Violetta

  

Violetta existierte lange Zeit nur als Fragment, erst einige "wenige" rigorose Ermahnungen von der Alpha-Fanfic-Fan-Front machten meiner Muse Beine und sie überschlug sich schier vor - leider nur kurzfristigem - Arbeitseifer.

Das ist die erste meiner Geschichten, deren Handlung zum Großteil auf einem Planeten stattfindet. Unnötig zu sagen, dass die Alphaner am Ende zuuuuufälligerweise wieder mal nicht bleiben können...

 


 

Hélas! Hélas, triste réveil des songes!
Je t'appelle, ô nuit, rends-moi tes mensonges
Reviens, reviens radieuse,
Reviens, ô nuit mystérieuse!

Après un rêve
Romain Bussine

 

"Mondbasis Alpha, Computerlogbuch, Dr. Helena Russell berichtet. Es sind nun 235 Tage her, seit wir die Umlaufbahn der Erde verlassen haben, und wieder einmal sind unsere Hoffnungen auf ein Ende dieser Reise gestiegen. Durch ein seltsames Phänomen, das Prof. Bergman einen Raumsprung nennt, sind wir in die Nähe eines Sonnensystems mit 4 Planeten geraten. Drei davon sind ausgesprochen lebensfeindlich, der Vierte aber weist erdähnliche Bedingungen auf - mehr noch, durch einen glücklichen Umstand wird sich der Mond lange genug in seiner Nähe aufhalten, um ihn intensiv zu untersuchen. Zwei Forschungsteams befinden sich mittlerweile auf Quartus, und die ersten Eindrücke sind vielversprechend!"

Helena schaltete den Recorder aus und lehnte sich zurück. Ihre Stimmung war gehoben, denn die neue Herausforderung war gerade rechtzeitig gekommen. Seit einiger Zeit hatten die Mediziner, vorwiegend unter dem exponierten Personal, das wenig Zeit in der Gemeinschaft der anderen Alphaner verbrachte, diverse Symptome festgestellt, die Helena in einem Syndrom der Deprivation der Betroffenen enden sah. Erste Anzeichen von depressivem Verhalten, wie auch Denk- und Konzentrationsstörungen waren bei den Mitarbeitern der externen Forschungsstationen und Bergleute aufgetreten. Es war nicht schwer, den Grund dafür zu erkennen. Einsamkeit, mangelnde Zerstreuung, Arbeiten an der Grenze der physischen Fähigkeiten unter extremen Bedingungen und eine äußerste Vernachlässigung der psychosozialen Erfordernisse hinterließen erste Spuren in der Gesundheit der Mannschaft. Während Helena noch auf der Suche nach einem treffenden lateinischen Namen für dieses Syndrom gewesen war, hatte Matthias mit seiner Pragmatik und seinem Blick für das Naheliegende den Begriff der "Grünkrankheit" geprägt, der sich wie ein Lauffeuer in der ganzen Basis ausgebreitet hatte und bald in aller Munde gewesen war.

In dieser Situation war Alpha von dem Raumsprung überrascht worden, der glücklicherweise nur wenige Schäden verursacht hatte und am anderen Ende des Tores eine freudige Überraschung in Form dieses Sonnensystems für sie bereitgehalten hatte.
Helena hatte dafür gesorgt, dass die gefährdeten Mannschaftsmitglieder alle auf die Listen der Erkundungsteams kamen, und allein schon die Aussicht auf Abwechslung hatte auf Alpha ein Stimmungshoch bewirkt. Auch wenn sich der Planet am Ende nicht als bewohnbar herausstellen sollte - womit Helena nun fast schon aus Erfahrung rechnete - so konnten die Menschen aus der Begegnung großen Nutzen ziehen.
Sie blickte aus dem Fenster und sah im schwarzen Himmel die Sichel von Quartus, einen zarten rosafarbenen Bogen, der eben über dem Mondhorizont aufgegangen war, im Gefolge sein eigener kleiner Mond Ipso, der in welkem Blau plump um den Planeten eierte.
Helena freute sich darauf, mit einem der späteren Teams auf dem Planeten Erkundigungen einzuziehen, dachte aber seufzend an die Vorbereitungen, die noch dafür zu treffen waren.

•~•~•~•

John kam gerade vom Mittagessen und ordnete in Gedanken seine zahllosen Termine. Auf Alpha ging es zu wie in einem Bienenstock, seit man Kenntnis von dem neuen Sonnensystem hatte. Der Energieumsatz des homo alphanicus war drastisch angestiegen, auch wenn John es eigentlich lieber hatte, wenn das Leben auf der Basis in geordneteren Bahnen verlief. Jeder schien hektisch durch die Korridore zu laufen, Sachen fallen zu lassen und dabei jede Menge kaputtzumachen.
Er sah kopfschüttelnd dabei zu, wie ein kleiner Indoor-Transporter seine gesamte Last, bestehend aus großen Blechkisten mit Adlerersatzteilen, abwarf, als er schnittig um die Kurve geschossen kam und dabei zwei Laborkräften ausweichen musste. Die Kisten donnerten mit ohrenbetäubendem Lärm zu Boden, und ihr Inhalt verstreute sich quer über den ganzen Gang.

John entwischte in den Lift und atmete in der Stille, die sich nach dem Schließen der Tür einstellte, kräftig durch. Er war auf dem Weg in die Wasseraufbereitung, wo er die nagelneuen Filter der Anlage begutachten sollte. Spitze Zungen hatten angemerkt, dass dem alphanischen Filtersystem auf Quartus sicher eine eher untergeordnete Bedeutung zukäme - weswegen also diese sinnlosen Anstrengungen unternehmen? Darüber war ein bitterböser Streit mit den Technikern ausgebrochen, die sich das Verfahren in monatelanger Arbeit ausgedacht und mit viel Mühe in das bestehende System eingebaut hatten. John war auf der Seite seiner Konstrukteure, denn niemand wusste, ob der neue Planet am Ende wirklich besiedelt werden konnte.
Er hatte Kopfschmerzen und schon seit Tagen eine dumpfe, depressive Verstimmung, und er kam sich selbst angesichts der Ausgelassenheit der restlichen Mannschaft wie von einem anderen Stern vor. Er war müde und wünschte sich eine Mütze voll Schlaf, doch sobald er die Gelegenheit dazu hatte, lag er wach im Bett, und tausend Gedanken begannen, in seinem Kopf zu kreisen. Der Schlaf kam spät und war unergiebig, durchwachsen von wilden und unbarmherzigen Träumen, die keinen Sinn machten, sodass er am Ende froh war, wieder aufstehen zu können.
Victor hatte nachdenklich mit dem Kopf genickt und gemeint:

"Lass den Dingen ihren Lauf, John. Du kannst sie bis zu einem gewissen Grad beeinflussen, aber das heißt nicht, dass sich die ganze Welt unserem Willen beugen wird. Wenn du das erst akzeptiert hast, dann wird es dir besser gehen." John hatte versucht, allem anderen die Schuld für seine Verfassung zu geben, doch sein Freund hatte dazu nur hintergründig geschwiegen. In mancherlei Hinsicht war Victor alles andere als ein guter Diskussionspartner.

Mittlerweile befand er sich zusammen mit dem zweiten Team auf Quartus - und in seinem Element. Alan hatte unter schallendem Lachen erzählt, wie Victor nach der Landung, noch im geöffneten Ausgang des Adlers stehend, tief durchgeatmet hatte, in die pechschwarze, undurchdringliche Nacht des Planeten gestarrt und schwärmerisch gesagt hatte: "Genau wie auf der Erde!!"

Das Basislager befand sich auf einem der beiden südlichen Kontinente, dem klimatisch günstigeren, mit einer jährlichen Durchschnittstemperatur von 25°C. Die Klimaschwankungen waren gering, lediglich eine Regenzeit von zwei bis drei Monaten waren zu bedenken.
Die Alphaner hatten das Lager in einer Hügellandschaft in der Nähe eines großen Sees errichtet, von wo aus sie Erkundigungen einzogen, Proben sammelten und geologische Messungen machten.
Sie lebten von Vorräten, die sie vom Mond mitgebracht hatten, weder durften einheimische Pflanzen gegessen noch das Wasser des Planeten getrunken werden. Schwimmen war ebenso untersagt wie ein unerlaubtes Entfernen vom Lager. Nur die Luft von Quartus war als sicher eingestuft worden, weswegen sich die Teams, sehr zu ihrer Erleichterung, ohne Raumanzüge und auch ohne Atemfilter im Freien aufhalten konnten.

Es wurde schwer und konzentriert gearbeitet, aber keiner hätte darauf verzichtet, nachdem er erst die Weite gesehen und Freiheit geatmet hatte, rare Güter, die auf Alpha nicht existierten. Obwohl John wusste, wie sehr jeder darauf brannte, auch seinen Fuß auf den Planeten zu setzen, ließ er aus Sicherheitsgründen nicht mehr als fünf Mannschaften gleichzeitig auf Quartus zu und war auch hart geblieben, als eine Delegation zu ihm gekommen war, die ihn mit jeder Menge Daten bezüglich größerer Effizienz und besserer und mehr Ergebnisse bei einer größeren Anzahl von Teams am Planeten zu überzeugen suchte.

John selbst war sehr gespannt. Die ersten Bilder und Daten waren auf Alpha mit Jubelrufen in Empfang genommen worden, auch wenn sich den Menschen da eine völlig fremde Welt präsentierte. Quartus war nicht wie die Erde ein grün-blaues Juwel sondern ein lila- und fliederfarbener Planet, der wie ein funkelnder Amethyst seine Kreise um die Sonne zog. Er war schöner als seine drei Brüder, aber man würde sich optisch umgewöhnen müssen.
Einen Vorteil aber hatte die Farbe, dass nämlich alle da unten gesünder aussahen. Helena hatte allerdings mit einem verräterischen Zucken um die Mundwinkel konstatiert, das liege wohl daran, dass mehr gelbes Licht von der Atmosphäre absorbiert wurde und der rot-violette Lichtanteil alle Alphaner in scheinbare Bluthochdruckpatienten verwandelte.

John erreichte das Wasserwerk, das, etwas außerhalb der Basis gelegen, via Rampenschlitten erreichbar war. Als er die Halle betrat, schlug ihm sofort ein lautes Rauschen wie von einem enormen Wasserfall entgegen. Es war kühl, und eine frische Brise wehte ihm um die Nase. Er eilte, plötzlich fröstelnd, durch die geräumige Halle, zu beiden Seiten flankiert von der großen Maschinerie der Wasseraufbereitungsanlage, und folgte einem schmalen Gang, der ihn zur Zentrale brachte. Dort wurde er bereits von Fedora Chan, einer hochwüchsigen Halbasiatin mit herben Gesichtszügen, und ihren beiden Assistenten erwartet. Die Stimmung war anfangs noch ein wenig gedrückt, aber John hatte nicht vor, die beträchtlichen Bemühungen des Teams unter den Teppich zu kehren, und er zeigte lebhaftes Interesse an der Arbeit der Gruppe.

Tatsächlich war das Wasser, das man ihm zur Verkostung gab, um Klassen besser als das, was er gewohnt war, frisch wie von einer Bergquelle und gänzlich ohne den gewohnten metallischen Beigeschmack. Sein überraschtes und anerkennendes Nicken wurde wohlwollend aufgenommen und zum Anlass genommen, ihn mit technischen Informationen förmlich einzudecken. So gab es beim neuen System die Möglichkeit, jederzeit Wasser mit verschiedenen Zusätzen auch in geringen Mengen herzustellen und es war kein Problem mehr, jederzeit an destilliertes oder mineralisiertes Wasser jeglicher Qualität und Zusammensetzung zu gelangen. Triumphierend reichte man dem Commander schließlich eine kleine taillierte Glasflasche mit weißer Aufschrift und dunkler Flüssigkeit, die ihn ihm sofort die intensivsten Kindheitserinnerungen auslöste.

"Ist es das, was draufsteht?", fragte er verblüfft und roch an der Flaschenöffnung. Fedora lächelte nickend.

"Das ist unsere leichteste Übung, Commander. Wir werden uns in Zukunft in der Getränkeherstellung engagieren. Probieren Sie nur!" Er hob die Flasche an den Mund und nahm einen Schluck. Prickelnd kugelten kleine Kohlensäurebläschen zusammen mit dem klassischen klebrig-süßen Geschmack durch seinen Hals in Richtung Magen, und sofort verspürte er den Drang aufzustoßen. Coca Cola!! Als Kinder war es ihnen nur ausnahmsweise erlaubt worden, und dann war die Tatsache der Schaumbildung wesentlich interessanter als der Geschmack selbst gewesen. Er sah sich noch, wie er als kleiner Knirps mit einer mühsam erbettelten Flasche Cola am Randstein vorm Haus saß und ein Steinchen ums andere in die Flasche warf, nur, um zu beobachten, wie aus der schwarzen Flüssigkeit Schaum emporstieg, und am Glas außen herabrann. Faszinierend, welche Empfindungen das Gedächtnis aufweckten!

Später noch, als er längst wieder in seinem Büro saß und sich über den Fortschritt des Erkundungsteams informierte, glitten seine Gedanken immer wieder zurück in die ferne Kindheit und vertrieben kurz die Düsterkeit, die ihn nun schon seit Tagen begleitete.

•~•~•~•

Bob Mathias stand schwitzend im Ausgang des Adlers und blinzelte in die gleißende Mittagssonne. Von mittleren 24°C konnte im Augenblick keine Rede sein. Ein malvenfarbiges Flirren lag in der Luft, das Thermometer zeigte satte 36°C im Schatten an, und kein Windhauch war zu spüren. Kein Wunder, dass die Alphaner unkonzentriert arbeiteten und sich ständig kleine Verletzungen zuzogen.
Mathias hatte gehofft, etwas Zeit erübrigen und den Biologen ein wenig über die Schulter schauen zu können; statt dessen stand er zusammen mit Paula im zum Aushilfslazarett umfunktionierten Adler und verarztete Prellungen, Quetschungen und andere kleine Wunden am laufenden Band.

Er atmete tief durch und freute sich auf eine kurze Rast, während sein Blick über das Lager glitt. Von seiner etwas erhöhten Position überblickte er den ganzen Stützpunkt und konnte etwa hundert Meter nördlich zwischen pflaumenfarbenem Gestrüpp hindurch das Ufer eines großen Sees sehen, dessen milchig blaues Wasser sich wohltuend von der übrigen Welt in Lila unterschied. Er wünschte sich, einfach ins Wasser springen zu können, weit hinaus zu schwimmen, sich ohne zu denken durch die Fluten zu pflügen und die Frische und Kühle um sich zu spüren wie früher, als er passionierter Schwimmer und Taucher gewesen war.
Er seufzte, als er zwischen den flatternden weißen Zeltplanen eine humpelnde Gestalt auftauchen sah und eine, die sich die blutende Nase hielt.

Ehe er wieder im Adler verschwand, sah er fern am Horizont dunkelviolette Wolken, die sich bedrohlich auftürmten.

"Ob ein Gewitter kommt?", wandte er sich an Paula, die einen Blick nach draußen warf und mit den Achseln zuckte.

"Ich bin kein Wetterexperte", sagte sie, während sie zu ihrer Arbeit zurückkehrte, aus einem der vieleckigen Container frische Verbandssets räumte und sie auf einer Ablage auftürmte.

