal gesehen. Leuchtendes Rubinrot, verschlungenes, silbernes Metall, das sich um ihren linken Ringfinger wand. Es war, als stellte sich erneut die ganze Welt auf den Kopf.
"Beryll, was ist das für ein Ring, den Sie da tragen?" Sie hielt inne und griff mit der rechten Hand an den Schmuck, drehte ihn, während ihr Blick nachdenklich darauf lag.
"Ein Unikat", sagte sie, trotz aller Trauer verwundert, "Adalgis hat ihn für mich gemacht."
"Wer könnte diesen Ring noch getragen haben?"
"Niemand", sagte sie. "Niemand außer mir trägt diesen Ring." John und Alan schauten einander an, dann die anderen. Die Ungeheuerlichkeit ihrer Gedanken war so überwältigend, dass es kaum möglich war weiterzusprechen. John ließ die Zeit verstreichen, darauf hoffend, dass ihm eine andere Erklärung einfiel, doch es kam nichts.
"Was ist mit Ihnen, Commander?", wollte Yonwin schließlich konsterniert wissen.
"Major le Marler, Captain", sagte John schließlich, fast heiser vor Schrecken, "gehen Sie auf den Friedhof und halten Sie Ausschau nach dem Ring. Sie werden ihn an der Hand einer jungen Frau dort finden." Er konnte nicht weitersprechen. Die beiden verstanden nicht.
"Beryll", half Helena mit bebender Stimme weiter, "die Frau sind Sie."
"Das.." Sie stockte. "Das würde bedeuten, dass ich..tot bin?" Die Alphaner blickten sie nur an, selbst ungläubig, selbst entsetzt von dieser unerhörten Vorstellung. Beryll schüttelte den Kopf, verstört und erschüttert, und kam dann plötzlich in Bewegung, rannte am Team vorbei, in die Richtung des Friedhofes. Mit versteinertem Gesicht folgte der Captain ihr. Sie entschwanden im Flackern eines Augenblickes.
Wie betäubt standen die Alphaner da, zweifelnd, zu müde und überwältigt, um auch nur ansatzweise zu glauben, dass das, was sie erlebt hatten, die Realität war.
"Fliegen wir nach Hause", sagte Carl schließlich.
Nicht, dass der Quarantäneaufenthalt ein Problem war - er war nur lästig, umständlich, unbequem und bei allen Teams, die längere Zeit auf einem Planeten zugebracht hatten, ganz und gar unbeliebt. Er bedeutete ein Ausharren in engen, auf die jeweilige Teamgröße adaptierten, Modulen, wiederholte Untersuchungen mit Scans und Blutabnahmen, eine dramatische Behinderung der alltäglichen Arbeiten, denn nichts durfte die Räumlichkeiten verlassen, ehe das Team nicht freigegeben war, und vor allem war man tagelang auf die paar Quadratmeter beschränkt und sah Kollegen und Freunde lediglich durch dicke Glaswände hindurch oder überhaupt nur per Bildschirm und Commlock.
Alle Alphaner hassten diese Prozedur, selbst diejenigen, die sie eingeführt hatten, und diesmal saßen drei der Hauptverantwortlichen selbst fest. Sie hüteten sich, darüber ein ungnädiges Wort zu verlieren, wenn auch, mit Ausnahme von Victor, der eine Seelenruhe an den Tag legte, keiner der "Inhaftierten" wirklich eine ausreichende Geduld für Quarantäneaufenthalte hatte.
Der erste Tag war dennoch relativ schnell vorüber gegangen, John hatte als erstes eine Schlafpause ausgehandelt, denn der Flug war nur kurz gewesen, und sie hatten keine Gelegenheit gehabt, seit sie von der Castor aufgebrochen waren, sich wirklich auszurasten. Die Gruppe aus der medizinischen Abteilung, die quasi schon mit gezückten Nadeln Habt Acht gestanden war, war unverrichteter Dinge abgezogen, während das Expeditionsteam sich ermattet auf die Pritschen in den Kojen geworfen hatte und sofort in Tiefschlaf gefallen war. Doch die Ruhepause war viel zu kurz gewesen, der Weckdienst hatte gnadenlos zugeschlagen, denn es war erforderlich, rasch mit den Tests und medizinischen Checks zu beginnen, die von Bob Mathias und seinem Team in Sicherheits-Überdruckanzügen durchgeführt wurden. Die restliche Zeit wurde verbracht mit dem Verfassen der notwendigen Berichte, einem ordentlichen Essen und lebhaften Diskussionen mit allen Besuchern, die kamen, um ihnen durch die große Glasscheibe hindurch Gesellschaft zu leisten.
