Sphäre |
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Die generelle Darstellung der Alphaner, insbesondere in der ersten
Staffel - und meiner Meinung nach auch eine der hervorragenden Qualitäten
der Serie - ist die einer Gesellschaft, die den Schlägen des Schicksals
recht hilflos ausgeliefert ist. Ihr Zusammenhalt, ihr Erfindungsreichtum und
ihr Mut helfen den Menschen, aus den Situationen, in die sie geraten, immer
aufs Neue mehr oder weniger geläutert, immer aber etwas klüger hervorzugehen.
Mich
interessierte nun die Idee einer zufälligen Begegnung zweier Rassen, die
sich praktisch nicht miteinander verständigen können und die Frage,
welchen Effekt ein solches Treffen auf die Beteiligten hätte.
Wichtig
war mir dabei, den Geist der ersten Staffel einzufangen und dabei gleichzeitig
die Vorgaben der zweiten Staffel sinnvoll einzusetzen.
Alan Carter starrte ungläubig auf den Monitor vor sich und schüttelte den Kopf.
"Organisch?" fragte er, und sein Blick schwenkte auf den Hauptbildschirm, wo, von der Schwärze des Alls umkränzt, ein Konglomerat aus seifenblasenartigen Strukturen vor sich hin schillerte und im übrigen nichts tat, als die Alphaner in gehöriges Staunen zu versetzen.
"Organisch: ja. Mit unserer Form von Leben verwandt: definitiv nein," sagte Maya.
"Was dann?"
"Ich habe keine Ahnung. Es besteht aus chemischen Verbindungen, die man noch am ehesten als proteinähnlich bezeichnen kann. Nicht, daß man sie tatsächlich mit den uns bekannten Eiweißstrukturen vergleichen könnte."
"Wo kommt das Ding auf einmal her?" mischte sich Tony Verdeschi ungeduldig ins Gespräch ein. Er wirkte, als wertete er das Auftauchen des fremden Gebildes als eine vorsätzliche Beleidigung gegen seine Person. Maya hob die Augenbrauen.
"Ein Dimensionssprung? Teleportation? Vielleicht verfügen sie auch über eine Tarnvorrichtung, die wir nicht erkennen können. Es gibt viele Möglichkeiten, wieso sie uns nicht eher aufgefallen sind - inklusive der, daß wir den Raumquadranten nicht früher genau beobachtet haben."
"Was heißt da 'sie'?" wollte Carter, auf einmal hellhörig, wissen. Maya zeigte auf ihren kleinen Bildschirm.
"Seht euch das an. In diesen Sphären existieren mehrere tausend Lebewesen. Sie sind aus denselben molekularen Strukturen aufgebaut wie ihre - Habitate, wenn man so will, nur, daß sie sich vermutlich in einem anderen Aggregatszustand oder so befinden. Ich habe Ähnliches noch nie gesehen!"
"Sind sie intelligent? Verfügen sie über technische Mittel? Können sie uns gefährlich werden? Laß dir nicht alles aus der Nase ziehen, Maya!" regte sich Verdeschi auf und begann, nervös auf den Tasten seines Computeranschlusses herumzuhacken.
"Ich bitte dich, die Sonden haben uns die Werte gerade erst übermittelt! Im übrigen habe ich ein gutes Gefühl. Ich glaube nicht, daß wir in Gefahr sind."
"Na fein," erwiderte Tony gallig, "dann können wir auf alle weiteren Untersuchungen verzichten, wir haben ja zum Glück ein empathisches Psychon-Frühwarnsystem, das uns Gefahrlosigkeit bescheinigt hat!"
John Koenig wohnte der Diskussion wortlos bei, düster und voller Bedenken über die Zukunft der Basis. Auch wenn der Chef seines Sicherheitsdienstes ein wenig überreagierte, so mußte er ihm grundsätzlich rechtgeben. Mayas unmotivierter Optimismus war nicht angebracht.
~ ~ ~ ~ ~
Wie Perlmutt glänzte das fremde Gebilde, von dem ein eigentümliches Leuchten ausging, das aus dem Inneren zu kommen schien und einen bläulichen Glanz wie einen irisierenden Strahlenkranz um die Struktur legte.
Es war weit weg, viel weiter weg, als ein Adler fliegen konnte. Kein Kollisionskurs. Keine augenscheinliche Gefahr.
Dennoch war der Kommandostab alarmiert. Es war zur Gewohnheit geworden, in Unbekanntem zuerst den Feind zu sehen. Die Menschen waren an ein Leben auf der Hut gewohnt.
"Dennoch, es ist wunderschön," sagte Sandra, in der Stimme einen Ton, der zeigte, daß sie auch nach so langer Zeit den Sinn für Wunder nicht verloren hatte.