•~•~•~•

Der Sturm kam einige Stunden später mit der Heftigkeit eines mittelgradigen Orkans und zerlegte das Zeltlager der Alphaner in seine Bestandteile. Die provisorische Küche flog den Leuten in Form von Töpfen, Schüsseln und Pfannen samt dazugehörigem Abendessen um die Ohren, während sie noch versuchten, ihr Hab und Gut in Sicherheit zu bringen. Als der große Regen eintraf, hatten sich alle Mitglieder des Expeditionsteams in den Adlern verschanzt, die wie kleine Burgen dem Heulen und Grollen des Gewitters trotzten.
Fasziniert hingen die Leute an den Fenstern und beobachteten das furchterregende Treiben, wie der Wind kräftige, baumartige Pflanzen beutelte und in Böen das Wasser auf sie herabschleuderte. Schwertförmige rosa Gräser wurden schlicht entwurzelt und wirbelten in einem wirren Reigen durch die Luft, ehe sie mit dem Wind davongetragen wurden, und in der Ferne bäumte sich der See auf und ertränkte in hausgroßen Wellen donnernd die Gestade. Der düstere Himmel verwandelte sich in ein zorniges Schwefelgelb und spie Tonnen von Wasser auf die kleine Basis der Erdlinge, so, als wollte er sie wegschwemmen von der Oberfläche des jungfräulichen Planeten.
Die Adler aber krallten sich wie hartnäckige Insekten am Boden fest, nur wenig erschüttert und beeindruckt von dem Toben, und zeigten Quartus, dass sie nicht vorhatten zu weichen.
Schließlich gab der Planet erschöpft auf, die Wolkenbänke verliefen sich am violetten Himmel, und eine milchige Sonne kam zum Vorschein, gerade über dem Horizont stehend und schon in Ablöse begriffen von ihrem kleinen eiförmigen Bruder, dem Mond Ipso, der soeben fern über den Bergkuppen auftauchte und in einem eigenartigen schmutzigen grauen Blau-Lila schillerte, als hätte er vor, die Menschen mit giftigen Hexenstrahlen aus seinen Eingeweiden zu eliminieren.

Alan blickte nachdenklich in die Dämmerung.

"Sieht so aus, als wären wir hier nicht erwünscht", sagte er und schüttelte den Kopf. Victor, der neben ihm stand, folgte seinem Blick und antwortete nicht.

•~•~•~•

John war beunruhigt. Victor hatte ihm vom Planeten aus soeben Bericht über einen Vorfall erstattet, auf den er sich keinen Reim machen konnte.
In einem getrockneten Flussbett hatte einer der Biologen einen einzelnen Gold-Nugget gefunden, einen richtig schönen, großen Klumpen, der mit einem Schlag die alphanischen Goldreserven wieder in den besten grünen Bereich katapultierte, weswegen ihn auch der leitende Geologe vor Ort, Dave Reilly - völlig zu Recht und gemäß den Statuten - eingezogen hatte.
Darüber war ein Streit mit Handgreiflichkeiten ausgebrochen, an dem sich am Ende alle sechs Alphaner beteiligt hatten, die Zeugen der Szene gewesen waren. Für alle hatte die Sache mit mehr oder weniger ausgeprägten Blessuren geendet. Am schwersten hatte es Reilly selbst erwischt. Er hatte bei der Verteidigung des Goldklumpens einen Nasenbeinbruch und einen gebrochenen Oberarmknochen hinnehmen müssen.

Victor, der als Leiter der Gruppe verantwortlich für alle Vorkommnisse war, schien einigermaßen aus der Ruhe gebracht.

"Es war schlicht unmöglich, die Streithähne zu trennen", regte er sich auf, was, wie John plötzlich bewusst wurde, ein wahrhaft rares Ereignis war, "wir mussten zwei von ihnen betäuben, ehe sie von einander abließen."

"Was ist nur in die Männer gefahren?", wunderte sich John, "Allen ist bekannt, dass jegliches Material, das auf Alpha benötigt wird, ausschließlich der Allgemeinheit gehört! Das sieht Collins gar nicht ähnlich!" Eddie Collins war ein Ausbund an Pflichtbewusstsein, ein beliebter und zuverlässiger Kollege und überhaupt kein Schlägertyp. "Victor, sag mal, wie ist die Stimmung bei euch?" Der Wissenschaftler runzelte die Stirn, als müsse er sich erst noch ins Gedächtnis rufen, wie das allgemeine Befinden unter dem Landungstrupp war - und vielleicht musste er das tatsächlich, dachte John mit innerlichem Grinsen. Sein väterlicher Freund war nicht gerade ein sensibles Messgerät, was Befindlichkeiten anging.

"Oh, gut", rang er sich schließlich zu einer Antwort durch, "soweit ich es beurteilen kann. Die Leute sind aufgeregt und eifrig, für viele ist das der erste Außenaufenthalt seit langer Zeit. Kein Wunder, dass sie übermütig sind und sich manchmal ein wenig unprofessionell verhalten."

"Victor, wenn dir da unten irgendetwas auffällt, das dir nicht ganz einleuchtend vorkommt, dann muss ich das wissen."

"Selbstverständlich, John. Aber im Augenblick läuft alles in geregelten Bahnen, und die Männer, die in den Vorfall verwickelt waren, sind mittlerweile auch wieder zur Vernunft gekommen. Selbst Eddie scheint geknickt und kann sich nicht erklären, welcher Teufel ihn geritten hat, als er auf Reilly losging." John überlegte, doch es gab nichts Fassbares, wo er einhaken konnte.

"Nun gut, mein Lieber. Ich freue mich schon darauf, die ganze Herrlichkeit selbst zu sehen." Er wusste, dass es keinen Sinn hatte, Victor nach seinem Gefühl zu fragen, seiner Abschätzung, ob Quartus sich als eine neue Heimat für die Menschen eignen würde, denn sein Freund konnte alles als Heimat akzeptieren, wo er Neues sehen und lernen konnte. Er selbst spürte ein seltsames ziehendes und nagendes Pochen in seinem Hinterkopf, ein, wie er mittlerweile gelernt hatte, untrügliches Zeichen dafür, dass sich die Dinge nicht in der von ihm gewünschten Weise weiterentwickeln würden. Und diesmal war das Hämmern und Pochen ausgesprochen laut. Er gab sich einen Ruck und lächelte Victor an, der ihn, von rosarotem Sonnenlicht angestrahlt, anblinzelte.

"John, vielleicht könnt ihr einen Ersatzmann für Reilly mitnehmen, wenn ihr morgen kommt." Der Commander nickte und verabschiedete sich von Victor, als diesen jemand aus dem Abseits zum Mittagessen rief. Auf Alpha war dagegen Abend, und er merkte, dass sein Magen davon ebenfalls Kenntnis besaß.

Er hatte bei Helena regelrecht um einen Termin ansuchen müssen - schriftlich und mit doppeltem Durchschlag, wie sie auf seine empörte Anklage lachend geantwortet hatte - ehe sie eine Stunde in ihrem Terminplan freischaufelte, um sich mit ihm zwischen all den Vorbereitungen für die Untersuchungen auf Quartus zum Essen zu treffen.
Er eilte auf die Medizinische Station, um sie notfalls unter Anwendung von Handgreiflichkeiten von ihren Pflichten zu entfernen und sie wenigstens eine kurze Zeit für sich zu haben, was seit dem Raumsprung ein Ding der Unmöglichkeit zu sein schien. Was wiederum, wie er fairerweise zugeben musste, nicht nur an ihrem Terminplan lag.

Als er ins Lazarett kam, begrüßte ihn die Oberschwester mit einem entnervten Blick zur Decke und einem Fingerzeig in die Richtung des medizinischen Depots.
"Passen Sie auf, dass sie Sie nicht auch noch zum Arbeiten einteilt, Commander! Heute schießt sie scharf!"

"Ich werde rechtzeitig in Deckung gehen!", versprach er ihr grinsend und begab sich ins Depot. Schon von Weitem hörte er ein lautes Donnerwetter und sah Helena, als er um die Ecke bog, mitten in einem Durcheinander aus Schachteln stehen, die sich kunterbunt am Boden stapelten, sofern sie nicht ohnedies geöffnet herumlagen und sich ihr Inhalt kreuz und quer über den Boden verteilte. Drei junge Stationsgehilfen hockten mit roten Köpfen und gesenktem Blick zwischen den Kisten und hofften auf ein rasches Ende der Strafpredigt.

"Wir sind hier nicht in Chaos-City, Leute, und auch noch nicht auf Quartus. Und solange weder das eine noch das andere der Fall ist, erwarte ich mir hier Ordnung und Disziplin! Das ist kein Kindergarten! - Ihr bringt das in Ordnung, hier wird keine einzige Schachtel mehr aus der Reihe tanzen, wenn ich das nächste Mal vorbeikomme!" Sie blickte auf und sah John mit unverhohlen amüsierter Miene im Eingang stehen. "Los! Worauf wartet ihr noch?" Die drei Missetäter sprangen auf, luden sich jeder eine Fuhr Kisten auf und wieselten durch die Regalreihen davon. "Gehen wir!", sagte Helena zu John, packte ihn am Arm und dirigierte ihn nach draußen auf den Gang. Dort blieb sie stehen und holte tief Luft. John wartete, und als nichts von ihr kam, sagte er anerkennend:

"Hervorragende Show!" Sie brach nach einer halben luftleeren Sekunde in Lachen aus.

"Kindsköpfe!", sagte sie. "Die drei dachten, sie täten was Gutes damit, das Depot auszuräumen, weil wir, wie sie meinten, ja ohnehin bald nach Quartus übersiedeln. Und mitten in den Arbeiten überkam sie der Übermut, und sie fingen an, sich eine Schlacht zu liefern und mit allem herumzuwerfen, was ihnen zwischen die Finger kam. Mitten unter der schönsten Schießerei hatten sie das Pech, von mir erwischt zu werden!"

"Und was hältst du jetzt von einem Ausflug in die Kantine?"

"Schimpfen macht hungrig", erwiderte sie, "gehen wir was essen." John hatte nicht erwartet, ein so leichtes Spiel zu haben und beeilte sich, ihr zu folgen.

In der Kantine ging es zu wie in einem Basar, der sich sehr rasch als eine improvisierte Party entpuppte, als das Küchenpersonal, gänzlich gegen seine sonstige - eher knausrige Gewohnheit, plötzlich Platten von gehorteten Köstlichkeiten herausrückte, was verdächtig rasch dazu führte, dass die Kantine vor Alphanern überquoll. John, der auf ein ruhiges Plätzchen gehofft hatte, wo er sich gemütlich mit Helena unterhalten konnte, ergab sich seufzend seinem Schicksal und ließ sich wenigstens einen gehäuften Teller mit frischem gemischtem Salat schmecken. Helena tat es ihm gleich, und schweigend aßen sie, denn in dem Lärm war an ein Gespräch nicht zu denken. Schnell flüchteten sie und fanden einen Spaziergang durch die Korridore wesentlich erholsamer als das Essen mitten im alphanischen Trubel. Sie kamen ins verlassene Erholungszentrum und nahmen im offenen Bereich in der Mitte, der mit vielen Sitzgruppen und üppiger Bepflanzung zum Entspannen einlud, Platz.

"Jeder scheint zu glauben, dass wir auf Quartus bleiben werden", meinte John nachdenklich und musterte einen Gummibaum, der sich wohl zu fühlen schien und dessen Blätter mittlerweile die Decke in fünf Metern Höhe streiften. Helena nickte.

"Du meine Güte. Wenn schon unsere Geizhälse von der Küche frische Salate verschwenderisch unters Volk werfen, dann sollte uns das zu denken geben!" John lächelte. Er beugte sich zu ihr vor.

"Und was denkst du?" Sie erwiderte sein Lächeln, was ihm sofort zu wildem Herzrasen verhalf und ihn dazu brachte, den fremden Planeten und die Alphaner als eine nur sehr zweitrangige Erscheinung zu betrachten.

"Ich denke, sie sollten das öfters tun."

"Wer sollte was öfters tun?" Er wusste überhaupt nicht, wovon sie sprach.

"Die Leute von der Küche. Sie sollten uns öfters gemischte Salate zu essen geben", gab sie lachend zur Antwort und ergriff seine Hand. Sie hatte sehr wohl bemerkt, dass seine Gedanken in mehr private Themenkreise abgeglitten waren.

"Ahh!", sagte er tadelnd, "Du führst einen wehrlosen Mann an der Nase herum!" Sie lachte herzlich, beugte sich dann langsam vor und küsste ihn bedächtig. Er versuchte, sie festzuhalten, doch sie wich wieder nach hinten aus.

"John, im Ernst, ich weiß nicht, was auf uns zukommt", griff sie das Thema wieder auf, "meine Erfahrung rät mir, vorsichtig zu sein, aber, um ehrlich zu sein, ich lasse mich auch von der Aufregung anstecken. Es tut so gut, Hoffnung zu haben, und ich lasse sie mir nur ungern von unseren vergangenen Erlebnissen zunichte machen." Sie sah ihm in die Augen, und die Schwärze hinter dem wasserblauen Blick blieb ihr nicht verborgen. "Du siehst mehr als ich, nicht wahr?" Er seufzte tief.

"Ich sehe gar nichts", sagte er, "nur mein Gefühl erzählt mir, dass wir die Finger von dem Planeten lassen sollen. Ich schlafe schlechter denn je, ich habe Kopfschmerzen und Magenprobleme - alles untrügliche Zeichen dafür, dass irgendetwas schief gehen wird."

"Oder dafür, dass du dich von deinem Verantwortungsgefühl übertölpeln lässt." John machte ein finsteres Gesicht.

"Hast du dich mit Victor verbündet? Er hat mir Ähnliches unterstellt!" Sie lächelte wieder.

"Was willst du tun?"

"Wenn ich nur irgendwo eine Gefahr erkennen könnte, die greifbar ist, wüsste ich, was zu tun ist. Aber so! Ich kann nur vorsichtig sein und den Leuten auf Quartus dasselbe raten."

"Ich glaube, du bereust es schon, nicht mit dem ersten Landungstrupp hinuntergeflogen zu sein, um dich selbst zu überzeugen."

"Ich habe es schon tausendmal bereut!", gab er zu, "Aber jetzt dauert es ohnehin nicht mehr lange, bis wir auch hinfliegen."

"Wir können schon mal die positiven Seiten betrachten. Auch wenn wir nicht am Planeten bleiben, so hatten wir doch bisher die Möglichkeit, viele Elemente und Verbindungen, die wir brauchen, aufzutreiben." Ihre Worte konnten ihn nicht wirklich aufmuntern.

"Weißt du, je länger ich darüber nachdenke, umso sicherer habe ich es im Gefühl, dass dort auf Quartus irgendetwas Schreckliches passieren wird." Seine Miene war unglücklicher denn je, und sie war versucht, ihn in ihre Arme zu nehmen. Im selben Moment kam jedoch eine ganze Traube lärmender Alphaner herein, die offensichtlich die Kantine ausgespuckt hatte. Helena sank zurück in die gepolsterte Bank.

"Komm heute zu mir", sagte sie statt dessen, "wir reden noch darüber." Ihr Quartier war für John ein heimeliger Ort, ausgestattet mit Skulpturen, schönen Erinnerungsstücken aus einer verlorenen Vergangenheit, der Spiegel eines ausgeglichenen, in sich stimmigen Menschen, der mehr zu geben hatte, als ein oberflächlicher Beobachter vermuten könnte. Er war eine Stätte der Geborgenheit. Helena hätte ihn als nüchtern bezeichnet, aber für John war er das nicht, und es bedeutete noch immer viel, dorthin eingeladen zu werden.
Sein Commlock piepste in diesem denkbar ungünstigen Moment, und John riss ihn ungnädig vom Gürtel.

"Was ist?", bellte er, als er Alan am anderen Ende der Leitung erkannte.

"John, bitte entschuldige die Störung, aber ich befinde mich auf einem Erkundungsflug, der mich gerade ins nordöstliche Gebirge geführt hat, und ich dachte mir, du solltest dir das ansehen!" Er schaltete das Bild auf die Außenkamera des Adlers, und John erkannte am winzigen Schwarzweiß-Monitor seines Commlocks hohe Felsformationen, die plötzlich von einer Ebene unterbrochen wurden, auf der einige, unverkennbar künstliche, Gebilde standen.

"Sind sie bewohnt?", wollte er alarmiert wissen.

"Auch wenn so mancher schwören könnte, schon Einheimische gesehen zu haben", gab ihm Alan zur Antwort, "die Sensoren zeigen nichts an. - Nichtser als nichts." Johns Puls machte einen Sprung in kontrollbedürftige Höhen.

"Was soll das heißen, Alan? Wer hat Einheimische gesehen?"