Alan und Carl saßen zusammen am Tisch im Gemeinschaftsraum und schaufelten die Reste des Abendessens in Form von Käse-Maccaroni als späten Snack in sich hinein, während Helena bereits die ersten medizinischen Testergebnisse des Teams durchging, Victor an irgendeiner mathematischen Formel herumbastelte und John sich mit dem Lesen eines unspektakulären Berichtes aus der hydroponischen Abteilung redlich langweilte.
"Hey", sagte Alan, während die Gabel, beladen mit Nudeln und Sauce, auf dem Weg zu seinem Mund Halt machte, um dort, wie vergessen, auszuharren, "kann es wirklich sein, dass wir einem Spuk begegnet sind?"
"Ein Spuk war das auf jeden Fall", erwiderte John mehr allgemein und legte, froh über die Ablenkung, den langweiligen Bericht aus der Hand.
"Sie haben aber so - so richtig echt ausgesehen!", wunderte sich Carl, verputzte den letzten Bissen auf seinem Teller und warf spekulative Blicke auf Alans Essen.
"Sie haben sich uns nie wirklich genähert", gab Alan zu bedenken. "Aber was ich gerne wüsste: Wenn die Scanner funktioniert hätten, hätten wir dann gesehen, dass von ihnen keine Signale ausgingen?" Victor, dessen Interesse geweckt war, blickte auf.
"In der Tat, das wäre hilfreich gewesen", sagte er.
"Aber, ich meine, können es wirklich - Geister gewesen sein?", insistierte Alan, "Oder waren das vielleicht irgendwelche Erscheinungen aus einer anderen Dimension? Ich meine, wir haben ja auch wirklich keine Ahnung von den möglichen Eigenschaften paralleler Welten und so." Victor fuhr sich nachdenklich über den Kopf.
"Keine schlechte Idee, Alan", sagte er, "darüber wissen wir tatsächlich sehr wenig. Aber ich habe noch eine andere Möglichkeit anzubieten." Alle waren nun aufmerksam, selbst Helena erhob sich vom Schreibtisch an der Seite und gesellte sich zu den Übrigen. "Der Computer der Castor hat doch gesagt, dass er die Matrix der Mannschaftsmitglieder gespeichert hatte. Er benutzte selbst das Muster von Captain Yonwin, und wir wissen, dass die Technik weit genug fortgeschritten war, hervorragende Hologramme herzustellen. Es waren nur noch zwei Profile übrig, die restlichen sind durch den Angriff des Lathaniums zerstört worden. Vielleicht waren das die Muster von Yonwin und seiner Frau?"
"Du meinst, sie waren nur Hologramme?", erkundigte sich John, und sein Freund nickte langsam.
"Möglicherweise."
"Aber dann hätte der Computer etwas davon wissen müssen." Victor hob vage beide Hände und blickte John an.
"Das System war schon ziemlich beschädigt, als wir kamen. Vielleicht sind gerade diese wesentlichen Informationen dem Hauptcomputer verloren gegangen. Ich meine, es bestand aus etlichen Subsystemen, die im Grunde autark funktionierten wie der Versorgungsautomat, und die aber unter Umständen von der zentralen Einheit durch die Schäden abgekoppelt worden waren."
"Aber ich mag die Idee, dass zwei ruhelose Seelen in die Realität zurückkehrten, weil sie sich Sorgen um ihre Kinder machten und sie versorgt wissen wollten", meinte Helena lächelnd. "Es ist romantisch, aber auch sehr tragisch und traurig."
"Und gruselig", ergänzte Alan. "Mir laufen bei dem Gedanken, es mit Gespenstern zu tun gehabt zu haben, tausend Schauer über den Rücken."
"Verlierst du vielleicht dabei zufällig auch deinen Appetit?", erkundigte sich Carl interessiert und fixierte Alans Teller, auf dem noch die Hälfte der Maccaroni lagen. Der Pilot grinste und schob ihn zu Carl hinüber.
"Nur zu, Carl! Man sollte bei diesem abgehobenen Zeugs nur ja nicht die grundlegenden Dinge vergessen!"