Maya musterte mit fast vergeistigter Miene die glimmende Ansicht des unbekannten
Objektes.
"Es ist," sagte sie, "wirklich selten, daß
ich ein so überwältigendes Gefühl der Sicherheit habe. Wie ein
Signal, eine Nachricht, daß wir keine Furcht zu haben brauchen."
"Es will uns in Sicherheit wiegen," erwiderte Tony trocken. "Und: dann!" Seine genaueren Befürchtungen blieben unausgesprochen, doch seine geballte Faust und sein grimmiger Gesichtsausdruck waren beredter Hinweis für seine reichlich unschönen Vorstellungen.
~ ~ ~ ~ ~
Tagelang waren das alphanische Kameraauge auf den Unbekannten im All gerichtet und der Computer instruiert, Veränderungen unverzüglich an das Personal in der Kommandozentrale weiterzuleiten.
Nichts geschah. Der Abstand zum Mond veränderte sich nur unwesentlich, denn die beiden Objekte bewegten sich fast in dieselbe Richtung. Und wenn das Gebilde auf einem der Monitore auftauchte, dann nur, weil es schön anzusehen war wie ein impressionistisches Gemälde, von flirrender Heiterkeit und malerischer Passivität.
Vielleicht nahm man den Mond nicht wahr. Vielleicht aber auch bestand kein Interesse für die Erdlinge. Auf Alpha hatte man gelernt, daß sich nicht alle Wesen, die der Kosmos hervorgebracht hatte, durch eine solch überschießende Neugier wie der homo sapiens auszeichneten.
~ ~ ~ ~ ~
Der fünfte Tag jedoch erwachte mit dem durchdringenden Ton der Alarmsirenen, und mit einem Schlag war die Basis auf den Beinen.
Verdeschis Stimme hallte durch die Gänge, gab Eindringlingsalarm und rief das gesamte Sicherheitsteam auf seine Posten.
Die Alphaner selbst waren diszipliniert und durch gelegentliche Gegebenheiten
derselben Natur vorbereitet.
Chaos stellte sich nicht ein.
John erreichte fünf Minuten nach Aktivierung des Alarms die Kommandozentrale. Die Abdrücke des Kopfkissens auf seiner Wange und sein ungekämmtes Haar ließen keinen Zweifel daran, welchen Vergnügungen er sich zuvor hingegeben hatte.
"Wo sind sie?" rief er bereits vom Eingang aus. "Wir müssen die Sektion evakuieren und abriegeln!"
"Sie sind überall, Commander," war die wenig ermutigende Antwort, und John sank verärgert in seinen Sessel.
"Bericht!"
Maya löste den Blick von ihrem Monitor, über den rasche Daten flimmerten,
in ihrem exotischen Antlitz kein Anzeichen von Furcht.
"Sie materialisieren
aus dem Nichts, Commander - unsere Sicherheitsvorkehrungen stellen für
sie kein Hindernis dar. Mittlerweile sind es schon über fünfzig von
ihnen." Mit wenigen Knopfdrücken zauberte sie ein dreidimensionales
Schema der Basis auf den Hauptbildschirm, auf dem zahlreiche kleine blaue Punkte
aufblinkten.
"Ihre Zahl nimmt zu, den Markierungen nach zu schließen. Man findet sie überall da, wo auch Menschen sind," sagte sie, "wie man sieht, sind sie nicht in den stillgelegten Katakomben, auch nicht in den externen Versuchslaboratorien oder in einem der Adlerhangare. Und mehr noch, Commander, es liegen keinerlei Meldungen über Angriffe auf Mannschaftsmitglieder vor!"
"Und was tun sie dann?"
Maya wandte sich ihm vollends zu. Sie machte einen heiteren Eindruck.
"Nichts,"
sagte sie, "sie scheinen nur, wie soll ich sagen, in der Gegend herumzustehen."
"Wo ist Tony?"
"Oh, vor Ort," erwiderte Sandra, "er hat sich mit einigen Männern von der Sicherheit ins Erholungszentrum begeben, wo die ersten Außerirdischen eingetroffen sind."
Helena Russell betrat, ihre Aufregung nur mühsam verbergend, das Hauptquartier.
"John,
ich komme vom Medizinischen Zentrum. Dort sind zwei dieser Geschöpfe erschienen.
Sie sind wie - wie überdimensionale Wassertropfen in Schwerelosigkeit.
Sie greifen nicht an, sie kommunizieren nicht. Eigentlich tun sie gar nichts
als schimmernd vor sich hin zu wogen oder wie träge, kugelige Amöben
in Zeitlupe durch die Räume zu robben."
Sie griff sich an die Stirn.
"Das
hört sich verrückt an, aber anders läßt sich ihre Fortbewegung
nicht beschreiben. Und John, das Eigenartigste daran: Sie machen mir keine Angst.