"Niemand, Commander. Es gibt hier keine Einheimischen. Einige Alphaner behaupten, sie hätten was gesehen, aber das stimmt nicht. Unsere Suche verlief völlig ergebnislos, bis auf einmal, und da handelte es sich um Bob Mathias, der sich in der freien Natur erleichtern wollte. Was glaubst du, was für ein überraschtes Gesicht er machte, als er plötzlich von zehn bis an die Zähne bewaffneten Kollegen umzingelt war! Er litt auf einmal an einer Blasenklemme, von der er sich, glaube ich, noch nicht erholt hat."

"Und wieso höre ich nichts davon?" Alans Nasenflügel flatterten, und er war offensichtlich nahe dran, John zu fragen, ob er wirklich genauere Information über Mathias' "Blasenklemme" haben wollte, doch er tat gut daran, sich im letzten Moment für eine ernsthafte Antwort zu entscheiden.

"Es wird im nächsten Bericht stehen. John, es ist wirklich nichts passiert!"

"Und was ist mit diesen Gebäuden?"

"Es sind verlassene Ruinen, sie sehen ausgebrannt aus!"

"Wie lange dauert es, ein Team dorthin zu schaffen?"

"Mindestens zwei Stunden. Es wird hier in ca. eineinhalb Stunden dunkel, John, ich schlage vor, das Ganze auf morgen zu verschieben."

"Gut. Dann flieg zurück zum Basislager, Victor soll ein Team zusammenstellen, und wir werden unseren Flug auf den Planeten früher antreten. Ich habe ohnehin schon zu lange damit gewartet."

"Alles klar, John." Die Verbindung brach ab, und John sah auf. Sein Blick traf auf den von Helena, die ihn beobachtet hatte. Sie seufzte.

"Wie lange habe ich noch Zeit, die medizinischen Tests auf die Reihe zu bekommen?"

"Reichen dir drei Stunden?" Sie schüttelte den Kopf.

"Bei weitem nicht. Aber ich werde einfach nur die Sachen mitnehmen, die ich bis dahin fertig habe. Der Rest kann mit dem nächsten Flug kommen." Sie erhob sich und eilte, den Kopf voller Dinge, die noch erledigt werden mussten, davon. John sah ihr mit großem Bedauern nach. Er würde ihre Einladung in ihr Quartier erst zu einem späteren Zeitpunkt wahrnehmen können.

•~•~•~•

Aufatmend trat Helena von der Verbindungsschleuse in das Passagiermodul des Adlers. Sie war die Letzte, wie sie wusste, und nicht nur mit zwei schweren Taschen behängt, sondern sie trug auch noch drei zwar leichte, aber unhandliche Schachteln mit Verbandsmaterial vor sich her, die ihr Vincent eilig in die Hände gedrückt hatte, als sie vor dem Abflug einen letzten Blick ins Medizinische Zentrum geworfen hatte.
Beim Eintreten nahm sie aus den Augenwinkeln den Geologen Greg Sanderson wahr, der im Sitz in der Ecke hinten lungerte und sie beobachtete, während sich ein kaum merkliches süffisantes Lächeln um seinen Mund bildete. Neben ihm saß Valerie Kaye, die zum Küchenpersonal gehörte und nun als "Mädchen für alles" auch eine Chance bekommen sollte, Quartus einen Besuch abzustatten. Sie war vollauf mit diversen Einzelteilen einer Kamera beschäftigt, die sie zusammenzubauen versuchte.
Helena wandte sich zur rückwärtigen Tür, die das Passagierabteil vom Frachtraum trennte, um ihre Last loszuwerden, und spürte im selben Moment, wie ihr diese abgenommen wurde von Jim Haines, den sie gar nicht gesehen hatte, und der sich nun anschickte, eilfertig ihr Gepäck zu verstauen.

"Danke, Jim", sagte sie erleichtert und überließ ihm auch ihre große Notfallstasche, die vollgestopft war mit Medikamenten und Instrumenten für kleinchirurgische Eingriffe. Jim ächzte unter dem Gewicht und verschwand damit im Frachtraum. Sie eilte hinterher, um ihr persönliches Gepäck auch noch abzuladen.

Über Lautsprecher kam Johns Aufruf aus dem Cockpit an die Passagiere, sich für den Abflug bereit zu machen. Helena räusperte sich, wissend, dass sie für die Verzögerung verantwortlich war, und beeilte sich. Der einzige noch freie Platz war in der ersten Reihe, links neben Jim Haines und vor Sanderson, und sie ließ sich mit einem Stoßseufzer in den wenig bequemen Sitz fallen. Rechts hinter sich hörte sie es poltern, als Valerie Kaye sämtliche Kamerabestandteile fallen ließ. Helena drehte sich um, und sah, wie Valerie hochroten Kopfes untertauchte, um die Teile wieder aufzusammeln.
Sie lächelte. Es war die erste Reise auf einen fremden Planeten für die Kleine, wie sie wusste, und Helena persönlich war dafür verantwortlich gewesen, dass sie die Chance bekommen hatte, auch einmal etwas anderes als Küchendünste zu sehen.

Die Maschinen heulten auf, und der Flug begann. Mit Schwung verließ der Adler den festen Boden des Mondes und erhob sich in den schwarzen Himmel über Alpha. Die Gravitationsstabilisatoren fingen die auf das Schiff einwirkenden Kräfte ab, und abgesehen von einem geringen flauen Gefühl in der Magengegend war an Bord nichts zu spüren.

Helena packte ihre Unterlagen aus, die sie noch durchzugehen hatte. Es handelte sich um eine Unmenge von Daten, die sich mit Quartus beschäftigten und über die der Commander in absehbarer Zeit unterrichtet zu werden wünschte, wie sie wusste. Doch bis zur Landung am Planeten hatte sie noch einige Stunden Zeit, die sie gut zu nutzen gedachte.
Der Planet war, abgesehen von seiner seltsamen, gewöhnungsbedürftigen Optik, gut für menschliches Leben geeignet. Selbst seine Wetterkapriolen, mit denen er das Bodenteam überrascht hatte, waren etwas, mit dem irdische Siedler verhältnismäßig leicht zu Rande kommen sollten, war man doch von manchen Gegenden der Erde Ärgeres gewohnt.

Helena überflog die ersten Analysen der Botaniker, wonach die Pflanzen von Quartus für den menschlichen Verzehr nicht geeignet waren. Sie schüttelte bedauernd den Kopf. Doch am Ende bedeutete das nur, dass mit den Pflanzensamen, die am Mond gehortet wurden, umsichtig und überlegt umgegangen werden müsste.
Sehr zu ihrem Ärger ertappte sie sich dabei, wie ihre Gedanken abschweiften und sie darüber rätselte, wie sich denn die Menschen überhaupt als Bauern bewähren würden. Viele Alphaner hatten kaum jemals einen Acker gesehen, geschweige denn sich mit den Eigenheiten der Jahreszeiten, Ernten und Wetterbedingungen auseinander gesetzt. Sie seufzte. Mit dem Problem würde man sich zu gegebener Zeit beschäftigen.

Hinter sich hörte sie ein genervtes Aufatmen, das ihr die Haare zu Berge stellte, und mit einem Schlag wurde ihr bewusst, dass Greg Sanderson hinter ihr saß. Er war einer der wenigen Menschen auf Alpha, zu dem durchzudringen ihr nie gelungen war. Sie hatte lange darüber gerätselt, was denn der Grund dafür war, bis es ihr ein Blick von ihm, den sie zufällig am Mittagstisch in der Kantine aufgefangen hatte, verraten hatte. Er verachtete sie aus tiefstem Herzen. Dieser Blick aus dunklen, kalten Augen hatte sie wie ein Blitz mitten ins Herz getroffen, denn bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie sich zwar gelegentlich über sein abweisendes Wesen gewundert, hatte dem aber keine besondere Bedeutung beigemessen.
Zu merken, dass sie gehasst wurde, war für sie eine aufwühlende Erfahrung, die Selbstzweifel nach sich gezogen und sie gezwungen hatte, nach einer Ursache für diese Abneigung zu suchen.
Wieder war ihr ein Zufall zu Hilfe gekommen, als nach einer sportlichen Veranstaltung einer seiner Freunde dem übellaunigen Sanderson auf die Schulter geklopft hatte und ihm halb scherzhaft zugeraunt hatte:
"Ach, komm schon, Greg, sei nicht so überheblich. Es hatte nicht jeder die Gelegenheit, in einem Bergwerk aufzuwachsen, um ein rechtmäßiges Mitglied der Gesellschaft zu werden!" Helena hatte darauf im Computer seine Personalakte aufgerufen und Einiges über Sandersons Vergangenheit herausgefunden, was ihr weiterhalf.
Er stammte aus einer mittellosen Bergwerksfamilie mit sieben Kindern, deren ältester Sohn er war. Sein Vater war mit 41 Jahren betrunken über das Geländer einer nahe gelegenen Brücke gestürzt und hatte seine Familie in, wenn möglich, noch größerer Armut zurückgelassen. Greg hatte sich allein aus dem Sumpf aus Trunkenheit und den üblen Verhältnissen der Kohlestadt herausgekämpft, einen Schulabschluss geschafft und ein Stipendium erhalten, das es ihm erlaubt hatte, Geologe zu werden. Er war politischer Aktivist gewesen zu einer Zeit, wo es nicht modern war und hatte sich als Halbstarker erfolglos gegen die Eiserne Lady und ihre Lobby stark gemacht.
Aus diversen Notizen war herauszulesen, dass es für Sanderson nur eine Sorte von "echten" Menschen gab, nämlich jenen, denen nie etwas geschenkt worden war, den Unterprivilegierten, die gegen die Ungerechtigkeiten des Lebens einen beständigen Kampf zu führen hatten und sich genauso wie er behaupteten. Ein rotes Tuch waren ihm all jene, die mit ihrer Geburt auf die Schokoladenseite gefallen waren und in einem beständigen Strom der Oberflächlichkeit durch ihr Dasein trieben, immer geschützt von Macht und Ansehen ihrer Familien.
Zu diesem Schlag von Menschen rechnete er auch Helena, die aus einer gut situierten Arztfamilie stammte und somit nie den Mangel an Geld oder Achtung an eigener Haut gespürt hatte.
Helena hatte dieses Pauschalurteil ungerecht gefunden, denn was wusste Sanderson denn schon wirklich von ihrem Leben? Ihr Vater war kein alkoholkranker Bergmann gewesen, sondern ein humorvoller, liebenswürdiger Mediziner, der Großes auf dem Gebiet der Krebsforschung geleistet hatte, aber er hatte nicht viel Zeit zu Hause verbracht. Helenas Alltag war von einer dominanten, kalten Mutter überschattet gewesen, die einen einsamen, verzweifelten Teenager ungerührt mit den Worten "Contenance, Kind!" auf der Treppe hatte sitzen lassen, um Golf spielen zu gehen, als sein bester Freund an einer Gehirnhautentzündung gestorben war.

Contenance! Helena erinnerte sich daran, wie sie, Jahre später und etwa einen Monat nach dem Tod ihres Vaters, mit erzwungen kühler Miene in der Tür zum Schlafzimmer ihrer Mutter gestanden war, um ihr zu sagen, dass ihr Mann Lee bei einer Weltraummission als verschollen gemeldet worden war.
Ihre Mutter hatte sie, vor der Frisierkommode sitzend, eine Zeitlang mit ihrem durchdringenden Kristallblick gemustert und dann langsam einen Zug von ihrer Zigarette genommen. "Glaub' mir, Schätzchen", hatte sie schließlich verlauten lassen, während sich blauer Rauch aus ihren Nasenlöchern gekräuselt hatte, "es ist besser für dich, dass du diesen Bauern endlich los bist. In deiner Position ist ein standesgemäßer Ehemann wichtiger als alles, was du dir erarbeitet hast." Helena hatte das Haus mit gebrochenem Herzen verlassen. Sie hatte ihre Mutter nie wieder gesehen.

Aber die Haltung bewahren, das konnte sie immer noch!
Sie schüttelte irritiert den Kopf, als sie merkte, dass sie sich von ihren Gedanken hatte ablenken lassen und versuchte, sich wieder auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Doch es war nicht mehr so einfach. Mit Sanderson im Rücken fühlte sie sich, als sei sie ihm schutzlos ausgeliefert. Sie blätterte durch die Unterlagen, um etwas zu finden, das ihre Aufmerksamkeit ausreichend fesseln konnte, und arbeitete sich schließlich durch Mathias' medizinische Berichte, die zwar erstaunlich zahlreich waren aber alles in allem - mit Ausnahme von Reillys "Unfall" - nur von Bagatellunfällen berichteten. Der Eifer schien die Alphaner unvorsichtig zu machen.

"Na, wie sieht's aus?" Helena blickte auf und sah John im Durchgang zum Cockpit an der Wand angelehnt stehen, von wo er sie schon eine Weile beobachtet haben musste. Ein freundliches Grinsen umspielte seinen Mund. Sie lächelte zurück.

"Trotz allem vielversprechend!", erwiderte sie. Er gesellte sich zu ihr und setzte sich auf eine, vor ihr an der Wand fixierte Kiste.

"Kein intelligentes Leben", wiederholte er langsam Victors letztes Statement.

"Die Strukturen, die Alan bei seinem Erkundungsflug entdeckt hat, können nicht natürlichen Ursprungs sein?"

"Sehr unwahrscheinlich. - Aber wenn es in dieser Region hell wird, werden wir uns dort sicher umsehen und diese Frage klären können." Helena legte die Stirn in Falten und suchte in dem Berg von Berichten nach einer bestimmten Folie, die sie aber nicht fand. Der gesamte Stoß rutschte ihr vom Schoß und verstreute sich vor ihr auf dem Boden. Beide beugten sich gleichzeitig nach unten und stießen mit den Köpfen zusammen.

"Oooohhhh", machte Helena und hielt sich den Kopf. John keuchte, während sich auf seiner Stirn ein rötlicher Fleck manifestierte. Jim Haines war aufgesprungen und reichte Helena, während sie noch Sterne sah, den ganzen Packen. "Vielen Dank, Jim. Ich scheine heute auf Ihre Hilfe angewiesen zu sein." Sie legte den Stapel zurück in seine Mappe und sah John nachdenklich an. "Weißt du, ich frage mich, was wir wirklich von den Berichten über die Einheimischen halten sollen?"

"Die humanoiden Einheimischen", präzisierte John und betastete seine Stirn nachdenklich. "Die Sicherheitsberichte bestätigen jedenfalls definitiv, dass dort unten außer uns niemand ist. Es gibt ja nicht einmal Tiere auf diesem Planeten! Victor hält sie für etwas Ähnliches wie Luftspiegelungen, die durch die besonderen atmosphärischen Bedingungen von Quartus zustande kommen."

"Vielleicht sind es Lebensformen, die wir nicht detektieren können", mutmaßte Helena und seufzte. "Weißt du, so interessant und spannend es ist, auf neue Planeten zu treffen, so groß ist immer die Unsicherheit und auch unsere Angst vor dem Unbekannten."

"Ja, wir verstehen nicht alles. Und was wir nicht verstehen, fürchten wir." Helena lächelte wehmütig.

"Jetzt haben wir schon soviel gesehen, und immer noch fallen wir vor Schreck gleich mal prophylaktisch in Ohnmacht, wenn wir auf etwas Unerklärliches treffen." John lachte wegen ihrer Übertreibung und sah aus dem Augenwinkel, dass auch Jim Haines verstohlen grinste.

"Nun ja, wir werden uns eben selbst ein Bild auf dem Planeten machen müssen." Sie nickte und hielt John demonstrativ den Stapel an Folien unter die Nase.

"Mein Lieber, wenn du in absehbarer Zeit brauchbare Berichte von mir haben willst, dann solltest du mich jetzt besser arbeiten lassen." Er grinste.