Die Zeit verlief nur zäh in der Quarantäne, und jeder versuchte, den anderen in dem beengten Raum möglichst wenig auf die Zehen zu steigen. Victor hatte sich in seine Koje zurückgezogen und lauschte über Kopfhörer einer von Karajan dirigierte Aufführung von Peer Gynt aus dem Jahr 1973, während John über Unterlagen zur Ressourcenverteilung, über die er zu entscheiden hatte, am Sofa des Aufenthaltsraums eingenickt war. Folien und Blätter lagen rund um ihn verstreut, wohingegen er den Stift immer noch einsatzbereit in der Hand hielt. Leises Schnarchen drang durch die geschlossene Tür von Carls Koje, während Alan sich zunächst noch mit Helena über Eridan, die Welt der Lathaniten, unterhalten hatte, und es sich nun auf seinem Bett gemütlich gemacht hatte, um sich mittels Commlock mit der Außenwelt, die in seinem Fall vorzüglich aus jungen Damen bestand, zu unterhalten. Helena hatte mittlerweile fast alle Untersuchungsergebnisse der ersten Quarantäneuntersuchung durchgeackert und war froh, feststellen zu können, dass soweit alles in Ordnung war. Sie waren gezwungen gewesen, das Wasser der Castor zu trinken, weil ihre eigenen Vorräte vernichtet worden waren und sie sich auch noch zu Fuß auf den Rückweg zum Adler hatten machen müssen. Die eigene Fernbedienung des Adlers war nicht mehr auffindbar gewesen, und eine Lenkung des Raumschiffs durch Alpha und über den Relaissatelliten hatte sich als nicht durchführbar erwiesen. Das Wasser war natürlich vor Ort überprüft und für gut befunden worden, nur bedeutete dies, dass das Team eine volle Woche in der Quarantäne aussitzen würde müssen. Für Helena war die Vorstellung ein Gräuel, nicht nur die ständigen Untersuchungen, sondern auch die völlige Eintönigkeit, die Enge der Räumlichkeiten, der Mangel an Bewegung, und die Tatsache, dass sie ihrer gewohnten Arbeit nicht nachgehen konnte, hatten ziemlich sofort begonnen, sie zu nerven. Mit einem Klick schloss sie die letzte Datei am Computerterminal, ihre eigene, und überlegte, ob sie schon müde genug war, schlafen zu gehen.
"Wie geht es uns?", erkundigte sich John, der, von ihr unbemerkt, aus seinem Nickerchen erwacht war, und sich nun, mit einem Stuhl bewaffnet, zu ihr setzte.
"Glücklicherweise hervorragend", gab sie zur Antwort. "Es wird die reinste Qual werden hier drinnen." Er grinste.
"Werden wir uns gegenseitig an die Gurgel gehen?"
"Ich hoffe nicht!", erwiderte sie amüsiert. "Wir müssen uns eben ausreichend beschäftigen."
"Und was machen wir gegen den Lagerkoller?"
"Lustige Gesellschaftsspiele", schlug sie vor, einen Ausdruck im Gesicht, der keine Fragen darüber offen ließ, was sie von "lustigen Gesellschaftsspielen" hielt. John nickte anerkennend.
"Ja, ich hab auch schon ganz große Lust auf Monopoly und Schwarzer Peter!"
"Oder Karaoke", schlug sie vor.
"Nur über meine Leiche", wehrte er grinsend ab. "Ich finde, wir haben schon genug mitgemacht in der letzten Zeit!" Helenas Miene wurde ernst.
"Das war ein sehr eigenartiges Erlebnis auf Lathan", sagte sie. Er nickte. Eigenartig war ein Hilfsausdruck für das, was ihnen widerfahren war.
"Wir wurden von einem Computer zur Hilfe gerufen, um am Ende Gespenstern zu helfen." Sie lächelte vage und in Gedanken versunken.
"Das Schicksal der Lathaniten berührt mich sehr", sagte sie nach einer Weile. "Nicht, weil sie gescheitert sind. Dieses Versagen war genaugenommen die logische Konsequenz aus ihrem Verständnis der Welt."
"Ich weiß, was du meinst. Es ist etwas viel Persönlicheres, sehr tief Gehendes."