Auch mein übriges Personal verspürt in ihrer Anwesenheit keine Furcht.
- Das finde ich besorgniserregend!" fügte sie noch hinzu.
"Maya, ich möchte so bald als möglich einen kompletten Bericht über die Eindringlinge, alles, was der Computer über sie ausspuckt, verstanden!"
"Natürlich, Commander, es arbeiten alle schon daran."
~ ~ ~ ~ ~
Achtundvierzig Stunden waren seit dem ersten Eintreffen der fremden Wesen
vergangen, und John hatte Mayas Bericht bereits seit geraumer Zeit vor sich
auf dem Schreibtisch liegen.
Zum wiederholten Mal überflog er ihn -
immer noch gleichermaßen unzufrieden wie nach der ersten Lektüre.
Er
lieferte nicht eben viele hilfreiche physikalische oder biologische Daten über
die Eindringlinge. Bescheidene Hinweise entsprangen aus der Veränderung
der Umgebung, die durch ihre Anwesenheit ausgelöst wurde - oder vielmehr
dem fast vollständigen Ausbleiben einer solchen.
Sie konsumierten keinen Sauerstoff - auch keine anderen Gase oder Materialien, sie sonderten keine Stoffwechselprodukte ab - zumindest nichts Meßbares außer einer geringen Wärmestrahlung, die nur wenig über der Raumtemperatur lag, die auf der Basis herrschte.
Die Geräte auf Alpha schienen tatsächlich beträchtliche Schwierigkeiten mit der Analyse zu haben. Die Aufschlüsselung ihrer biochemischen Stoffkomposition machte nur geringe Fortschritte, da der Aufbau ihrer Körper gänzlich differierte von der des irdischen und so manchen außerirdischen Lebens, keine DNA, keine Zellstrukturen, nur eine amorphe Masse ohne funktionierende Organe.
Die Mannschaft hatte die inzwischen zu einer Anzahl von mehr als 200 herangewachsenen
Außerirdischen sehr bald nicht mehr für eine Gefahr gehalten, denn
jene ließen sich willig vermessen, abtasten, abklopfen und -horchen, sie
ließen sich Röntgenaufnahmen, sonographische Untersuchungen und
SPECT-Analysen gefallen und rollten auch anstandslos in Computer-, Magnetresonanz-
und Positronenemissionstomographen.
Die Stimmung war gelöst.
John hatte die Wesen aus der Kommandozentrale verbannt und achtete darauf, ihnen selbst nicht zu nahe zu kommen. Er blieb skeptisch, obwohl auch er sich in Wirklichkeit dem allgemeinen Hochgefühl nicht völlig entziehen konnte.
Sein Unbehagen resultierte daraus, daß er nicht nur auf rationeller Ebene weitgehend ratlos war sondern vor allem in emotioneller Hinsicht. Es war sehr selten, daß er glaubte, sich auf sein Gefühl, auf seine Intuition, nicht verlassen zu können. Hier roch er förmlich Gefahr, aber sein Innerstes sagte ihm eindringlich, daß sie gegenstandslos war. Er fühlte sich orientierungslos und im Stich gelassen.
Er traf Helena zu einer kleinen inoffiziellen Besprechung in der Kantine, wo sie vor einem Teller voller undefinierbarer gelber Klümpchen in Sauce saß.
Sie bemerkte seinen abweisenden Blick auf ihr Essen und sagte lachend:
"Total
gesund - und garantiert vegetarisch! Ich bin Versuchskaninchen für Eddies
neue Sojabällchen mit Curry-Würze. Und es schmeckt bei weitem nicht
so schlimm, wie es aussieht!" Er nahm ihr die Gabel aus der Hand und probierte
selbst einen Bissen.
"Nun," meinte er schließlich anerkennend, "die Anwesenheit
der Außerirdischen scheint die Phantasie der Alphaner zu beflügeln!
Selbst unsere Köche bringen wieder was Eßbares auf den Tisch!"
Sie
nickte lächelnd.
"Helena, diese Wesen machen mir zu schaffen. Ich bin mir nicht schlüssig, was ich über sie denken soll! Mein Verstand sagt, daß da etwas nicht mit rechten Dingen zugeht, während mein Gefühl versucht, mich haltlos in Sicherheit zu wiegen! Sie erscheinen mir harmlos - aber sind sie es? Wir wissen zum Beispiel nicht einmal, ob wir unsere Waffen gegen sie verwenden können!"
"Oh, der Punkt ist, daß niemand von uns unsere Waffen gegen sie
verwenden will! Selbst unser skeptischer Chef vom Sicherheitsdienst würde
sich inzwischen gerne ein paar von ihnen als Haustiere in sein Quartier stellen.
- Und ich kann es nachvollziehen!" Sie schob den Teller weg und beugte
sich zu John vor. Ihre Nähe machte ihn immer noch schwindlig.