"Es ist schon spät. Wir sollten lieber versuchen, eine Mütze Schlaf zu bekommen, ehe wir auf Quartus landen." Sie sah auf die Uhr und fand es für ihre Verhältnisse relativ früh, doch würde es auf dem Planeten eine Zeitverschiebung zu ihrem gewohnten Tagesablauf geben, weswegen Johns Worte durchaus Sinn machten. Er erhob sich von der Kiste und beugte sich zu ihr vor.

"Ich werde von einem Besuch in deinem Quartier träumen", flüsterte er ihr ins Ohr, was sie mit einem lasziven Lächeln quittierte.

"Dann kann ich für dich nur hoffen, dass ich auch dort bin", erwiderte sie ebenso leise. John brach in Lachen aus und empfahl sich in den rückwärtigen Teil des Adlers, wo sich die kleine Nasszelle befand.

•~•~•~•

Victor saß auf einem Klappstuhl etwas entfernt vom Zentrum des Lagers, starrte nach "draußen" in die lila Wildnis von Quartus und lieferte sich sozusagen ein nachdenkliches, visuelles Duell mit seinem unergründlichen Gegner, der den ersten Anflug einer Dämmerung in einem glacierten Rosé über das Land schickte.
Victor trug khakifarbene kurze Hosen und hatte trotz des herannahenden Abends einen ehemals weißen, nunmehr vergilbten, fleckigen und deformierten Schlapphut am Kopf, mit dem er, wie er wusste, lächerlich aussah, was ihn aber nicht daran hinderte, ihn trotzdem zu tragen. Der Hut war ein Erinnerungsstück an eine denkwürdige archäologische Ausgrabung in der Wüste Sinai, zu der man ihn einst herangezogen hatte, weil die ausgegrabenen Fundstücke technologische Komponenten besaßen, die in sein aktuelles Forschungsgebiet einzuordnen waren. Mit seiner Hilfe war damals der Beweis geglückt, dass die Erde in früheren Zeiten schon von Außerirdischen besucht worden war.
Damals war es eine Sensation gewesen.
Heute dagegen wünschte er sich, keine Zeichen von Außerirdischen zu finden.

Er hatte ein Gespräch mit John geführt, der aufgebracht und fast zornig gewesen war, weil er ihm nicht umgehend von jenen Erscheinungen berichtet hatte, von denen einige Mitglieder des Landungstrupps sprachen. Victor, der die Vorkommnisse durchaus ernst genommen hatte, war es gelungen, ihn zu beruhigen, indem er ihm versicherte, dass er noch dabei gewesen war, sich ein vollständiges Bild von dem Phänomen zu machen und sich wirklich davon zu überzeugen, dass nichts dahintersteckte außer sozusagen einer Fata Morgana.

Er seufzte und beugte sich wieder über die Folien, die er am Schoß liegen hatte. Der Wind trug Gesprächsfetzen zu ihm herüber und Gelächter, und er merkte, dass er sich nicht konzentrieren konnte.

"Professor?" Sandra Benes' Stimme ließ ihn überrascht aufblicken. Die kleine Analytikerin stand mit einem großen Glas Fruchtsaft neben ihm und hielt es ihm entgegen. Sie trug die steilsten Sonnenbrillen, die Victor je gesehen hatte, eine Art stromlinienförmiges Wunderwerk, das sie in eine Katze auf zwei Beinen verwandelte. Wenn auch ihre unspektakuläre Basisbekleidung der Optik einen gehörigen Knick versetzte. Ein Catsuit wäre unzweifelhaft die passendere Kombination gewesen!

Er nahm ihr mit einem freundlichen Grinsen das dargebotene Glas aus der Hand und trank es in einem Zug leer.

"Danke, Sandra. Genau, was ich gerade gebraucht habe!" Sandra lächelte ein wenig und schob die Sonnenbrille auf den Kopf. Erst jetzt konnte er ihren sorgenvollen Blick sehen.

"Professor, hier stimmt irgendetwas nicht. Ich fühle mich, seit ich meinen Fuß auf Quartus gesetzt habe - wie soll ich das beschreiben? - irgendwie unglücklich!" Victor hörte ihr aufmerksam zu. Er horchte in sich, konnte aber ähnliche Gefühle in seinem Inneren nicht aufspüren. "Wissen Sie, als ob mir dauernd jemand sagt: Geh nach Hause! Du gehörst nicht hierher."

"Was sagen die anderen?"

"Manchen geht es ähnlich wie mir. Aber die meisten denken, dass ich übertreibe - und vielleicht stimmt das auch?" Jetzt sah sie wirklich wie ein Häufchen Elend aus. Victor fühlte sich nicht sehr wohl, er war hilflos, wenn es darum ging, ein Häufchen Elend wieder in einen fröhlichen Menschen zu verwandeln, weil er das komplizierte Geflecht des alles umfassenden sozialen Netzes nicht durchschaute und so auch nicht sah, womit er dem anderen am besten dienen konnte. Sein Zuhilfeeilen war in diesen Dingen immer ein Schuss ins Blaue.
Sandra machte einen unbehaglichen Eindruck, als wäre ihr gerade die Idee gekommen, dass Victor sich nicht unbedingt eignete, ihre Sorgen zu besprechen. "Ich meine, glauben Sie, es könnte ein Zusammenhang mit diesen Erscheinungen bestehen?"

"Sandra, diese Erscheinungen sind nicht real. Oder hatte schon jemand direkten Kontakt mit einem Wesen von diesem Planeten?" Sie schüttelte den Kopf, seine Worte hatten sie aber offensichtlich nicht überzeugt. "Hat irgendjemand uns bedroht?" Wieder schüttelte sie den Kopf. "Haben die Scanner etwas gemessen? Ist sonst etwas Schlimmes passiert?"

"Nein, Professor", erwiderte sie mit einem unglücklichen Lächeln. "Aber warum fühle ich mich dann so schlecht?"

"Zuviel frische Luft?", riet er, was sie dazu brachte, in Lachen auszubrechen. Er schmunzelte selbst, doch hinter der lächelnden Fassade krabbelten neue Sorgen in sein Bewusstsein. Eine Summe von Kleinigkeiten, heftige Gewitter, kleine Ungereimtheiten, nichts, was einem die Haare zu Berge stellte, nichts, was einen dazu veranlassen konnte, die Zelte abzubrechen, aber doch genug, die Leichtigkeit und die Unbeschwertheit wie mit einem dünnen Film aus Ruß zu überziehen. Die Freude war nicht mehr ungetrübt.

Sandra ging, um sich wieder zu den anderen im provisorischen Küchenzelt zu gesellen, und Victors Blick kehrte zurück zum Antlitz des Planeten. Zwischen heliotropem und auberginefarbenem Blattwerk sah er eine Bewegung.
Menschliche Augen beobachteten ihn aus den Schatten der Pflanzen. Er sprang auf, und das Gesicht verschwand. Er eilte an die Stelle und suchte zwischen dem Gestrüpp nach einem Beweis für die Anwesenheit eines lebenden Wesens.
Kein Blatt war geknickt.
Kein Fußabdruck im feuchten Boden.

•~•~•~•

Der Adler hatte an Höhe verloren und befand sich bereits im Landeanflug. Die künstlichen Gebilde waren inmitten eines massiven Gebirges errichtet worden, in fast 4000m über dem Meeresspiegel. Auf Quartus lag das weit über der Baumgrenze, und auch aus weiterer Entfernung war für die Herannahenden zu sehen, dass in dieser Höhe nicht einmal mehr niedriges Strauchwerk wuchs. Kahle graue Felsen ragten in den dunkelvioletten Himmel, in dessen Osten sich schon eine Aufhellung stahl, der erste rosafarbene Hauch eines neuen Tages auf diesem unvorhersehbaren Planeten.

John dirigierte den Adler zwischen gewaltige natürliche Monolithen durch, die wie bizarre Finger in die Luft ragten, und er freute sich über das ungewohnte Fluggefühl, das ihn immer dann überkam, wenn er in Atmosphäre fliegen konnte, was, wie er wusste, ein gängiges Gefühl unter den Astronauten war.
Zwischen den steinernen Felsformationen wurde, gerade als die Sonne in einer burgunderfarbenen Eruption über den Rand der Welt hervorbrach, ein weitläufiges Hochplateau sichtbar, so ungewohnt in dieser kantigen, schroffen Bergwelt, dass es nur genauso künstlich sein konnte, wie die Gebäude, die man darauf gestellt hatte.
John umflog das Areal und gab so den Passagieren die Möglichkeit, die ungewohnten Gebilde genauer zu betrachten. Es waren mehrere um die fünfzig Meter hohe Ruinen aus einem weißen Material, die wie geblähte Spinnaker auf dem Plateau standen und das erste Sonnenlicht in einem warmen Altrosa reflektierten. Die Mauern waren nicht mehr makellos, die Fassaden schienen von Wind und Wetter gebeutelt, und nicht nur das, die Gebäude waren stark angegriffen, und schwarze Brandspuren zeugten von einem gewaltsamen Ende dieser Ansiedlung. Große Blöcke aus Baumaterial lagen verstreut, wo ein Teil der Mauern in sich zusammengebrochen war.

John erblickte eine ebene, zum Landen geeignete Fläche mit nur wenig Geröll, auf der schon Adler 4 wie ein kleines bizarres Insekt, das sich in eine fremde Welt verirrt hatte, stand und grimmig auf die fremden Gemäuer starrte.
Der Adler ging mit brüllendem Lärm und jäh aufstiebendem Staub nach unten und setzte sanft neben dem zweiten Schiff auf. Die Passagiere machten sich für den Ausstieg bereit, und als sich die Außentür öffnete, flutete amethystenes Sonnenlicht ins Innere sowie eine steife Brise, die alle postwendend dazu veranlasste, nach den warmen Jacken zu greifen und sie schleunigst anzulegen.

Draußen sahen sie Victor herbeilaufen, seinerseits zum Schutz vor der Kälte warm verpackt, mit vom Wind zerzaustem Haarkranz und einem freudigen Lachen im Gesicht. Er winkte mit beiden Händen und sprang jugendlich agil mit einem Satz ins Passagierabteil.

"Willkommen", rief er und rieb seine kalten Hände aneinander, "ihr kommt gerade recht zum Frühstück." Er versuchte, sein Haar in eine gehörige Form zu zwingen, gab aber auf, als er das unbefriedigende Resultat seiner Bemühungen in einem spiegelnden Wandpaneel erblickte.

"Victor, was ist das hier?", wollte John zur Begrüßung wissen und deutete auf die Ruinen. Der Blick des Wissenschaftlers folgte seiner Handbewegung und blieb nachdenklich auf den Gemäuern liegen.

"Seltsame Häuser", sagte er, "nicht wahr? Unerklärlich hoch und dabei völlig unfunktionell. Man kann sie nicht betreten." Der Commander warf ihm einen überraschten Blick zu.

"Nein, tatsächlich. Es gibt mehrere Eingänge, doch sie befinden sich erst in 10 Metern Höhe - und darüber. Die Bauherren hier waren wohl nicht sonderlich gut zu Fuß."

"Geflügelte Wesen?" Victor nickte.

"Möglicherweise. Wir werden wohl nicht herausfinden, wer sie waren."

"Gibt es keine Hinterlassenschaften, nichts, das sie nach dem Feuer zurückgelassen haben?"

"Es sieht nach einer verheerenden Brandkatastrophe aus, da hast du Recht. Das dachten wir anfangs auch. Aber Feuer hat es hier keines gegeben. - Das schwarze Zeug überall auf den Gebäuden dürfte eine Art Pilz oder niederer pflanzlicher Organismus sein, der von Bestandteilen des Baumaterials angetan zu sein scheint. Er hat sich überall angesiedelt und wird irgendwann alles bedecken."

John wandte sich dem Ausgang zu. "Das möchte ich mir näher ansehen. Wo kommt denn die große Zerstörung her? Mit Erdbeben wird man hier wohl nicht rechnen müssen?" Victor schüttelte den Kopf und ging voran.

"Sie wurden nie vollendet, John. Dieser Bauplatz wurde verlassen, lange, bevor man fertig war." John warf ihm einen überraschten Blick zu.

"Habt ihr denn sonst irgendwo noch Spuren ähnlicher Gebäude gefunden?"

"Der Planet wurde noch nicht zur Gänze vermessen, und die Zeit wird dafür auch nicht reichen, falls wir nicht hier bleiben", gab Victor zur Antwort, "aber nein, bisher sind diese 'Ruinen einzigartig. - Wir haben erst einen kleinen Rundgang am Plateau gemacht, nachdem wir gelandet sind und wollten mit der Untersuchung der Gemäuer selbst auf euch warten." Er verschränkte die Arme. "Aber in unserem Adler wurde ein schönes Frühstück vorbereitet. Der Kaffee ist schon fertig."

"Nun gut." John, der schlecht geschlafen hatte, konnte tatsächlich etwas Koffein vertragen und blies zum Angriff auf das Frühstücksbuffet der anderen Gruppe.

Draußen fegte ein eisiger Wind über die Ebene des Plateaus, während sich der kristalline Tag in durchscheinendem Mauve über die Szenerie legte. Die Menschen eilten, vom Wind durchgebeutelt, in den zweiten Adler, wo ihnen Kaffeeduft und der Geruch frischen Gebäcks entgegenschlugen. Für zehn Leute war es ein wenig eng, doch der Tag fing dennoch gemütlich an.

Die Gelegenheit war günstig für eine Lagebesprechung.

"Wie kommen wir in die Gebäude hinein?", erkundigte sich John, "Wenn ich mich recht erinnere, sind die Eingänge zu hoch oben, um einfach hineinzugehen."

"Eines der Gemäuer hat noch eine intakte Rampe, die sich um das Gemäuer herumschlingt und zum zweiten Tor führt", gab ihm Sandra Auskunft, während sie ungefragt Johns Becher wieder mit Kaffee auffüllte. "Wir wissen noch nicht, was sich im Inneren befindet. Zumindest haben die Sensoren kein Leben festgestellt."

"Es würde mich überraschen, wenn sie innen nicht genauso verlassen sind wie die ganze Gegend hier", sagte Alan.

"Das waren vielleicht Außerirdische, die hierher kamen, um eine Kolonie zu gründen - deswegen gibt es sonst keine Spur von ihnen", mutmaßte Victor.

"Genau wie wir", entfuhr es Sandra schaudernd. John sah zu ihr.

"Und irgendetwas hat sie vertrieben." Eine Sekunde der Stille war die Folge, die dann von Victor gebrochen wurde, der aufmunternd in die Hände klatschte, nachdem er sich geräuspert hatte.

"Dann lasst uns nachsehen, ob sie uns eine Botschaft hinterlassen haben!" John nickte und teilte zwei Teams ein. Eines sollte das Plateau und die angrenzende Umgebung nach Hinterlassenschaften der Fremden absuchen, während die zweite Gruppe sich in die Ruine wagen sollte.

Die Kälte nahm trotz des zunehmenden Sonnenscheins nicht ab, auch wenn der Wind ein wenig nachgelassen hatte.
Von der Nähe aus gesehen wirkte der weiße Baustoff, aus dem die Gemäuer gemacht waren, fast irisierend. Er bestand aus einer unbekannten Verbindung, einer Art Kunststoff, der silikatähnliches Material hinzugefügt worden war. Der aus der Ferne schwarz wirkende pilzartige Belag glomm in einem schwärzlichen Lila und bedeckte das strahlende Weiß.

Die Rampe war breit und gut erhalten, und der Aufstieg erwies sich als leicht wenn auch relativ steil. Das Tor lag in fast 30 Metern Höhe, und Alan war der Erste, der es trotz leichter Atemnot erreichte. Die Luft war in dieser Höhe schon etwas dünn, doch er hätte es nicht zugegeben, dass ihn der kurze Aufstieg schon nach Luft ringen ließ.

Die übrigen erreichten ihn wenig später. Helena atmete laut, während sie mit ihrem Diagnosegerät vor den Nasen der anderen herumwedelte. Auf Victors Daten warf sie einen besonders genauen Blick und ließ erst davon ab, als er ihr versicherte, dass er sich vollkommen wohl fühlte. Alan beobachtete sie mit verschränkten Armen, als sie ihren Apparat wieder verstaute.