"Das stimmt. Ich werde in meinem Leben niemanden mehr so gut kennen, wie ich Beryll kenne. Ich habe nicht nur gesehen, was sie erlebt hat, nein, ich war wie sie, manchmal war ich sie, so sehr, dass ich mich kaum an meine eigene Person erinnern konnte." Sie musterte ihn intensiv. "Ich glaube nicht, dass es nur Hologramme waren." Er beugte sich zu ihr nach vorne.
"Denkst du, sie haben uns nur aus dem Grund an ihrem Leben teilhaben lassen, um uns ihre Vergangenheit zu zeigen?"
"Und uns den Schlüssel zu ihrem Gedächtnis zu liefern?"
"Nein, ich meinte etwas anderes. Helena, wenn sie wirklich Geister waren, wollten sie dann nicht vielleicht unbewusst wieder am Leben teilhaben? Das Leben in Fleisch und Blut spüren durch uns beide?" Sie dachte nach.
"Es war in der Tat schwierig, Beryll wieder loszuwerden. Sie sträubte sich, mich zu verlassen, und ich musste schwer darum kämpfen, wieder Gewalt über mich zu bekommen."
"Dasselbe habe ich auch mit Yonwin erlebt. Glaubst du, sie haben mehr getan, als uns nur ihr Leben zu zeigen?" Er merkte, wie ihm das Herz wieder bis zum Hals schlug. Er hätte lieber geschwiegen, fand es aber gleichermaßen notwendig wie fair, Helena mit dem Thema zu konfrontieren. Sie sagte zunächst nichts, doch er sah, dass sie mittlerweile wusste, wovon er sprach.
"John, was auch immer geschehen ist, das waren nicht wir beide, es waren Beryll und Adalgis. Es hat mit uns nichts zu tun." Er atmete durch und nickte. Helenas Umgang mit der Situation war pragmatisch und wohl die einzige Möglichkeit, ihr Verhältnis zueinander gänzlich auf der Ebene zu belassen, auf der sie sich zuvor bewegt hatten. Status quo ante. Nichts hatte sich zwischen ihnen geändert, nichts war zerstört, und das war ihm unendlich wichtiger als die Vorstellung, Körperliches mit ihr geteilt zu haben, an das sie beide nur eine fremde Erinnerung hatten. Sie schwiegen und hingen ihren Gedanken nach.
"Glaubst du, sie haben jetzt ihren Frieden gefunden?" Helenas Stimme war leise und versonnen, als sie schließlich wieder sprach.
"Wir haben gefunden, was sie suchten", sagte er.
"Wir verdanken es ihren Kindern, dass wir wieder lebend nach Hause zurückkehren konnten."
"Das ist richtig. Ihr Schicksal hat uns gezeigt, dass selbst unter den schrecklichsten Umständen etwas Positives entstehen kann. Das gab mir sehr zu denken." Sie schaute auf.
"Sue Crawford?" Er nickte.
"Ich habe mein ganzes Leben in der Welt der Erwachsenen verbracht, ich weiß eigentlich gar nicht, was es bedeutet, ein Kind zu sein. Auch als ich selbst erwachsen war, hatte ich keinen Bezug zu Kindern, sie waren nicht Teil meines Lebens. Nie vorgesehen. Aber hier im Weltall ändert sich alles. Ich fange an zu begreifen. Sichtweisen ändern sich." Er sah in ihre Augen, lebhaft, mitfühlend, weich. Hoffnungsvoll. Seine Worte entsprangen keiner momentanen Laune, fielen nicht, um ihr zu gefallen, im Gegenteil, er hatte innere Kämpfe ausgefochten und am Ende gesehen, dass es nur eine Entscheidung gab, die er treffen konnte, wenn er sich jemals wieder im Spiegel anschauen wollte. "Das Leben ist hier kostbar, so wertvoll, und ich bin zur Überzeugung gelangt, dass ich es nicht vorsätzlich zerstören kann." Sie schlug die Augen nieder und nestelte eine Zeitlang an den Unterlagen vor sich am Schreibtisch herum.
"Du weißt, dass ich es auch nicht tun hätte können", sagte sie endlich sehr leise.
"Das ist mir klar, Helena." Er wusste, dass sie seinen Meinungsumschwung nicht erwartet hatte, dass sie davon ausgegangen war, dieses Scheitern der Lathaniten sei eher Wasser auf seinen Mühlen, eine Bestätigung dessen, dass man Leben weder gedankenlos noch mit zuviel Hoffnung schaffen dürfe. Sie wirkte hilflos inmitten ihrer Emotionen, die seine Worte in ihr ausgelöst hatten, und versuchte erfolglos, sie zu verbergen. Es rührte ihn, sie so schutzlos sich selbst gegenüber zu sehen. Als sie aufsah, im Gesicht vorsichtige, fragende Dankbarkeit und eine leise Sehnsucht nach dem Leben, nahm er sie kurzerhand in seine Arme. Sie hielt sich wortlos an ihm fest, und die Zeit blieb stehen.