"Ich
kenne mich selbst nicht wieder, John. Ich bin von einer - einer Leichtherzigkeit,
von einem kindlichen Frohsinn, als existierten kein Überlebenskampf, keine
Schmerzen, keine Trauer und keine Mühen in dieser Welt!" Sie lehnte
sich wieder zurück und seufzte.
"Wir haben Tests durchgeführt.
Die Endorphin-Ausschüttung im Stoffwechsel der Alphaner hat sich, seit wir
Besuch haben, weit über ein bloß signifikantes Maß hinaus erhöht.
Keiner kann sich dagegen wehren, John."
"Glückshormone!"
"In der Tat. Hast du das rege Treiben auf der Basis beobachtet? Wirf einen Blick ins Alpha-Net und sieh dir an, wieviele nutzbringende Projekte von heute auf morgen begonnen wurden! Als hätten uns diese Wesen aus einem Dornröschenschlaf geweckt und uns aus der Lethargie gerissen!"
"Helena, was sind das für Wesen, die uns ohne ein Wort in ihren Bann ziehen können?"
"Maya ist es gelungen, sich in eines von ihnen zu verwandeln," erwiderte sie. "Der Test fand unter Beisein von Dr. Mathias und in Abwesenheit der Außerirdischen statt und dauerte lediglich etwa 5 Minuten. Maya glaubt, daß es sich um Tiere handelt, die sich, ihren Instinkten folgend, auf einer Reise befinden, wie Zugvögel, die im Winter gegen Süden fliegen. Sie sprach von einer enorm starken Anziehung, von einem sehr positiven Gefühl, noch viel stärker als jenes, das wir in der Gegenwart dieser Wesen fühlen. Da waren große Kräfte am Werk, obwohl Maya nicht mit ihnen in einem Raum war, weswegen sie den Versuch rasch wieder abbrach."
"Und wenn es Tiere sind! Löwen und Tiger sind auch Tiere, aber sie würde ich nicht ohne weiteres auf meiner Basis herum wandern lassen! Was haben sie davon?"
Sie schwieg, wohl wissend, daß sie keine Antwort hatte.
~ ~ ~ ~ ~
Die innere Unruhe raubte John den Schlaf.
Er litt manchmal an Schlaflosigkeit,
die Helena ihm eiskalt mittels kleiner weißer Pillen auszutreiben versuchte
- die er natürlich wiederum nicht schluckte. Bislang hatte sie die Handvoll
gehorteter Schlaftabletten in seinem Nachtkästchen noch nicht gefunden.
Er hatte daran gedacht, sie hinterrücks an Dr. Mathias zurückzuerstatten.
Nun saß er brütend am Rand seines Bettes und versuchte, sich einen
Weg auszumalen, wie er die Fremden wieder loswerden konnte. Auch wenn sie keine
offensichtliche Gefahr, wenn sie nur harmlose Tiere waren, so blieben sie dennoch
ein Unsicherheitsfaktor, den er auf Alpha nicht dulden konnte.
Ganz abgesehen
davon, daß sich ihre Zahl am Mond nach wie vor vergrößerte.
Er hörte ein Geräusch im Nebenraum und dachte, es sei Helena, die nach dem Ende ihrer Schicht zu ihm kam. Doch auf seinen Ruf erhielt er keine Antwort und so begab er sich zum Wohnraum seiner Unterkunft.
Eine grünlich schillernde, seidig glänzende und dazu deftig deformierte
Kugel eierte durch den Raum und stieß sich funkenspritzend an seinem Sofa,
ehe sie wogend zum Stillstand kam und wie fragend an Ort und Stelle verharrte.
Sie
reichte bis an die Rücklehne des Couchsessels und veränderte nunmehr
ihre Farbe in ein flimmerndes Pastellblau, das zu ihm herüber schien wie
durch schwirrende Hitze.
John starrte sie verdattert an.
Offensichtlich war es ein frisch materialisierter Neuankömmling, denn
sonst hatte sich noch keiner von ihnen in sein Quartier verirrt.
Von dieser
Nähe hatte er die Eindringlinge noch nie erlebt. Er war ihnen aus dem Weg
gegangen, wiewohl er gewußt hatte, daß er dies nicht von der gesamten
Mannschaft verlangen konnte.
Er trat weg von der Tür und hinein in den Raum, um das Wesen auf den Korridor zu scheuchen, und wurde schon beim ersten Schritt von einer Welle an wohlgesinnten Gefühlen durchdrungen, die ihm entgegen schwappten. Wärme stieg in ihm auf, und seine Bedenken verflogen, schneller noch, als er ihnen nachsehen konnte. Er fühlte Frieden, eine Ausgeglichenheit, die er sonst kaum kannte, und ein Glücksgefühl, das ihn schier überwältigte.