"Jetzt hast du alle kontrolliert", meinte er grinsend, "nur dich nicht, dabei keuchst du am lautesten!"

"Mir geht es bestens", erwiderte sie würdevoll, "und gekeucht habe ich ganz sicher nicht."

"Doch, hast du!", fiel ihr Victor in den Rücken. Aus ihren Augen sprühten Blitze, als sie sich umsah. John und Sandra nickten ebenfalls. Sie sah sie kampfeslustig an.

"Euch hat doch der Wind die Ohren verschlagen! Worauf warten wir noch? Gehen wir hinein!" Ihre Ablenkungstaktik war erfolgreich, und neugierig traten sie in das Innere des Gebäudes.

Vor ihnen breitete sich ein Dom aus, eine riesenhafte Kuppel, die mattes bläuliches Licht verbreitete. Auch der Boden strahlte in demselben schimmernden Blau, das die ganze Kuppel in ein gespenstisches Refugium verwandelte. Das Brausen des Windes war nicht mehr zu hören, und die Stille war unheimlich.
Zögernd machten sie einige Schritte hinein. In der Mitte befand sich ein großes Loch, durch das die einzelnen Stockwerke mit einander in Verbindung standen, auch nach oben hin gab es eine weitere Ebene - der kuppelartige Aspekt war offensichtlich eine optische Täuschung gewesen. Die Alphaner blieben zusammen und gingen mit gemischten Gefühlen weiter. Vor ihnen war der Boden leer, doch nach hinten schien es irgendwelche Hinterlassenschaften zu geben, die wandwärts gelagert und in vielen Gruppen geordnet waren.
Victor las die Daten von seinem Scanner ab.

"Nach wie vor kein Leben", teilte er der Gruppe mit. "Es handelt sich auch um unbekannte Verbindungen, vielleicht organischer Natur. Möglicherweise haben sie ihre Vorräte zurückgelassen."

Helena warf ihm einen zweifelnden Blick zu, sagte aber nichts.
Sie gingen weiter und erreichten bald die Gegenstände.

Ungläubig starrten sie sie an. Minutenlang herrschte vollkommene Stille.

Es waren Humanoide.
Mit gekreuzten Armen und gesenkten Köpfen hockten sie im blauen Schimmer des Gemäuers. Zu Gruppen geordnete tote Wesen, die so schön waren, dass die Menschen nicht zu atmen wagten.
Sie waren von zarter Elfenbeinfarbe und unbekleidet, groß und grazil, mit schlanken Extremitäten und fast durchscheinenden, schimmernden Flügeln. Sie wirkten wie Engel, die dem Himmel entstiegen waren, ein kleines, verlorenes Heer in der Stille, das die himmlische Macht vergessen hatte. Die Gesichter waren wie von Trauer überschattet, und die toten Augen schienen zu weinen.

"Helena." John flüsterte nur, ohne seinen Blick von den Wesen lösen zu können. Sie wusste, was er wollte, und ging zu den Toten. Sie trat in ihre Mitte, betrachtete sie näher und ließ ihren Diagnosescanner Messungen vornehmen.
Als sie eines der Wesen unabsichtlich mit ihrem Ellbogen streifte, zerfiel es wie ein kunstvolles Mandala aus Sand, das der Wind hinwegwehte. Nur heller Staub blieb über. Erschrocken und betroffen, weil sie das Gefühl hatte, die Ewigkeit gestört zu haben, trat sie vorsichtig zurück in den Kreis der Lebenden.

"Können wir von hier weggehen?", fragte sie leise und von Trauer überwältigt. John nickte, er sah ihre Betroffenheit und fühlte selbst Ähnliches. Ein Blick in die Runde zeigte ihm, dass die Beklemmung alle ergriffen hatte. Sie eilten hinaus, und erst, als das Rauschen des Windes sie wieder umfing, war es, als träten sie zurück in das wirkliche Leben.

Draußen atmeten sie kräftig durch, doch die Eindrücke ließen sich nicht so leicht abschütteln.
Sie machten sich wortlos an den Abstieg. Erst, als sie unten waren, räusperte sich Victor zögernd.

"Ist die Botschaft der Tod?", fragte er nachdenklich. Er sah Helena an. Sie blickte auf den Boden.

"Es tut mir Leid, ich konnte nicht sehen, woran sie gestorben sind. Der Scanner war auch keine Hilfe, denn er ist auf menschliche Parameter eingestellt."

Von überall kamen die Mitglieder des zweiten Teams auf sie zu. John fragte nach Neuigkeiten, und sie schüttelten die Köpfe. Auf ihre Frage, was denn das andere Team gefunden hätte, antwortete er:

"Geht und seht selbst."

 

Die Kälte hatte etwas nachgelassen, und die fremde Sonne strahlte aus einem wolkenlosen Himmel auf die Felsen. Der Stein wärmte sich auf und gab die gespeicherte Hitze wohl dosiert wieder ab.
John war zum Rand des Plateaus gegangen und hatte sich in dessen Nähe auf einen Felsen gesetzt, der auch windgeschützt war. Er wollte nachdenken, und schaute doch nur in die gebirgige Welt hinaus, die sich in verschiedenen Lilatönen erhaben vor ihm ausbreitete. Die Schroffheit dieser Bergwelt war ein schöner Anblick, und doch war sein Herz schwer.
Seit sie aus dem Gemäuer gekommen waren, war das düstere Gefühl in ihm noch lebendiger geworden...

Er hörte, wie sich Schritte näherten, doch ehe er sich umdrehen konnte, war sie schon hinter ihm, er spürte ihre Hände auf seinen Schultern, und sie glitten nach vorne auf seine Brust, als sie sich hinhockte. Er fühlte, wie nah sie ihm war und ergriff ihre Hände. Sie waren viel kälter als seine eigenen, und er hielt sie fest.

"Helena, ich glaube nicht, dass wir auf Quartus bleiben können."

"Ich weiß", sagte sie mit einem Seufzen, "weißt du, ich sehe diese toten Wesen vor meinen Augen, und ich denke mir, sie hätten nicht sterben müssen. Das macht mir Angst."

"Ja. Das und noch mehr. Dieser Planet, Helena, dieser Planet! Er ist in meinem Kopf und quält mich, ohne mir zu sagen, was er denn von mir will! Es passieren Dinge, die ich nicht verstehe, und alles wirkt auf mich bedrohlich, ohne dass ich wirklich etwas in der Hand habe!" Sie drückte ihn wortlos an sich. Er lehnte sich an sie. "Wenn ich nur nach meinem Gefühl entscheiden dürfte, dann würde ich mit fliegenden Fahnen die Flucht antreten." Sie sagte nichts, doch er kannte ihre Antwort. Keine Chance, den Mond zu verlassen, durfte leichtfertig vergeben werden.
Ihre linke Hand ließ ihn los, und sie strich ihm über die rechte Wange. Der schwache Duft ihres Parfums stieg ihm in die Nase und erinnerte ihn an seine Realität, deren Anfang und Ende sie war. Er nahm ihre Hand, und sie spürte seine Lippen auf ihrer Handfläche. Die rosa Sonne wärmte sie, verhieß ihren Frieden, und die Welt hielt den Atem an. John versank in Helenas Gegenwart und wünschte sich, der Augenblick möge für immer bleiben.

"John, es ist Zeit zu gehen." Sie brachte ihm den mysteriösen Traum wieder ins Bewusstsein, in dem sie sich befanden, der zu Ende geträumt werden musste und vielleicht gar kein Traum sondern realer als seine Wirklichkeit war.

•~•~•~•

Es war bereits später Nachmittag, als die beiden Adler von ihrem Ausflug in die ferne Bergwelt zurückkehrten. Im Lager ging es lebhaft zu, und die Hitze machte allen zu schaffen.

Mathias' Erleichterung war nicht zu übersehen, als er die Hauptverantwortung an John abgeben konnte und obendrein noch medizinische Unterstützung durch seine Chefin bekam.

"Hier geht es zu wie in einem Affenstall", ließ er sie übellaunig wissen, "und genaugenommen kommt mir Einiges seltsam vor, Helena!" Sie wandte sich ihm hellhörig zu.

"Was meinen Sie, Bob?"

"Pausenlos tut sich wer weh, und unsere Leute hauen sich auch gegenseitig öfters die Nasen ein! Aber sie wissen nicht warum, und was noch viel eigenartiger ist: Da schreit einer Zeter und Mordio, weil er glaubt, dass er sterben muss, und dann komme ich und finde nur ein paar Kratzer!" Sie musterte ihn beunruhigt.

"Sind sie hysterisch?"

"Sie überreagieren bei jeder Gelegenheit!", regte er sich auf, und seine Stimme wurde laut, "Ich habe das Gefühl, dass sie nicht mehr dieselben sind! Sie verhalten sich inadäquat und unlogisch!"

"Was meinen Sie damit?" Er zeigte ins Zentrum des Lagers, wo brennbares Gehölz für ein abendliches Lagerfeuer aufgetürmt wurde. Mitten unter einer lauten, sehr aufgeräumten Truppe befand sich Reilly und schleppte gerade einen großen Prügel zu N'Dole vom Wachdienst, der ihn klein hackte. Helena runzelte ungläubig die Stirn.

"Helena, er hat eine Humerusfraktur, und sehen Sie ihn sich an!"

"Von Ruhigstellung kann da keine Rede sein", gab sie zu, "es sieht sogar so aus, als sei der Immobilisator für ihn nur ein lästiger Störfaktor." Mathias antwortete nicht und nickte nur grimmig. "Hat er denn tatsächlich eine Fraktur?", fragte sie.

"Wollen Sie vielleicht meine Kompetenz anzweifeln, Dr. Russell?", fuhr er sie an, und sie war verblüfft über seine heftige Reaktion. Im selben Moment dachte sie daran, dass er wahrscheinlich einfach von der permanenten, dauernden Belastung, der er nun schon seit Beginn der Landung auf Quartus ausgesetzt war, mitgenommen war.

"Aber nein, Mathias, ich suche nur nach einem Grund dafür, warum Reilly mit riesigen Holzscheitern jonglieren kann, wenn er sich doch gestern den Oberarm gebrochen hat!"

"Ich zeige Ihnen gerne meine Scans", erwiderte er unversöhnlich, "da werden Sie sehen, dass ich durchaus noch richtige Diagnosen stellen kann!"

"Lassen Sie es gut sein", wehrte sie ab, "wie käme ich dazu, Ihnen nicht zu glauben?" Er machte einen Grunzlaut, kehrte ihr den Rücken und verschwand aus dem Lager ins fliedrige Gehölz. Sie schaute sich kopfschüttelnd um und winkte schließlich Reilly zu sich.

"Hey, Doc, schön, Sie zu sehen, was gibt's?"

"Nach meinen Informationen haben Sie nicht nur eine kaputte Nase sondern auch einen gebrochenen Oberarm. Wie kommt es, dass Sie sich dann ausgerechnet unter die Holzfäller gemischt haben?" Sie unterzog seine Nase einer eingehenden Inspektion und musste verwundert zur Kenntnis nehmen, dass diese weder geschwollen noch bläulich verfärbt - oder gar deformiert - war. "Dr. Mathias hat Ihnen doch sicher eine Ruhepause verordnet." Er kratzte sich nachdenklich am Kopf und scharrte mit einem Fuß im Staub.

"Das hat er tatsächlich. Ich soll ja sogar mit dem nächsten Adler zurück nach Alpha, aber wissen Sie, ich habe überhaupt keine Schmerzen. Die Pillen, die er mir gegeben hat, wirken offensichtlich hervorragend." Helena runzelte die Stirn und holte aus ihrer Tasche den medizinischen Scanner.

"Zeigen Sie mal her." Sie kontrollierte Reillys Arm und las dann erstaunt die Daten ab.

"Kommen Sie mit, Reilly, den Immobilisator brauchen Sie nicht mehr. Der Knochen hat sich - ähem - sehr schnell erholt!"

•~•~•~•

Johns düstere Vorahnung hatte ihn erneut eingeholt; jetzt war sie wieder seine Realität und der kurze Augenblick mit Helena auf dem Plateau nur eine ferne, wenn auch essenzielle, Erinnerung für ihn. Er eilte durchs Lager und ließ sich von allen, deren er habhaft werden konnte, Berichte geben. Diese waren von Tatendrang gekennzeichnet, optimistisch, und rochen dabei gleichzeitig nach dem Geheimnis des Planeten. Er bekam es nicht zu fassen, wenn er sich auch sicher war, dass es etwas mit diesen Gestalten zu tun hatte, die sich immer wieder zeigten.

Missmutig saß er unter der Zeltplane, wo Tische und Bänke für die Mahlzeiten aufgestellt waren, und überflog die schriftlichen Berichte des Tages.
Alles hörte sich positiv an. Es war eine reichhaltige Welt, auf die es sie da verschlagen hatte, ein Paradies, wie es aussah, aus dem man eine neue Heimat für die gestrandeten Menschen machen konnte.

Aber er hatte die toten Wesen gesehen.

Sie hatten noch zwei Tage, um sich zu entscheiden, ob sie den Mond verlassen würden. Danach musste alles schnell gehen. So oder so. Er hatte nicht vor, mit seinem Beschluss so lange zu warten. Er fühlte es, dass sich die Dinge zuspitzten. Seine innere Unruhe war kaum auszuhalten, aber seine Sorgen waren ungerichtet. Es gab keinen Hinweis, worauf er Acht geben musste.

Sein Blick verfing sich wieder im zu oberst liegenden Bericht, schwarze Schrift auf gelber Folie. Sie wirkte irgendwie schmutzig im rosafarbenen Licht dieser Welt. Ein Transportadler war bereits bis an die Decke mit seltenen Metallen angefüllt und unterschiedlichen Mengen von anderen Elementen, die der alphanische Hauptcomputer in einer langen Liste ausgespuckt hatte. Der Adler wartete auf die Abfluggenehmigung, doch es machte nicht viel Sinn, ihn schon auf den Mond zu schicken mit all seinen Schätzen, wenn sich nachher herausstellte, dass man jene dort nicht mehr brauchte.
Noch war die Liste nicht zur Gänze abgehakt, und drei oder vier notwendige Erze würde man ohnedies nicht rechtzeitig beschaffen können. Nicht, weil sie auf Quartus nicht existierten, sondern weil sie unter Tage abgebaut werden mussten und der Aufwand in so kurzer Zeit nicht zu bewerkstelligen war.

Auch wenn sich seine Vorahnung bestätigte und der Planet nicht besiedelt werden konnte, war er wie ein Geschenk für die Menschen. Am Mond mangelte es an Vielem, und man musste deshalb auf zahllose Annehmlichkeiten verzichten. Mit den Rohstoffen konnte John das OK zum geringfügigen Lockern der Zügel geben, und dann war es nicht mehr notwendig, so sehr am Limit des Machbaren zu leben wie bisher.

John fühlte sich unfreier denn je, er war nur noch in Alarmbereitschaft, als müsse jeden Augenblick ein großes Ungeheuer aus dem Gebüsch springen, und es reichte ein Hüsteln seines pinkfarbenen Feueratems, das ganze Basislager zu vernichten. Er stellte fest, dass er sich nicht auf die Berichte konzentrieren konnte und sofort alles vergaß, was durch seine Pupillen auf die Sehrinde gelangt war. Auch unter der Plane war es unerträglich heiß, und große Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.
Er sah sich um und entdeckte Sandra Benes, die zwei Tische weiter an einem zerlegten Commlock herumbastelte.

Sie schaute auf, als sie ihren Namen hörte, und lächelte ihn an.

"Es kommt zu atmosphärischen Störungen, wenn das Wetter umschlägt, und ich glaube, dass ich das durch eine Frequenzanpassung und eine Feineinstellung der Filter in den Griff bekomme." Sie legte die Arbeit nieder, als sie des Commanders besorgte Miene sah, die tausend Fragen widerspiegelte.