Bis sein Commlock summte. Er hätte ihn gerne ignoriert, doch beim ersten Ton wich sie, wie ertappt, von ihm zurück, und er nahm das Gerät seufzend vom Gürtel.
"Commander, hier ist Kano", meldete sich der Computerspezialist auf der anderen Seite, eindeutig müde, gereizt, ja, geradezu zornig. "Wissen Sie, wie viele Stunden ich den Hauptrechner gequält habe, wie viel Zeit ich mir um die Ohren geschlagen habe, wie vielen anderen Leuten ich auf die Nerven gefallen bin, um diese unerträglichen Signale aus Prof. Bergmans Scanner zu entschlüsseln? Und wofür das alles? Wofür?" Er schnappte empört nach Luft. John schaute ihn amüsiert an.
"Sie werden es mir bestimmt gleich sagen", meinte er entspannt. Kano war zu sauer, um den Mangel an Mitgefühl in des Commanders Äußerung auch nur wahrzunehmen.
"Ich fand eine digitalisierte Tonspur darin, mitten im restlichen Chaos, das ich übrigens immer noch nicht zuordnen kann, und das wahrscheinlich für immer ein Rätsel bleiben wird, aber: Hören Sie selbst!"
Er glitt aus dem Bild und manipulierte offensichtlich an den Einstellungen des Rechners, sodass das Ergebnis sofort aus den Lautsprechern von Johns Commlock drang. Zunächst war ein weißes Rauschen zu hören, das sich plötzlich in Gelächter verwandelte, ein vielstimmiges Lachen von Kinderstimmen, die dann gemeinsam und unter weiterem ansteckendem Gekicher einen bekannten Auszählreim zu singen begannen:
"One for sorrow
Two for joy
Three for a girl
Four for a boy
Five for silver
Six for gold
Seven for a secret
Never to be told
Eight for a wish
Nine for a kiss
Ten for a time
Of joyous bliss!"
John warf Helena einen Blick zu und schmunzelte.
"Von freudigem Glück", sagte er schließlich. "Genau. Gut gemacht Kano. Danke!" Er schaltete den Commlock aus und ließ einen verblüfften David Kano auf der anderen Seite zurück. "Das waren sie wirklich", sagte er zu Helena. "Seelen voller Freude und Glück." Helenas Lächeln hatte etwas Trauriges an sich.
"Da haben sie uns Einiges voraus", sagte sie, sich den Übermut, die tobende Freude am Unmittelbaren, die Sorgenlosigkeit, ins Gedächtnis rufend. Er sah sie nachdenklich an.
"Helena, wenn wir diese Erinnerung an sie, das Erlebnis, das wir mit ihnen hatten, diese wunderbare Leichtigkeit, all das Lachen, nie vergessen, glaubst du nicht, dass wir damit unsere eigenen Seelen ein klein wenig glücklicher machen können?" Die Schatten wichen aus ihrem Gesicht.
"Du hast Recht", sagte
sie und erhob sich schließlich. "Du bist ein emotioneller Mensch, John, der den Gefühlen
leicht nachgeben, in ihnen leben und sich von ihnen davontragen lassen kann.
Es würde mich nicht wundern, wenn irgendwo in dir einer von ihnen steckte.
Einer mit einer Seele voller Freude und Glück." Er sah ihr nach, wie
sie sich, ihm einen letzten frohen Blick zuwerfend, in ihre Koje zurückzog.
Er mochte die Vorstellung,
die sie von ihm hatte, und auch die Tatsache, dass sie, die selbst so beherrscht
war, so diszipliniert, offensichtlich etwas für seine Emotionalität
übrig hatte. Es war spürbar, dass zwischen ihnen wieder alles in Ordnung
war, und für ihn war das eindeutig wesentlich mehr Ursache für eine
glückliche Seele als die Begegnung mit dem Lathanium.
Hier in der Quarantäne
würde es gar nicht so schlimm werden wie befürchtet!
-Ende-
5.März 2009