Es brauchte lang, bis er sich wieder gefaßt hatte, dann schleuste er das Wesen vorsichtig hinaus auf den Gang und fiel anschließend wie ein Stein in sein Bett.
Als Helena kam, lag er schnarchend am Rücken, wie ein Kind alle Glieder
von sich gestreckt.
Sie störte ihn nicht.
~ ~ ~ ~ ~
Die Ernüchterung kam mit der Nachricht, daß Maya verschwunden war.
"Sie haben ihr etwas angetan!" beschwor Tony eine grimmige Vision herauf und meinte mit 'sie' natürlich die Eindringlinge.
"Welches Interesse sollten sie an Maya haben?" fragte Alan, der gerade einen Bericht über die, ohnedies außer Zweifel stehende, Vollständigkeit seiner Adlerflotte erhalten hatte.
"Sie weiß mehr als wir, sie hat formwandlerische Kräfte, sie ist Empathin, was soll ich noch mehr sagen?"
John blickte auf.
"Formwandlerin! Tony, sie muß sich in eine von ihnen verwandelt haben!"
"Aber sie kann nur kurzfristig die Gestalt einer anderen Spezies annehmen. Und ich gehe davon aus, daß sie schon viel länger verschwunden ist!"
"Helena, was weißt du darüber?"
"Über ihre Fähigkeiten? Maya hat selbst ein wenig damit experimentiert - unter Ben Vincents Aufsicht natürlich. Es scheint, daß sie nur für eine gewisse Zeit, ungefähr eine Stunde lang, ohne Probleme eine andere Form aufrecht erhalten kann. Danach muß sie sich einem imperativen Drang fügen, der sie zwingt, wieder ihr gewohntes Erscheinungsbild anzunehmen. Ben meinte, es müsse sich um eine Art Schutzmechanismus handeln. Ich weiß natürlich nicht, ob dieser nicht unter bestimmten Umständen auch ausgeschaltet werden kann, John."
"Ja, wenn sie in den Einfluß dieser Kreaturen geraten ist und
nicht wieder in ihre eigene Gestalt zurückfinden kann, vielleicht wie eine
unabwendbare Anziehung, ein übermächtiger Zwang, dem sie nicht widerstehen
kann! Sie sagte, daß von ihnen starke Macht ausgeht." Er dachte kurz
nah.
"So müssen wir also davon ausgehen, daß sie in Gefahr ist.
Die Frage ist nur, wie können wir sie von den anderen unterscheiden?"
"Ich fürchte, gar nicht," erwiderte Helena, "unglücklicherweise sind ihre Fähigkeiten der Molekularen Umwandlung sehr weit fortgeschritten. Unsere Sensoren können sie nicht orten."
"Wird sie dann für immer in dieser Gestalt bleiben?"
Sie schüttelte den Kopf.
"Ich glaube, daß sie sterben wird."
Die Kommandozentrale erbebte von den zornigen Befehlen des Sicherheitsdienstchefs, der seine Leute anwies, jeden Außerirdischen genauestens zu überprüfen und jedem Hinweis nachzugehen, der die Auffindung Mayas ermöglichen könnte.
"Und ihr, ihr solltet einen Weg finden, sie aufzuspüren!" rief er scharf an die Adresse der Ärztin.
John fing Helenas besorgten Blick auf.
"Tu, was du kannst," sagte er. Sie nickte und verließ die Kommandozentrale.
~ ~ ~ ~ ~
Sie war wie von einem Kokon umgeben, von der weichen Atmosphäre ihrer Gefährten, die sie mit ihrer heimeligen Zuneigung umschlossen und sie sicher umfingen. Sie sah nicht viel, nur graue Schemen, die in ein unwirsches Muster zusammenliefen, ihr Sinn war das Fühlen, das Erspüren von psychischen Strukturen, von Empfindungen und Ausstrahlung. Sie fühlte in Farben, die sie gestalten konnte, die ihrem Willen unterworfen waren und die sie deswegen in angenehme Elemente verwandelte.
Dies war ein Ort, der viele Farben barg, hauptsächlich Farben, die ihr nicht gefielen. Sie veränderte sie, bis sie ihr zusagten.
Ein plumper purpurner Fleck, der in ihre Richtung wogte, erregte ihre Aufmerksamkeit. Das schwere Rot mißfiel ihr, sie nahm es weg und ersetzte es durch ein sanftes Magenta, das fast tänzelnd an ihr vorbei schwebte.
Sie war sich ihrer Anwesenheit, ihres Seins, bewußt, sie kommunizierte mit den anderen, indem sie mit ihnen teilte, was sie gefunden hatte. Sie träumte mit ihnen, wenngleich Träume, die anders waren, als sie sie sich je vorstellen hätte können, erfühlte Träume aus Farben. Alles war ein Spüren, ein Erspüren und Empfinden, ein Vortasten und ein Wahrnehmen von neuen Emotionen, neuen Farben.