"Sandra, ich höre hier viel Positives über diesen Planeten. Sie sind mit dem zweiten Adler gekommen und schon eine Weile hier. Was für ein Gefühl haben Sie?" Er fragte absichtlich nicht nach Fakten. Er kannte Sandra gut genug, um zu wissen, dass er von ihr nur ehrliche Antworten bekommen würde. Sie war, so jung und zerbrechlich sie auch wirkte, der Kern der Gemeinschaft in der Kommandozentrale. Wo die Männer mit ihrem Ego kämpften, glättete sie unauffällig die Wogen und brachte selbst die störrischsten Charaktere dazu, sich in loyale und friedliche Mitarbeiter des Kontrollzentrums zu verwandeln.

Sie schmiss die Bestandteile des Commlocks in eine Plastikdose und verschloss diese sorgfältig.

"Haben Sie Lust, ein Stückchen zu gehen, Commander?", fragte sie ihn, und er bejahte. Er hatte ohnehin noch keine Möglichkeit gehabt, sich aus dem Lager zu bewegen, zu sehen, was Quartus ihnen bieten konnte - außer einem kalten Bergmassiv mit Toten aus einer anderen Welt.
Sie traten aus dem Schatten der Zeltplane, und ein leichter Wind kam auf, der John sehr willkommen war. Sandra lotste ihn hinten um den Kreis der Adlerflottille herum auf einen Trampelpfad, für den die Alphaner verantwortlich waren. Zu beiden Seiten wuchsen mannshohe schilfartige bischofslila Sträucher, die einen leichten Duft nach Vanille verströmten und im Wind wogend und wie Samt um ihre Körper strichen. Der Pfad war breit genug, um nebeneinander zu gehen.

"Commander, ich möchte Ihnen nur ein wenig von Quartus zeigen", sagte sie, "damit Sie verstehen." Er nickte und wusste, worauf sie hinauswollte. Es war eine schöne Welt, ein verführerischer Planet, für das menschliche Auge ungewohnt, ja, aber der Mensch neigte dazu, sich an sehr Vieles sehr schnell zu gewöhnen. Bald, sehr bald, würden Rosé und Flieder niemandem mehr unnatürlich vorkommen - und ebenso bald schon hätte man die klare, helle, weiße Sicht der Erde vergessen. Kommende Generationen würden sich anpassen und das glasklare Licht von Terra als störend und beißend empfinden.

Das Schilfgewächs war zu Ende, und der Pfad führte unmittelbar in ein großes, wildes Feld voller Blumen. Sie wuchsen wie Kraut und Rüben durcheinander und waren ein Meer von grau-weißen bis parma- und orchideenfarbenen Blüten, die bis an die Hüften reichten. Schwere trompetenartige Spezies neben glocken- und sternförmigen Kelchen wogten im Wind, spießartige Speerspitzen mit Tausenden von blassgrünen Dolden ragten aus der Masse heraus, und ein umwerfendes Duftgemisch aus fruchtig-frischen Essenzen umwehte Johns Nase.
Unweit schimmerte einladend das milchige Blau des Sees.

"Commander, Sie verstehen, dass die Alphaner hier bleiben möchten, Sie verstehen, dass sie motiviert sind und das Optimum aus ihren Untersuchungen herausholen wollen." Er nickte.

"Aber das ist nicht alles, richtig?" Sie verharrte ohne Antwort, und ihr Blick lag nachdenklich auf dem See.

"Sandra, ich weiß, dass hier irgendetwas nicht stimmt." Sie wandte sich ihm zu, und schaute ihm mit ihrem dunklem Blick direkt in die Augen.

"Es ist wie eine zweite Schicht, die über dem Offensichtlichen liegt", versuchte sie, ihre Empfindungen in Worte zu fassen. "Nicht alle scheinen es zu merken." Sie dachte kurz nach. "Oder vielleicht merken es doch alle, nur schieben sie es von sich, weil sie den Mond und die Basis verlassen wollen. Sie möchten das graue Einerlei und die Schwärze, die uns umgibt, mit dieser lavendelfarbenen Welt tauschen."

"Quartus..."

"Sie nennen sie Violetta." Sie lächelte hintergründig. "Sie sind aufgeregt und aufgebracht. Unvorsichtig und ungeduldig. Sie fürchten sich und wollen es nicht zugeben."

"Hat es mit diesen Gestalten zu tun, die so mancher gesehen haben will?" Sie lächelte wieder.

"Gesehen hat", verbesserte sie ihn. "Es sind Gespenster, Commander, die kann man mit den Scannern nicht erfassen. Sie hinterlassen keine Fußspuren. Sie setzen sich nicht zu uns an den Tisch und erzählen uns, was sie wollen."

"Aber Prof. Bergman hält sie für Lichtspiegelungen bzw. eine Fata Morgana."

"Prof. Bergman will nicht an Gespenster glauben. Er will eine wissenschaftliche Erklärung - und wer weiß, vielleicht stimmt sie ja auch." John schüttelte den Kopf.

"Nein, Sandra, ich weiß es und Sie wissen es auch. Victor täuscht sich, wenn er ein natürliches Phänomen hinter den Erscheinungen vermutet." Sie hob beide Hände und wirkte zerbrechlicher denn je.

"Ich habe nur mein Gefühl, das mir sagt, dass wir nicht hierher gehören, das mir befiehlt, nach Hause zu gehen." John atmete tief durch. Endlich. Endlich bestätigte jemand das, was auch an seinem Bewusstsein nagte.
Ein wohltönender Gesang aus sirrenden Lauten erklang aus der Ferne. Sandra deutete nach links hinter das Blumenmeer.

"Sehen Sie, Commander, der singende Wald." John folgte ihrem Fingerzeig mit den Augen. Weiter weg im Hintergrund erhob sich eine schwärzliche Masse aus lila-reflektierenden baumartigen Gewächsen in den Himmel, entfalteten schlankes Blattwerk, das sich schillernd entrollte, während die Bäume sangen. John sah dem Treiben tief bewegt zu und wünschte sich, wünschte sich so sehr, dass die Menschen hier bleiben konnten. Der kleine glückliche Moment mit Helena am Plateau stand wieder vor seinem geistigen Auge, und die Zweifel saßen ihm wie Stacheln in der Brust.

"Tagsüber schlafen sie", sagte Sandra zur Erklärung, "aber am Abend stehen sie auf und singen für uns."

"Sandra, können wir denn mit den Gespenstern leben?" Sie lauschte dem Gesang, während John atemlos auf ihre Antwort wartete. Als sie schließlich sprach, blieb ihr Augenmerk auf den Wald gerichtet.

"Nein, Commander. Wir werden nicht leben."

•~•~•~•

Zurück im Lager sah sich John nach Victor um. Er fand ihn zusammen mit Helena und Alan bei einem gigantischen Glas Saft. Die drei scherzten bei offensichtlich guter Laune, und er kam sich völlig deplatziert vor, als er mit seiner Düsterkeit in die Gruppe trat.

"Was macht euch so fröhlich?", wollte er fast rhetorisch wissen.

"John!", begrüßte ihn Helena mit einem Lachen, das ihn normalerweise in einen Klumpen schmelzenden Wachses verwandelte - jetzt aber war sein Geist dunkel und unversöhnlich und verlangte nach Antworten auf essenziellere Fragen.

"Wir haben gerade gehört, dass Tiranium gefunden wurde!", berichtete sie ihm strahlend, "Das ist eine wirklich gute Nachricht." Doch Johns Interesse galt im Moment nicht den Rohstoffen.

"Was ist mit den Gespenstern?", fragte er Victor, ohne auf Helenas Jubel einzugehen. Er fühlte ein Brennen in der Brust, als er sah, wie ihre leuchtenden Augen erloschen. "Hast du sie auch gesehen? - Und was ist mit dir, Alan?" Es war, als fielen sie in die tiefschwarze Nacht. Victor senkte den Blick.

"Ich habe etwas gesehen", gab er zu, "ja, das stimmt. Was es war, weiß ich nicht!"

"Und du, Alan?" Der Pilot presste die Lippen zusammen, ehe er schließlich doch antwortete.

"Ich habe nichts gesehen, John. Nur Schatten, die wie Menschen aussahen. Ich lief ihnen nach, doch da war gar nichts. Und das ist die Wahrheit."

"Aber glaubt ihr nicht, dass irgendetwas dahinter steckt? Dass das eine Botschaft für uns ist?"

"Dann müssen sie schon deutlicher mit uns sprechen, John", war Victors Antwort. "Du darfst nicht glauben, dass ich mir keine Sorgen mache, wirklich nicht. Ich kenne die Berichte alle genau, und ich habe auch mit unseren Teammitgliedern gesprochen. Ich sehe keine unmittelbare Gefahr, sondern in erster Linie eine Chance."

"Und was ist mit den Toten in der Ruine?"

"Wir wissen nicht, woher sie kamen. Und auch nicht, wieso sie sich dort befinden. John, es kann sich genauso gut um das Grabmal einer unbekannten Rasse handeln, die hier auf ihrem Flug Zwischenstation gemacht hat, um ihre Toten beizusetzen. Wir wissen es einfach nicht." Johns Hand ballte sich zu einer Faust, ohne dass ihm das bewusst wurde.

"Und euer Gefühl? Lasst ihr euch von euren Wünschen leiten, und wollt ihr nicht mehr sehen, was euch nicht gefällt?"

"John!" Helenas mahnendes Wort prallte an ihm ab. Er spürte einen Windstoß und merkte, dass die Zeltplanen flatterten.

"Nein! Nicht: 'John!'", rief er, "Ich will, dass ihr in euch geht, vergesst die Äußerlichkeiten, vergesst das, was euch hier anspricht und sagt mir, was noch übrig bleibt!"
Ein paar Alphaner kamen auf die Gruppe zugelaufen.

"Ein Gewitter kommt!", rief Sanderson, "Wir müssen unsere Sachen in Sicherheit bringen!" Tatsächlich näherte sich von der Seeseite her ein Sturm. Nachtschwarzer Himmel lag über dem Horizont, und weit weg war Wetterleuchten zu sehen. Von überall her kamen die Teammitglieder mit der Ausbeute des heutigen Tages ins Lager geeilt und begannen, mit den anderen gemeinsam das Lager zu räumen, alles in die Adler zu verfrachten, denn Gewitter auf Quartus konnten, wie sie wussten, ziemlich gewalttätig sein.

John packte voller Zorn zu und half mit einigen anderen, die Planen abzumontieren und zusammenzulegen. Der Wind wurde stärker, und die umliegenden Gewächse wurden geschüttelt und knisterten und rasselten, während loses Gestrüpp davongetragen wurde. Die Dämmerung brach herein, so plötzlich, als käme sie um eine Ecke gebogen, und senkte das Basislager in ein unheilvolles Zwielicht.

Plötzlich packte Alan John am Ärmel und riss ihn mit sich.

"John! Sieh dir das an!" John erblickte am Rand des Gesträuchs eine Gestalt, schattenhaft, wie ein Mensch so groß, und sie stand mit verschränkten Armen abwartend da, während sie die Alphaner beobachtete, die Gesichtszüge im Halbdunkel. John lief los, und ihm folgten Alan, Helena, Victor sowie N'Dole vom Sicherheitsdienst.
Ehe sie nahe genug gekommen waren, um die Person genauer zu sehen, drehte sie sich gemächlich um und ging davon, einen der zahllosen Trampelpfade der Alphaner benützend. Die Gruppe eilte hinterher ungeachtet des zunehmenden Sturms, der ihnen Blattwerk heulend um die Ohren schleuderte. Es wurde unnatürlich schnell finster, und gleichzeitig schien der Wind von allen Seiten zu blasen, was ein Vorankommen erschwerte. John stolperte über einen abgebrochenen Ast, doch er sah noch immer die Gestalt, die ein Stück vor ihm auf dem Weg war und geisterhaft über die Hindernisse hinwegzugleiten schien, ohne vom Wetter beeinträchtigt zu werden.
Er war sich sicher, dass man ihm etwas sagen, einen Hinweis geben wollte, und so beeilte er sich, die Erscheinung nicht aus den Augen zu verlieren. Er war froh zu merken, dass ihn die anderen nicht im Stich ließen, sondern sich wie auch er durch das schlingernde Gewirr aus Gestrüpp und Astwerk arbeiteten.
Ein Blitz zuckte, und gleich darauf folgte das Donnergrollen wie das Herabstürzen eines ganzen Felsmassivs
Wenig später war ihm klar, wohin der Pfad führte. Er erhaschte noch einen Blick auf die geisterhafte Erscheinung vor ihm, und dann war der Weg zu Ende. John stand vom Wind gebeutelt und geschüttelt am Ufer des Sees - und sah niemanden mehr.
Die übrigen traten, indem sie sich gegen den Wind stemmten, aus dem Gebüsch hervor, und schlossen sich John bei seiner Suche an.
Der Sturm kreischte und schrie wie von Sinnen und rüttelte an den fünf Menschen, als sie nicht aufgaben und die Felsen absuchten. Das Wasser des Sees hatte sich in bleiernes Grau verwandelt, das toste und tobte und an den dunklen Felsen mit einem heulenden, schäumenden Gischtregen brach.

John sah Helena am Wasserrand stehen, ihr Haar flog ihr wie ein heller Schleier übers Gesicht, und dann war da ein Aufblitzen, ein gleichzeitiges ohrenbetäubendes Knallen, und Helena stand in gleißender Helligkeit, einen Augenblick überirdisch schön, ehe sie mit einem Ausdruck verwunderter Ungläubigkeit und erhobenen Händen nach hinten umkippte und in den Fluten des Sees versank.

Ein unmenschlicher Schrei aus Entsetzen und Schmerz entrang sich Johns Kehle, und er stürzte ans Wasser, sprang hinein, und sah ihren weißen Leib, wie er in die Tiefen des Wassers hinweggezogen wurde, als nähme ihn der Gott des Meeres persönlich für sich in Besitz. Er tauchte unter, im strudelnden Wasser kämpfend, nach Luft ringend und mit den Kräften der Verzweiflung nach ihr greifend, doch sie entschwand wie eine Seele, die sich der irdischen Welt entzog.
Er kam wieder hoch, ohne Orientierung um sich schlagend, um im Wahn erneut abzutauchen, hinterherzuschwimmen, und sie wieder heraufzuholen, zu sich, sie zu retten, zu beschützen, wie er es von vornherein hätte tun sollen!
In den dunklen Fluten war nichts mehr zu sehen, er schrie unter Wasser ihren Namen, doch das Brausen verschluckte seine verzweifelten Worte, und er musste spucken und husten, als ihm das Nass in die Luftröhre rann. Wieder tauchte er auf, und da fühlte er sich von starken Eisenzwingen gepackt und weggezogen, und er tobte und wehrte sich.

Helena war noch da drin.

Alan und N'Dole hatten den verzweifelten Commander gepackt, der mit allen Kräften um sich schlug, und schliffen ihn ans Ufer. Sie hatten alles gesehen, sie hatten gesehen, wie Helena, vom Blitz getroffen, umgekommen und vom Wasser zu sich geholt worden war.
Der Regen donnerte von einem Augenblick auf den nächsten wie aus geöffneten Himmelsschleusen auf sie herab, während das Heulen des Sturmes das Maß allen Erträglichen übertraf. Der See trat über seine Ufer und schleuderte die Wellen mit aller Macht auf die vier Männer.
"Lass es sein, John!", schrie Alan gegen den Wind an, "Lass es sein!" Er weinte, während er John, der sich wie ein in die Falle gegangenes Tier wehrte, mit aller Macht auf den Boden drückte.

"Holt sie heraus!", schrie John, der am Ende seiner Kräfte war," holt sie heraus! Wir können sie noch retten!" Er erlahmte schließlich, und Alan hielt ihn fest, beide laut weinend im Tosen und in den Sturzbächen des Gewitters.

Victor stand daneben, klatschnass, das Gesicht tot wie ein Geist, und es war ihm, als hätte sein mechanisches Herz aufgehört zu schlagen.

•~•~•~•

Die Wolken verzogen sich, das Gewitter war weitergewandert und hatte dem Basislager ein weiteres Mal keinen Schaden zufügen können. Das trockene Holz wurde unter einem Verschlag herausgeholt und in Brand gesetzt. Als die vier geschlagenen Männer vom Ufer des Sees zurückkamen, tanzte der Rest des Teams um das Lagerfeuer und freute sich an der neuen sauberen und frischen Luft.

Das fröhliche Treiben fand ein jähes Ende mit dem Einmarsch der kleinen Prozession, N'Dole, dann Alan, der den gebrochenen Commander führte, und zum Schluss Victor, der noch immer darauf zu warten schien, dass sein Herz versagte.

John sank am Feuer in sich zusammen, er sah leer aus, als seien sein Geist, sein Verstand und sein Herz mit Helena gegangen.
Victor erklärte stockend, was geschehen war, und das Entsetzen war greifbar, das sich über den ganzen Lagerplatz legte. Namenlose Trauer, taube Herzen. Grenzenlose Erschütterung. So war es nicht gedacht gewesen. Sie wollten nicht verlieren, kein Leben, keinen der Ihren, sie wollten ja nur friedlich und würdig leben.

Die Stille war wie der Tod, wie das Vakuum, und genauso luftleer.

John war nur dem Aussehen nach noch ein Mensch, ein Organismus aus Haut und Knochen, aus Muskeln und Innereien, doch ohne Leben. Es war von ihm fortgenommen, gelöscht und aus dem Dasein getilgt. Er fühlte das Feuer nicht, neben dem er saß, und hätte man ihn hineingestellt, so wäre ihm das auch nicht aufgefallen. Er sah nur sie, wie ihr letzter Blick auf ihm gelegen war, voller Unglauben, geweitete und dann gebrochene Augen.

"John!" Er hörte sie seinen Namen sagen, wieder und wieder, und es dauerte lange, bis ihm dämmerte, dass es nicht Helena war, die nach ihm rief, er kehrte widerwillig in die Wirklichkeit zurück, als ein scharfer essigsaurer Geruch in seine Nase drang. Er merkte, dass er am Lagerplatz war und Mathias ihm eine Flasche unter die Nase hielt.

"John!" Es war Alan, der versuchte, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen, und begriffsstutzig wandte er sich ihm zu. "John, bitte, sieh dir das an!" Bitter dachte John, dass genau derselbe Wortlaut von Alan der Auftakt zur Katastrophe gewesen war, an deren Ende er Helena verloren hatte.
Er war nicht interessiert.
Es hätte der Präsident der Erde mit einem glitzernden Raumschiff vor ihm stehen und alle auf die Reise nach Hause einladen können, es hätte ihn nicht tangiert.

Doch Alan war hartnäckig und drehte Johns Kopf am Feuer vorbei an den Rand des Lagers.
Dort standen die schweigenden Alphaner im Licht der Scheinwerfer, im Halbkreis aufgereiht. Alle Teammitglieder. Mit Ausnahme von Helena. Warum standen sie dort? Eigentlich war es ihm egal, und er war schon dabei, wieder in sich selbst zu versinken - als er sich selbst dort stehen sah. Forsch und dunkel. Die Arme vor der Brust verschränkt. Neben ihm Alan und auf der anderen Seite Victor.

Ein Hauch von Leben kehrte wieder in ihn zurück, als er sah, dass Alan nach wie vor neben ihm hockte.
Er erhob sich und zog die Decke, die man ihm über die Schultern gelegt hatte, über der Brust zusammen. Seine Schritte waren schwerfällig, doch er ging zu der anderen Gruppe. Seine Leute beobachteten das Geschehen mit Schrecken in den Augen.

Er blieb vor sich selbst stehen. Eine absurde Situation. Dem anderen John hing auch eine Decke von den Schultern. Sein Blick war kristallin.

"Zeigt ihr euch endlich, ihr Geister", sagte er gebrochen.

"Es war zuvor unmöglich", antwortete das Gespenst mit seiner Stimme. Das Bedauern wirkte unecht.

"Warum habt ihr mir Helena genommen?"

"Es war nötig."

"Nötig?" Sein Verstand drohte auszusetzen.

"Ihr konntet nicht hören, ihr konntet nicht sehen. Unsere Warnungen waren für euch nur ein Flüstern im Wind, ein Glitzern in der Sonne."

"Und jetzt können wir euch hören und sehen?" Über Johns Wangen liefen Tränen.

"Durch den Verlust, den du erlitten hast, kehrtest du an die Basis deines Seins zurück, als bloße Existenz, die nicht abgelenkt wird von anderen Einflüssen und Eindrücken. Du existierst nur noch - du bist nur noch - und wirst so empfänglich für die Aussage des Planeten."

"Die anderen?" Sein Gegenüber lächelte.

"Sie sehen und hören, was du siehst und hörst, denn auch sie haben dich ein Stück deines Weges begleitet in die Leere."

"Helena wurde geopfert, um unseren Kontakt zu ermöglichen?"

"Sie war bereit zu sterben - für dich und die Deinen." Der Schmerz war eine große Falle, die ihn zu zerreißen drohte.

"Und was..." Seine Stimme wollte ihm versagen, "...was ist es, das wir wissen müssen, was kann so wichtig sein, dass es... dass es Helenas Leben aufwiegt?"

"Wir sind... der Planet ist eine Entität, ein Lebewesen. Er will euch nicht schaden, aber er kann auch nicht besiedelt werden. Er ist im Gleichgewicht und darf nicht aus der Balance gebracht werden, denn sonst muss er sich wehren. Die Bilanz muss bei Null liegen. Ihr könnt nicht bleiben."

"Wie die Außerirdischen in den Bergen?"

"Sie nahmen und mussten dafür bezahlen."

"Leben gegen Rohstoffe?" Der andere John nickte und lächelte wieder. Lilafarbene Wolken zogen durch seinen Blick.

"Sie wussten, was sie taten." John wandte sich ab. Er hatte genug gehört.

"Ladet den Transportadler aus", sagte er mit tonloser Stimme zu seinem Team, "alle Proben, die ihr gesammelt habt, die Samen und Pflanzen." Ein Blick über die Schulter zeigte ihm, die Geister waren verschwunden.

Im Lager war es totenstill.

"Was ist mit den seltenen Elementen und Metallen?", erhob sich plötzlich eine forsche Stimme aus dem Hintergrund. John schaute an den Flammen vorbei und entdeckte Sanderson, der aufgestanden war und die Hände in die Hüften gestemmt hatte. "Was wir zusammengetragen haben, brauchen wir auf Alpha nötig!" John kostete jedes weitere Wort eine übermenschliche Anstrengung.

"Ihr habt es gehört. Wir nehmen von diesem Planeten nichts mit!" Sanderson marschierte verärgert zu John und pflanzte sich vor ihm auf.

"Es gehört uns! Und wir brauchen es! Wie wollen sie uns daran hindern zu nehmen, was wir nicht entbehren können?" John war müde. Sein Gesicht war grau.

"Ich sage es nicht noch einmal, Greg. Sie werden sich fügen. Ich kann den geforderten Preis für die Rohstoffe nicht bezahlen."

"Wir haben schon bezahlt!", schrie Sanderson zornig, "Wir haben mit Dr. Russells Leben bezahlt und sollten auch was dafür bekommen!" John drehte sich vollends um, und seine Faust traf den Geologen wie ein Dampfhammer am Kinn. Der Schlag hob ihn aus, und er donnerte rückwärts zu Boden.

"Helena ist keine - keine Handelsware!", keuchte John, und die Stimme versagte ihm fast vor Zorn, "Gehen Sie mir aus den Augen, Sanderson!" Der Geologe wischte sich einen Tropfen Blut aus dem Gesicht. Seine Lippe schmerzte, wo er sich gebissen hatte. Wutentbrannt erhob er sich und stürmte aus dem Lager davon. John sah ihm nicht nach.

"Wir werden Quartus verlassen und zum Mond zurückkehren, sobald wir das Lager geräumt haben." Er ging schweren Schrittes aus dem Scheinwerferlicht in die Nacht davon, sein Weg führte ihn offensichtlich wieder zum See. Victors irritierter Blick streifte Alan.

"Geh ihm nach, Alan", sagte er, "pass auf, dass ihm nichts passiert." Der Adlerpilot hatte sich schon erhoben, als klar geworden war, wohin der Commander unterwegs war. Er nickte und eilte John nach.

Er holte ihn auf halber Strecke ein, doch ließ jener nicht erkennen, dass er den Piloten wahrgenommen hatte. Mit dumpfer Stetigkeit pflügte er sich wie ein Automat durch das vom Gewitter geknickte Gebüsch, das tropfnass in den Pfad hineinhing. Alan entschied sich zu schweigen, denn es gab nichts zu sagen.

Er trat hinter John auf das felsige Ufer und sah erstmals, dass der Mond aufgegangen war, Luna stand in voller Pracht am Himmel und leuchtete ihnen in einem sanften, ungewohnten Zartrosa den Weg. Es war wie ein Zeichen, sie zu erinnern, wohin sie gehörten, und inmitten allen Kummers war es Alan, als fühlte er ein kleines, zaghaftes Licht aufflackern. Er spürte einen Kloß im Hals und schlug die Augen nieder.
Als er wieder aufblickte, sah er den Commander am glitschigen Ufer stehen, genau an der Stelle, wo Helena den Tod gefunden hatte, und er starrte in den See, als wollte er diesen zu einem Duell herausfordern. Reglos verharrte er und lauschte auf das leise Plätschern der Wellen, die nun wieder sanft ans Ufer trieben. Alan fröstelte, und er schlug die Arme um den Leib. John rührte sich nicht, und Alan hockte sich schließlich auf einen nur mäßig feuchten Stein in der Nähe des Gebüsches. Er dachte nicht daran, seinen Freund beim Abschiednehmen zu stören. Er wusste, dass mit dem heutigen Tag andere Zeiten angebrochen waren, dass John, wie er ihn kannte, nicht mehr existierte. Er würde einen Teil von sich hier auf diesem Planeten zurücklassen, den leichtherzigen, fröhlichen Teil; er legte ihn hier und jetzt zu Helena ins nasse Grab.

Doch plötzlich kam Leben in die starre Gestalt am Wasser, und John wandte sich, statt zum Lager zurückzukehren, nach rechts. Der Blick, den Alan erhaschte, war so steinern inmitten grauer Verzweiflung, dass es ihm das Herz zusammenzog. John schritt am Wasser entlang, seine Augen suchten das Ufer ab, und da wurde Alan klar, dass es kein Abschiednehmen gewesen war sondern eine stumme Bitte an den See, Helenas Körper wieder freizugeben. Schweigend trottete er hinter John her, doch er wusste, dass dessen Wunsch nicht erfüllt werden konnte. Aus der Luft hatte er schon beim ersten Anflug gesehen, dass es sich fast um ein Binnenmeer handelte, und selbst mehrere Tage und die Hilfe der Bordscanner würden nicht ausreichen, hier einen leblosen menschlichen Körper aufzuspüren.

Sie legten Kilometer zurück, und John wurde immer schneller, bis er gehetzt über die rauen Felsen stolperte, immer noch Ausschau haltend im hellen Licht, das der Mond spendete, während Ipso wie ein kleiner Giftpilz über den Horizont kletterte und nur ein schmutziges Schimmern zustande brachte. Diese Welt hatte noch nie eine so helle Nacht gesehen.

Das Felsgestein nahm zu und türmte sich zu einer schroffen Klippe vor ihnen auf, die ihre Steilwand zum Wasser wandte, doch John nahm das stetig ansteigende Hindernis ohne Zögern in Angriff.

Bald war Alan außer Atem, er stieß sich die Stiefel an den scharfen Felskanten und merkte, wie seine Knie weich wurden. John dagegen schien nichts zu spüren, doch auch ihm war anzumerken, dass sein Körper nicht daran dachte, sich endlos über felsiges Ufergestein zu kämpfen. Seine Bewegungen wurden unkontrollierter mit jedem Sprung und jedem Überwinden eines Felsbrockens, bis das Unvermeidliche kam und ihm die Beine jäh ihren Dienst versagten. Er sackte in sich zusammen.

Alan war sofort bei ihm und fiel an seiner Seite zu Boden. Beide keuchten und rangen nach Luft, lagen im Nassen und hatten scharfkantiges Gestein im Rücken. Es war windstill, und dampfende Wärme stieg von den schwarzen Felsen auf. John starrte in den Himmel und auf den Mond, und Alan sah von der Seite ein dünnes Rinnsal, das sich von Johns Augenwinkel über das Jochbein bis zum Unterrand des Kiefers bildete und tropfend auf seinem Kragen endete. Es war, als wollte die Qual nicht enden.

"Ich bin ein alter Narr!" Johns Worte waren bitter. "Nur darum konnte ich glauben, dass es möglich sein müsste, auch in unserer Situation wie ein Mensch zu leben, ein Mensch zu sein - mit allem, was dazugehört. Ich habe in einem Traum gelebt." Alan wusste nichts zu erwidern, er war fassungslos und erschöpft, während ihm die Situation wie ein irrealer Streich eines bösen Gottes vorkam. Eine plastische Demonstration dessen, wie man Menschen mühelos brechen konnte.
Johns weitere Worte waren leise, kaum hörbar.
"Ich will den Traum zurückhaben."

Das Wasser plätscherte gleichgültig im Hintergrund, und der Mond schien einladend. Kommt zu mir, schien er zu sagen, ich bin die Heimat, die ihr immer sucht.
John richtete sich schließlich auf:

"Gehen wir", sagte er, und Alan folgte ihm zurück zum Lager.
Keiner von ihnen warf mehr einen Blick auf den See.

•~•~•~•

Sanderson war querfeldein durch das Blumenfeld gestampft, es war ihm egal, dass die schwertförmigen Pflanzen seine Jacke zerrissen und seine Schuhe im aufgeweichten Boden halb versanken. Im Gegenteil, das quatschende Geräusch stachelte ihn nur noch mehr auf in seinem Zorn, denn es kam ihm so vor, als lachte ihn der Planet aus - dafür, dass er an das Wohl der Mannschaft gedacht hatte! Dafür, dass er sich um das Überleben der Menschen sorgte, wurde er verhöhnt und verspottet! Er wurde nicht ernst genommen, und das war schon immer so gewesen!
Oh ja, der Tod von Helena Russell hatte ihn auch betroffen gemacht, er war ja nicht ein Brocken aus Stein und hatte sich der allgemeinen Bestürzung nicht entziehen können. Es war ein unheimliches Gefühl gewesen, sich selbst auf einmal dastehen zu sehen und zu wissen, dass man es mit einem namenlosen Geist zu tun hatte, doch bei allem Mitgefühl, durfte man die Realität außer Acht lassen? Konnte man sich auf Alpha die Freiheit leisten, nicht zu nehmen, was man teuer bezahlt hatte?
Er schüttelte grimmig den Kopf und eilte weiter, wohin ihn seine Schritte trugen. Er erreichte den singenden Wald, der um die Nachtstunde nur noch leise vor sich hin seufzte und große Wassertropfen von seinen Blättern in Sandersons Kragen und Haar fallen ließ. Der Waldboden war abschüssig und knorrig, doch das Gehölz stand weit genug auseinander, um Menschen hindurchzulassen. Er war auch frei von anderem Gewächs, denn tagsüber lagen hier die Bäume im Schlaf und träumten vielleicht vom Gesang der Dämmerstunden.

Doch daran dachte Sanderson nicht, seine Wut war auf John gerichtet und auf seine Gefolgsleute, die immer taten, was er verlangte, und diesmal sogar auf wichtige Rohstoffe verzichten wollten, die zu beschaffen teilweise mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden gewesen waren - nur weil John Koenig einer Frau nachweinte! Als verantwortungsvoller Kommandant war es seine Pflicht, das Wohl der Mannschaft an die erste Stelle zu reihen, und persönliche Gefühle - so schmerzhaft und traurig sie auch waren - durften seine Entscheidungsfindung nicht beeinflussen!