Sie fühlte, daß ein Bedürfnis zur Interaktion mit anders
gearteten Wesen da war, mit Wesen, die ihnen so fremd waren, wie sie ihnen.
Ja, sie begriff, daß es ein Zwang war, dem sie folgen mußten, der
von größter Bedeutung war, und sie gehorchten, weil ihr Instinkt
sie leitete. Woher sie wußten, daß sie ihr Bedürfnis an diesem
Ort stillen konnten, war belanglos, irrelevant, denn sie lebten nicht mit der
Rationalität vieler denkender Wesen.
Sie hatten noch nicht gelernt zu
fragen.
Doch sie selbst war anders und suchte nach Antworten. Sie fragte nach allem,
ebenso beharrlich wie vergeblich.
Und so war ihr schwer ums Herz, da war
ein Gefühl wie Angst, ungerichtet und, wie sie wußte, völlig
fehl am Platz. Sie lauschte in sich, aber alles war gut, sie waren da, umfaßten
und hielten sie. Sie zogen sie an sich, und ihre Zweifel verrauchten.
Ein patziger, schwarzer Farbklecks vor ihr verwandelte sich in ein sattes meergrünes Leuchten.
~ ~ ~ ~ ~
Wiederholt wurde die Basis durchkämmt - die Sensoren auf die Jagd geschickt, doch von der Außerirdischen fehlte jede Spur.
Helena arbeitete mit einem Team, dem nicht nur Mediziner angehörten, auch alle anderen Naturwissenschaftler und die Computerexperten halfen mit und taten ihr Möglichstes, Mayas Auffindung zu beschleunigen.
Helena glaubte, daß sich die Belastung der langen Verwandlung irgendwann auf ihre derzeitige physikalische Form niederschlagen müsse und daß diese Abweichungen ihnen ermöglichen sollten, sie endlich zu orten.
Sie zu finden, schien ihr eine Sache - sie wieder dazu zu bringen, sich in ihre ursprüngliche Gestalt zu verwandeln, stand jedoch auf einem ganz anderen Blatt. Helena hatte bereits Erfahrungen damit gemacht, wie sehr Mayas Psyche von den Lebewesen beeinflußt werden konnte, deren Form sie annahm.
"Eines nach dem anderen," sagte sie sich, jedoch wenig hoffnungsvoll.
Schließlich wurde deutlich, daß die Bemühungen aller vergeblich waren.
Egal, mit welchen Parametern der Computer gefüttert wurde, keines der Wesen zeigte Abweichungen von der Norm, und Maya blieb versteckt inmitten der fremden Geschöpfe, wie ein untergetauchter Agent mit perfekter Tarnung, als wollte sie nicht gefunden werden.
~ ~ ~ ~ ~
Unvermindert teilte sie Empfindungen mit den bunten fröhlichen Individuen, umgab sich mit ihnen zum Austausch ungekannter Nuancen ihrer Farbenwelt - und doch fühlte sie sich schon eine Zeit lang müde und schwach. Sie fragte, ob es den anderen auch so gehe, aber sie schienen sie nicht zu verstehen, wie in einem sinnlichen Rausch berührten sie ihre Seele und machten sie ihre Unpäßlichkeit vergessen.
Aber nicht lang, und sie nahm sie wieder wahr, stärker diesmal, nicht nur Müdigkeit und Schwäche, auch undefinierbare Schmerzen, die sich nicht länger verdrängen ließen, sondern sich mehr und mehr in den Vordergrund drängten.
Sie versuchte zu erklären, und es schien, als wurden sie aufmerksam, ohne jedoch zu begreifen, was sie ihnen sagen wollte. Sie schickten ihr Freude und Liebe, die schönsten ihrer Farben, und sie spürte deren Machtlosigkeit, als sie mit ihren Anstrengungen nur wenig auszurichten imstande waren.
Sie fühlte die Zeit, wie sie voranschritt, zäh und mühsam, es fiel ihr allmählich schwer, sich auf die Farben zu konzentrieren, doch je weniger sie imstande war, ihren Kameraden zu folgen, um so mehr Emotionen fielen ihr zu, um so mehr wurde sie überschüttet mit farbenfrohen Empfindungen, den guten Erinnerungen dieser Wesen.
Wieder und wieder fragte sie, nach einem Ausweg, nach Gnade, danach, was sie von jenen unterschied, schon wissend, daß sie sterbenskrank war - von allen nur sie, bereits gezeichnet von einem nicht näher erklärbaren Leiden. Mehr als das, sie fühlte das Ende, es war schon nahe, so nah und greifbar. Ihre Gefährten jedoch begriffen nicht, was sie mit ihren Fragen bezweckte, aber sie waren bei ihr, umhüllten sie mit Wärme und Geborgenheit, umarmten sie als den letzten Dienst, den sie ihr erweisen konnten, und sie war froh darum, nicht allein sterben zu müssen.