Er eilte lange Zeit ziellos durch den Wald, was ihn nicht kümmerte, denn er hatte ein hervorragendes Orientierungsvermögen - und würde später ohne Probleme zum Lager zurückfinden. Falls er das überhaupt vorhatte! Seine Gedanken kreisten beständig um denselben Fokus, und seine Wut steigerte sich nur noch mehr. Wie wild geworden schlug er mit bloßen Fäusten auf den Stamm des nächsten Baumes ein, der weich war und nachgab, was die Schläge wirkungslos verpuffen ließ und den Geologen nur noch mehr in Rage brachte. Er schrie vor Zorn, ein einsamer Schrei in einer friedlichen Welt. Die Bäume antworteten mit einem verwunderten Aufseufzen, und er schrie erneut seinen Frust hinaus.

Seine Beine gingen von alleine, wie ferngesteuert, und folgten einer Spur von Leuchtblumen, winzigen Blüten, die auf einzelnen dünnen Stängeln saßen und wie Leuchtkäfer mit jeder Bewegung der Luft schwankten. Sie hatten ihn betört, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, und wahrscheinlich beschwichtigten sie ihn deswegen. Sie führten ihn aus den Wald, und er rannte dem vereinzelten Leuchten nach. Im Laufen leerte sich sein Kopf, und er fühlte nichts mehr außer der frischen, scharfen Luft in seinen Lungen.
Er kam am See zu stehen, beugte den Oberkörper nach vorne und stützte sich, während er tief durchatmete, mit beiden Händen an den Oberschenkeln ab. Als er aufschaute, erblickte er den Mond, wie er über dem Wasser stand und sein mildes Licht auf ihn herabwarf. Er richtete sich wieder zur Gänze auf und sah am Wasserrand etwas Weißes, das in einer breiten Rinne zwischen zwei Felsplatten lag. Neugierig trat er näher und erkannte, dass es sich um einen menschlichen Körper handelte. Er lag von ihm abgewandt auf der Seite, weswegen er über ihn hinwegstieg, und seine entsetzte Vorahnung bewahrheitete sich, als er ihn auf den Rücken drehte. Es war der Körper der Chefärztin, die das Wasser an Land gespült hatte. Die Kleidung war zerfetzt, hing nur noch in wenigen Streifen am Leib, das Haar schwamm in einer Lache und war von winzigen rosaroten kristallartigen Körnern durchsetzt, und die Stiefel fehlten. Er ging in die Knie und schob die Fetzen der ehemaligen Uniform auf die Seite. Der Körper war von weißer und makelloser Perfektion.
Sanderson durchfuhr ein jäher Adrenalinstoß, und er tastete mit den Fingern nach Helena Russells Hals. Die Haut war weich und warm, und darunter spürte er einen kräftigen Puls. Erschrocken sprang er auf und starrte auf sie herab. Sie rührte sich nicht, und er schaute sich wie nach Hilfe suchend um. Dann griff er nach seinem Commlock, doch er hatte ihn im Lager vergessen oder vielleicht auf seinem Weg verloren.

Er würde sie zum Basislager bringen müssen.

Wie konnte sie nur! Wie konnte sie tot sein und doch hier lebend vor ihm liegen? Der alte Groll stieg in ihm auf, der gemischt war mit Erregung und diesem seltsam bewegenden Anblick transzendenter Schönheit, die im nächtlichen Licht des Mondes von ihr ausging.
Er konnte einfach weggehen und sie ihrem Schicksal überlassen. Bald schon würden die Adler Quartus verlassen. Der Zorn war wieder da, und er fragte sich, wieso - warum nur ausgerechnet er derjenige war, der sie finden musste.

Er setzte sich hin und fuhr fort, sie zu mustern. Er fühlte sich hin- und hergerissen zwischen seinem Pflichtgefühl und dem Wunsch, es einmal jenen heimzuzahlen, die glaubten, dass sie das Zentrum der Welt waren.
Da öffnete sie die Augen, und allmählich schwamm ihr Blick aus weiter Ferne zu ihm in die Gegenwart. Sie runzelte bei seinem Anblick andeutungsweise die Stirn und versuchte zu sprechen. Erst beim zweiten Anlauf gelang es ihr.

"Sanderson.... Sind Sie in Ordnung?", wollte sie wissen. Er nickte verdutzt. "Gut", erwiderte sie und schloss wieder die Augen. Er sah sie an, wie sie bleich und wie zerbrochen vor ihm lag, und zum ersten Mal dämmerte ihm, warum so viele Alphaner sie achteten.
Doch der Moment war schnell vorbei. Er gab nichts auf Sentimentalitäten, auch - und erst recht - nicht bei Helena Russell. Sie war als Chefärztin auf Alpha und Geliebte des Commanders die mächtigste Frau auf der Basis - sie war privilegiert, ja, gehörte zu denen, die zuerst starben - und die dann einfach ins Leben zurückkehrten! Sie war ein Günstling vor dem Tod und auf seine Sympathie wirklich nicht angewiesen.

Er warf ihr seine Jacke über und hob sie dann hoch. Während er sie zum Basislager trug, lag sie ihm schwer in den Armen, kam ihm vor wie die Last des Lebens , die er nicht ablegen konnte, sondern tragen musste wie ein Verdammter, der büßen musste dafür, dass er leben wollte.

Auf einem ansteigenden Stück, wo er ständig darauf achten musste, dass er nicht im vermaledeiten lila Gestrüpp hängen blieb und zu Fall kam, musste er sie kurz absetzen, und nachdem er sie etwas unsanft zu Boden gleiten hatte lassen, stöhnte sie und kam wieder zu Bewusstsein.

"Es tut mir Leid", flüsterte sie, als sie sein zorniges, schwitzendes Gesicht erkannte, "es tut mir Leid, Sanderson... - ich werde... ich werde selbst.. " Grimmig schüttelte er den Kopf, als ihr die Stimme versagte.

"Das sehe ich doch, dass Sie keinen Schritt allein machen können. - Den Rest des Weges schaffe ich auch noch!" Der Anflug eines Lächelns flatterte in ihr Gesicht. Sie hatte mehr als zuvor etwas Überirdisches an sich, etwas, das nur jemand haben konnte, der mehr gesehen hatte als normale Menschen. Er spürte ihre Finger auf seinem Handrücken, kaum wahrzunehmen und wie von einer anderen Welt. Sein Ingrimm ließ nicht locker, hatte sich durch sein Herz gefressen wie Schwefelsäure und war ein unverrückbarerer Teil seiner Selbst geworden. Als er sie erneut hochhob aber war sie ihm leicht, seine Beine gingen wie von allein, und selbst das Gestrüpp wich seinen Schritten aus. Er bewältigte den restlichen Weg in kaum nennenswerter Zeit.

Als er das Lager erreichte, weinte er aus Scham und Zorn, weil seine Seele so verbittert war, dass sie sich nicht einmal von Wundersamem rühren ließ, von Jenseitigem, das durch sie in die Realität sickerte. Er trat in die Scheinwerfer des Lagers, in die lärmende Welt der Menschen, und der widersame Zauber war verflogen. Von allen Seiten strömten die Alphaner auf ihn zu. Sie nahmen sie ihm ab, und eilten davon mit ihr, doch er sah ihren Blick, der ihn zwischen den Gestalten hindurch erreichte, warm und ein Ozean des Lächelns.

•~•~•~•

Sie zogen ihn zum Adler, der Mathias als provisorisches Lazarett gedient hatte, und er verstand überhaupt nicht, was die Aufregung bedeutete, mit der sie ihm begegneten. Alle schrien durcheinander, und er ließ sich von ihnen treiben, bis er mit zusammengekniffenen Augen im taghellen, weißen Licht des Adler-Passagierraumes stand. Sie schoben ihn an die einzige belegte Liege, und als er näher trat, sah er zwischen blauen Laken rotes Glitzern in blondem Haar und dann ihr Gesicht, müde und mitgenommen, aber mit einem inneren Strahlen, das ihn erreichte und jählings durchdrang. Er sank an ihre Seite und vergrub das Gesicht in ihrem Duft, in ihrem Wesen, spürte ihre Arme, wie sie sich um ihn schlossen und lauschte ungläubig und endlos glücklich den gleichmäßigen Zügen ihres Atems.

Der Traum war wieder zur Realität geworden!

•~•~•~•

Johns Blick lag auf Helena, die entspannt im Sessel seines Büros saß und den anderen zuhörte. Sie war wieder ihr gewohntes, gelassenes Selbst, wenn sie auch noch nicht viel zur Besprechung beigetragen hatte. Niemand wusste, wie sehr es sie in Wirklichkeit beschäftigte, dass sie kurzfristig aus dem Leben gegangen war. Sie hatte auch nicht vor, es jemandem zu sagen, denn sie spürte, dass sie dafür keine Worte hatte.
Sie fürchtete den Tod nicht mehr.

John schien sie nicht aus seinen Augen lassen zu wollen. Zu sehr fühlte er, dass ihre Wiederkehr ein Wunder war. Sie bemerkte seine innere Bewegung und griff nach seiner Hand über die seitlichen Lehnen ihrer beider Sessel hinweg. Er ließ es lächelnd geschehen, auch wenn dies sozusagen ein offizielles Treffen war, eine Kommandokonferenz, die normalerweise nach einem distanzierten und professionellen Verhalten aller Mitglieder verlangte.

Victor hatte das Wort - und wäre nicht er selbst gewesen, wenn er sich nicht von seiner Begeisterung über die neuen Erkenntnisse, die er gewonnen hatte, davontragen hätte lassen.

"Wir haben den Planeten unterschätzt!", meinte er selbstkritisch, "Völlig unterschätzt! Er ist ein lebendes Wesen, das unsere Wertvorstellungen nachvollziehen kann. Und er hat sich, soweit es ihm möglich war, danach gerichtet."

"Ja", mischte sich Helena ein, "er wollte nur seine Interessen wahren, ohne uns einen Schaden zuzufügen. - Und tatsächlich hat er auch unsere Verletzungen geheilt! Ich dachte, Mathias' Scanner hätte den Geist aufgegeben, aber in Wahrheit heilte der Planet Reilly - und so war es mit allen anderen, die sich weh getan hatten."

"Er hat auch dich zurückgebracht", warf Victor enthusiastisch ein.

"Das hat er", erwiderte sie lächelnd.

"Aber zuerst musste er dich töten", sagte Alan direkt und laut, denn er war mit Quartus noch nicht völlig versöhnt, und es lag ihm nicht, diese seine Gemütslage vor den anderen zu verbergen. Victor atmete einmal tief ein und aus. Die Erinnerung an die schweren Stunden, als alle gewonnenen Schätze wieder an den Planeten zurückgegeben werden mussten und man dabei mit dem Verlust von Helena zu kämpfen hatte, lag wie ein Schatten auf der frohen Runde.

"Es war sein letztes Mittel, unsere Aufmerksamkeit zu gewinnen. Er versuchte es, projizierte unsere Ebenbilder, diese Geister, in unser Bewusstsein, doch wir konnten sie nicht hören. Seine Versuche machten die Teammitglieder aggressiv und zornig, brachten uns aber nie so weit, dass wir mit ihnen in Kontakt treten hätten können. Helenas Sterben war ein Mittel aus der Not, zu dem der Planet gegriffen hat, ehe es für uns zu spät war." John war diese Wende zur traurigen Stimmung nicht recht, jetzt, wo er selbst endlich diese bedrückende Last losgeworden war, und er beschloss, die Runde aufzulösen.
Es war der richtige Zeitpunkt, wieder in die Zukunft zu schauen und zu sehen, was man dem fremden Universum an Gutem abgewinnen konnte. Seine abschließenden Worte wurden wohlwollend aufgenommen, und die Versammlung löste sich - rohstoffarm aber um eine Erfahrung reicher - auf.

John hielt Helena, die sich gerade davonmachen wollte, auf.

"Gilt deine Einladung noch?", wollte er wissen. Sie grinste ihn scheinheilig an.

"Nachdem sich unsere Besprechung erübrigt hat, wüsste ich nicht, was..." Er unterbrach sie ungeduldig.

"Ich hatte nie vor, etwas zu besprechen! In deinem Quartier würde ich doch niemals Zeit mit Besprechungen verschwenden!" Ihre Antwort war ein Lächeln, das ihm schier die Socken auszog. Ehe er sich erholt hatte, war sie verschwunden.

•~•~•~•

Helena eilte davon. Sie hatte noch eine Sache zu erledigen, ein Gespräch zu führen, ehe sie Quartus sein lassen konnte.
Sie wusste, wo sie ihn finden würde.

Es war das erste Mal, dass sie ihn aufsuchte, und als sie sein Labor betrat, war er hinter dem Spektrometer versteckt, das er für neue Proben umprogrammierte. Er merkte, dass jemand hereingekommen war und schaute aus dem Verbau hervor. Seine Augen verengten sich, als er erkannte, um wen es sich handelte.

"Dr. Russell. Was verschafft mir die Ehre?" Sie kam zu ihm, und die Erinnerung an dieses jenseitige Leuchten, dieses perfekte Wesen, das er gefunden hatte, sprang ihm bei ihrem Anblick sofort wieder ins Gedächtnis. Etwas davon war an ihr haften geblieben.

"Greg, ich bin gekommen, um mich bei Ihnen zu bedanken. Dafür, dass Sie mich nicht am Wasser liegen ließen." Er sah sie an und spürte sofort wieder seinen Zorn aufkommen, weil sie ihn durchschaut hatte, weil sie wusste, welche Gedanken ihn am Rande des Sees beschäftigt hatten. Sie kam näher und nahm unaufgefordert auf einem Drehsessel ihm gegenüber Platz. Sie waren auf gleicher Höhe. "Ich weiß, was Sie von mir halten", sagte sie, "und ich werde es nicht ändern können. Es würde nichts nützen, Ihnen zu sagen, dass Sie sich täuschen, wenn Sie glauben, dass man jeden Menschen nach dem äußeren Schein beurteilen kann. Ich bin vielleicht die Chefärztin auf Alpha - und die Geliebte des Commanders - aber können Sie in mich hineinsehen und sagen, was ich sonst noch alles bin - und was ich nicht bin?" Ihr Blick war bei ihrem letzten Satz bis in den letzten Winkel seines Gehirns gedrungen, und er merkte, wie ihn dunkle Schamesröte überzog. Sie hatte seine Gedanken gelesen in dieser Nacht am Ufer des Sees, hatte gewusst, dass sie ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. Warum kam sie dann nur zu ihm? Um ihre Macht zu demonstrieren? Um ihm zu sagen, dass sie seinen üblen Charakter kannte? "Greg, es tut mir Leid", sagte sie, als sie merkte, dass sie ihn auf irgendeine Weise kompromittiert hatte.

"Wieso kennen Sie meine Gedanken?"

"Ich kenne Ihre Gedanken nicht", erwiderte sie, "Greg, wir haben am See miteinander gesprochen, und ich war froh, dass Sie so ehrlich zu mir waren." Sie war verwirrt.

"Wir haben nicht miteinander gesprochen", erwiderte er düster und erhob sich, um das Werkzeug in seinen Händen wegzulegen.

"Ich erinnere mich aber", sagte sie, "Sie waren so wütend, auf John und auf mich, weil mir nicht einmal der Tod etwas zuleide tun konnte - einen solchen Zorn kenne ich gar nicht. Ich habe mir das nicht ausgedacht."

"Wenn Sie meinen Zorn gesehen haben, dann wissen Sie ja, dass ich Ihnen nie verzeihen werde für das, was Sie sind!" Sie senkte den Kopf. Plötzlich traf es ihn, sie verletzt zu haben.

"Ja", sagte sie, "das weiß ich. Ich hatte nur gehofft, es würde anders sein." Sie erhob sich und ging.

Greg blieb zurück, zorniger denn je, auf sich selbst, auf seinen Stolz und am meisten darauf, dass er sie, seit dem Augenblick, da er sie am See gefunden hatte, zutiefst bewunderte.

 

-ende-

 

Sieh! Sieh da, trauriges Erwachen aus Träumen!
Ich rufe dich, o Nacht, gib mir deine Traumbilder wieder
Kehr zurück, kehr zurück, Strahlende
Kehr zurück, o geheimnisvolle Nacht!

Nach einem Traum - Romain Bussine

 

10.07.05


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