Aber sie bedauerte es, es schien ihr falsch, als gehörte sie nicht hierher, als sei ihr bevorstehender Tod ein bloßes Mißverständnis und die Ihren zufällige Wegbegleiter, die sie im Vergessen festhielten, statt ihr zu sagen, woher sie gekommen war, statt ihre Fragen zu beantworten und sie so zu retten...
~ ~ ~ ~ ~
Tony war schon über das Stadium hinaus, laut und zornig zu sein.
Er hockte hinter seinem Schreibtisch in der Kommandozentrale und starrte
auf den Bildschirm vor sich, ein Häufchen Elend, jedoch immer noch nicht willens aufzugeben.
"Ich verstehe es nicht, wieso wir sie nicht finden!"
Sandra hatte keine Worte des Trostes, und so stellte sie wortlos einen Becher Kaffee neben ihn auf den Tisch.
Alle waren sie müde und hoffnungslos, ohne Hinweis darauf, wie lange Maya noch aushalten könne.
Als Sandra wieder an ihrem Terminal Platz nahm, aktivierte sich plötzlich
der Alarm.
Im ersten Moment glaubte sie, irrtümlich einen Knopf gedrückt zu
haben, doch nur wenige Augenblicke später wurde sie eines besseren belehrt.
"Die Wesen haben Alpha verlassen!" rief sie aufgeregt. "Sie - sie sind verschwunden!"
~ ~ ~ ~ ~
Es stimmte. Von einem Augenblick auf den nächsten hatten sie sich zurückgezogen in ihre Sphären, fernab vom Mond und den Menschen.
Und alsbald verblaßten auch die Habitate im dunklen Raum und lösten sich in einem letzten, glitzernden Funkenregen im Nichts auf.
Zurück jedoch blieb Maya, lebendig und wieder sie selbst.
Erschöpft aber augenscheinlich unverletzt fiel sie sofort in einen tiefen Schlaf, der die Neugierigen auf eine harte Probe stellte. Tony wachte wie Cerberus, der Höllenhund, an ihrer Seite - nun, zumindest bis er selbst auch einschlief.
~ ~ ~ ~ ~
Viele Stunden vergingen, während deren sich die Ärzte sehr bedeckt hielten und keine genauen Angaben über Mayas Gesundheitszustand machten. Helena teilte der 'Delegation' von Mayas Freunden, die das Lazarett stürmten, lediglich mit erhobener Braue und strengem Blick mit, daß die ersten Untersuchungen zufriedenstellend genug seien, um der Patientin vorerst ungestörte Ruhe zu gönnen. Alles weitere werde sich später ergeben.
Als Maya erwachte, sorgte eine erste Orientierungslosigkeit für
Aufregung unter dem medizinischen Personal, doch diese war nicht notwendig -
schon nach kurzer Zeit war
Maya wieder ihr fröhliches Selbst.
Helena verlangte Schonung, ließ
aber angesichts der hervorragenden Testergebnisse schließlich Gnade vor
Recht ergehen. Sie beobachtete amüsiert, wie sich immer mehr Alphaner hereinschwindelten
und stoppte den Zustrom erst, als das Krankenzimmer Gefahr lief überzugehen.
Alle wollten hören, was Maya erlebt hatte.
"Es war wunderschön," sagte sie, bewegt von der Anteilnahme
ihrer Freunde, "wunderschön!
Ihre Anziehung war so groß, daß ich mich aus dem Schlaf heraus und
ungewollt in eine von ihnen verwandelte.
Und da fand ich mich unversehens
aufgenommen in ihre Gemeinschaft wie ein Familienmitglied und versuchte, mehr
über sie herauszufinden.
Sie sind voller Instinkte, folgen genau wie
Tiere ihren vorgegebenen Programmen. Sie mußten Emotionen finden, neue
Emotionen, die sie nicht kannten - die, ich weiß nicht, vielleicht Schritte
in ihrer Evolution bedeuten - und ließen uns dafür teilhaben an ihren
besonderen Schätzen. Sie hatten nichts Übles vor, aber ich verstrickte
mich in ihrer Nähe, in ihren Gefühlen und in ihrer Welt der Farben.
Und - oh! - ich vergaß allmählich, wer ich war, denn ich wurde in
ihr Gefüge hineingezogen. Mein Unterbewußtsein hatte verdrängt,
daß diese Form nicht meine natürliche war, weswegen ich nicht mehr
zurück konnte. Mein Sicherheitsnetz war gerissen, und nur wenig existierte
noch von meinem ursprünglichen Ich.
Ich war dem Tod sehr nah, und wenn es nur ein wenig länger gedauert
hätte, wäre es zu spät gewesen."
"So hattest du großes Glück, daß sie ihre Angelegenheiten hier rechtzeitig erledigt hatten," meinte Sandra froh.
Maya wurde nachdenklich.
"Ich weiß nicht so recht," erwiderte sie langsam, "ich glaube, daß sie meinetwegen vorzeitig aufbrachen, ohne all die Dinge gelernt zu haben, die sie hier hätten lernen können."
"Dann," sagte Helena, "dann haben sie dir dein Leben geschenkt, Maya. Mitgefühl und Erbarmen sind Eigenschaften, die nur aus der Fähigkeit zu kognitivem Denken, aus der Fähigkeit zu sozialer Intelligenz, erwachsen können. Kein genetisches Programm erlaubt Abweichungen dieser Art. - Das sind keine Tiere."
"Nicht mehr," antwortete Maya nach einer Weile zustimmend. "Sie konnten mir meine Erinnerung nicht zurückgeben. Aber am Ende haben sie gelernt zu verstehen. Schritte in der Evolution. Ich habe mich geirrt. Sie haben hier alle Dinge gelernt, die sie lernen konnten."
~ ~ ~ ~ ~
John war durch den älteren, weniger frequentierten Bereich Alphas gegangen. Ein Teil dieser Sektion wurde als Lager für recyclebare Materialien verwendet, seit die Kommandozentrale aus Sicherheitsgründen tief unter die Oberfläche des Mondes verlegt worden war.
Alpha war gebaut worden als Mittelpunkt des Austausches und der Vereinigung
der Menschheit, war als eine Hochburg des wissenschaftlichen Geistes und des
guten Willens konzipiert gewesen. Damals war es nicht notwendig gewesen, den
Kern des alphanischen Lebens in der Tiefe zu verstecken. Im Gegensatz zu heute.
Er
mochte die Weitläufigkeit dieser Anlage, die Illusion, über allen
Platz der Welt zu verfügen - ihre Größe im Angesicht der Unendlichkeit.
Erinnerungen an die erste Zeit im unwirschen All stiegen in ihm auf, als
die Tür zu seinem früheren Büro aufglitt.
Manchmal kam er
hierher, um nachzudenken, wenn er Abstand brauchte von der Klaustrophobie und
dem bunten Treiben auf der Basis, wo man nie wirklich das Gefühl hatte,
allein zu sein.
An diesem Ort lag die Vergangenheit wie ein schweres Parfum in der Luft, das Gefühl von Verlust, Verzweiflung und Hilflosigkeit war nahezu greifbar. Von hier aus hatten sie die Katastrophe miterlebt.
Es war auch eine Möglichkeit, die Erinnerung an verlorene Freunde wachzuhalten. Er brauchte diese Schmerzen aus der Vergegenwärtigung, um sein Ziel, um seine Wachsamkeit, nicht zu verlieren. Wer nie leidet, schläft den Schlaf der Mittelmäßigkeit. Er selbst konnte nur in den Höhen und Tiefen eines Wirrnisses aus Emotionen und Intellekt leben.
Er seufzte und durchquerte im Halbdunkel der Sparbeleuchtung das leere Hauptquartier.
Es
war, als konnte er Victor sehen, wie er, Zeige- und Mittelfinger abwesend
an der Schläfe und eine klassische Melodie pfeifend, auf die Ergebnisse
des Computers wartete.
David Kanu und Paul Morrow saßen hier noch an
ihren Konsolen, verwehte Geister der Vergangenheit.
Die Treppe zur Galerie war noch da, er ging hinauf und sah durch die Fensterfront hinaus ins schwarze All. Es war kalt, und sein Atem kondensierte in Wölkchen vor seinem Mund.
Was Victor wohl von den Wesen gehalten hätte?
Sein Freund hatte viele
Situationen einfach als gegeben akzeptiert, weil er einen verborgenen Sinn dahinter
vermutet hatte. Auch seinen bevorstehenden Tod hatte er stoisch als gegeben
hingenommen.
Im Grunde seines Herzens war er ein größerer Fatalist
gewesen, als er es je zugegeben hätte.
John vergaß die Zeit und schrak aus seinen Überlegungen auf, als er jemanden die Stufen heraufkommen hörte. Er wußte, daß es Helena war, noch ehe sie auf der Galerie auftauchte.
"Ich dachte mir, daß ich dich hier finden würde," sagte sie mit einem Lächeln. Er erwiderte es und nahm sie bei der Hand. Schweigend blickten sie in die bläuliche Schwärze und ins Glitzern der fernen Sterne.
~ ~ ~ ~ ~
Ende
~ ~ ~ ~ ~
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